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GLOBAL

Über Ansätze des Versuches, das Unmögliche zu probieren

RESISTANCE 2 Mit Beiträgen u.a. von


Joachim Hirsch, Robert Kurz, Thomas Seibert

Mich interessiert vor allem


die Zukunft,
denn das ist die Zeit,
in der ich leben werde.«

Albert Einstein
ANTIFASCHISTISCHE LINKE BERLIN [ALB]
||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

inhalt

prose combat (alb) 5

das kapital baut um.


überlegungen zur
„zukunft des sozialstaats“
(joachim hirsch) 11

eu: mit sicherheit


(olaf griebenow & alain mundt) 16

krisenkolonialismus.
sechs thesen über globalisierung,
imperialismus und
herausgeberin radikaler kritik
antifaschistische linke berlin ::[ALB]:: (robert kurz) 20

eigentumsvorbehalt postfach 580 544 in bewegung kommen.


nach dem eigentumsvorbehalt 10141 berlin perspektiven einer
ist diese broschüre solange tel.030/27 56 07 56 postfordistischen linken
eigentum des absenders, bis fax. 030/27 56 07 55 (thomas seibert) 25
sie der/dem gefangenen mail@antifa.de
persönlich ausgehändigt ist. www.antifa.de common places.
„Zur-habe-nahme“ ist keine die globale bewegung
persönliche aushändigung im preis: 3 euro (+ versandkosten) als raum der politisierung
sinne dieses vorbehalts. wird für gefangene kostenlos (derive approdi) 29
die broschüre der/dem
gefangenen nicht persönlich bestellung über: sag mir wo du stehst…
ausgehändigt, ist sie dem antifaschistische linke [ALB] 36
absender mit dem grund der berlin ::[ALB]::
nichtaushändigung postfach 580 544
zurückzusenden. wird die 10414 berlin
broschüre der/dem gefangenen
nur teilweise v.i.s.d.p.
persönlich ausgehändigt, so ronja shakur
sind die nicht ausgehändigten karl-marx-allee 366
teile, und nur sie, dem berlin
absendner mit dem grund der
nichtaushändigung zurück-
zusenden.

4 ||||| IMPRESSUM |||||


Frühstück und noch schlimmer, schen Kontext? Authentizität oder Simulation, eins
ohne ohne Kaffee laufen wir die grau-
en Straßen von Paris-St.Denis lang und quet-
Repräsentation oder Intervention? Solche und
ähnliche Fragen schießen einem quer durch
Auf dem ESF im November
2003 veranstalteten wir als
schen uns in einen der überfüllten Busse, in den Kopf, während sich gleichzeitig eine [ALB] zusammen mit FelS
denen man so gut schwarzfahren kann; aber an Mischung aus Neugierde und unterdrückter einen Workshop, um weitere
diesem Morgen denken wir nicht einmal dran, Angst vor mangelnder Resonanz breit machen Schritte in der Koordinierung
auf Kontrolleure zu achten. Wir sind, zu spät, und Auslöser sind für das diffuse Gefühl, das und Vernetzung linksradikaler
auf dem Weg zu einem Workshop des ESF, den man hat, wenn man selber eigentlich auch Strukturen in Europa
wir selber initiiert haben. Er trägt den Titel nicht so recht weiß, wo es hin soll. voranzutreiben. Seit der Gipfel-
„think global, act global“; auf dem schmalen Der Raum in dem wir endlich ankom- mobilisierung von Köln 1999
aber auffälligen Plakat ein vermummter men – einer dieser ebenerdigen, gedrückten bestand Kontakt zu Gruppen
Aktivist - vielleicht auch eine Aktivistin? – in und asbestverseuchten Relikte der gescheiter- aus Skandinavien, Spanien,
Bewegung. Als wir uns am Vortag durch die ten 70er Jahre Avantgardearchitektur und Frankreich und Italien. Seitdem
drei verschiedenen Bonjour-Tristesse-Vororte sichtbares Zeichen dafür, dass die ESF-Orga- hat sich nicht nur viel auf der
bewegen, an denen das ESF stattfindet, um nisation unserem Workshop nicht allzu viel Seite des Herrschaftsprojektes
noch ein bisschen Werbung für den Workshop Priorität beimessen wollte – ist proppenvoll. Europa getan, sondern auch

ein streifzug: was nutzt der widerstand im kopf


zu machen, werden wir darauf angesprochen. antifaschistische linke berlin ::[ALB]::
Offensichtlich spricht der Titel und das Bild die Etwas erstaunt setzen wir uns, denn auf unsere auf der Seite des
Leute an - entspricht es der anderen Seite der breit verschickte Einladung gab es kaum europäischen/globalen
hier in lauer Luft Zusammenhockenden, die Rückmeldung. Unser Anliegen mit dem Work- Widerstands. Mehr denn je hal-
sich zu Füßen der Kathedrale von St.Denis mit shop ist es, den Versuch zu unternehmen, orga- ten wir den Austausch, gemein-
Joints und guter Laune an einem offenen nisierte Strukturen in Europa anzusprechen, same Diskussionen um
Mikrophon im Rappen üben. Der anderen den Kontakt herzustellen und eine Diskussion Perspektiven und Aktionen für
Seite: die Seite jenseits von come together und um eine gemeinsame Praxis voranzutreiben. notwendig.
be happy; die Seite, in der Wut und Frust über Wir sind uns der Grenzen unseres Unterfangens
die bestehenden Verhältnisse zusammenrau- bewusst – wir teilen die generelle Auffassung
schen in militanter Aktion und die sich nicht von der Anti-Globalisierungsbewegung als
trennen lässt von Glücklichsein und der einem großen euphorischen Haufen, in dem
Hoffnung, im Hier und Jetzt schon ein anderes alle schon irgendwie dasselbe wollen, nur
Leben möglich werden zu lassen. bedingt.2 Ausschlaggebend sind die eigenen zwei
Als wir nun im Bus zwischen müden Erfahrungen der letzten Jahre, in denen wir Siehe dazu
Parisern und Pariserinnen auf dem Weg zur uns mehr und mehr in internationales Terrain „Sag mir wo du stehst…“
Arbeit stehen, auch wir kaputt und nüchtern bewegten – Prag, Göteborg, Genua und Thessa- von der [ALB], Seite 36
der Welt gegenüber, hat man andere Bilder vor loniki waren sicherlich die highlights, aber
Augen – bunte Transparente bei stundenlangen auch „leisere“ Orte wie Köln, Straßburg,
Riots in Prag, schießende Bullen in Göteborg, Kopenhagen und Evian gehören dazu. Gemein-
der reglose Körper Carlo Gulianis zwischen sam ist allen Schauplätzen, dass wir auf Ver-
totalem Chaos. Ist die Form der Demo – oder hältnisse gestoßen sind, die uns wenig bekannt
auch Riotmilitanz wirklich noch das Prägende und oft schwer einschätzbar waren. Sowohl was
unserer Politik? War sie je der Knackpunkt? die Linke und das gesellschaftliche Klima in
Wurde unsere Politik immer schon reduziert den Ländern angeht, als auch was das Maß von
auf die Bilder der Gewalt, losgelöst vom politi- Militanz und Repression betrifft.

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So geht es darum, die bestehenden vistische Modelle in den Nachkriegsgesell-


Kontakte auszubauen und darüber hinaus her- schaften – die Bedeutung von 1968 – der Zu-
auszufinden, mit wem man wie wann wo sammenbruch des Ostblocks – das Verhältnis
zusammenarbeiten kann, genauso, wie man es von Theorie und Praxis – die Definition von
„zu Hause“ auch macht. Wichtigstes Kriterium Antikapitalismus. Es kann nicht darum gehen,
bildet sicherlich die Einschätzung des Kapita- jedes Detail zu erfassen. Es geht um die Sensi-
lismus selbst – ihn zu reformieren, von Innen bilisierung gegenüber den Bedingungen in den
heraus zu verbessern, seine größten Ver- einzelnen Ländern. Wir gehen allerdings
brechen zu lindern liegt nicht in unserem davon aus, dass sich die Ungleichzeitigkeiten
drei Interesse.3 Auch kein Interesse haben wir an der Nachkriegsgeschichte im „vereinten“
Siehe dazu der spaltenden Frage der Legitimität von Europa immer mehr aufheben. Dies wird für
„Krisenkolonialismus“ Gewalt als politischem Mittel. Was uns vor- die radikale Linke, ihre bisherige politische
von Robert Kurz, Seite 20 schwebt, ist ein gemeinsam gestalteter Prozess, Praxis und gesellschaftliche Stellung viel ver-
in dem kritische Fragen aneinander nicht aus- ändern.
geblendet werden, in dem es perspektivisch
möglich wird, sich gegenseitig zu korrigieren Gibt es mehr als die Summe
und in dem der globale Bezug sich regional und der Einzelheiten?
lokal dauerhaft verankern lässt. Im Workshop geht es erstmal darum,
In der Vorstellungsrunde wird klar, festzustellen, was es für Ansätze gibt, wie und
dass man durchaus von einem repräsentativen woran alle strukturell diskutieren, woran man
Querschnitt durch die europäischen Länder sich orientiert. Es schält sich heraus, dass es
sprechen kann. Leute aus Schweden, Finnland, eine auf den ersten Blick überraschende Ähn-
Dänemark, Großbritannien, Spanien, Grie- lichkeit in den momentanen linksradikalen
chenland, Slowenien, Italien, Frankreich, der Politikansätzen gibt. Das Erstarken der sozia-
Türkei und Deutschland sind da; von den len Kämpfe und parallel laufender Kampagnen
150 Anwesenden sind nur 30 % Frauen; von und Aktionen mit dem selben Ausrichtungs-

wenigen Ausnahmen abgesehen reden die punkt erstaunt aber nur, wenn man ausblen-
Männer; alles läuft auf Englisch. det, dass die Realität aller Bedingungen, in
Es geht um eine Bestandsaufnahme der denen gekämpft wird, mehr und mehr den sel-
gesellschaftlichen Situation der radikalen ben Zwängen unterworfen wird; den selben
vier Linken in den einzelnen Ländern, um Fragen Logiken von Arbeiten-Müssen, Sparen-Sollen
Siehe dazu der europäischen Koordinierung, um Gemein- und Überwacht-Werden folgen.4 Dies spiegelt
„Das Kapital baut um“ samkeiten und Differenzen. Sie deuten sich sich deutlich in der Linken wieder:
von Joachim Hirsch, schemenhaft an; es fehlen Zeit, Sprachkennt- Die Angleichung an das soziale Niveau
Seite XX nisse und Vorbereitung für ein intensiveres derjenigen Länder, in denen es nie ein ver-
Gespräch. Wir diskutieren konkret. gleichbares Sicherungssystem gab, trifft die
Fragen der Geschichte und theoreti- Länder des „Nordens“ – Skandinavien, die
scher Bezüge werden nicht angesprochen, hän- Benelux-Länder, Deutschland und Frankreich
gen aber unsichtbar zwischen den Statements – in einer gesellschaftlichen Situation, in der
und Berichten aus den Ländern – sie sind das radikale linke Forderungen bislang lästige
Fundament, auf dem wir uns heute begegnen: Randerscheinungen am neo-liberal-konserva-
die Geschichte der Industrialisierung, der tiv-sozialdemokratischen Himmel waren. Wäh-
ArbeiterInnenklassen, des ersten Weltkriegs rend hier „soziale“ Kämpfe in linksradikaler
und der Oktoberrevolution – die ungleichzeiti- Politik zumindestens in den 90ern eine geringe
ge Geschichte des Faschismus in Europa – Rolle spielten, gab es aufgrund geschichtlicher
Linke Gewerkschaftstradition gegen korporati- und gesellschaftlicher Bedingungen in Län-

6 ||||| PROSE COMBAT |||||


dern wie Italien, Spanien oder Griechenland sation prekarisierter ArbeiterInnen, haupt-
einen größeren Bezug, stärkere Kontinuitäts- sächlich aus dem künstlerischen Bereich,
linien und Traditionen, die über die offensicht- bestritten: am Abend unserer Anreise schon
lich gemeinsamen internationalen Bezugs- hören wir von ihrer gerade stattfindenden
punkte wie Krieg, Faschismus und Rassismus Demo, die die Bullen angegriffen hat. Im Laufe
hinausgehen. Im Folgenden ist die Rede von der nächsten Tage folgen versuchte Beset-
der Redefinition und Wiederaufnahme sozialer zungen von zuständigen Behörden. Auf der
Kämpfe als dem Ausrichtungspunkt linksradi- großen Gesamtdemo setzt sich ihr Block zusam-
kaler Politik als gemeinsamer Perspektive.5 men mit Desobidienti-, Sans Papier- und ande- fünf
Soziale Kämpfe – ein großes Schlag- ren europäischen linksradikalen Strukturen Siehe dazu
wort, allumfassend, schwammig. Für manche vor die Demospitze, die aus Gewerkschafts-, „In Bewegung kommen“
der deutschen Linken galten die „Sozial- ESF- und NGO-Politprominenz besteht. Saure von Thomas Seibert,
revolutionäre“ als Spinner, beseelt von ihrem Mienen hinter dem Nicht-Mehr-Fronttrans- Seite 25
Glauben an das unausweichliche Eintreten der parent. Auf der Hälfte der Route biegen sie
sozialen Revolution. Kritisiert wurde daran die
Annahme, dass soziale Verelendung automa-
tisch zu emanzipatorischem Bewusstsein oder
gar Praxis führen sollte. „Das gesellschaftliche Sein
bestimmt das Bewusstsein“, sicherlich, aber von
alleine kommt das Bewusstsein trotzdem
nicht. Die Projektion des revolutionären Sub-
jekts in die verarmten Massen – angesichts der
bundesdeutschen Realität von brennenden
Flüchtlingsheimen und Nazi-Bürger-Volks-
front scheint sie tatsächlich weit hergeholt.
So bedeutete sozialer Kampf für andere
eher gelebte Utopie und unmittelbare Praxis:
der autonome Traum, selbstverwaltet im
besetzten Haus, fuck work und klau dir
dein Leben zurück, zerbrochen an der neolibe-
ralen Neustrukturierung in Form des schlan-
ken Staats. Die Freiräume werden momentan
in ganz Europa reduziert, eingeengt, durch-
drungen von den Blicken tausendäugiger
big brother is watching you-Kameras.
Versatzstücke von beiden Ansätzen
sind in den Berichten auf dem Workshop wie-
der zu finden, aber auch Neues: es geht um
Forderungen, die auf die gesamte Gesellschaft
ausgerichtet sind. Freier Transport in öffent-
lichen Verkehrsmitteln, subventioniertes
Wohnen, Existenzgeld; es geht um den Ver-
such, verschiedene Kämpfe zu verknüpfen und
aufeinander zu beziehen – kleinere Arbeits-
kämpfe in Zeiten von Prekarisierung und
Gewerkschaftskrise zu verbinden mit dem
übergeordneten Kontext, mit System- und
Kapitalismuskritik.
Das heißt konkret: eine der interessan-
testen und radikalsten Auseinandersetzungen
in Paris wird von einer französischen Organi-

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plötzlich ab, rennen los, Ziel ist die Besetzung rende NGO-buisiness-people, gestern in Porto
eines Ministeriums, verantwortlich für massi- Alegre, heute in Paris, morgen in Bombay, jet-
ve Kürzungen. Die Entschlossenheit dieser ten für eine bessere Welt. Mit Skepsis fragt
Leute in mittleren Jahren, die spielerisch, aber man sich, ob die Versammelten hier wirklich
mit Wut im Bauch eine Spontanität herstellen, alle einen Kampf führen, ob wir selber mit
die direkter Ausdruck ihrer gesellschaftlichen allen so verbunden sein wollen, ob es nicht
Situation ist, verwundert uns; so etwas kennen langsam an der Zeit wäre, die reine Quantität
wir nicht aus unserem zu undefinierbaren Brei als Bezugspunkt aufzubrechen und auch nach
befriedeten und von sozialen Erschütterungen der qualitativen Seite des „Zusammen“ zu
gereinigten Kartoffelland. Viele solcher – schauen. Die Auseinandersetzung wäre mög-
scheinbar kleinen, vielleicht tatsächlich klei- lich. Denn allen Segmenten der „Bewegung“ –
nen – Beispiele ließen sich aufzählen. Kurze oder doch der „Bewegungen?“ – ist gemein,
Momente der Hoffnung; aber sind sie wirklich dass sie organisierte Kerne haben, die verbind-
sechs mehr als die Summe der einzelnen Teile? lich diskutieren, initiieren, vorbereiten.6 Das
Siehe dazu gilt auch für den linksradikalen Teil der
„Common places“ move the movement Bewegung.
von Derive Approdi, Sowohl in der Praxis wie in den So dreht sich die Diskussion auf dem
Seite 29 Diskussionen wird deutlich, dass es ein gewis- Workshop viel um Politikkonzepte, um den
ses Maß an organisierten Kernen bedarf, um Versuch, Verbindlichkeiten und Kontinuitäten
Ereignisse entstehen zu lassen. So spontan, zu schaffen. Das Herangehen der italienischen
jung und eigendynamisch die „Bewegung“ Desobidienti scheint attraktiv zu sein. In
nach aussen erscheint, so wenig stimmt dieses Deutschland, Finnland, Schweden, Italien und
Bild nach innen. Insbesondere auf den ESFs ist Spanien schießen zeitgleich „Free Public
ein sehr breites Spektrum vertreten – in Paris Transport“-Kampagnen aus dem Boden, wird
treffen wir alle erdenklichen Leute; Ökobau- mit „weichen“ Formen meist städtischer
ern, die über offenem Feuer ein ganzes, aufge- Politik experimentiert. Die gesellschaftliche
spießtes Schwein braten, neoliberales Mittel- Isolierung der radikalen Linken aufbrechen,
alter?; unorthodoxe Christenomis, die rüstig sich nicht als Destruktions-Avantgarde, son-
für den Weltfrieden streiten; französische dern als Teil einer breiteren Bewegung sehen,
Metallgewerkschaftler, die ungleich ihren wieder ein bisschen versponnener, utopischer
deutschen Kollegen auf der Demo mit bengali- werden. Forderungen wie die der Zapatisten
schem Feuer und allem, was Rauch und Blitz „für alle alles –für uns nichts!“ rücken ins Zentrum
produziert, ein Riesenspektakel veranstalten; der Orientierung. Ebenfalls gemeinsam sind
MigrantInnen mit und ohne Papieren und viel die Bezüge auf antimilitaristische Positionen:
Politprominenz. Das heißt professionell agie- die seit den Anschlägen am 11/09/01 zu vollem
Ausmaß angewachsene Politik der Neuen
Weltordnung mit den USA als hegemonialer
Macht hat den heutigen Kriegszustand der
Welt als einen extremen Ausdruck der barbari-
schen Seite des Kapitalismus zum Thema der
Linken gemacht. So teilt man die Einschät-
zung, dass die weltweiten Antikriegsdemon-
strationen am 15. Februar 2003 zu den Anti-
globalisierungsbewegungen dazu gezählt wer-
den muss. das ist die eine seite
Die andere, die immer schon problema-
tischere, bestimmt sich über die vorgefunde-
nen Bedingungen, in denen wir agieren. Und
die, es war nie anders, sind gewalttätig. So
bewegen sich die europäischen Diskussionen
entlang all der Graustufen zwischen Un-

8 ||||| PROSE COMBAT |||||


gehorsam und black bloc. Soll die Losung wirk-
lich Aneignen statt „macht kaputt was euch kaputt
macht“ heißen; bricht sich so die Sehnsucht
nach einer konstruktiven Gestaltung einer
neuen Utopie die Bahn, die die jahrelange
Negation in Form der Destruktion satt hat; ist
dies der Versuch, die Begrenzung der medialen
Vermittlung aufzubrechen, die alles immer
nur auf das Maß der Gewalt reduziert? So
klingt es stellenweise in Paris durch. Ins-
besondere aus Skandinavien, wo der Schock
von Göteborg und der darauf folgenden massi-
ven Repressionswelle noch tief sitzt, wo sich in
den letzten Jahren bewusst an anderen Politik-
formen orientiert wird. Jedoch ohne militan-
tes Auftreten aufzugeben. Gerade in den letz-
ten beiden Jahre, so berichten die GenossInnen
aus Schweden, war es stellenweise wieder mög-
lich, offensive Demos gegen Nazis zu machen,
vermummt, behelmt, bewaffnet.
Es macht keinen Sinn, sich die Frage
nach Militanz und Vermittlung, nach Ver-
weigerung und Ungehorsam als Gegensätze zu
stellen. Es geht darum, sich permanent am linksradikale Vernetzung und Austausch zu
Rand der Unvereinbarkeit aufzuhalten, von nutzen, scheint der Workshop nicht viel her-
Mal zu Mal neu abzuwägen, ein taktisches vorgebracht zu haben. Nicht mal auf eine
Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln zu ent- gemeinsamen Block auf einer der drei Demon-
wickeln. Noch mehr geht es darum, zu erken- strationszüge konnte man sich einigen – aber
nen, dass nicht überall das Gleiche möglich ist. vielleicht erscheint die Ebene der unmittelba-
So banal das klingt, so wichtig ist es: der ren Umsetzung in dem Moment wichtiger, als
Bericht von den hungerstreikenden Genossen sie ist, da nur sie als direkter, konkreter Aus-
in Griechenland, die auf dem Gipfel in druck des Erreichten erfahren werden könnte.
Thessaloniki gefangen genommen wurden und Wobei das Spontane, Konkrete und Un-
seitdem gegen beschissenste Bedingungen in mittelbare überall in Paris zu finden war; von
den Knästen kämpfen, zeigt dies deutlich. Sich kleinen Aktionen, Demonstrationen, offenen
klarmachen, dass die Willkür, Außerkraft- Diskussionsforen bis hin zu den sich ent-
setzung des „bürgerlichen Rechts“ und Folter wickelnden Gesprächen zwischen all den
von Genua keinesfalls ein Einzelfall geblieben Einzelnen.
ist, sondern sich, immer ein bisschen anders, Die Unübersichtlichkeit, die verschie-
fortsetzen wird. Sich also klarmachen, dass die denen Ansätze sind an sich bestimmt keine
Internationalisierung unserer Politik auch die Stärke, aber offensichtlich ist, dass die
Internationalisierung der Antirepressions- Bewegung in einem Stadium der Formierung
arbeit bedeuten muss.7 Denn die wenigsten, ist, in der Offenheit und Ambivalenz produktiv sieben
denen wegen Thessaloniki der Prozess gemacht sind, vor starren Theorie- und Praxiskonzepten Siehe dazu
wird, sind Leute aus Griechenland. schützen, unberechenbar machen. So scheinen „EU: Mit Sicherheit“
die verschiedenen Bewegungen in Europa von Alain Mundt
fragend schreiten wir voran momentan in diesem Punkt zusammenzukom- und Olaf Griebenow, Seite 16
Etwas erschöpft stehen wir nach meh- men: aus den direkten ökonomischen Ver-
reren Stunden konzentrierter Atmosphäre auf hältnissen heraus die kleinen Alltagslinien der
– außer einer Mailingliste und dem Beschluss, Subversion zu politisieren, in den Kontext des
die ESFs von nun an als Infrastruktur für Klassenkampfes von oben zu stellen, mal in

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weicher, mal harter Form. Gemeinsamer Mischung der Leute betrachtet, so merkt man
Bezugspunkt ist ein recht diffus bleibender doch, dass wir uns mitten in einem Prozess
Antikapitalismus, was von Kritikern der Glo- befinden, in dem kommuniziert, diskutiert
balisierungsbewegungen oft bemängelt wird. und zusammen agiert wird. Wir also stolpern
Aber jenseits davon geht es darum, festzuhal- endlich in eines dieser verstopften Etablis-
ten, dass sich seit dem Zusammenbruch des sements, plumpsen auf die elegant-robusten
Ostblocks das erste Mal eine sich weltweit ver- Metallstühle, die es in ganz Frankreich in
stehende und agierende Bewegung formiert, in jedem Café gibt, irrational blitzen Gedanken an
der der internationalistische Bezug Voraus- die Monopolisierung spezifischer Märkte und
setzung und nicht erst Ziel ist. Die Bewegungen Lobbyismus auf, und bestellen endlich Kaffee -
in Europa stehen aus unserer Sicht eher an pardon, Grand Café Creme. Der Garcon ist
einem Anfangs- als an einem Endpunkt. Über- höchstens siebzehn, Papa steht hinter dem
all gibt es Neuorientierungen und eine gene- Tresen und unterhält sich mit anderen alten
rellen Bereitschaft, sich der Problematik von Männern; was machen eigentlich ihre Frauen,
global thinking and local acting zu stellen. kochen sie gerade Mittagessen, gehen sie arbei-
Und nicht nur von den Zapatisten wis- ten oder sitzen sie mit Freundinnen und reden
sen wir, wie wichtig es ist, fragend voranzu- über who knows? Der Junge serviert mit
schreiten. Was das heißt? Erst einmal die wich- schnellen und präzisen Handgriffen, routi-
tigen Fragen zu erkennen, die hinter all dem niert. Probiert an uns ein paar Brocken
Gesagten liegen: wie schafft man es, das Englisch und Deutsch aus, wir stöckern müh-
Spezifische im Bezug aufeinander zu durch- sam mit unserem Französisch rum, alle lachen,
brechen, ohne es in den jeweiligen lokalen Internationalismus light. Ist er auf unserer
Kämpfen wegzuwischen, gar zu negieren ? Wie Seite? „Unsere“ Seite? Welche der vielen
kann man die Differenz in der Suche nach Seiten? Er jedenfalls kennt uns – Touristen,
Gemeinsamkeiten integrieren und sich nicht Kundschaft eben, so wie hunderte an einem
an ihr abarbeiten? Wie schafft man es, sich in Tag; in einer einzigen Bewegung wird das
der polaren Struktur der einerseits immer stär- Trinkgeld eingestrichen, der Aschenbecher
ker verknüpften Machtapparaturen zu be- ausgeleert und der Marmortisch abgewischt,
wegen, die andererseits bei Polizeiapparaten au revoir… kk
und Gesetzmäßigkeiten durchaus eine Auto-
nomie bewahren und dadurch noch unbere-
chenbarer werden? Sind die sich ergebenden
(nationalen) Widersprüche für eine europäi-
sche Linke nutzbar? Wie verhalten wir uns
gegenüber den Bewegungen der anderen
Kontinente? Wie integrieren wir eine Kritik
am Eurozentrismus in unsere Kämpfe und
schlittern nicht in eine „EU-Linke“-Identität?
Und wenn man, wie bei allen inter-
nationalen Gipfeln, in den vollen Cafés,
Fressbuden oder Kneipen sitz, kaputt, zugebal-
lert mit Eindrücken, um sich ein Stimmen-
gebrabbel, das sich aus verschiedensten
Sprachen zusammensetzt und die bunte

10 ||||| PROSE COMBAT |||||


gegenwärtige, als „Sozialstaats- Notwendigkeit enthob, sich durch eine gewisse eins
die reform“ gehandelte Politik zielt auf
einen grundsätzlichen Umbau der Gesellschaft.
soziale Kompromissbereitschaft zu legitimie-
ren. Schon immer hatte der Sozialstaat ein
Fordismus: Phase der
kapitalistische Entwicklung
Dahinter stehen nicht einfach ökonomische doppeltes Gesicht. Einerseits war er das zwischen den 1930er und
Zwänge, etwa das Diktat eines entfesselten Resultat der politisch-sozialen Kämpfe, die das 1970er Jahren. Kennzeichen:
Weltmarkts, sondern es handelt ich um eine 19. und 20. Jahrhundert geprägt haben. tayloristische Massenpro-
gezielte politische Strategie. Dies zeigt sich Zugleich war er auch ein Instrument der sozia- duktion und -konsum, Global-
schon daran, dass erst die massiven Steuer- len Befriedung, der Integration und „Ver- steuerung der Wirtschaft,
geschenke an die Unternehmer die finanziel- staatlichung“ der Arbeiterklasse. In diesem Ausbau des Sozialstaats,
len Löcher in die staatlichen Haushalte geris- Widerspruch bewegt er sich und nimmt dabei sozialdemokratische Reform-
sen haben, die nun „Sparen“ zu einer Art all- durchaus unterschiedliche Formen an. In der politik. Der Name stammt von
gemein akzeptierten politischen Leitlinie Zeit des Fordismus nach dem zweiten Welt- Henry Ford, der das Konzept
machen. Und während die Unternehmen die krieg diente sein relativ starker Ausbau sowohl für diese Gesellschaftsform
Kostenbelastung durch eine dreißigprozentige der politischen Legitimation in der System- entwickelte: billige Autos vom
Aufwertung des EURO offensichtlich ganz gut konkurrenz als auch als Grundlage des herr- Fließband, relativ hohe Löhne,
verkraften konnten, wird ein halbes Prozent schenden, auf tayloristische Massenproduk- d.h. die ArbeiterInnen können
die Autos auch kaufen.

überlegungen zur „zukunft des sozialstaates“


Lohnnebenkosten als entscheidende Wachs- joachim hirsch
tums- und Investitionsbremse gehandelt. Die tion2 und Massenkonsum gestützten Akkumu- zwei
Politik selbst erzeugt sogenannte Sachzwänge, lationsregimes. Die allmähliche Erschöpfung Tayloristische Massen-
um sich dann als alternativlos darstellen zu der darin liegenden Produktivitätsreserven poduktion. Der Name stammt
können. Sie zielt darauf, eine Gesellschaft zu führte, verbunden mit einer wachsenden von F.W. Taylor, der die für die
schaffen, die sich von der des sozial einigerma- Internationalisierung des Kapitals, schließlich Fließbandproduktion maß-
ßen regulierten Kapitalismus der Nachkriegs- zu seinem Zusammenbruch. Infolge der neoli- geblichen Zeit- und Bewe-
zeit grundlegend unterscheidet. „Globali- beralen Deregulierungspolitik, insbesondere gungsstudien erfunden hat.
sierung“ ist der Schlüsselbegriff einer der Liberalisierung der Kapital- und Finanz- Grundlage: extreme Zerlegung
Diskursstrategie, die den radikalen Umbau der märkte, wurden die international operieren- der Arbeitsgänge,intensive und
sozialen Verhältnisse und die Beseitigung den Unternehmen von den einzelstaatlich monotone Arbeit, damit aber
staatlich institutionalisierter Kompromiss- organisierten Gesellschaften unabhängiger. auch erhöhte Produktivität der
strukturen als Folge unverrückbarer ökonomi- Dies mündete in die Aufkündigung des fordis- Arbeit. Man kann den Begriff
scher Zwänge und damit als unvermeidbar tischen Klassenkompromisses. Es trifft die etwas vereinfachend auch mit
erklärt. Sache allerdings nicht genau, wenn gegenwär- Fließbandproduktion gleich-
Das hat seine historischen Hinter- tig von einem Abbau oder einer Zerstörung des setzen.
gründe. Zunächst einmal war es die Krise des Sozialstaats gesprochen wird. Die staatliche
Nachkriegs-Fordismus1 in den siebziger Regulierung der Arbeitskraft ist gerade in den
Jahren, die die sozialen Kräfteverhältnisse im hoch entwickelten kapitalistischen Gesell-
internationalen Maßstab grundlegend umge- schaften unverzichtbar. In Wirklichkeit geht
wälzt und das sogenannte „sozialdemokrati- es darum, den Sozialstaat nach dem Ende der
sche Zeitalter“ beendet hat. Verstärkt wurde historisch besonderen Situation um die Mitte
diese Entwicklung durch den Zusammenbruch des 20. Jahrhunderts als Selektions- und
des Staatssozialismus nach 1989, der die Kontrollinstanz zu reorganisieren.
Systemkonkurrenz beseitigte und damit die Auf der politischen Tagesordnung steht
ökonomisch und politisch Herrschenden der die Durchsetzung einer Gesellschaftsordnung,

||||| JOACHIM HIRSCH ||||| 11


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

drei die durch eine radikale Verstärkung spalten-


Workfare state: der, ausgrenzender und disziplinierender
wird als Gegensatz zu Mechanismen gekennzeichnet ist. Der fordisti-
„welfare state“ sche Sozialstaat wird durch den neoliberalen
(Wohlfahrtsstaat) verwendet „workfare state“3 ersetzt. Dessen Grundprinzip
und bezeichnet das ist eine staatlich inszenierte „Kommodifi-
herrschende neoliberale zierung“4 der Gesellschaft, d.h. der Versuch,
Modell. Grundprinzip: statt die sozialen Beziehungen möglichst durchgän-
„soziale Hängematten“ gig der Warenform zu unterwerfen. Die Rück-
aufzuspannen, sollen die nahme sozialer Sicherungen zielt auf eine all-
Leute zum Arbeiten gezwungen gemeine Erhöhung des Arbeitszwangs. Dies ist
werden. Liegt der Losung angesichts der Tatsache, dass infolge der
„fördern und fordern“, Entwicklung des globalen Kapitalismus
Hartz I – soundsoviel usw. Massenarbeitslosigkeit strukturell geworden
zugrunde. und systematisch eine Überschussbevölkerung
hergestellt wird, nur scheinbar paradox. Die
Privatisierung der sozialen Beziehungen hat
das Ziel, „verantwortliche“ Subjekte zu schaf-
fen, die ihre Lebensverhältnisse nicht als
gesellschaftlich und politisch produziert, son-
dern als selbst geschaffen und verantwortet
begreifen. Es geht also darum, die disziplinie-
rende Wirkung des Sozialstaats insoweit zu
vier intensivieren und auszuweiten, dass die
Kommodifizierung: Menschen sich in der Form einer internalisier-
Es handelt sich darum, ten „Selbstführung“ als Marktsubjekte den
soziale Beziehungen warenf- ökonomischen Bedingungen von selbst anpas-
örmig zu machen. Beispiel: sen. Hinter diesem stummen Zwang der Ökono-
unbezahlte Verwandtschafts- mie steht allerdings immer die staatliche
oder Nachbarschaftshilfe wird Zwangsgewalt. Angezielt wird eine Neu-
durch bezahlte Dienst- organisation der Sozial- und Klassenstruktur,
leistungen, Hausarbeit durch die durch eine verstärkte Segmentierung der
fast food ersetzt. Lohnabhängigen nach Qualifikation und mate-
rieller Lage und das Auseinanderdividieren
von „Leistungskernen“ und Marginalisierten
gekennzeichnet ist. Dies steht auch hinter dem
aktuellen „Eliten“ – Geschwätz. Die Schaffung
einer Schicht von „working poor“, d.h. derjeni-
gen, deren Lohnarbeit kaum noch einen mini-
malen Lebensstandard garantiert, erzeugt bil-
liges Dienstpersonal für die Privilegierten und
gibt dem Kapital die Möglichkeit, nicht nur die
Einkommensverteilung grundlegend zu verän-
dern, sondern zugleich die Arbeitskraft flexib-
ler den Bedingungen der internationalisierten
Produktion anzupassen und dabei auf eine
hoch segmentierte Arbeitsbevölkerung zurück-
greifen zu können. Eine Folge davon ist, dass in
sozialstruktureller Hinsicht die Unterschiede
zwischen „erster“ und „dritter“ Welt tenden-
ziell eingeebnet werden und sich auch in den

12 ||||| DAS KAPITAL BAUT UM |||||


metropolitanen Gesellschaften deutliche Besonderheit. Sie findet – modifiziert durch
Peripherisierungsprozesse durchsetzen, dies die jeweiligen spezifischen politischen
allerdings bei wachsenden internationalen Un- und institutionellen Gegebenheiten
gleichheiten auf sehr unterschiedlichem – praktisch in globalem Maßstab
Niveau. statt. Dies betrifft nicht zuletzt die
Während der fordistische Sozialstaat sogenannten „westlichen Demo-
der Nachkriegszeit noch darauf angelegt war, kratien“, in denen die Zerstörung
die Menschen durch gewisse materielle rechtsstaatlicher Garantien und
Zugeständnisse einigermaßen umfassend sozi- die Aushebelung liberaldemo-
al und politisch einzubinden, wird nun auf kratischer Institutionen in fast
einen Integrationsmodus gesetzt, der auf atemberaubendem Tempo voran-
Individualisierung, politisch-sozialer Desorga- schreitet. Dieser Prozess verläuft
nisation und Spaltung beruht und damit die nicht automatisch, sondern hat
Möglichkeit bietet, Individuen und soziale identifizierbare Akteure. Durch
Gruppen systematisch gegeneinander auszu- die neoliberale Transformation der
spielen. Wenn es immer schon eine Funktion Staaten und durch die Internatio-
des Sozialstaats war, dem Kapital disziplinierte nalisierung des Kapitals hat sich eine
und entsprechend den technischen Produk- internationale Manager- und Politiker-
tionsbedingungen qualifizierte Arbeitskräfte klasse herausgebildet, die mit massiver
zur Verfügung zu stellen, so werden diese nun Unterstützung wissenschaftlicher Experten
den Bedingungen einer internationalisierten und Think Tanks ein hegemoniales Herr-
und technisch weiter entwickelten Produktion schaftsprojekt formuliert und durchgesetzt
angepasst. Dies betrifft nicht nur die Sozial- hat, für das „Globalisierung“ eine eher ver-
politik im engeren Sinne. Die jetzt verstärkt schleiernde Bezeichnung darstellt. Das Davoser
anlaufende Privatisierung des Bildungssystems Weltwirtschaftsforum gehört ebenso wie die
verfolgt, um nur ein Beispiel zu nennen, den- Münchner so genannte Sicherheitskonferenz
selben Zweck. Dabei wird eine staatlich organi- zu seinen bevorzugten Treffpunkten. Verbun-
sierte und regulierte soziale Apartheids- den war dies mit einer Umstrukturierung der
gesellschaft angezielt, die durch eine Mischung politischen Institutionensysteme, die man als
aus unmittelbarem Zwang und politisch einge- Internationalisierung des Staates bezeichnen
setzten Marktmechanismen gesteuert wird. kann. Dazu gehört auf der einen Seite die wett-
Natürlich werden dadurch die sozialen bewerbsstaatliche Umstrukturierung der
Konfliktpotentiale größer. Deshalb wird der Staaten, d.h. die Liberalisierung der Kapital-
Umbau des Sozialstaats von einer massiven und Finanzmärkte, wodurch sich einzelstaatli-
Aufrüstung und Ausweitung der staatlichen che Regierungen selbst dem Zwang globaler
Sicherheitsapparate begleitet, zu deren Kapitalbewegungen preisgegeben haben. Auf
Legitimation der sogenannte internationale der anderen Seite kam es zu einer wachsenden
Terrorismus und die „organisierte Krimina- Bedeutung mehr oder weniger formeller inter-
lität“ herhalten müssen. „Globalisierungs-“, nationaler Regulierungsinstitutionen, etwa
„Terrorismus-“ und „Sicherheitsdiskurs“ ver- der verschiedenen „G“-Gipfel, des Inter-
schränken sich dabei. Der kapitalistische nationalen Währungsfonds, der Weltbank oder
„Sicherheitsstaat“, der immer zugleich Sozial- der Weltwirtschaftsorganisation WTO, die von
als auch Überwachungsstaat war, wird gewis- dieser Ebene her die Politik der neoliberalen
sermaßen neu justiert. Weil der gesellschaftli- Restrukturierung durchsetzen: Liberalisierung
che Zusammenhalt immer weniger materiell des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalver-
abgesichert wird, gewinnen zugleich autoritär kehrs, Marktöffnung, Schutz privater Inve-
– populistische, rassistische und nationalisti- stitionen und die Garantie des Privateigen-
sche Legitimationsstrategien an Bedeutung. tums, nicht zuletzt im Bereich der immer
Auch wenn dabei nationale Eigen- wichtiger werdenden „geistigen Eigentums-
heiten und Traditionen eine Rolle spielen, ist rechte“ möglichst überall in der Welt. Dies
diese Entwicklung ist keine deutsche geschieht, nachdem das Abschreckungsgleich-

||||| JOACHIM HIRSCH ||||| 13


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

gewicht des Kalten Kriegs außer Kraft gesetzt ein politisch-institutionelles System, das die
worden ist, notfalls durch die Androhung mili- angeblichen Sachzwänge des globalen
tärischer Zwangsgewalt durch die Staaten des Kapitalverwertungsprozesses in einer quasi
kapitalistischen Zentrums. Diese stehen dabei entpolitisierten Weise exekutiert. Für die ein-
in einem komplexen Kooperations- und Kon- zelstaatlichen Regierungen hat dies den legiti-
fliktverhältnis: auf der einen Seite sind sie in matorischen Vorteil, dass Entscheidungen, die
permanente Konkurrenzkämpfe um „Stand- sie selbst mit getroffen haben, als unbeein-
ortvorteile“, Kontroll- und Einflusssphären flussbare politische Rahmenbedingungen dar-
verstrickt, und andererseits haben sie ein gestellt werden können.
gemeinsames Interesse an der militärischen Die Europäische Union ist ein
und politischen Kontrolle der Welt. Innere besonders herausragendes Beispiel für diese
polizeistaatliche und nach außen gewendete Entwicklung. Die entdemokratisierende
militärische Aufrüstung zwecks Herstellung Wirkung der Verlagerung politischer
globaler „Interventionsfähigkeit“ stehen des- Entscheidungen auf die überstaatliche Ebene
halb in einem engen Zusammenhang. Obwohl wird hier besonders deutlich. Nicht zuletzt bei
die internationalen Organisationen von den den Maastricht-Verträgen, die den finanz- und
Regierungen vor allem der dominierenden damit vor allem sozialpolitischen Spielraum
Staaten getragen und bestimmt werden, ist der einzelnen Regierungen und Parlamente
ihre Politik von einzelstaatlichen politischen entscheidend einschränken, wird deutlich,
Prozessen, insbesondere von den im Rahmen was neoliberaler Konstitutionalismus heißt.
liberaldemokratischer Verhältnisse immerhin Mit der geplanten europäischen Verfassung
beschränkt möglichen Einflussnahmen weitge- wird versucht, die Prinzipien der kapitalisti-
hend abgekoppelt. Man kann dies als neolibe- schen Gesellschaft in ihrer neoliberalen
ralen Konstitutionalismus bezeichnen, d.h. als Ausprägung zum verbindlichen, die nationale
Politik und Rechtsprechung bindenden
Grundgesetz zu machen. Europa wird damit
zu einer höchst autoritär strukturierten
Festung relativen Wohlstands, die immer
deutlicher die Voraussetzungen dafür schafft,
ihre ökonomischen und politischen Inte-
ressen militärisch in globalem Maßstab
durchzusetzen.
Dass der Widerstand gegen diese
Entwicklung eher schwach und zersplittert
ist, hat mehrere Gründe. Dazu gehört nicht
nur, dass die schon durchgesetzten sozialen
Spaltungs- und Marginalisierungsprozesse,
Privatisierung und erzwungene Individua-
lisierung ihre Wirkung tun, sondern auch,
dass die von Politik, Medien und Wissen-
schaft massiv durchgesetzte neoliberale ideo-
logische Hegemonie sich immer stärker in
den Köpfen der Menschen festgesetzt hat.
Darüber hinaus gelingt es immer noch, die
sich vertiefenden sozialen Ungleichheiten
zur Grundlage wohlstandschauvinistischer
Legitimationsstrategien zu machen. Der
Abbau politischer und sozialer Rechte wird
damit gerechtfertigt, dass es anderen noch
schlechter geht. Still gestellt ist der Kampf
freilich nicht. Dies nicht zuletzt deswegen,

14 ||||| DAS KAPITAL BAUT UM |||||


weil sich der neoliberal gewendete
Kapitalismus ökonomisch wie politisch als
enorm krisenhaft erweist. Die zentrale Frage
ist, ob es gelingt, ein neues hegemoniales
gesellschaftliches Konzept als Alternative zum
herrschenden neoliberalen zu formulieren und
durchzusetzen, also konkreter auszubuchsta-
bieren, dass eine andere Welt möglich ist.
Dieser Kampf kann nur dann erfolgreich
geführt werden, wenn es gelingt, sich aus der
Defensive zu befreien, in der sich große Teile
der Opposition immer noch befinden. Das
heißt, dass es nicht darum gehen kann, den
fordistischen Sozialstaat zu verteidigen.
Dessen gesellschaftliche und ökonomische
Grundlagen sind durch die postfordistische joachim hirsch
Restrukturierung des Kapitalismus längst em. Professor für
beseitigt und überdies wird dabei verkannt, Politikwissenschaft,
dass auch er ein Disziplinierungs-, Selektions- Universität Frankfurt.
und Kontrollarrangement darstellt, das einer Diverse Publikationen
gesellschaftlichen Emanzipation grundsätzlich zur Staatstheorie und zu
im Wege steht. Es ist daher notwendig, gänz- Internationalen Politischen
lich neue Konzepte der Vergesellschaftung zu Ökonomie, zuletzt:
entwickeln, die realisieren, dass die fordisti- Herrschaft, Hegemonie
sche Arbeitsgesellschaft von den erreichten und politische Alternativen,
produktiven Potentialen her längst überstän- Hamburg (VSA) 2002.
dig geworden ist (vgl. dazu die Überlegungen Redeaktionsmitglied
und Diskussionen in www.links-netz.de). von links-netz.de und
Möglich ist dies allerdings nur, wenn sich eine Vorstandsmitglied
soziale Bewegung entwickelt, die darauf von medico international.
abzielt, nicht nur Forderungen an die Staaten
und Regierungen zu stellen, sondern die prak-
tischen Lebensverhältnisse, die Arbeits- und
Konsumweisen, die sozialen Beziehungen und
die Geschlechterverhältnisse zu verändern.
Eine solche Bewegung kann angesichts der
internationalen Verflechtungen nicht auf den
einzelstaatlichen Rahmen beschränkt bleiben.
Ansätze dazu gibt es im Kontext der sogenann-
ten globalisierungskritischen Bewegungen
durchaus. Sie sind allerdings noch schwach. Es
geht also nicht nur darum, die Bewegung zu
stärken, und es geht in erster Linie auch nicht
darum, Forderungen an den Staat zu stellen. Es
geht zuallererst um eine Radikalisierung im
Sinne einer grundlegenden alltagspraktischen
Veränderung gesellschaftlicher Beziehungen.
kk

||||| JOACHIM HIRSCH ||||| 15


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

heit ist die Voraussetzung für Widerstand durchgesetzt. So wurden z.B. nach
sicher Freiheit“, zitierte Bundesinnen-
minister Schily Wilhelm von Humboldt unter
dem Anschlag auf das World Trade Center
längst vorbereitete polizeiliche Kompetenz-
dem Eindruck des Anschlags auf das World Trade erweiterungen aus der Schublade geholt und
Center. Dann fand Schily ein „Grundrecht auf durch das Gesetzgebungsverfahren geboxt. Sich
Sicherheit“ in Artikel 5 der Europäischen dazu auf ein Grundrecht auf Sicherheit zu
Menschenrechtskonvention (EMRK) und recht- berufen, greift aber zudem das traditionelle
fertigt damit den Schutzauftrag des Staates. Wer Verständnis des liberalen Rechtsstaats an.
oder was geschützt werden muss, liegt auf der Art. 5 EMRK garantiert tatsächlich, so wie es
Hand: Das System der Umverteilung von Arm zu Wilhelm von Humboldt gegen den preußischen
Reich. Die Globalisierung der Märkte schreitet Obrigkeitsstaat forderte, das Recht des Ein-
voran. Deregulierung, Privatisierung, Abbau zelnen vor staatlicher Willkür. Sowie alle
des Sozialstaates heißen nur einige der euphe- Grundrechte stellt es ein Abwehrrecht gegen
mistischen Antworten hierauf. Grundsicher- den Staat dar, also eine Beschränkung staat-
heiten fallen weg. Die Angst vor der Zukunft licher Macht. Schily und Konsorten kehren die
wächst und führt zu einem Bedürfnis nach Bedeutung der Grundrechte in ihr Gegenteil.

and all you know, security – is mortals’ chiefest enemy


(hekate in macbeth/w. shakespeare)
alain mundt/olaf griebenow

mehr Sicherheit und Kontrolle. Die vermeint- Sie dienen danach zur Legitimierung eines
liche Lösung stetig steigende polizeiliche Kom- starken Schutzstaates. Das „Grundrecht auf
petenzen. Um diese politisch durchzusetzen, Sicherheit“ gibt nun dem Staat den Auftrag,
werden von den selbsternannten Sicher- die Freiheitsrechte zu beschränken und ver-
heitsstrategen Ängste geschürt: vor „Migration pflichtet den Einzelnen, sich angepasst zu ver-
und Ausländerkriminalität“, „Organisierter halten.
Kriminalität“ und „Terrorismus“. Unterstützt
von Medienkampagnen, wie kürzlich in der „Ein Tatverdacht
Berliner Zeitung. Polizisten durften dort ist nicht mehr erforderlich“
wochenlang berichten, dass sie sich in einige Auch im Strafverfahren finden grund-
Stadtteile Berlins nicht mehr hineintrauten, legende Veränderungen statt. Der Schwer-
weil diese in der Hand ausländischer Groß- punkt im Strafverfahren verlagert sich von der
familien seien, die in die „Organisierte Krimi- öffentlichen Gerichtsverhandlung in das un-
nalität“ verwickelt seien und ihren Aufent- kontrollierte polizeiliche Ermittlungsverfah-
haltsstatus erschlichen hätten. Einen Beleg für ren. Zudem genügt schon die polizeiliche Zu-
die Behauptungen lieferten sie nicht. Dagegen ordnung zu einer Risikogruppe, um z.B. die
sind nach einer Untersuchung des Berliner Aus- bzw. Einreise in ein anderes Land oder die
Ausländerbeauftragten die Straftaten von Ju- Teilnahme an Versammlungen zu verbieten
gendlichen nichtdeutscher Herkunft um 20 % oder um jemanden vorbeugend festzunehmen.
zurückgegangen. Erhöht hat sich nur die Ein Tatverdacht ist nicht mehr erforderlich.
„gefühlte Bedrohung“. Durch die europäische Politik wird die
Hat sich das Sicherheitsbedürfnis ein- Erosion elementarer rechtsstaatlicher Prinzi-
gestellt, werden die Sicherheitskonzepte ohne pien noch verstärkt. Die Rechtssetzung im

16 ||||| EU: MIT SICHERHEIT |||||


Bereich Sicherheit erfolgt unmittelbar durch sind im Grunde grenzenlos. Die personenbezo-
die Regierungen, vorbei am Europäischen und gene Datenerhebung ist bereits erlaubt, wenn
den nationalen Parlamenten und ausgerichtet die jeweilige Person als Täter, Opfer oder Zeuge
allein an den polizeilichen Bedürfnissen. Die einer zukünftigen Straftat in Betracht kommt,
Regierungen vereinheitlichen die Straftat- weil sie einer Risikogruppe angehört, wie z.B.
bestände, indem sie neue Straftatkataloge Globalisierungskritiker. Da EUROPOL zukünf-
erstellen. Die nationalen Parlamente setzen tig Zugang zum Schengener Informations-
die Regierungsbeschlüsse nur noch in nationa- system bekommen soll, ist zu befürchten, dass
les Recht um. Es findet eine schleichende die EUROPOL-Daten letztendlich darüber an
Machtverlagerung zur Exekutive statt. Die die nationalen Polizeien gelangen und sie ihre
transnationale und transinstitutionelle Zu- Verwendung im Zusammenhang mit interna-
sammenarbeit wird durch polizeiliche Zusam- tionalen Protesten finden.
menarbeit vorangetrieben sowie die Immi-
grationskontrolle und das Asylrecht ver- „Datenkategorie:
schärft. Violent Troublemaker“
Schon heute ist das Schengener Infor-
„Militante Demonstrationen mationssystem (SIS), eine Polizeidatenbank
als terroristisch einzustufen“ der Mitgliedsstaaten des Schengener Abkom-
Die Auswirkungen gerade auf das De- mens, zentraler Bestandteil repressiver Maß-
monstrationsrecht sind erheblich. Angesichts nahmen. Bereits vor Genua soll es eine Datei
der Proteste am Rande von EU-Gipfeln hat die zur Auslese der Personen gegeben haben, deren
EU-Arbeitsgruppe Terrorismus sich dafür aus- Einreise in ein Schengenstaat unerwünscht
gesprochen, militante Demonstrationen als war. Daten über 1400 Personen sollen gespei-
terroristisch einzustufen. Anlass ist die euro- chert gewesen sein. Diese Datei dürfte erheb-
päische Definition von terroristischen Ver- lich angewachsen sein. Denn schon anlässlich
einigungen, die alle EU-Mitgliedsstaaten in ihr der Demonstrationen in Genua wurden auf-
Strafrecht aufnehmen müssen. Eine terroristi- grund SIS-Daten und nationaler Polizeidaten,
sche Vereinigung ist demnach „ein auf längere über 2000 Personen an der Grenze zurückge-
Dauer angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei wiesen. Geplant ist zudem die Einrichtung
Personen… um die Bevölkerung auf schwer wiegende einer neuen Datenkategorie beim SIS: „Violent
Weise einzuschüchtern, um schwerwiegende Straftaten troublemaker“. Betroffen werden insbesondere
zu begehen“ (wie z.B. Zerstörungen von Privat- GlobalisierungskritikerInnen sein. Bereits
und Regierungseigentum)… „oder eine interna- nach den Protesten in Göteborg wurde der
tionale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder zwischen den Schengen-Staaten entwickelte
Unterlassen zu zwingen.“ Die Beschwichtigungs- Leitfaden zur Bekämpfung von gewalttätigen
versuche des Europäischen Rates, dass diese Hooligans auf internationale Demonstrationen
Regelung nicht die Versammlungsfreiheit be- übertragen. Das bedeutet: Nationale Kontakt-
einträchtigen soll, wirken unter diesen Voraus-
setzungen wenig überzeugend.
Vielmehr kann durch die extensive
Terrorismusdefinition EUROPOL, ein europäi-
sche Polizeiamt ohne operative Befugnisse,
miteinbezogen werden. Denn Terrorismus fällt
in den EUROPOL Zuständigkeitsbereich. Diese
weder vom europäischen noch von den natio-
nalen Parlamenten kontrollierte Polizei fun-
giert als Datensammelstelle. Löschungsan-
sprüche sind gegenüber EUROPOL nicht durch-
setzbar, da Rechtsschutz weder auf europäi-
scher Ebene noch vor nationalen Gerichten
gegeben ist. Die Befugnisse zur Datenerhebung

||||| ALAIN MUNDT/OLAF GRIEBENOW ||||| 17


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

stellen (in Deutschland das BKA) leiten ohne Vernehmungen von Verdächtigen oder Zeugen
besondere Anfrage ganze Datensätze an den sowie Durchsuchungen teil. Zudem organisie-
jeweiligen Mitgliedsstaat weiter. Die Daten ren sie den Informationsaustausch mit Ver-
sind nach Kriterien sortiert, wie Größe, Art bindungsbeamten (ILOs) anderer EU-Staaten.
und Zusammensetzung einer Gruppe, Moti- Mittlerweile gibt es ein Netz von ILOs aus allen
vation, Gewalttätigkeit sowie die Art der An- Mitgliedsstaaten, die die Weiterreise von
reise, Orte und Zeiten von Versammlungen. MigrantInnen verhindern sollen. Sie beraten
Dabei dürfen auch nicht überprüfbare Daten die Grenz- und Sicherheitsorgane über die
weitergegeben werden, wie bloße Verdachts- Auswirkungen der Migration auf die EU und
fälle oder Angaben von V-Leuten. Zudem befin- fordern sie auf, geeignete Maßnahmen zu er-
den sich Verbindungsbeamte aus den Her- greifen. Kooperieren diese Drittstaaten nicht,
kunftsländern von DemonstrantInnen un- drohen ihnen Sanktionen seitens der EU. Diese
mittelbar vor Ort. Diese sollen Gruppen identi- Ermittlungsgruppen von Polizei, Grenztruppen
fizieren, die „eine Gefahr für die öffentliche und Nachrichtendiensten finden sich nahezu
Sicherheit darstellen“. Identifizierte Personen an allen bedeutenden Flughäfen. Mangels
werden gegebenenfalls als Störer festgenom- Alternativen bleibt Flüchtlingen nur die illega-
men oder gleich ausgewiesen und in ihr le Einreise. Deren dauerhafter Aufenthalt wird
Heimatland abgeschoben. So wurden z.B. auf- jedoch durch Rückführungsvereinbarungen
grund österreichischer Daten die mit Transit- und Herkunftsländern verhindert,
25 Schauspieler des international besetzten auf Kosten des internationalen Rechtsan-
Theater-Ensemble PublixTheatre im Zu- spruchs auf Asyl. Konsequenz ist, dass 80 % der
sammenhang mit den Protesten in Genua Daten im SIS Personen betreffen, die abgescho-
wegen Verdachts einer kriminellen Ver- ben oder an der Grenze zurückgewiesen wer-
einigung festgenommen. Sie tourten als aktio- den sollen.
nistische Performance-Karawane im Rahmen
der No-Border-Kampagne durch Europa. Der europäische Haftbefehl
Solche Fälle werden in Zukunft zuneh- Das neuste europäische Repressions-
men. Denn das SIS wird aus den nationalen instrument ist die unmittelbar bevorstehende
politisch motivierten Informationssystemen Einführung des europäischen Haftbefehls.
gespeist. In Deutschland ist insbesondere die Weitgehend ohne öffentliche Diskussion wird
LIMO – Datei (linkspolitisch motivierte Gewalt- damit das bisherige Auslieferungsverfahren
täter) aus dem sogenannten INPOL-System des zwischen den EU-Staaten durch den europäi-
BKA von Bedeutung. Hier wurden eifrig schen Haftbefehl ersetzt. Die Prüfung der
Personendaten gesammelt, insbesondere im Voraussetzungen zur Überstellung eines im
Zusammenhang mit Demonstrationen. In den Nachbarland Gesuchten wird praktisch nicht
Datensätzen finden sich zahlreiche Ungenauig- mehr stattfinden. Es genügt nun bereits, dass
keiten: Ermittlungsverfahren werden als Ver- die vorgeworfene Tat im ersuchenden Staat
urteilungen geführt, Freisprüche nicht berück- strafbar ist, unbeachtlich ob die Tat auch im
sichtigt und unrechtmäßig erhobene Daten Heimatland des Betroffenen strafbar wäre.
nicht gelöscht. Wenig Raum bleibt für eine Verteidigung im
Auslieferungsstaat. Dabei werden erfahrungs-
„80 % der Daten gemäß gerade bei Ermittlungen wegen politi-
betreffen MigrantInnen“ scher Straftaten die Rechte der Beschuldigten
Am schwersten betroffen von der schär- wenig beachtet. Selbst dürftigste Beweislagen
feren europäischen Gangart sind Migrant- reichen regelmäßig für ein Ermittlungsver-
Innen. Die legale Einwanderung wird systema- fahren und eine spätere Verurteilung aus. Sind
tisch verhindert. Zugleich wird die unerlaubte die Personalien erst einmal festgestellt wor-
Immigration immer schärfer kriminalisiert. den, genügt später die einzelne Aussage eines
Das BKA hat in die Transitländer Verbindungs- Polizisten. Schutz bietet auch nicht mehr die
beamte entsendet, die die örtlichen Polizeien Staatsangehörigkeit, denn auch eigene Staats-
ausbilden und unterstützen. Sie nehmen an angehörige des Auslieferungslandes müssen

18 ||||| EU: MIT SICHERHEIT |||||


nunmehr ausgeliefert werden. Mit der ein- Team Europe (LTE) gegründet. Zu den interna-
schneidenden Konsequenz, dass man sich ohne tionalen Großereignissen reisen stets LTE-
politische Unterstützung in einem fremden AnwältInnen aus den meisten EU-Ländern mit
Rechtssystem und in einer fremden Sprache an, um so gemeinsam die Verteidigung von
verteidigen muss. Ein Anspruch auf Dol- Festgenommenen zu organisieren, indem sie
metscher und Pflichtverteidiger wurde nicht einen Verbund von Rechtskenntnissen der ver-
mit aufgenommen. schiedenen nationalen Rechtssysteme bilden.
Die europäischen Strafverteidiger- Die EDA arbeiten derzeit an einen Ratgeber für
Innen beginnen, auf die veränderte Situation Demonstrationen in allen EU-Ländern.
zu reagieren. Aus zahlreichen EU-Ländern Wohin die Entwicklung noch gehen
haben sich AnwältInnen bei den Europäischen wird ist ungewiss. Eines aber ist sicher: Die EU-
Demokratischen AnwältInnen (EDA/AED) Politik der inneren Sicherheit richtet sich in
organisiert. Die EDA haben als Reaktion auf die erster Linie gegen MigrantInnen und Globa-
Erfahrungen nach Genua das Netzwerk Legal lisierungskritikerInnen. kk

olaf griebenow
arbeitet als Rechtsanwalt
in Mainz. Er ist Redaktions-
mitglied der Zeitschrift
Bürgerrechte & Polizei und
hat zu Rechtsstaatdefiziten
der europäischen Polizei-
kooperation promoviert.

alain mundt
arbeitet als Strafverteidiger
in Berlin. Er arbeitet im
Republikanischen
AnwältInnenverein (RAV)
und bei EDA mit.
Veröffentlichungen zur
Versammlungsfreiheit
u.a. im Grundrechte-Report.

||||| OLAF GRIEBENOW/ALAIN MUNDT ||||| 19


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

Eine emanzipatorische, kapitalis- beschreiben könnte wie das Wetter, sondern


eins muskritische Bewegung kann nur
dann den langen Atem bekommen, den sie
um eine aufsteigende Linie von Entwick-
lungsstadien, bis der ganze Prozess aufgrund
braucht, wenn sie einen zureichenden Begriff seiner inneren Widersprüche an eine absolute
des Kapitalverhältnisses auf der Höhe der Zeit historische Grenze stößt. Diese Grenze mar-
und eine entsprechende Realanalyse entwi- kiert eine objektive Funktionsunfähigkeit der
ckelt. Ein linker „ideologiekritischer Reduk- Verwertungslogik; das bedeutet jedoch keine
tionismus“, der die weltkapitalistische Situ- Auflösung des Kapitalismus in Wohlgefallen
ation allein aus zugeschriebenen Inter- oder eine „automatische Emanzipation“, was
pretationen in den Köpfen der Menschen erklä- ein Widerspruch in sich wäre, sondern viel-
ren will, wird selber zur Ideologie. Dass die mehr eine Auflösung in „naturwüchsige“ bar-
kapitalistische Objektivität eine falsche, feti- barische Zerfallsprozesse. Man kann dabei
schistische ist, ändert nichts an ihrem nicht zwischen „kapitalistischer Zivilisation“
Charakter als „zweite Natur“, die erst überwun- und „Barbarei“ wählen wie zwischen Dash und
den werden muss. Deshalb bedarf es ja über- Persil, weil das Kapital in seinem Kern und sei-
haupt einer theoretischen Analyse der ner ursprünglichen Konstitution selber

sechs thesen über globalisierung, imperialismus und radikale kritik


robert kurz
Verhältnisse, obwohl diese „von den Menschen Barbarei ist, die in der Krise objektiv und sub-
selbst gemacht“ sind, aber eben „nicht aus freien jektiv freigesetzt wird. Emanzipation bedarf
Stücken“ (Marx). Kapitalismus geht nicht ohne der Erkenntnis dieses inneren Zusammen-
Vermittlung durch die Subjekte, was aber durch hangs, statt ihn zu verdrängen zugunsten
die vorausgesetzte gesellschaftliche Form auf eines oberflächlichen Politizismus.
Selbst-Objektivierung hinausläuft. Die notwen-
dige Kritik der affirmativen Ideologien (Natio- 3. Natürlich ist es umstritten, ob die
nalismus, Rassismus, Antisemitismus etc.) kapitalistische Entwicklung heute an absolute
muss diese aus den selbst-objektivierten Ver- historische Grenzen stößt. Diese These kann
hältnissen erklären und sie darauf zurück- jedoch nicht durch den bloßen Appell an einen
beziehen können, statt umgekehrt die Ver- unausgewiesenen linken common sense wider-
hältnisse aus den Ideologien ableiten zu wollen. legt werden, der von einer ewigen Regenera-
Erst auf diese Weise ist es überhaupt möglich, tionsfähigkeit des Kapitals ausgeht. Vielmehr
die Ideologie als negative, anti-emanzipatori- muss konkret akkumulationstheoretisch argu-
sche Eigenleistung der Subjekte zu kritisieren. mentiert werden. In dieser Hinsicht gibt es
genügend Hinweise, dass wir es mit einer
2. Kapitalismus ist kein statischer Zu- Weltkrise der dritten industriellen Revolution
stand, sondern seinem Wesen und Begriff nach (Mikroelektronik) zu tun haben, von der die
ein blind dynamisierter historischer Prozess. bisherigen Kompensationsmechanismen der
Die Verwertung des Werts als abstraktes logi- zyklischen Krisen zerstört werden.
sches Grundprinzip realisiert sich in diesem Die Erweiterung der Märkte qua Ver-
Prozess mit unterschiedlicher Qualität und in billigung der Produkte durch mikroelektroni-
unterschiedlichen Darstellungsformen. Dabei sche Produktivkraftentwicklung bleibt hinter
handelt es sich nicht um bloße „Wechsellagen“ den qualitativ neuen Potentialen zur Weg-
vor dem immergleichen Hintergrund, die man rationalisierung von Arbeitskraft zurück.

20 ||||| KRISENKOLONIALISMUS |||||


Deshalb kommt es nicht wie in der fordisti- Form von finanzkapitalistischen Portfolio-
schen Boomphase (Wirtschaftswunder) zu Investitionen (z.B. Kauf von osmanischen
einer Reabsorption der Reservearmee von Ar- Staatsanleihen für den Bau der Bagdad-Bahn),
beitslosen. In der „organischen Zusammen- jedoch keine Direktinvestitionen (Kauf oder
setzung des Kapitals“ steigt der Anteil des Bau von Fabriken). Kapitalexport als Direkt-
Sachkapitals so stark an, dass der tendenzielle investition gab es erst seit Beginn des
Fall der Profitrate (der langfristige Indikator 20. Jahrhunderts und ging hauptsächlich in
für den inneren Selbstwiderspruch der Akku- die jeweils eigenen Kolonien und Einfluss-
mulationsbewegung) umschlägt in einen abso- gebiete (das war die Grundlage für Lenins
luten Fall der realen Profitmasse. An die Stelle Imperialismustheorie). Erst nach dem 2. Welt-
der zyklischen tritt eine strukturelle „Überak- krieg, unter dem gemeinsamen politischen
kumulation“ (Marx) des Kapitals mit wachsen- Dach der Pax Americana, flossen die Direkt-
den globalen Überkapazitäten. Das überschüs- investitionen in großem Maßstab, auch unter
sige, nicht mehr real reinvestierbare Geld- den Ländern des kapitalistischen Zentrums
kapital flüchtet in den Finanzüberbau (simula- selbst (etwa VW in USA, Brasilien usw.). Das
tive Schulden- und Finanzblasen-Ökonomie). ging als eine Art Cloning: Anderswo wurde eine
Im Westen erscheint die Krise zunächst als identische Betriebswirtschaft mit allen Ab-
strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Finanz- teilungen aufgebaut. Es handelte sich also um
krise der öffentlichen Hände und drastische Erweiterungsinvestitionen in der Form des
antisoziale Gegenreform; im Osten und Süden Kapitalexports (Stichwort seit den 70er Jahren:
kollabieren ganze Weltregionen, gerade weil multinationale Konzerne).
sie nicht die Kapitalkraft für die mikroelektro- Die heutige Globalisierung dagegen löst
nische Aufrüstung ihrer Produktion aufbrin- bestehende Betriebswirtschaften auf und zer-
gen können und deshalb unter die Pro- streut die Abteilungen transnational unter
duktivitätsstandards des Weltmarkts fallen. Ausnutzung des globalen Kostengefälles (For-
schung in USA, Vorprodukte in Hongkong, End-
4. Was in der laufenden Debatte als montage in Polen, Betriebs- und Lohnabrech-
Globalisierung bezeichnet wird, ist in ökono- nung in Indien, Steuern bezahlen in Irland
mischer Hinsicht nichts anderes als die be- usw.). Mit anderen Worten: Der Kapitalexport
triebswirtschaftliche Verlaufsform der Welt- in Gestalt von Direktinvestitionen ist zur
krise. Dabei handelt es sich tatsächlich um eine Funktion der Rationalisierung geworden; es
neue Qualität. Im 19. Jahrhundert gab es fast handelt sich nicht mehr um Erweiterungs-
ausschließlich Warenexport zwischen Natio- investitionen, sondern um die betriebswirt-
nalökonomien; Kapitalexport dagegen nur in schaftliche Verlaufsform des krisenhaften
Abbaus globaler Überkapazitäten. Überall ent-
stehen „Inseln der Rentabilität“, während der
Rest ökonomisch ver- und die Gesamt-
gesellschaft „postpolitisch“ zerfällt.

||||| ROBERT KURZ ||||| 21


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

5. Im Zuge dieser Gesamtentwicklung Pax Americana und Transnationalisierung der


bis zur heutigen globalen Krise lässt sich eine betriebswirtschaftlichen Ebene im globalen
Metamorphose des Imperialismus beobachten. Krisenkapitalismus der 3. industriellen Revo-
Vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende der lution sind irreversibel.
Weltkriegsepoche gab es, ungefähr im Sinne Die zwangsweise Integration des ehe-
der Leninschen Theorie, einen Kampf der maligen Gegensystems eröffnet keinen neuen
stärksten Nationalstaaten des kapitalistischen Akkumulationsspielraum, sondern macht die
Zentrums um die Neuaufteilung der Welt Weltkrise der strukturellen Überakkumulation
(Kolonien, Einflusssphären, „partielle Welt- nur umso deutlicher. Die Pax Americana
wirtschaften“ unter nationaler Kontrolle). Seit mutiert zur buchstäblichen Weltpolizei eines
dem Ende des 2. Weltkriegs hat sich unter der „ideellen Gesamtimperialisten“. Dabei geht es
absoluten Vorherrschaft der USA eine qualita- auf der Grundlage von transnationalen Be-
tiv neue Struktur imperialer Macht auf der triebswirtschaften und globalen Produktivi-
Basis einer kapitalistisch integrierten Welt- täts- bzw. Rentabilitäts-Inseln um einen
ökonomie herausgebildet. Der strategische Sicherheitsimperialismus gegen die vom Welt-
Kalte Krieg gegen das staatskapitalistische kapital selbst hervorgerufenen gesellschaft-
„Gegensystem“ der historischen Nachzügler lichen Zerfallserscheinungen, um einen Aus-
einer „nachholenden Modernisierung“ unter grenzungsimperialismus gegen die globalen
Führung der Sowjetunion bildete nicht das Flucht- und Migrationsströme sowie um die
Wesen, sondern nur eine Erscheinung dieses Sicherung der strategischen Rohstoffreserven
Prozesses. Deshalb kehrt der Weltkapitalismus (Öl als Treibstoff der kapitalistischen Verbren-
nach dem Untergang dieses Gegensystems auch nungsmaschine). Innerhalb dieser Hülle beste-
nicht zum alten Kampf nationaler Imperien hen die brüchig werdenden Nationalstaaten
um die Neuaufteilung der Welt zurück, wie weiter, weil Staatlichkeit ihrem Begriff nach
eine anachronistische radikale Linke meint. nicht universell sein kann. Widersprüche und

22 ||||| KRISENKOLONIALISMUS |||||


Rivalitäten in dieser Hinsicht sind unvermeid- Subjektform voraussetzt
bar, aber sie können nicht mehr die Qualität und nichts als eine
des alten imperialen Kampfes um die Welt- Veranstaltung von
herrschaft annehmen. Konkurrenz-Individuen
bei gleichzeitiger Ab-
6. Die radikale Linke hat sich großen- spaltung „weiblich“ be-
teils noch nicht begrifflich auf die Höhe der setzter Momente der
kapitalistischen Entwicklung hinaufgearbei- Reproduktion darstellt.
tet; ihr Begriffsapparat ist veraltet, weil er Dasselbe
ganz auf die inzwischen beendete Geschichte Dilemma wiederholt
der „nachholenden Modernisierung“ und der sich hinsichtlich der
sozialen bzw. nationalen „Anerkennung“ auf Verhältnisse im kapita-
dem Boden des modernen warenproduzieren- listischen Zentrum. Die
den Systems geeicht ist. Deshalb versucht diese einen möchten die EU
Linke weiter gewohnheitsmäßig, eine nicht zum „Gegengewicht“
mehr vorhandene Entwicklungs-Alternative gegen die USA als zivili-
im kategorialen Rahmen dieses Systems zu satorische
besetzen. Dabei hat sich eine falsche „Friedensweltmacht“
Polarisierung zwischen „Antiimperialisten“ stilisieren und den „rheinischen Welfare-
und prowestlichen „Zivilisationsrettern“ her- Kapitalismus“ als Alternative zum zügellosen
ausgebildet. Beide klammern sich gleicherma- „angelsächsischen Warfare-Kapitalismus“ aus-
ßen an die unwiederbringlich verlorene Pers- loben. Die anderen wollen genau umgekehrt in
pektive innerkapitalistischer Entwicklung, den USA die letzte zivilisatorische Bastion
bürgerlicher Aufklärungsideologie und moder- nicht nur gegen die „Barbarei der 3. Welt“, son-
ner Subjekt-Konstitution. dern auch gegen das drohende „eurasische
Die einen beschwören die lächerlich ge- Reich der (antisemitischen) Finsternis“ unter
wordene „Unabhängigkeit“ der Nationen und deutscher Führung erkennen. Beides ist
Kulturen, möchten die „Souveränisten“ im schlechte Fantasy. Dass wahlweise die USA
Kampf gegen die US-Vorherrschaft unterstüt- oder die EU ein wenig Sowjetunion spielen sol-
zen und am liebsten einen buchstäblich ver- len und das Phänomen der neuen sozialen
wilderten Ex-Modernisierungs-Diktator vom „Bewegung der Bewegungen“ entweder in das
Schlage eines Saddam zu einer Art Che Guevara alte Klassenkampf-Schema gepresst oder als
zurechtschminken; die anderen werfen sich neue Nazi-Bewegung denunziert wird, ver-
dem westlichen Krisenkolonialismus unter US- weist nur auf den nostalgischen Charakter bei-
Führung an den Hals und halluzinieren einen der Interpretationsmuster.
„Befreiungsimperialismus“ mit der Option auf Tatsächlich ist die zentrale Führungs-
institutionelle „Demokratisierung“ und Ver- rolle der USA für das transnationale Kapital
besserung der Lage etc. Da der globale Krisen- unabdingbar geworden. Der nach dem 2. Welt-
prozess sukzessive die sozialökonomischen krieg aufgebaute Vorsprung der US-Militär-
Grundlagen eines gesellschaftlichen Daseins in maschine (mehrere Generationen von High-
den Formen von „abstrakter Arbeit“ und Tech-Waffensystemen) ist nicht aufzuholen;
Wertform zerstört, gehen beide Versionen das wäre unter heutigen Krisenbedingungen
eines bürgerlichen „Institutionalismus“ ins finanziell nicht darstellbar und liegt auch gar
Leere. Die Souveränität zerfällt auch ohne US- nicht im kapitalistischen Interesse. Als letzte
Intervention; eine Demokratisierung mit US- Supermacht und vermeintlich „sicherer
Hilfe (ideologisch nichts als eine Rückkehr der Hafen“ ziehen die USA die überschüssigen
Kolonialideologie von der „Bürde des weißen Geldkapitalströme der Welt mittels astronomi-
Mannes“) ohne konkurrenzfähige ökonomi- scher Außenverschuldung an und finanzieren
sche Grundlagen kann nicht einmal als Farce damit nicht nur ihre Militärmaschine, son-
gelingen; dieser Begriff ist ohnehin zu kritisie- dern absorbieren auch die überschüssigen
ren, weil Demokratie bereits die kapitalistische Warenströme durch ein ebenso astronomisches

||||| ROBERT KURZ ||||| 23


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

Handelsdefizit. Dieses Konstrukt ist nicht halt- vergieren EU und USA sowohl sozialökono-
bar und wird platzen. Aber die innere ökono- misch als auch kulturell. Die radikale Linke
mische Schwäche der USA ist nicht die Stärke muss die falschen und in jeder Hinsicht obsole-
der EU oder Asiens, sondern die Schwäche auch ten Alternativen der bürgerlichen Immanenz
aller anderen, die längst nicht nur militärisch, grundsätzlich verweigern, wenn sie mit dem
sondern auch ökonomisch von der Zentral- Kapitalismus wieder auf Augenhöhe kommen
macht abhängig geworden sind. Wenn die will. Der Bruch mit dem modernen System von
Überschuss-Ströme in die USA versiegen, wird „abstrakter Arbeit“, Wertform und männlich-
die Weltkrise das gesamte kapitalistische weißer westlicher Subjektform steht auf der
Zentrum mit voller Gewalt erfassen. Tagesordnung, nicht das Stochern nach irgend-
In diesem Kontext ist die linke Aus- einer „Realpolitik“ in den Ruinen von bürger-
einandersetzung um den „Antiamerikanismus“ licher Aufklärung und Wertvergesell-
besonders absurd und reproduziert abermals schaftung. kk
eine falsche Alternative. Die „Souveränisten“
eines kulturalistischen Antiimperialismus, die
den sozialstaatlichen „rheinischen Kapitalis-
mus“ retten wollen, werden tatsächlich im
klassischen rechtskonservativen Sinne anti-
amerikanisch; die linksbellizistische prowestli-
che Zivilisationshuberei möchte umgekehrt
jede Analyse der realen Rolle der USA im inte-
grierten Weltsystem des Krisenkapitalismus
und die Ansätze sozialer Kritik per se als anti-
amerikanisch denunzieren. In Wahrheit kon-
robert kurz
arbeitet als freier Publizist
in Nürnberg und ist
seit fast 40 Jahren in der
radikalen Linken aktiv;
er vertritt theoretisch den
Ansatz der Wertkritik.
Wichtigste Buch-
veröffentlichungen:
Schwarzbuch
Kapitalismus (1999),
Weltordnungskrieg (2002),
Die antideutsche
Ideologie (2003).

24 ||||| KRISENKOLONIALISMUS |||||


bisher ungebrochene Dynamik der miss die konservativ-liberale Koalition, um eins
die globalisierungskritischen „Bewegung
der Bewegungen“ beruht primär auf ihrem
erst von der rotgrünen Regierung liquidiert zu
werden. Markenzeichen des westdeutschen
Insoweit hatte Arundhati Roy recht, als sie
die Bewegungen in Mumbai aufrief, selbst
konstitutiven Internationalismus und ihrer Fordismus war eine vergleichsweise hohe zum „globalen Widerstand gegen die Be-
Fähigkeit, unterschiedliche politische Subjek- Beteiligung der subalternen Klassen am gesell- satzung“ des Irak zu werden. Erst dann wäre
tivitäten ohne Anspruch auf Vereinheitlichung schaftlichen Reichtum und eine institutionelle zu bestimmen, welche Kräfte im Irak unter-
zusammenzubringen. Ihre Schwäche zeigt sich Verregelung der Klassenauseinandersetzun- stützt werden können – und das werden
in der defensiven Beschränkung auf ein „anti- gen, deren Garant der Block von SPD und Ein- weder die „baathistischen Killer“ noch isla-
neoliberales“ gesellschaftliches Projekt. Sollen heitsgewerkschaft war. Gleichsam strukturell mische Fundamentalisten sein. (vgl.
sich die Bewegungen nicht in letztlich folgen- marginalisiert, blieb den Linken in (West-) http://www.jungewelt.de/ 2004/01-20/
losem Aktivismus erschöpfen, gilt es, sich über Deutschland über Jahrzehnte nur die Wahl 003.php) Dem attac-Sprecher Sven Giegold
einen gemeinsamen strategischen Horizont zu zwischen Integration oder Sicheinrichten in (!) ist dann zuzustimmen, wenn er die Aus-
verständigen. Global kommt dabei dem Wider- der eigenen gesellschaftlichen Randseitigkeit.2 weitung des von Roy vorgeschlagenen Boy-
stand gegen den permanenten Weltordnungs- Von daher liegt die Bedeutung der aktuellen kotts von US-Konzernen auf solche der EU
krieg, lokal dem gegen die postfordistische Umbrüche nicht nur in der Rücknahme der fordert (http://www.attac.de/ genug-fuer-
Restrukturierung der Lebens- und Arbeits- historischen „Errungenschaften“ des sozialde- alle/presse/ pressespiegel/2004/januar/
pressespiegel_1801.php).

perspektiven einer postfordistischen linken


thomas seibert
verhältnisse ein Vorrang zu. Deren Fortschritt
unterwirft nahezu alle Bereiche des ge- mokratischen Blocks, sondern in dessen rasan- zwei
sellschaftlichen Lebens der Kapitalverwertung ter und unumkehrbaren Zersetzung. Mit ihr Nach 68 schlug sich das einerseits in den
und schließt gleichzeitig eine wachsende Zahl kann sich ein Vakuum öffnen, in dem die herr- Massenbeitritten in die SPD und der
von Menschen von jeder zureichenden Er- schenden Kräfte neue Formen der Integration Ausrichtung der DKP am sozialdemokra-
werbsmöglichkeit aus. Das daraus resultieren- subalterner Klassen und oppositioneller tischen Block, andererseits im relativ
de Problem einer Kontrolle der globalen Ein- Milieus finden müssen, während sich Linken schnellen Zerfall der Ansätze einer radikalen
und Ausschlussverhältnisse treibt das postfor- erstmals wieder Chancen bieten, genau das zu Linken nieder. Die Bruchlinien, die sich in
distische Kommando über die Arbeitskraft zur durchkreuzen. So zeigte die Berliner Demon- einigen Kämpfen in Schulen, Hochschulen
weltpolizeilichen Absicherung seines Zugriffs stration vom 1.11.2003, dass der Protest tenden- und Betrieben, in den Revolten gegen die
auf das gesellschaftliche Leben. Dem widerset- ziell die Loyalität der gesellschaftlichen Basis „Konsumgesellschaft“, den Bewegungen der
zen sich die Bewegungen, indem sie den des sozialdemokratischen Blocks aufbrechen Frauen und den Auseinandersetzungen um
Widerstand gegen die globalisierte Ausbeutung kann. Zwar brach die Anti-Kriegs-Bewegung die städtische wie ländliche Umwelt ab-
mit dem gegen den globalisierten Krieg nicht mit der von Schröder-Fischer ausgespiel- zeichneten, vertieften sich nicht; mit dem
zusammenführen.1 ten „alteuropäischen“ Variante imperialer individuellen Aufstieg vieler Akteure der
Politik und blieb der Widerstand gegen den „Neuen Sozialen Bewegungen“ formierte
Das Ende „Sozialabbau“ defensiv. Auch schlägt sich die sich in den Grünen eine eigene Variante des
des rheinischen Kapitalismus Delegitimierung der politischen Eliten bis jetzt Anschlusses an den Block der Integration.
In Deutschland hat sich die globale nur in einer wachsenden Nichtbeteiligung an
Bewegungsdynamik erst spät artikuliert. Das Parlamentswahlen sowie in Massenaustritten
hat – neben anderem – einerseits mit den aus SPD und Gewerkschaften nieder. Doch dür-
Umständen der „Wiedervereinigung“, anderer- fen deren Dynamik und Konsequenzen nicht
seits mit der Stabilität des „rheinischen unterschätzt werden: verließen im vergange-
Kapitalismus“ zu tun. Obwohl schon von der nen Jahr 30.000 Mitglieder die SPD, waren es
Regierung Schmidt untergraben, überdauerte allein im Januar 2004 bereits 10.000. Darin zer-
der für die BRD konstitutive Klassenkompro- bricht ein wesentliches ideologisches Funda-

||||| THOMAS SEIBERT ||||| 25


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

drei ment des politischen Systems der BRD. Welche rerseits an die lebenslange Erwerbstätigkeit im
Für einen Überblick vgl. die Folgen das hat, ob die Entwicklung nach rechts Normalarbeitsverhältnis infragegestellt. Da-
Diskussionen bei attac oder nach links geht oder ob daraus eine all- durch öffnen sich Räume gesellschaftlicher
(http://www.attac.de/sozsich/te tagszynische Zersetzung des Politischen nach Auseinandersetzung, in denen auch qualitative
xte-speicher.php), im Umfeld us-amerikanischem Vorbild resultiert, hängt Veränderungen in der Produktion und Repro-
der Rosa Luxemburg-Stiftung nicht nur, aber auch von den Linken ab. duktion zunächst der öffentlichen Güter einzu-
(www.wem-gehoert-die- fordern wären: wer stellt was wie für wen
welt.de), in „radikal- Soziale Rechte, öffentliche Güter bereit? Mehr noch: was ist überhaupt ein
reformistischen“ Kreisen Eine Gelegenheit zur strategischen Ver- „öffentliches Gut“ und was heißt es eigentlich,
(http://www.links-netz.de), in schiebung der Bewegungsdynamik nach links solche Güter der Verwertungslogik zu entzie-
der Vorbereitung des 27. Kon- bieten die Debatten um den eher unscheinba- hen? Letzterem entspricht eine Überschrei-
gresses der Bundeskoordi- ren Begriff der „sozialen Rechte“, die momen- tung der ebenfalls aus dem Fordismus stam-
nation Internationalismus tan am linken Rand des sozialdemokratischen menden Orientierung auf „Verteilungsgerech-
(http://www.buko.info/) oder bei Blocks, innerhalb von attac und den Sozial- tigkeit“ hin zu autonomen Praktiken direkter
kanak attak (http://www.kanak- foren und in linksradikalen Zusammenhängen Aneignung sozialer Rechte wie öffentlicher
attak.de/ka/) bzw. der Gesell- geführt werden.3 Die Verteidigung und mehr Güter. Dass solche strategischen Verschie-
schaft für Legalisierung noch der Kampf um die Erweiterung sozialer bungen möglich sind, belegt die spontane
(http://www.rechtauflegalisieru Rechte verbinden sich darin mit der Vertei- Zustimmung, die die Forderung nach einem
ng.de/). Vgl. außerdem arranca! digung „öffentlicher Güter“ – soziale Siche- Recht der illegalisiert in Deutschland lebenden
28/03 (http://arranca.nadir.org/ rung, Bildung, Gesundheit, Kultur, städtische Menschen auf Legalisierung ihres Aufenthalts
aktuell.php3) und Fantômas und ländliche Umwelt etc. - gegen die neolibe- 2003 auf dem Bundeskongress von Ver.di und
4/03 (http://www.akweb.de/ rale „Akkumulation durch Enteignung“ (D. dem Ratschlag von attac fand. Wird dabei der
fantomas/index.htm). Harvey). Offensiv zu wenden ist beides, wenn postfordistische Zusammenhang von Neolibe-
dabei der Bezug zur postfordistischen Restruk- ralismus, Globalisierung und Krieg nicht auf-
turierung der Produktionsverhältnisse herge- getrennt und die Perspektive nicht auf eine
stellt wird. Je klarer soziale Rechte und der „sozialpolitische“ Auseinandersetzung im
Zugang zu öffentlichen Gütern bedingungslos nationalstaatlichen Rahmen verengt, zeichnen
für alle eingefordert werden, desto mehr wird sich Kämpfe ab, in denen globalisierungskriti-
die aus dem Fordismus überkommene Bindung sche Bewegung gewinnen könnte, was ihr bis
sozialer Rechte und öffentlicher Güter einer- jetzt fehlt: ein subversives Alltagsleben.
seits an den nationalen Sozialstaat und ande-
Eine postfordistische Linke
Davon sind die Linken nicht ausgenom-
men, im Gegenteil: ihre sozialen Milieus wer-
den von den aktuellen Umbrüchen so radikal
durcheinandergewirbelt, dass sie in eigener
Sache zur Intervention gezwungen sind. Das
gilt in einem historisch nahen und einem his-
torisch weiter zurückreichenden Sinn. Nah,
insofern radikale Linke in ihren milieuspezifi-
schen Reproduktionsstrategien seit 1968 zu-
gleich vom fordistischen Klassenkompromiss
und seiner postfordistischen „Modernisierung“
zehrten. Das galt für die Ausnutzung der
Zeitressourcen einer verlängerten studenti-
schen Existenz ebenso wie für alternativökono-
mische Experimente, für das JobberInnentum,
für die privilegierte Besetzung „kreativer“ wie
sozialer Berufe, sogar für die Teilnahme am
„Marsch durch die Institutionen“ und nicht
zuletzt die individuelle Nutzung sozialstaat-

26 ||||| IN BEWEGUNG KOMMEN |||||


licher Garantien. Alle diese Möglichkeiten
mitsamt ihrem Niederschlag in den formellen
und informellen Institutionen der „Szene“ wie
der explizit politischen Organisation tendieren
heute gegen Null. Von der Liquidierung der
„Freiräume“ der Universitäten wie der Alter-
nativökonomie über die Verelendung im Job-
berInnentum bis zur Prekarisierung „kreati-
ver“ und sozialer Berufe unterm doppelten
Druck von Konkurrenz und „Sozialkahlschlag“:
am Kampf um bedingungslose soziale Rechte
und die Wiederaneignung öffentlicher Güter
haben Linke heute ein existenzielles Interesse.
Sofern der Postfordismus nicht nur Resultat
neuer Kapitalstrategien, sondern auch eine
Folge der Kämpfe gegen das fordistische mokratischen Blocks übrigens nicht
Fabrikregime und die „konsumgesellschaftli- weniger als der letzten Aufgebote leni-
che“ Normierung des Alltags ist, sind die lin- nistischer „Arbeiterparteien“. Auch das
ken Milieus aber nicht einfach „Opfer“: ihre artikuliert sich in den Stärken und
Revolte gegen das Normalarbeitsverhältnis Schwächen der globalisierungskritischen
ging dem neoliberalen Angriff voraus, sie kön- Bewegung und weist sie noch einmal als
nen flexibilisierte Arbeitsbedingungen in offe- Bezugspunkt einer postfordistischen Linken
ne und experimentelle Lebensentwürfe inte- aus. Die trägt diesen Namen dann zu recht,
grieren und suchen ihre Chancen deshalb auch wenn sie ihre Massenintellektualität subversiv
nicht in einer reuigen Rückkehr unter die for- zu radikalisieren lernt, im Alltagsleben wie in
distische Disziplin. der Konstruktion eines diesem Alltag angemes-
In weiter zurückreichender Perspek- senen politischen Raums.
tive geht es dabei um das Verhältnis der Linken
zu sozialer Bewegung selbst, das historisch oft Auf kurze Sicht
ein Stellvertretungsverhältnis von Intellek- Zielen Linke nicht nur aus distanzier-
tuellen – das Wort in weitem, auch nicht-aka- ter strategischer Reflexion auf die Radika-
demischen Sinn verstanden – zu ihnen gegen- lisierung sozialer Bewegung, sondern unterm
über subaltern platzierten Milieus war. Im Zug existenziellen Druck ihrer unmittelbaren Ver-
der postfordistischen Restrukturierung der wicklung in die gesellschaftlichen Umbrüche,
Arbeitsteilung aber werden immaterielle wie so sind etwaige Radikalisierungspotenziale nur
affektive Tätigkeiten so tiefgreifend verändert, in der Verwicklung selbst in den Blick zu neh-
dass sich die soziale Kategorie des Intellektuel- men. Konkret gesprochen: in den Auseinander-
len in die in ihrer Mehrdeutigkeit wie inneren setzungen beispielsweise um die europäischen
Ausdifferenzierung noch gar nicht ausgelotete Aktionstage des 3./4. April diesen Jahres. Dort
Kategorie der „Massenintellektualität“ auf- ist es den Erwerbsloseninitiativen gelungen,
löst.4 Das betrifft individuelle Lebensfüh- einen Wiedergänger linker Strategie und Tak- vier
rungen wie ganze gesellschaftliche Sektoren – tik, den Anspruch auf ein garantiertes Min- Vgl. Thomas Atzert (Hg.),
alles, was im Alltag als „Kultur“, aber auch als desteinkommen, an die Spitze eines Forde- Immaterielle Arbeit und
„Öffentlichkeit“ bezeichnet wird, und damit rungskatalogs zu setzen, auf den sich Gewerk- Subversion, Berlin 1998,
natürlich auch die Bedingungen politischen schafterInnen, AktivistInnen von attac, der und Marco Revelli,
Handelns im engeren Sinn des Wortes. Hier hat Sozialen Foren wie der Friedensbewegung Die gesellschaftliche Linke,
der Leerlauf der parlamentarischen Institu- sowie diverse linke Gruppen einigen konnten. Münster 1999
tionen und Prozeduren politischer Repräsen- Wichtig daran ist weniger die im Ansatz refor-
tation ebenso seinen Grund wie die damit ver- mistische und von neoliberaler Seite längst
bundene Krise der Institutionen und Proze- funktionalisierte Forderung selbst als ihre
duren der historischen Linken – des sozialde- Fähigkeit, Brennpunkt einer breiten Debatte

||||| THOMAS SEIBERT ||||| 27


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

um gesellschaftliche Alternativen werden zu kann exemplarisch am Recht auf Legalisierung


können. Bis jetzt besteht der erreichte Konsens des Aufenthalts verdeutlicht werden, das vom
darin, dass ein Mindesteinkommen allen Er- Staat überhaupt nur eingefordert werden
werbslosen ohne „Bedürftigkeitsprüfung“ ein kann, weil Subjekte in Bewegung sich das
fünf „Leben in Würde“ ermöglichen soll.5 Beides Recht zum Aufenthalt im Staatsgebiet längst
Frankfurter Appell wäre von links aufzugreifen und gegen den genommen haben. Das eine ist ohne das andere
17./18. 1. 2004, Status eines „Mindesteinkommens“ für den nicht zu haben – und andersherum. kk
http://www.alle-gemeinsam- Fall individueller Erwerbslosigkeit zu kehren:
gegen-sozialkahl- es ginge dann um einen bedingungslos allen
schlag.de/frankfurterapell.htm. offenen Zugang zum gesellschaftlichen Reich-
Zur weiteren Diskussion tum nach der alleinigen Maßgabe einer im
vgl. Hans-Peter Krebs, sozialen Kampf behaupteten „Würde“. Sich
Harald Rein (Hg.), hier ins Handgemenge zu begeben heißt nicht,
Existenzgeld, Münster 2000 auf „Bündnispolitik“ zu schielen, sondern als
LinkeR in eigener Sache zu handeln und das
bedingungslos beanspruchte Recht auch für
sich einzufordern. Allerdings reicht das bloße
Erheben von Forderungen hier nicht aus, weil
der Kampf um die Garantie von Rechten selbst
wieder an Rechten hängt, die Subjekte sich zu
nehmen willens und in der Lage sind. Auch das

28 ||||| IN BEWEGUNG KOMMEN |||||


mehreren Monaten kreist ein obsessi- gesehen falsch, war es doch unfähig, die eins
seit ver Gedanke durch Europa: dass ein
Zyklus der Bewegung zuende gegangen ist – viel-
Symptome des globalen Widerstandes zu erken-
nen. Noch dazu machte es sich den Standpunkt
mit freundlicher Genehmigung
der GenossInnen von derive
mehr, dass der Zyklus der Bewegung zuende ist. des Gegners zu Eigen, vom Triumph des approdi haben wir diesen Text
Als erstes sollte man jedoch die Kategorie von Kapitalismus und vom Ende der Geschichte übersetzt. Anmerkungen zum
„Bewegung“ hinterfragen. In dem hinter uns lie- auszugehen. In dieser Erzählung wurde von Verständnis der Begriffe haben
genden Jahrzehnt wies der Begriff, zumindest in einem einzigen (glatten) Raum ausgegangen, wir selbst hinzugefügt
Italien, meistens auf organisierte Elemente hin der von dem Diskurs der Macht und von der
und schloss damit jedwede Möglichkeit der sterilen Denunziation der Übeltaten und bru-
Randzonen zwischen ihnen und der Bewegung talsten Effekte des Kapitalismus durch seine zwei
selbst aus. Aber in den ambivalenten Faltungen Kritiker besetzt wurde. Aus dem selben der Begriff der Multitude
des Verhaltens der Multitude2, zwischen Zynis- Blickwinkel wurde zum Beispiel die Explosion (Multitudo: Menge, Masse) ist
mus und der Konstruktion einer neuen Gesell- der argentinischen Krise vor zwei Jahren einer der zentralen Begriffe in
schaft, zwischen Individualismus und der Hoch- betrachtet: anstatt (auch) der sozialen Erhe- „Empire“ von Negri/Hardt. Sie
schätzung der Singularitäten3 wurden mittler- bung Aufmerksamkeit zu widmen, die sie her- gehen davon aus, dass der glo-

die globale bewegung als raum der politisierung


derive approdi
weile multiple Fäden der Kommunikation gewo-
ben und kleine Praktiken des Überlebens und
des Widerstands sichtbar gemacht. Subterrane vorrief, wurde lediglich auf die kriminellen balisierte Kapitalismus sich in
Tunnel wurden von einer chaotischen, starken Verantwortlichkeiten des IWF und der einem homogenisierten Raum
und permanent vielfältigen, die Welt transfor- Weltbank geachtet. organisiert, in dem die Macht
mierende Spannung durchzogen. Aus diesem Widerspruch und aus die- kein Zentrum mehr besitzt -
Es wurde immer deutlicher, dass es eine Form sem schwierigen Jahrzehnt entsprang die das Empire. Dem gegenüberge-
des Provinzialismus war, die Neunziger über die Revolte von Seattle: ein Symbol des globalen stellt ist das revolutionäre
Abwesenheit der Bewegungen zu charakterisieren.4 In Kampfes. Von diesem Zeitpunkt an bis Genua Subjekt der Multitude, die sich
diesem Jahrzehnt finden wir die Arbeits- mischte die Bewegung die Karten neu, so dass vielfältig und plural
kämpfe in Korea, in denen große Autofabriken „nichts jemals sein würde wie vorher“. Wenn die zusammensetzt
in Brand gesteckt wurden; den Widerstand Bewegung gewaltsam ausbricht und die globale
gegen die multinationalen Konzerne in Szene erobert, destabilisiert sie die organisier-
Nigeria; die Kämpfe der Sem Terra in Brasilien ten Elemente und bringt sie oft in eine Krise. drei
und die in Los Angeles oder der Kampf im zapa- Wenn wir dieses nicht reflektieren, werden Fußnote siehe
tistischen Chiapas (und es wäre nützlich, sich wir weiterhin Schatten und Geister aus der nächste Seite
der chemischen Zusammensetzung zu erin- Vergangenheit in die Zukunft projizieren, oder
nern, die schon immer die großen Explosionen wir werden weiterhin von einem Bild geblen-
der proletarischen Revolten oder der det sein, das mit dem Feind die selbe vier
Arbeiterrevolte charakterisierte: 1994 war Perspektive teilt – das Ende eines Zyklus. Hervorhebung
sowohl das Jahr der zapatistischen Erhebung Hierzu gibt es noch weiteres zu bemerken. durch Übers.
wie auch das Jahr mit der höchsten Zahl an Einer der wichtigsten Perspektivwechsel, die
weltweiten Generalstreiks im 20. vorgenommen werden müssen, bezieht sich
Jahrhunderts). auf das Verhältnis von Zentrum und Periphe-
Dieses „unilaterale Denken“ über die rie. Die Ideologie der Fortschrittlichkeit des
Bewegung war kurzsichtig und perspektivisch Trikonts ist zusammen mit ihren Kategorien in

||||| DERIVE APPRODI ||||| 29


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

zahl sich zusammengefallen – wenn man davon Die Bewegung als


Der Begriff der Singularität ist ausgeht, dass sie je etwas aufweisen konnte ein offener Raum für Politisierung
in „Empire“ so definiert: jenseits der kolonialen und imperialistischen Nun ist für alle die Lücke zwischen der
„Wenn die Menge arbeitet, Logik, welche sie von Anbeginn der Moderne organisierten Realität der Bewegung und der
so produziert sie autonom und prägte. Es gibt keine „fortschrittlicheren“ oder Bewegung selbst offenkundig geworden. Von
reproduziert die gesamte „rückschrittlicheren“ Orte mehr. Die Bewegun- hier aus sollten wir beginnen, ohne in den ein-
Lebenswelt. (...) Indem sie gen der Ex-„Peripherien“ enthüllen und pro- fachen Rückschluß zu verfallen, Organisierung
arbeitet, produziert sich die vinzialisieren endlich unsere hochtrabenden gegen soziale Konflikte auszuspielen.
Menge selbst als Singularität. lokalen Debatten. In anderen Worten: es fehlt Obwohl es einfach war, die Krise der
Diese Singularität schafft einen uns an in den letzten Jahren akkumulierten, repräsentativen Demokratie zu registrieren,
neuen Ort inmitten des Nicht- theoretischem Potential, das in der Lage wäre, hat die globale Bewegung noch nicht neue orga-
Ortes des Empire, sie ist eine in definitive Ausarbeitungen und Bedürfnisse nisatorische Mittel gefunden, die in der Lage
Kooperation produzierte anzubieten und das nur noch in Pillen für die wären, diese zu überkommen. Sie hat die orga-
Wirklichkeit, (...). Die Menge freundlicherweise „Multitude“ genannte Mas- nisierten Teile kritisiert, ohne ihre eigene,
bekräftigt ihre Singularität, se übersetzt werden müßte. Die heutige Not- autonome und politische Repräsentation
indem sie die ideologische wendigkeit besteht darin, eine Ermächtigung gefunden zu haben. Wir glauben nicht, wie an-
Illusion, alle Menschen auf den der theoretische Praxis zu bewirken. Dies dere es behaupten, dass die Organisierung
globalen Oberflächen des bedeutet eine kontinuierliche Überarbeitung, keine positiven Funktionen hatte. Diese ist
Weltmarktes seien austausch- die weder danach ausgerichtet sein sollte, eine zum Beispiel in der Vorbereitung von zeit-
bar, umkehrt. Sie stellt die ferne Zukunft hervorzurufen, noch unakzepta- lichen Ereignissen, in der Schaffung struktu-
Marktideologie sozusagen vom ble Vergangenheiten wiederzubeleben, son- rierter Kommunikationskanäle und der Um-
Kopf auf die Füße und befördert dern die Gegenwart zu befragen, um sie verän- setzung von Koordinationsformen zu sehen.
durch ihre Arbeit die dern zu können. Jedoch glauben wir nicht, dass Organisationen
biopolitische Singularisierung alles sind.
von Gruppen und ganzen Teilen Konsequenterweise fällt die Krise in
der Menschheit, und zwar an den Mechanismen der organisierten Repräsen-
wirklich jedem Knotenpunkt tation nicht mit der Krise der Bewegung
des globalen Austauschs.“ zusammen: die Hypothese vom Ende eines
aus: Hardt/Negri: Zyklus führt zu einer übermäßigen Verein-
„Empire”, Frankfurt aM, fachung der Realität, in der wir uns bewegen.
2002, S. 402 Die Frage geht viel tiefer: was sich tatsächlich
in der Krise befindet, ist die Analyse der
Bewegung, die noch auf der klassischen Form
der Zyklen basiert: ein Schema, in dem
Bewegungen innerhalb eines gegebenen zeit-
lichen Rahmens geboren werden, wachsen,
einen Höhepunkt erreichen und wieder in sich
zusammenfallen.
Der Entwurf der Zyklen hatte zwei spe-
zifische Dimensionen. Die erste ist räumlich:
es ist der Kontext der Aktion lokaler oder
nationaler Bewegungen. Heute jedoch hat
diese Bewegung einen Schritt nach vorne
getan, indem sie sich den globalen Raum als
Aktionsraum aneignete. Dies ist Ausdruck
nicht nur einer quantitativen, sondern auch
einer qualitativen Veränderung.
Während wir in Italien vom Ende eines
Zyklus sprechen, trägt die Mobilisierung in
Cancun dazu bei, die WTO scheitern zu lassen;
gibt es in Bolivien eine erfolgreiche Erhebung

30 ||||| COMMON PLACES |||||


gegen die Regierung und die multinationalen kommt nun zu einem Ende. Nicht nur, weil die
Konzerne (bezogen auf die Menschenleben Verlagerung der Souveränität die Orte der
jedoch zu einem furchtbaren Preis); ist die Macht unbestimmbarer macht, sondern auch,
Anti-Kriegsbewegung in den Vereinigten Staa- weil die Forderungen der Bewegung – Krieg
ten sogar nach dem offiziellen Ende des und Frieden, freie Bewegungsmöglichkeit der
Kriegsereignisses in einem guten Zustand; set- Leute, Arbeit, die Entkommerzialisierung von
zen sich in Südafrika die Kämpfe gegen die Technologien und wissenschaftlicher Arbeit,
neoliberale Politik des ANC fort; finden in Umweltschutz - auf die Wurzeln des Problems
Brasilien, Argentinien und Venezuela wichtige rückführen; sie lassen sich nicht auf ein
politische Experimente statt. Programm der „Phasen“ reduzieren.
Diese Konfliktlaboratorien sind weder Das geeignetste Paradigma, um diese
getrennt voneinander, noch nehmen sie einan- Realität zu beschreiben, ist die soziale
der nur aus der klassischen Perspektive der Bewegung der MigrantInnen; Subjekte, die
internationalen Solidarität wahr. Im Gegen- durch ihre mobile Kritik die internationale
teil, sie sind unausweichlich miteinander ver- Arbeitsteilung, nationale Grenzen und
knüpft. Untereinander kommunizieren und Lohngrenzen in die Krise stürzen. Migran-
bestärken sie sich, ohne die sehnsüchtig erwar- 0tInnen sind Subjekte, die nicht befriedet wer-
tete globale Einigkeit vorherzusagen, sondern den können. Weder an den von ihnen verlasse-
diese als Vorraussetzung unserer Gegenwart nen Orten (wie es der differenzierte Rassismus
anzunehmen. wünscht), noch an den Orten der Ankunft (wie
Der Kampf der Piqueteros in den argen- es die Logik der Integration gerne hätte).
tinischen sozialen Fabriken5 und die Organi- Indem sie flüchten und nach einer anders mög- fünf
sation der MigrantInnen, die aus den Flücht- lichen Welt suchen, bringen sie ihre Konflikte Die sozialen Fabriken in
lingslagern in Woomera flohen, erzählen nicht und Spannungen in die Orte, an denen sie Argentinien sind Fabriken, die
von fernen Begebenheiten, sie sprechen zu uns ankommen (wie temporär oder permanent unter der Selbstverwaltung der
(wie die Flucht aus dem Bari Palese auch immer). Dies verhält sich mit der globa- ArbeiterInnen stehen und
Flüchtlingslager, die das No Boarder Camp in len Bewegung genauso. eigenständig für den argentini-
Frassanito beendete, ein direktes Echo auf Was im Kern sicherlich offenbleibt, ist schen Markt produzieren. Nach
Woomera war): sie sprechen von den organisa- die Herausbildung der Bezugspunkte und ihrer dem wirtschaftlichen Zu-
torischen Experimenten neuer Formen leben- Gegenstücke, Punkte – wie provisorisch auch sammenbruch in Argentinien
diger Arbeit; davon, wie die Materialität der immer – um die Beeinflussung des Prozesses 2001 gingen viele
Produktionsverhältnisse angegriffen werden voranzutreiben. Es wäre zu wünschen, dass die Unternehmen in Konkurs,
kann, von den Begrenzungen und Potentiali- Debatte über diese Thesen weitergeführt und woraufhin es zu Fabrik-
täten des globalen Widerstandes. Auf diese Art nicht in Dimensionen verharren würde, die besetzungen und die
und Weise, ebenso wie in Empire, bekommen früher mit einem emphatischen Politikbegriff Wiederaufnahme der
wir keine Vorausschauen oder Erklärungen [org.: politiciste] belegt waren. Aus dieser Produktion durch die
unserer Zukunft, aber wir gewinnen Thesen Perspektive heraus denken wir, dass Europa entlassene ArbeiterInnenschaft
für die Aufarbeitung, kollektive Erzählungen, immer noch als ein ambivalenter Raum und als kam. Viele dieser Fabriken
offene Probleme für das Erfinden anderer ein mögliches Terrain für Veränderung begrif- haben heute noch einen un-
Praktiken, die es in Anbetracht der fen werden sollte. klaren Status; manche werden
Herausforderungen der Gegenwart wert sind, Von Beginn an provozierte die These in Kooperativen umgewandelt,
beachtet zu werden. der Bewegung als einem Agenten einer ande- andere kämpfen ums
Die zweite Dimension der These von der ren Globalisierung – einer Globalisierung der Überleben. Gemein ist ihnen,
zyklischen Natur der Bewegung basiert auf Kämpfe und des Widerstandes - eine ausdrück- dass sie eine enge
einer linearen Konzeption von Objektivitäten: liche Polemik gegen diejenigen, die sich primär Zusammenarbeit mit ihrer
die Referenz war die Macht (verkörpert durch an der Wiedererlangung nationaler Räume und sozialen Umgebung
den Staat). Entwicklung wurde von einer Pers- den klassischen Hebeln des Sozialstaats des eingegangen sind und ihren
pektive relativ zu ihren Konflikten aus be- vergangenen Jahrhunderts orientierten (und Kampf um Arbeit in einen
trachtet, um sie entweder anzugreifen oder zu es immer noch tun), um die „neoliberale“ politischen Kontext stellen.
reformieren. Siege wie Niederlage produzier- Globalisierung zu zähmen oder zu blockieren.
ten immer eine Rückkoppelung. Dieses Schema Wir wollen diese Bestrebungen nicht von der

||||| DERIVE APPRODI ||||| 31


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

nationalen auf die kontinentale Ebene über- bale Bewegung nennen. Außerhalb hiervon
tragen, d.h. auf Europa als dem starken gäbe es nichts, als zu einem ideologischen und
Subjekt eines erneuerten Anti-Amerikanismus entkörperten Streit innerhalb der Raum-Zeit
zeigen. Um genauer zu sein: Für uns geht es von selbstreferentieller Impotenz zurückzu-
nicht darum, nicht-praktikable politische kehren. Obwohl wir mit Schwierigkeiten und
Projekte auszuhalten, die versuchen, lokale Unsicherheiten konfrontiert sind, ist es für
und/oder nationale Rahmenbedingungen zu uns eine größere Herausforderung, mit dem
benutzen, um Erfahrungen der Kämpfe und Experimentieren fortzufahren und zusammen
des Widerstandes gegen das globale Kapital zu die beunruhigenden Gewässer der zuletzt doch
festigen. Wir wollen festhalten, dass jedes poli- noch stürmischen Meere zu untersuchen,
tische Projekt, unabhängig vom territorialen durch die wir segeln.
Maß seiner Anwendung, durch eine offene
Haltung gegenüber der globalen Dimension Ein offener Raum
charakterisiert werden muß, zu deren pluraler Entwicklung
Errichtung die tatsächlichen Erfahrungen der In den ersten 21 Ausgaben zwischen
sechs ArbeiterInnenklasse und der postkolonialen 1992 und 2002 war die Zeitschrift6 insbesonde-
derive approdi, Kämpfe materiell mehr beigetragen haben als re mit Italien und, allgemeiner, mit dem kapi-
Anmerkung der Übers. die kapitalistische Entwicklung. talistischen „Westen“ beschäftigt. Dies basierte
Wie wir es nach Genua taten, kommen auf der Überzeugung, dass die Solidarität
wir heute hierher zurück, um auf die gegenüber den Bewegungen des „Südens“ der
Fortdauer der Bewegung als einem offenen und Welt kurzlebig sein würde, wenn man nicht die
komplexen Raum zu bestehen, in dem vielfälti- potentiellen Linien der Brüche und Krisen
ge Erfahrungen von der politischen Agitation innerhalb der „Metropolen“ aufzeigen würde.
und sozialer Konflikte, Experimente der Praxis Während wir teilweise andere Wege verfolgten
und der Sprache nicht auf die Summe ihrer als ursprünglich geplant, änderten sich die
einzelnen Teile reduzierbar sind: es ist ein kon- Dinge, als eine große soziale und politische
stitutiver Raum, in dem der Prozess der Explosion tatsächlich stattfand: sogar für
Subjektivierung immer offen bleibt. unser Herangehen signalisiert der Ausbruch
In dieser kontinuierlichen Unter- der globalen Bewegung in der Gewalt ihrer
suchung ist es offensichtlich nicht unsere Ereignisse einen zeitlichen Einschnitt.
Absicht, die besten Teile des Erbes, das die ver- Nach den großen und tragischen Tagen von
gangene radikale Praxis uns hinterlassen hat, Genua fingen wir untereinander eine
wegzuwerfen: aber um dieses „Testament“ nut- Diskussion an, die mit der Entscheidung ende-
zen zu können, erfordert es die eigene Be- te, die Organisation der Zeitschrift teilweise zu
freiung von jeglicher Nostalgie und das Ein- modifizieren und eine neue Serie in Gang zu
lassen auf dasjenige Hier und Jetzt, das uns setzen. Dies bedeutete auch, die Heraus-
lebendig und pulsierend weitergegeben wurde. forderung aufzunehmen, unsere Identität –
Dies heißt nicht, dass es keine Widersprüche, wie untypisch auch immer sie sein mag – als
Rückschritte und Fehler in der Bewegung gibt. einem Journal mit einer jahrzehnte langen Ge-
Die täglich neuen Schwierigkeiten sind offen- schichte zu hinterfragen. Es geht darum, unse-
sichtlich: wie die Suche nach dem momentan re Arbeitsthesen unter den neuen Umständen
möglichen Äquivalent zu Streik und Sabotage aufs Spiel zu setzen, sie zu verifizieren und zu
in tayloristischen Fabriken; die Schwierigkeit, erneuern.
die Materialität der Produktionsverhältnisse Überraschend war allein schon der
zu beeinflussen; oder wie den Krieg beendet zu Ausbruch der Bewegung, die in Genua gegen
bekommen, obwohl am 15. Februar 2003 schon den G8 demonstrierte, wie sie schon vorher bei
110 Millionen Männer und Frauen rund um den großen Ereignissen demonstriert hatte und es
Globus demonstrierten. danach auch weiterhin tat. Auf den Straßen
Zuerst müssen die Grenzen und und Plätzen dieser Stadt trafen sich sehr
Probleme aufgezeigt werden, aber innerhalb heterogene, individuelle und kollektive Sub-
des Raumes der Politisierung, wie wir die glo- jekte. Zwar aus verschiedenen Richtungen her-

32 ||||| COMMON PLACES |||||


aus und auf der politischen Oberfläche oft völlig aufzugehen. Denn wir erkannten – um
kaum sichtbar, fanden sie – zum ersten Mal in es ganz deutlich zu machen – dass die Grenzen,
Italien – einen gemeinsamen politischen Aus- die wir innerhalb der Bewegung ausmachten,
druck in Form einer radikalen Kritik an der auch unsere eigenen waren.
neuen Dimension des Kapitalismus. In einem Zur selben Zeit gelangte das Modell
solchen Zusammenhang wurde das Konzept unserer Zeitschrift, Ausdruck einer politischen
der Multitude, das in unseren Diskussionen Linie oder eines organisierten Subjekts und
der 90er sehr präsent war, auf einmal konkret. Instrument des politischen Kampfes um Hege-
Wir waren jedoch weit davon entfernt, uns monien zu sein, definitiv in eine Krise. Wir
selbst auf einen Zustand der ekstatischen haben nach Genua nicht auf eine alles umfas-
Vertiefung in dieses Konzept einer Multitude- sende Einheit der Bewegung gesetzt: Pfade der
Komposition der Bewegung zu reduzieren. Oft Transformation aufzubauen gelingt nur durch
haben wir die inneren Gefahren thematisiert, die kritische Konfrontation und eine lebendige
die sich aus der Benutzung der Kategorie der Debatte. Was wir sicherlich hinter uns lassen
Multitude ergeben, wenn diese als ein schon wollen, ist die Logik des reductio ad unum7, die sieben
gegebenes und konstituiertes Subjekts fun- für die organisatorischen Modelle des letzten Die Reduktion auf das Einzige,
giert, das bereit für die endgültige Schlacht Jahrhunderts typisch ist: nicht nur weil all Anmerkung der Übers.
und historisch zum Sieg bestimmt ist. Wir dies fragwürdiger politischer Ballast ist, son-
zogen es vor, das große Potential der Multitude dern auch, weil diese Logik nicht mehr funk-
zu untersuchen. Ein theoretisches und prakti-
sches Potential, oder um es endgültig richtig zu
formulieren: das Potential als ein Raum der
Subjektwerdung, welche nicht auf eine
Einheitlichkeit heruntergebrochen werden
kann; und in dem – im Gegensatz zur Ver-
gangenheit – das Verhältnis zwischen Kollek-
tiv und Singularität auf eine neue Grundlage
spezifischer Differenzen und subjektiver
Potentialitäten gestellt wird.
Es ist jedoch ein ambivalenter Raum,
der für das Negative, für das „Böse“ immer
offen ist. In diesem Sinne muß Geschlecht neu
gedacht und erfunden werden, das weder ideo-
logisch noch entkörperlicht ist, sondern eine
aktive und protagonistische Rolle einnimmt,
die von der Differenzen der Geschlechter als
der Grundlage in der Materialität der
Bewegung ausgeht.
Nach der Wirkung des Juli in Genua
definierten wir die Bewegung als ein neues
Prinzip der Realität, an der sowohl politische
Vorschläge als auch interpretierende Thesen
über die Realität des heutigen Kapitalismus
gemessen werden müssen. Es schien uns, dass
die Existenz einer starken und radikalen
Bewegung eine verstärkte Untersuchung und
Reflexion erforderte, die die politische Mili-
tanz begleiten und aufs Genaueste ihre Gren-
zen und Probleme aufzeigen würde; dies war
sinnvoller, als die theoretische Arbeit einzu-
stellen, um in der täglichen politischen Aktion

||||| DERIVE APPRODI ||||| 33


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

produktion ausgerichtet ist. Insofern gehen


wir davon aus, dass Identität, eher als eine
gegebene Tatsache oder eine naturalisierte
Grenze, ein Terrain des Kampfes ist.
Wie alle Kategorien, kann die Kategorie der
„globalen Bewegung“ nicht unkritisch oder wie
ein charmantes linguistisches Klischee aufge-
nommen werden. Aus diesen Gründen sahen
wir es als notwendig an, eine neues Projekt in
der Zeitschrift zu beginnen, indem wir sie
überprüften und eine Untersuchung des
Zustands der weltweiten Bewegungen ausführ-
ten. Wir begannen mit einer Ausgabe, die wir
beim ersten europäischen Sozialforum in
Florenz im November 2002 präsentierten und
die ausschließlich den europäischen Bewe-
gungen gewidmet war. Während dieses Er-
eignisses dachten wir über die Möglichkeit
nach, ein Netzwerk europäischer Zeitschriften
aufzubauen, das in der Lage wäre, dauerhafte
Beziehungen herzustellen und gemeinsame
Projekte aufzuziehen. Wir fuhren in der näch-
sten Ausgabe damit fort, die Bewegungen der-
jenigen drei Kontinente zu beschreiben, die
vormals „dritte Welt“ genannt wurden. Dies
rief großes Interesse und viele Beiträge hervor,
tioniert, wenn man sich mit den Forderungen was uns erlaubte, einen ersten, wenn auch bis-
des Multitude-Subjekts und der Mannigfaltig- lang unvollständigen Entwurf einer kartogra-
keit der konfliktartigen Experimente konfron- phischen Orientierung zu machen und die
tiert. Zur selben Zeit will Derive Approdi kein Bewegung der Bewegungen in ihren sich glei-
reines Auffangbecken sein, das lediglich einen chenden Entstehungsgeschichten nachzuzeich-
Raum der Diskussion stellt, die sich abstrakt zu nen; von den Kämpfen gegen die Anpassungs-
den Dynamiken der Bewegung verhält; die nur programme des IWF zu der zapatistischen
ein „grenzgängerischer“ Akteur ist, der sich an Revolte in Chiapas bis hin zu den sich entfal-
den Rändern verortet, um die Unzulänglich- tenden Kämpfen inmitten der argentinischen
keiten der organisierten Komponenten heraus- Krise. Wir beendeten die erste Phase unserer
zukitzeln. Im Gegenteil versuchen wir, mit der Untersuchungen mit einer Ausgabe zu Nord-
neuen Serie einen offenen Raum der vielfälti- amerika und Ozeanien. Unser Ziel ist es, nicht
gen Entwicklung aufzubauen, der sich völlig nur Wissen über in Italien wenig bekannte
auf die inneren Dynamiken der Bewegung Situationen zu akkumulieren, sondern auch
acht bezieht. Mit starken Ansichten, aber politi- ein tatsächliches Netzwerk transnationaler
Eingrenzungen, schen enclosures8 entgegengesetzt. Es geht Beziehungen aufzubauen.
Anmerkung der Übers. darum, Beziehungen nicht nur zwischen den Übrigens haben wir für diese drei
nicht-organisierten Subjekten zu knüpfen, son- Ausgaben methodisch gesehen nur Material
dern dies auch in den Grenzzonen zu tun; d.h. ausgewählt, das aus den Beziehungen herrühr-
mit denjenigen, die – ohne auf ihre Zuge- te, die über einen offenen Rundbrief entstan-
hörigkeit zu einer Gruppe oder eines Raums zu den waren, in dem wir das Projekt vorstellten.
verzichten – in dieser dennoch problematisch Die „Lücken“ und fehlenden Materialien über
leben: in einer dynamischen Tendenz, die auf wichtige Situationen beschreiben die uns
die Distanzierung und Neudefinition gegenü- betreffende, aber auch allgemeine Schwierig-
ber den eigenen Mechanismen von Identitäts- keit, Beziehungen und Diskussionen aufzubau-

34 ||||| COMMON PLACES |||||


en. Als Ergebnis vorheriger Beziehungen oder offener Prozess von Wissen, dass Trans-
internationaler Termine haben sich über die formation produziert. Er beginnt mit Thesen,
letzten Jahre mehrere Kontakte etabliert. Aber die aber kontinuierlich auf ihre Wahrheit hin
bei jedem Redaktionsschluss hatte das einge- überprüft und problematisiert werden, wäh-
sandte Material die Fähigkeit, uns zu „destabi- rend dieser Weg beschritten wird. Dies setzt
lisieren“: Kommunikationskanäle eröffneten einen kontinuierlichen Austausch von Ideen
sich auf unbekannte und ungedachte Weise. und Erfahrungen zwischen all den verschie-
Zur selben Zeit zeigte sich, dass die schon ent- dentlich beteiligten Subjekten voraus.
wickelten Kontakte nicht immer die interes- Deswegen haben wir diejenigen, mit
santesten waren. denen wir in Kontakt gekommen sind, nicht
Wir können sofort damit anfangen, die gefragt, einfach nur zu erzählen „was sie von
Idee eines europäischen Zeitschriftennetzes der Welt denken“. Niemand – und dies kann
wieder aufnehmen, wie wir es in Florenz dis- glaubhaft versichert werden – hat seine
kutiert hatten. Ein wichtiger Punkt, den es Beiträge auf eine reine Beschreibung des um-
gilt, kollektiv anzugehen und der ein proble- gebenden Kontextes reduziert, und niemand
matischer Knoten für die gesamte Bewegung hat sich für den eingeschlagenen Weg gerecht-
ist, scheint die Struktur [org.: formazione] zu fertigt. Alle haben die Einladung, Protagoni-
sein. Was wir hinter uns gelassen haben, ist sten für eine Analyse der Bewegungen zu sein,
glücklicherweise deutlich und (größtenteils) akzeptiert und waren in der Lage, zumindest
nicht zu hinterfragen: internationalistische für eine kurze Zeit, jedwede „Sicherheit“ abzu-
Parteischulen, Indoktrination und die Über- legen und neues Potential für die Transforma-
tragung ideologischer Schemen. Jedoch besteht tion zu entdecken; um die Gemeinsamkeit in
das Problem weiterhin: neue strukturelle und den vielfältigen Wegen der Transformation
vernetzte Prozesse müssen ausprobiert und aufzubauen.
organisiert werden, die in der Lage sind, ihre Wir haben versucht nachzuweisen,
eigene, nicht-reduzierbare Pluralität als Vor- dass der globale Raum weder glatt noch homo-
aussetzung für die globale Bewegung zu ent- gen, sondern zerfurcht und von Konflikten
werfen. und Widersprüchen durchzogen ist. In dieser
Die Ansprüche sind hoch: es geht nicht Dimension können wir das erste Mal
länger um die Reproduktion politischer Rah- Laboratorien aufbauen, in denen wir Prak-
menbedingungen, sondern um die Umsetzung tiken, Ansatzpunkte, Sprachen und Aus-
konstituierender Erfahrungen, die existieren- führungen vergleichen und Experimente ein-
de Modelle radikal hinterfragen können. Die gehen, anstatt einheitliche politische Linien
ehrgeizige Perspektive für ein Zeitschriften- zu entwerfen. Von Kanada bis Südafrika, von derive approdi
netzwerk könnte sein, hier und jetzt andere Argentinien bis Holland, von Korea bis Die italienische Zeitschrift
Universitäten aufzubauen, offene Räume der Australien können die von uns gesammelten derive approdi existiert seit fast
Formierung und kritischen Subjektivität zu Materialien nicht aufgezählt und in eins 20 Jahren. Ihre AutorInnen
schaffen und den vielfältigen Ausdrücken der zusammengefaßt werden, sie existieren im verstehen sich als Diskussions-
Subjektivierung eine Basis zu geben und sie zu gemeinsamen Dialog über geteilte Probleme zusammenhang, der die
bereichern, ohne ihre erfinderische und kon- und sich ähnelnden Perspektiven: von diesem aktuellen linken Debatten in
stituierende Kraft zu verfremden. Prinzip der Realität ausgehend müssen wir Italien, Europa und der
Auf der Basis des bisher Gesagten haben wieder beginnen. Um gemeinsam die Sprache globalenBbewegung bündelt
wir absichtlich die Kategorien der Unter- wiederzufinden, dies ausdrücken und umset- und transparent macht. Aus
suchung und der gemeinsamen Recherche zen zu können. kk der operaistischen Tradition
[org.: conricerca] gewählt, um unser Projekt zu kommend, beschäftigt sich
qualifizieren und um auf eine Methode des derive approdi seit beginn der
theoretisch-politischen Arbeitens zurückzu- 90er Jahre mit dem Herr-
greifen, die zu den wichtigsten Erbstücken der schaftsprojekt Europa, um
Tradition des Operaismus gehört, aus der die gemeinsame Diskussionen und
Zeitschrift und viele von uns kommen. politische Perspektiven zu
So wie wir Untersuchung verstehen, ist sie ein entwickeln.

||||| DERIVE APPRODI ||||| 35


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua Rechtfertigungszwang gekommen. Auch wenn


die im Juli 2001 waren ein Höhe-, aber
auch Scheidepunkt in der Geschichte der
dies sicherlich ein Erfolg der Antiglobalisie-
rungsbewegung darstellt, so erscheinen so
Antiglobalisierungsbewegung. Ein Höhepunkt, manche euphorischen Kommentare, die bereits
weil sich die Protestbewegung in Genua so das Ende der neoliberalen Ära ausgerufen
groß, so vielfältig, so kreativ, so dynamisch und haben, dennoch als etwas voreilig. Denn weite
so entschlossen präsentierte wie nie zuvor – Teile des massenmedialen Diskurses sowie der
und bisher auch nie wieder danach. Ein politischen Praxis (wie z.B. die systematische
Scheidepunkt, weil seit Genua verschiedene – Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme,
sowohl bewegungsbezogene, als auch von ihr die Privatisierung lukrativer Bereiche öffent-
relativ unabhängige – Ereignisse ein „Weiter licher Versorgung, die Umverteilungspolitik
so“ für die Antiglobalisierungsbewegung un- von unten nach oben etc.) sind weltweit nach
möglich machten und die Gefahr eines Ver- wie vor vom Paradigma der neoliberalen Politik
sandens der Protestbewegung wuchs. geprägt. Die ideologische Defensive des Neo-
Zu den bewegungsbezogenen Ereignis- liberalismus hat trotz der massiven Protest-
sen gehörte zum einen die zunehmende staatli- aktionen bis Genua keinen entsprechenden

entwicklungslinien und linksradikale perspektiven


in der antiglobalisierungsbwegung
antifaschistische linke berlin [ALB]
che Repression, die in Genua mit dem Tod von Niederschlag in den staatlichen Machtappa-
Carlo Giuliani einen ersten tragischen Höhe- raten und internationalen Institutionen zur
punkt erreichte. Die Brutalisierung staatlichen Folge gehabt. Da sich jedoch nach Genua die
Vorgehens sollte die Bewegung nicht nur ein- Intensität der Gipfelproteste wohl kaum noch
schüchtern, das europaweite Anlegen von in relevantem Ausmaß steigern ließ, stellte sich
umfassenden Datenbanken tatsächlicher oder für die Antiglobalisierungsbewegung seither
vermeintlicher AktivistInnen der Bewegung, die dringende Frage nach sinnvollen Er-
verbunden mit Aus- bzw. Einreiseverboten im weiterungen der eigenen Protest- und Aktions-
Umfeld der Gipfel stellt die Möglichkeit von formen, soll es nicht zu einer schleichenden
effektivem Protest gegen diese Gipfel und damit Frustration der AktivistInnen kommen.
die bisher wichtigste Aktionsform der Anti- Zu diesen mit der Bewegung eng ver-
globalisierungsbewegung überhaupt in Frage. bundenen Punkten traten zudem einige, von
Zum anderen setzte sich innerhalb der der Antiglobalisierungsbewegung zunächst
Antiglobalisierungsbewegung nach Genua die unabhängige, einschneidende weltgeschichtli-
Erkenntnis durch, dass selbst der massivste che Ereignisse, die fortan den medialen und
Ansturm gegen die Tagungsorte keine grund- politischen Diskurs weltweit bestimmten und
sätzliche Abkehr der Regierungen und interna- die Antiglobalisierungsbewegung von den
tionalen Institutionen von der neoliberalen Titelseiten der Medien verdrängten:
Politik nach sich zog. Der Neoliberalismus, des-
sen fundamentale Kritik den kleinsten Der „war against terrorism“
gemeinsamen Nenner der ansonsten doch als Medienspektakel
recht heterogenen Antiglobalisierungsbewe- Die Anschläge vom 11. September 2001
gung bildet, ist mit dem stetigen Anwachsen zogen ein derart gewaltiges mediales Dauer-
der Bewegung zunehmend unter feuer nach sich, dass die radikale Linke für

36 ||||| SAG MIR WO DU STEHST |||||


eine Weile äußerst sprachlos wirkte, bis sie rea- sprichwörtlichen Müllhaufen der Geschichte
lisierte, dass mit dem „war against terrorism“ gesehen hatten. Dies bot der Antiglobalisie-
ein räumlich und zeitlich unbegrenzter Kriegs- rungsbewegung die Möglichkeit zur Rückkehr
zustand ausgerufen worden war. Damit war die auf die politische Bühne, allerdings mit verän-
perfekte Legitimation für jegliches (auch derter inhaltlicher Schwerpunktsetzung: Der
außerrechtsstaatliches) Vorgehen gegen poten- gesamtgesellschaftliche Diskurs über das
ziell alle politisch nicht opportune Gruppie- Thema Krieg machte es für große Teile der
rungen und Bewegungen geschaffen. Denn der Antiglobalisierungsbewegung naheliegend,
Umgang mit dem Label „Terrorist“ tendiert zur sich an den Antikriegsprotesten zu beteiligen
Beliebigkeit und welche Widerstandsbewegung und darin den oben erwähnten Zusammen-
mit diesem Label (zu Recht oder zu Unrecht) hang zwischen Krieg und Globalisierung zu
diskreditiert wird, ist letztlich nur eine Frage thematisieren. So sinnvoll die Verschränkung
der politischen Kräfteverhältnisse. Nicht nur von Antiglobalisierungs- und Antikriegsprote-
die aufwendige Inszenierung des Antiterror- sten auch sein mag, so war das Verhältnis zwi-
kriegs in den Medien lenkte die öffentliche schen beiden Bewegungen doch nie unproble-
Aufmerksamkeit von Aktionen und Zielen der matisch. Wirken in der Friedensbewegung
Antiglobalisierungsbewegung ab, angesichts doch auch Strömungen in einer (im Unter-
des allgemeinen Bekenntniszwanges nach dem schied zur Antiglobalisierungsbewegung) rele-
11. September („Akzeptiert Ihr unsere ‘Anti- vanten Größenordnung mit, deren nationalis-
Terror-Politik’ oder steht Ihr auf Seite der tische oder antiamerikanische Überzeugungen
Terroristen?“) wurde auch die Bewegung mit mit einem (selbst im weitesten Sinne) emanzi-
Hilfe dieser falschen Polarität in die politische patorischen Politikverständnis nichts mehr zu
Defensive manövriert. tun haben.

Weltordnungskriege und
die „Renaissance“ der
Friedensbewegung
Wurde der Afghanistankrieg noch
fast ausschließlich mit dem Label des „war
against terrorism“ legitimiert, so ließ sich
schon der anschließende Irakkrieg (trotz
mehrerer dementsprechender Versuche)
damit nicht mehr offiziell begründen. So
wurde auf jene zynische Sprachregelung
zurückgegriffen, die schon zur Rechtferti-
gung des Jugoslawienkriegs einige Jahre
zuvor herhalten musste, die Rede vom
„humanitären Krieg“. Die bürgerlichen
Medien kaprizierten sich in der Folge auf
eine möglichst detailreiche Berichterstat-
tung von den jeweiligen Kriegsgebieten, die
Globalisierungsthematik blieb in der Ver-
senkung verschwunden. Der enge ursächli-
che Zusammenhang zwischen den aktuellen
Weltordnungskriegen und den Erforder-
nissen einer zunehmend globalisierten kapi-
talistischen Ökonomie, konnte und sollte im
medialen Diskurs nicht hergestellt werden.
Im Zug des Irakkriegs tauchte mit
der Friedensbewegung ein politischer
Akteur wieder auf, den viele schon auf dem
||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

In der Bewegung kämpfen vorhandenen Sozialen Bewegungen mit all


Dies stellt generell die Frage nach dem ihren Fehlern und Schwächen keinen ernst zu
Umgang einer radikalen Linken mit den natur- nehmenden Ansatz zur Überwindung der kapi-
gemäß doch sehr heterogenen Sozialen Bewe- talistischen Gesellschaftsformation dar.
gungen. Sollte man tatsächlich in einer Bewe-
gung aktiv bleiben, die selbst reaktionäre poli- Die Bewegung radikalisieren
tische Ansätze enthält oder sollte man zu einer Sich für das politische Wirken in den
solchen Bewegung nicht eher auf kritische momentanen Sozialen Bewegungen zu ent-
Distanz gehen? scheiden, heißt jedoch nicht etwa, in diesen
Ein wichtiges Kriterium hierbei ist die einfach aufzugehen. Soziale Bewegungen sind
Frage nach der politischen Hegemonie. Mit komplexe Gebilde, in denen höchst unter-
anderen Worten: Welche politischen Strö- schiedliche politische Kräfte punktuell zusam-
mungen und Positionen prägen das Bild der menwirken. Will man die eigenen linksradika-
jeweiligen Bewegung entscheidend? Tendiert len Positionen gesellschaftlich breiter veran-
die Bewegung eher in eine politisch und sozial kern, um revolutionäre Prozesse in Gang zu set-
emanzipatorische oder eher in eine reaktionä- zen, so müssen die vorgefundenen Kräfte-
re Richtung? Obwohl in den beiden momentan konstellationen in diesen Bewegungen zugun-
relevanten Sozialen Bewegungen – der Anti- sten der eigenen Positionen verändert werden.
globalisierungsbewegung und der Bewegung Dies bedeutet für die Antiglobalisierungs-
gegen Sozialabbau – linksradikale Positionen bewegung wie für die Bewegung gegen Sozial-
nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt, abbau, die bisher bestehende Hegemonie der
so lässt sich angesichts der eindeutigen sozialreformerischen Positionen zu brechen.
Dominanz von im weitesten Sinn linken Posi- Sozialreformerische Gruppen wie etwa Attac
tionen doch ein positives Fazit ziehen. orientieren sich in der Regel an neokeynesia-
Wer dagegen von vorne herein die nischen Vorstellungen einer Re-Regulierung
Hegemonie der eigenen linksradikalen Posi- des weltweiten Kapitalismus auf nationaler
tion als notwendig für das Mitwirken in einer wie internationaler Ebene. Derartige über
politischen Bewegung voraussetzt, wird de staatliche Macht umzusetzende Modelle eines
facto politikunfähig. Denn angesichts der „Global Gouvernance“ haben mit einem antika-
Marginalisierung linksradikaler Positionen pitalistischen und antistaatlichen Politik-
bedeutet dies letztlich nur das Verschieben jeg- verständnis wenig gemein. Statt sich der
licher relevanter politischer Praxis auf den Illusion hinzugeben, man könne mittels des
Sankt-Nimmerleinstag. Die von einigen Grup- Staates das Rad zurückdrehen und die golde-
pen der radikalen Linken gerne von außen nen Zeiten des weitgehend krisenlosen Nach-
betriebene theoretische Kritik an der Antiglo- kriegskapitalismus wieder entstehen lassen,
balisierungsbewegung enthält keinerlei Pers- wäre eine Reformulierung einer marxistisch
pektive, verlorenes gesellschaftliches Terrain fundierten grundsätzlichen Kapitalismus-
zurückzugewinnen. Angesichts der dogmati- kritik mit der Perspektive der Überwindung
schen Abstinenz mancher linksradikaler Grup- kapitalistischer (Ausbeutungs-)Verhältnisse
pierung von Sozialen Bewegungen nimmt sich und einer basisdemokratischen Selbstorgani-
deren erklärtes Festhalten an der Utopie des sierung von Menschen angesagt.
Kommunismus reichlich künstlich aus und
ähnelt dem berühmten Versuch, einen Pudding Schlussfolgerungen
an die Wand zu nageln. Gerade weil der für die weitere politische Praxis
Kommunismus – wie Marx in „Die deutsche Auch in Zukunft kommt internationa-
Ideologie“ ausführt – nicht „ein Ideal [ist], len Gipfelprotesten eine hohe Bedeutung zu.
wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird“, Denn diese bedeuten stets eine öffentlichkeits-
sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen wirksame Delegitimierung der Gipfel und der
eins Zustand aufhebt“1, stellt eine rein akademische dahinter stehenden Institutionen, wie sie mit
MEW Bd.3, S.35 Beschäftigung mit Kommunismusvorstel- keiner anderen Aktionsform erreicht werden
lungen ohne ein Sich-Einlassen auf die real könnte. Zum anderen können diese Zu-

38 ||||| SAG MIR WO DU STEHST |||||


sammentreffen von den linksradikalen Akti- ordnung der Menschen unter kapitalistische zwei
vistInnen der Antiglobalisierungsbewegung Profitinteressen oder soziale und psychische Im Aktionsbündnis ACT!
genutzt werden, um ihre internationale Ver- Verelendung und Marginalisierung) zu thema- haben sich folgende Gruppen
netzung voranzutreiben. Dies würde nicht nur tisieren und anzugreifen. Dabei handelt es sich miteinander vernetzt:
einen besseren Austausch über die vielfältigen gerade nicht um eine Form klassisch linker Antifaschistische Linke Berlin
lokalen Widerstandspraxen und Aktions- Stellvertreterpolitik. Denn die hier geführten (ALB), Autopool, Für eine linke
formen ermöglichen; eine bessere Koordinie- sozialen Kämpfe sind durchweg gesellschaftli- Strömung (FelS) und Si!
rung der eigenen Aktionen könnte auch eine che Felder, welche uns selbst betreffen –
größere Aufmerksamkeit und damit ein sowohl als Individuen als auch als politische
Bedeutungszuwachs für die linksradikalen Gruppe. b
Kräfte innerhalb der Antiglobalisierungs- Neben den klassischen Formen von
bewegung nach sich ziehen. Dies gilt natürlich Protest gewinnt in diesen sozialen Kämpfen
auch für lokale Bündnisse: In Berlin ist mit der die Aktionsform des Sozialen Ungehorsams an
Vernetzung von vier linksradikalen Gruppen Bedeutung. Dies meint symbolische Aktionen,
zum Aktionsbündnis „ACT!“ ein erster Schritt die gezielt gegen das bürgerliche Normen-
in diese Richtung erfolgt. system verstoßen, um in zugespitzter Form auf drei
Soll sich die Antiglobalisierungsbewe- die destruktiven und menschenverachtenden Eine solche Aktion war
gung aber mit der Zeit nicht totlaufen, muss Auswirkungen kapitalistischer Produktions- beispielsweise die vom
die Gipfelmobilisierung durch eine lokale und und Reproduktionsverhältnisse in verschiede- Sozialforum Berlin
regionale Verankerung der Bewegung ergänzt nen alltäglichen Lebensbereichen hinzuwei- im Herbst 2003 durchgeführte
werden. Hierbei bietet sich eine Beteiligung an sen. Letztlich stellen diese Aktionen eine Er- Besetzungsaktion für ein
den vielfältigen sozialen Kämpfen an, um die weiterung des Interventionsspektrums gegen Soziales Zentrum.
Folgen der kapitalistischen Globalisierung in die herrschenden kapitalistischen Gesell-
den konkreten Lebenszusammenhängen (wie schaftsverhältnisse dar.
Konkurrenzdenken, Leistungszwang, Unter-

||||| ANTIFASCHISTISCHE LINKE BERLIN [ALB] ||||| 39


||||| GLOBAL RESISTANCE 2 |||||

„Hier kommt kein Masterplan!“


Das stärkste Argument zur Recht-
fertigung dieser Verhältnisse ist nach wie vor
ein Ausspruch Margaret Thatchers, mit dem sie
zu Beginn ihrer Amtszeit als Premier-
ministerin ebenso lapidar wie erfolgreich ihre
neoliberal inspirierte Politik des sozialen
Kahlschlags begründete: „There is no alternative!“
Auch heute noch wird das sogenannte TINA-
Prinzip als Totschlagargument gegen all jene
eingesetzt, die sich mit dem weltweiten kapita-
listischen Ausbeutungs- und Verelendungs-
prozess nicht einfach abfinden können und
wollen. Mit dem Hinweis auf das Fehlen kon-
kreter gesellschaftlicher Alternativen soll zum
einen die historische Zwangsläufigkeit kapita-
listischer Verwertungslogik festgeschrieben,
zum anderen jegliche grundsätzliche Kritik an
den untragbaren Verhältnissen diskreditiert
und auf das Bearbeiten „realistischer“ Detail-
fragen innerhalb des Systems zurechtgestutzt
werden.
Doch so wenig sich die radikale Linke
für alle Zeiten auf eine reine Negation der
kapitalistischen Verhältnisse zurückziehen
kann, so wenig kann von ihr gefordert werden,
ein fertiges alternatives Gesellschaftsmodell
quasi auf dem Reißbrett zu entwickeln und
auszuformulieren. Gerade weil jegliche Vor-
stellungen von Gesellschaft aus gesellschaft-
lichen Praxen geboren werden, können sich
auch konkrete Züge einer Gesellschaft jenseits
des Kapitalismus erst im Verlauf eines revolu-
tionären Prozesses ergeben. Um einen solchen
Prozess zu initiieren, muss es Aufgabe einer
radikalen Linken sein, einerseits die (soziale
und ökologische) Perspektivlosigkeit des kapi-
talistischen Systems durch eine fundierte
Kritik ins Bewusstsein einer breiten Öffent-
lichkeit zu rücken und andererseits Ansätze
einer gesellschaftsverändernden Praxis in den
Sozialen Bewegungen zu entwickeln.
Dass dies kein leichtes und wider-
spruchsfreies Unterfangen darstellt, nicht
zuletzt weil wir schließlich selbst in die beste-
henden (Ausbeutungs-)Verhältnisse involviert
und von diesen geprägt sind, bedeutet nicht,
dass dies nicht notwendig wäre. Oder, wie Che
Guevara es formuliert hat: „Seien wir realistisch,
versuchen wir das Unmögliche!“ kk

40 ||||| SAG MIR WO DU STEHST |||||


GLOBAL
Über Ansätze des Versuches, das Unmögliche zu probieren

RESISTANCE 2 Mit Beiträgen u.a. von


Joachim Hirsch, Robert Kurz, Thomas Seibert

Mich interessiert vor allem


die Zukunft,
denn das ist die Zeit,
in der ich leben werde.«

Albert Einstein
ANTIFASCHISTISCHE LINKE BERLIN [ALB]

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