Ich bin der Auffassung, daß wir die Frage »Gibt es Gott?« noch nicht richtig stellen. Daran sind wohl auch spirituelle und theologische Spekulationen mit schuld, und die vermeintliche Präzisierung der Fragestellung durch Dawkins macht die Angelegenheit nicht wirklich einfacher. Wo ist die Frage »Gibt es Gott?« zwischen »Gibt es die Berliner Mauer?«, »Gibt es Naturgesetze?«, »Gibt es mathematische Gesetze?«, »Gibt es Gedanken« bis hin zum »Gibt es Liebe?« einzuordnen? Vielleicht können Sie zustimmen, daß eine Idee, ein bloßer Gedanke eine spezifische Weise des »Es- gibt«-Sagens erfüllt, ohne dabei auf die implizit vorausgesetzte physische Basiswirklichkeit und deren weiteren Zerlegung zurückkommen zu müssen, was wegen der dabei stattfindenden Verschiebung der Fragestellung nicht mehr auf die Ausgangsfrage antworten würde. Vielleicht können Sie auch zustimmen, daß manche Ideen (z. B. der Mathmatik oder der Kunst) in der Gesellschaft wirksam sind, auch wenn sie sich nicht auf »wirkliche« Gegenstände beziehen. Dann hat »Gott« historisch Realität, ob man das nun gut oder schlecht findet. Ich denke, Sie stimmen auch darin überein, daß eine solche Vorgangsweise nicht die eigentliche Absicht der Frage berührt. Den gleichen Verdacht auf eine der Fragestellung immanente Tendenz zur Verfehlung konnte ich für einige ontologische Gottesbeweise nahebringen, sodaß auch Dawkins Vorschlag schon während der vermeintlichen Präzisierung, vom physikalischen Existenzbegriff auszugehen, die Fragerichtung verfälscht.
In wissenschaftlichen Diskursen um brauchbare Konzepte
wäre dies ein ausreichender Grund, die Frage als sinnlos, weil nicht weiter verfolgbar, beiseite zu schieben. Ich kann nicht mit positiven Bekenntnissen dienen, die deutlich über die Feststellung hinausgehen, daß ich die Frage nach Gott über die historische Bedeutung hinaus für sinnvoll halte. Die Frage nach Gott ist aber nicht verlustfrei rückübersetzbar in die Frage, ob es Gott »gibt«. So halte ich die Frage »Gibt es Gott?« mit historischen Resten behaftet, die einerseits aus der scholastischen Substanzmetaphysik, andererseits aus den philosophischen Folgen der Physik der erfolgreichen mathematischen Naturwissenschaften stammen. Deshalb habe ich die Frage zuerst in der historisch-kultursoziologischen Perspektive abgehandelt, die freilich abgesehen von einem Beitrag zur politischen Theologie im Grunde ebenfalls den Sinn der Frage »Gibt es Gott?« verfehlt. Bleibt die individuelle Perspektive der Existenz und die Relevanz für die Lebenspraxis als Ausgangspunkt der Frage »Gibt es Gott?«. Offenbar ist mit der Ansprache unseres individuellen und persönlichen Daseins unversehens die Bedeutung des Begriffes der Existenz aus der bloßen Physikalität verschoben worden. Es ist nicht gleichgültig, nach welchen Gott ich frage, die Frage muß nun beinhalten, daß ich nach einen persönlichen Gott frage. Das Persönliche kann ich zwar nicht vom körperlichen Ausdruck der Person trennen, aber sicherlich nicht selbst in physikalische Termini korrekt als solche beschreiben.
Eine weitere Verfolgung der Frage nach Gott, und was es
bedeutet, nach der Existenz Gottes zu fragen, muß also psychologisch, kulturpsychologisch und philosophisch- anthropologisch erfolgen, wobei die historisch- kultursoziologische Perspektive als Phänomenologie des Kulturausdruckes (als Hilfswissenschaft) in die kulturpsychologische und philosophisch-anthropologische Fragestellung einrückt. Die Fragestellung gerät damit auf den Boden von Bewußtseinstheorien philosophischer und psychoanalytischer Provienenz, und in die Auseinandersetzung um Konstanten des menschlichen Bewußtseins und Verhaltens. Ich frage aber komplementär nach einem Zweck der Gottesvorstellung für ein Bewußtsein, in dem sich der Mensch seine Dissoziativität gegenüber der Natur nochmals vorstellt. Die Diskussion zwischen Dualismus und Monismus der Wirklichkeitsauffassungen wird auf Grund weiterer Untersuchungen der nicht-biologischen Evolution unserer innerartlichen Kommunikation zu Kultur und Wissenschaft zur verbesserten Einsicht in die Funktion dieser Unterscheidung und Entscheidung führen, und so eine Neuauflage erfahren.
Hat also der Glaube an Gott einen historisch-genetischen
Grund, der nun aus Vernunftgründen zu überwinden ist, war er eine Vorbedingung, eine List der Vernunft, bevor es Vernunft gibt? Oder gibt es noch einen weiteren Grund außerhalb der historisch-kultursoziologischen Erörterung der zentralen Bedeutung der politischen Theologie in der kulturellen Evolution, der es vernünftig erscheinen läßt, die Frage nach Gott nicht nur als Hindernis in der Geschichte der Vollendung der Aufklärung anzusehen? Ich denke eben, ja, aber eben auch aus der radikalen individuellen Perspektive von Existenz bleibt diese Frage mit der Geschichtlichkeit unseres Daseins in der einzelnen Lebensgeschichte verbunden, und diese wieder mit anderen, schließlich mit »der« Geschichte. Diese Verbundenheit mit der Geschichtlichkeit unseres Daseins als Individuum und als Gattung spätstens seit der Bücherkultur spricht zwar nicht selbst für eine religiöse Auffassung, stellt aber doch die Frage nach der Orientierung in der Zeit für das Individuum im Generationenverbund wie für die Gattung, und damit auch die Frage nach Gott, neu. Ich sehe von da her das Gottesbild in der spekulativen Fluchtlinie zwischen Gattung und Individuum: Totem als kollektive Wesenscharakteristik und Tabu als innerindividuelle Grenze zwischen Ich und dem Chaos des Unbewußten und Unbekannten. Entlang dieser Achse zwischen Gattung und Individuum zeigt sich eine gewisse Funktionalität der Gottesidee, welche von der psychoanalytischen Kulturtheorie näher erklärt wird. Womöglich führt eine systematische Untersuchung zu einer Funktion unseres entwickelten Bewußtseins, welche nicht-religiöse Menschen anders nennen würden als Gott. Meine Vermutung ist bislang die, daß die Vorstellung von Gott oder des Göttlichen mit einen Schritt der Verselbstständigung der kulturellen Evolution gegenüber der Prägekraft der biologischen Randbedingungen auf unser Verhalten zu tun hat. Dergleichen Hypothesen vermögen meiner Auffassung nach aber bestenfalls nur die historische Gelegenheit zu erfassen, aber nicht das Ereignis selbst qualifizieren.
Es ist eine Folge der Aufklärung, daß sich die Glaubensfrage
in der Gewissensfrage zu einer privaten Angelegenheit wandelt. Ich hoffe, daß Sie verstehen, weshalb ich diese Gepflogenheit beibehalten will; nicht zuletzt weil auch meiner Auffassung nach davon auszugehen ist, daß zwar die Vernünftigkeit der Rede von Gott in ihrer Metaphorik in verschiedenen Fassungen hergestellt werden kann, die für gläubige Menschen als Vernunftgrund den Glaubensgrund nicht ersetzen kann, darin aber kein Argument zu finden ist, das die Frage: »Gibt es Gott?« selbst deutlich und klar (wissenschaftlich) beantworten ließe.