G. W. Cernoch
Kommentar zum Schlußwort des dritten Bandes von »Verdrängter Humanismus-Verzögerte Aufklärung«,
Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich
(1820-1880), Hrsg. Michael Benedikt, Reinhold Knoll, Verlag Edituria Triade, Klausen-Leopoldsdorf,
Ludwigsburg, Klausenburg 1995 S. 867 ff..
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Offensichtlich hat die These 1 zu Brentano inhaltlich mit dem ersten Kanon
Kants zu tun: Die Sezession besteht eben in der wechselweisen einseitigen
ii
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Brentano hat die Einteilung der Seelenvermögen seit Kant geändert; nicht
mehr die Auseinandersetzung um den Vorrang des Erkenntnisurteiles
(Verstand) oder des ästhetischen Urteiles (Sinnlichkeit), sondern die
Auseinandersetzung um den Vorrang des Existentialurteiles oder des
Erkenntnisurteiles ist nunmehr seit Herbart zentral. Diese Unterscheidung
nach Urteilsarten soll auch den Ursprung der Evidenz in einem Urteil, das einer
nicht dem Verstand (den Verstandesbegriffen) unterworfenen Reflexion
entspringt und deren Urteil nur subjektiv auf Allgemeinheit Anspruch erheben
kann, sichern. Statt die transzendentale Reflexion in der Amphibolie der
Verstandesbegriffe zu untersuchen, wird bei Brentano diese Reflexionsart vom
nicht-reflektierenden Urteil der Feststellung des Daseins und zugleich des
Daßseins ersetzt. Brentanos Begriff der Evidenz ist also trotz mannigfaltiger
Probleme mitnichten ein psychologischer.
Dazu läßt sich auch für Brentano zwischen Bolzano und den Vertretern der
deutsch-katholischen Romantik in Wien eine Tradition konstruieren (aber wohl
nicht rekonstruieren), die in dem von Beneke auftragsmäßig vermittelten
Herbartianismus noch die österreichische Spielart der Nivellierung der
zwischen Reinhold und Fries ausgemachten philosophischen Sezession
kenntlich werden läßt. Herbart zwischen der Willensausbildung anhand des
stufenweisen Sachunterrichts (vgl. auch Bolzanos »ideales Lehrbuch«) und der
gefühlsmäßigen Gewöhnung des Charakters an das Schöne und Sittliche in das
Bild der »philosophischen Sezession« zu stellen, zeigt aber nur die eine Seite
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Die Unterscheidung in reversible Zeit der bloßen Erfahrung anhand der
Kontinuation sukzessiver Erscheinungen und irreversibler Zeit der Erfahrung
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Brentanos Entwürfe zur Kategorienlehre sind gerade bezüglich des möglichen
Wissenschaftsfortschrittes systematisch gar nicht so klar. Vielmehr bleiben
Brentanos Entwürfe in der Perspektive einer letztlich ahistorischen
Sprachverfaßtheit stehen, welche — wie auch immer unbewußt — auf das von
Leibniz in der Logik selbst aufgegebenen Konzept von letzten, die wirklichen
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Der dritte Kanon betrifft den Begriff der Selbstorganisation im Verhältnis von
Zufall und geregelter Wechselwirkung, deshalb auch gemäß zweier prinzipiell
differenzierten Zeitordnungen, »welcher Begriff der Forderung unserer
Vernunft in der Ersparung der Prinzipien günstig, in sich selbst keinen
Widerspruch unterworfen [erste Zeitordnung] und selbst der Erweiterung des
Vernunftsgebrauches mitten in der Erfahrung [zweite Zeitordnung], durch die
Leitung, welche eines solche Idee auf Ordnung oder Zweckmäßigkeit gibt,
zusätzlich, nirgend aber einer Erfahrung auf entschiedene Art zuwider ist.«
(K.r.V., B 651).
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Die als dritter Kanon vorgestellte Erweiterung der Erfahrungsgrundsätze ist
also nicht nur als die schon im zweiten Kanon bedachte Möglichkeit der
Neuorientierung der Systematisierung von Erkenntnissen inmitten des
Erfahrungsprozesses als bloß jeweils linearen Wissenschaftsfortschritt einer
Einzelwissenschaft zu verstehen, sondern erlaubt auch, nur jeweils hinsichtlich
der Spannung zwischen Ontoteleologie und Ethicoteleologie pragmatisch
aufgestellte Prinzipien der praktischen Vernunft einzuspielen. Mehr als diese,
selbst nur negativ auftretende, Ermöglichung ist dem dritten Kanon in dieser
Fassung von M. Benedikt allerdings nicht zuzumuten. Die selbst wissentlich
dialektischen Formulierungen Kantens diesbezüglich bleiben aber entweder in
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Die Vereinigung von Rechts- und Tugendnorm im Weltbürgerlichen mag so
eine romantische Interpretation der Unfertigkeit und Offenheit des Kantschen
Gedankengangs sein; vielmehr spricht einiges dafür, daß auch die individuell
wie gattungsmäßige Realisierung des Weltbürgertums in eben der Kluft
zwischen Recht und Tugend zu stehen kommt. Was Brentano angeht, so dürfte
sein heilsgeschichtlicher Optimismus rein ontotheologischer Natur sein: »Wir
erschließen mit Sicherheit eine erste, in sich selbst notwendige, unfehlbare
Ursache als determinierendes Prinzip der Weltentwicklung, und sie verbürgt
uns einen unendlichen Aufstieg der gesamten Schöpfung zu immer höherer
Vollkommenheit als einzige jener Ursache angemessene Wirkung.« (aus der
Einleitung zu »Vom Ursprung der Sittlichkeit«, 1955, von O. Kraus. Kraus
verweist auf F. Brentano, »Vom Dasein Gottes«). Diese überhöhte und zugleich
völlig abstrakte Art des Optimismus hat mich gleich zuerst an die Schwierigkeit
erinnert, die ich mit der Bedeutung der Ästhetik (vgl. die letzen zehn der 24.
Sätze Leibnizens) für das quantitas perfectionis hatte.
Betrifft den vierten Kanon der reinen Vernunft, welchem zuerst der Schein
einer bloß spekulativen Auflösung genommen wurde, den Bolzano und einige
seiner Nachfahren mit Bezug etwa auf die Schematisierung des Ideals als Raum
unterstellt hatten. Kant hingegen läßt sich auf diese so dringend nötige
Spekulation nicht ein und setzt sein Occham‘ sches Messer in Schwung, um —
entgegen Habermas — den Schein, das unser Ideal am weitesten von der
Erfahrung sei (B 596), aufzudecken: »Die reine Vernunft enthält also, zwar
nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich
dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung,
nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der
Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten ... . Dem nach haben die
Prinzipien der reinen Vernunft in ihrem praktischen, namentlich aber dem
moralischen Gebrauch, objektive Realität.« (B 835).
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Es handelt sich hier offensichtlich nur um die Heraushebung der Prinzipien der
praktischen Vernunft, die schon im zweiten, insbesondere aber im dritten
Kanon bereits kenntlich geworden sind. Das, was schon im zweiten Kanon
Kants notwendig geworden ist, um die Freiheit der Handlung gegenüber der
Erfahrung schon anhand bloßer Zweckmäßigkeit im dritten Kanon weiter zu
bestimmen, wird nunmehr zu dem einen Argument der Objektivität einer
sittlichen Handlung. Allerdings: Nicht die im Rahmen der schon durch den
dritten Kanon auch empirisch bestimmten bloßen Möglichkeit der Handlung,
auch subjektive Kriterien der Zweckmäßigkeit in der Naturerkenntnis
einspielen zu können, soll nunmehr allein schon die Objektivität garantieren
können, sondern eben wieder erst die Sittlichkeit, welche durch die logische
Form des kategorischen Imperativs zu denken aufgegeben worden ist, wird
zum letzten Kriterium der Objektivität von Erkenntnis überhaupt. Das geht bis
zum Wahrheitsanspruch der in sich selbst praktischen theoretischen Vernunft
zurück.
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Nun ist schon der dritten These der philosophischen Sezession (These 2 b)
vorgehalten worden, daß sie bloß romantisch-idealistisch sei, und das zu recht:
denn nur der Vorgriff auf den vierten Kanon hat den Schritt zum dritten
Kanon überhaupt erst erlaubt, allerdings ohne deshalb die gewünschte
Vereinbarung von Recht und Tugend im Weltbürgertum garantieren zu
können. Eigentlich gibt es gar keine dauerende empirische Grundlage, die
vierte These der philosophischen Sezession (These 2 c) zu formulieren, nur die
empirische Bestätigung der empirischen Möglichkeit. Die Vereinbarung der
ästhetischen und teleologischen Reflexion zu einer doktrinalen Synthesis der
Religion bleibt also ebenso rein spekulativ, wie die Vereinbarung von Recht
und Tugend im Weltbürgertum schon spekulativ geblieben ist. Daraus ist zu
schließen, daß zwar das Ideal des Rechtsstaates und der Weltbürgerlichkeit
transzendental gerchtfertigt werden kann, aber nicht die Erwartung einer
sicheren Erreichung dieses Zustandes oder dessen Dauer.
Die doktrinale Idee der Synthesis der ästhetischen und der teleologischen
Reflexion erweist sich so sowohl als spekulatives Glied des Kantschen Kanons
wie als Glied der »philosophischen Sezession«; allerdings allein als ersteres
bleibt diese Idee erträglich, weil als Ideal der ganzen Urteilskraft eben der
Frage nach dem Primat des Konzept des Erkenntnisurteils oder des
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ästhetischen Urteils bereits von je her enthoben. Die bloß spekulativ gedachte
Möglichkeit einer reinen Synthesis von ästhetischer und teleologischer
Urteilskraft droht m. E. zur Idee der reinen Erhabenheit einer Totalität zu
führen; ohne Hinleitung zu irgendeinem Inhalt — es sei denn der bloßen
Spiegelung der Idee der Autarkie.