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jedoch hat die sexuelle Freizügigkeit dessen Verbreitung
begünstigt. Die Aids-Gefahr fordert Christen zur Offenheit
darüber heraus, was der Mensch geworden ist und was er als
ureigenster Entwurf Gottes werden sollte. Christen sollten
endlich einmal lernen, in aller Offenheit über die Fragen der
Sexualität zu sprechen. Je länger sie sie verdrängen, desto
größerer Gefahr setzen sie sich aus, Opfer ihrer eigenen
Triebe zu werden. Dann wird der Verbreitung von AIDS auch
in christlichen Kreisen Tür und Tor geöffnet. Im Lichte der
Wiederkunft Christi dürfen wir eine evangeliumsbezogene
Sexualethik für unser Leben und Überleben entfalten, die ein
Vorbild auch für unsere Mitmenschen werden kann. Die
Fragen der Sexualität dürfen in den Gemeinden nicht mehr
Tabuthemen bleiben, wenn wir der Verbreitung der Aids-
Seuche vorbeugen wollen.
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Bruder lag halb gelähmt da, sang so gut es ging mit, zeigte
mehrmals mit dem 'Autostop-Zeichen' und einem herzlichen
Blick, wie gut es ihm gefiel." Gabi ergänzt: "R. freute sich so
sehr, daß ich echt mit den Tränen zu kämpfen hatte. Mir
wurde plötzlich bewußt, daß unser Herr Jesus stärker als der
Tod ist. Er kann jede Dunkelheit in strahlendes Licht verwan-
deln. "Bei der Abendmahlsfeier rief R. immer wieder aus:
"Halleluja. Danke vielmals, daß ihr gekommen seid. Das ist
aber lieb von euch. "Gabi erinnert sich: "Ich empfand eine
tiefe Verbundenheit mit diesem Bruder und unendlich viel
Sympathie für ihn." Yven schließt seinen Bericht mit dem
Satz: "Unser lieber R. ist ein echtes Zeugnis für uns alle.
Denn wir durften sehen, daß er seinen Blick einzig auf den
gerichtet hat, der ihn in seine Arme geschlossen hat,
nämlich: auf Jesus Christus." Die Ausgrenzung kann
schlimme Folgen haben. Meines Wissens haben nicht wenige
Aids-Infizierte sich das Leben aus der Angst vor Ausgrenzung
genommen. Jesus Christus setzte dagegen ein Exempel der
Solidarität mit den Ausgestoßenen bzw. mit dem "Abschaum"
der Gesellschaft seiner Zeit. Er brach keinen Stab über die
ihm vorgeführte Ehebrecherin im Tempel (Joh. 8,2-11) oder
über die Sünderin im Hause eines Pharisäers (Lk. 7,36-50), er
nahm sich der Ausgestoßenen an, verweilte in ihrer Mitte
(vgl. Mt. 26,6ff) und verlieh ihnen das Gefühl der
Geborgenheit und des Friedens (Lk. 7,50). Die Seropositiven
haben ein Anrecht auf eine Atmosphäre der Liebe und auf
die daraus resultierende Annahme, wie Paulus sie seine
Zeitgenossen auch gelehrt hatte (Röm. 15,7). Die
"bürgerliche Abgrenzung" von der Not der Betroffenen
schadet der Verbreitung des Evangeliums und macht
unfähig, dem Großen Auftrag Christi (Mt. 28,19f) gerecht zu
werden. Darum ist es die Aufgabe der Gemeindediener, alle
Vorurteile gegen Aids-Infizierte abzubauen und zum
Verständnis für deren Not beizutragen.
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sondern miteinander zu leben. Man kann der Trauer, den
Klagen und der Verwundung der Aids-Opfer durch
theologische Richtigkeit bzw. Rechthaberei ihren
verletzenden Schmerz und ihre stechende Schärfe nicht
nehmen. Die Fragen der Kranken sind Klagen: Antworten
sind hier nicht gefragt, sondern Sich- Aussetzen, Stand-
halten, Mitfühlen, Mittrauern und Mitkämpfen. Die Ge-
meinden müssen sich üben, tragende Gemeinschaften im
Alltag zu sein, wie Jesus Christus sie vorgelebt hat, etwa
wenn er sagt: "... wer zu mir kommt, den werde ich nicht
hinausstoßen" (Joh. 6,37). Diese Verheißung verpflichtet die
Christen, einander anzunehmen und füreinander dazusein.
"Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen,
da bin ich in ihrer Mitte" (Mt.. 18,20). In dieser auf Christus
zentrierten Gemeinschaft kann auch die Grenze zwischen
Helfern und Hilfsbedürftigen fallen. Denn Gott hat die
Gemeinde "zusammengefügt und dabei dem Man-
gelhafteren größere Ehre gegeben, damit keine Spaltung im
Leib sei, sondern die Glieder dieselbe Sorge füreinander
hätten" (1Kor 12,24-25).
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wieder zurückzugeben. Sein Angst wird auch dann allmählich
weichen, wenn man Gelegenheit erhält, sich mit ihm über
Gott und die Welt, über Sterben und das Leben nach dem
Tod zu unterhalten. Als sehr hilfreich hat sich das Gespräch
über den Psalm 139 erwiesen. "Meine Urform sahen deine
Augen. Und in dein Buch waren sie alle eingeschrieben, die
Tage, die gebildet wurden, als noch keiner von ihnen da war"
(Vers 16). Der Hinweis auf die Allwissenheit Gottes und auf
die Tatsache, daß Gott sich nach unserer Bekehrung nicht
mehr an die Sünden des jeweiligen Menschen erinnert (Jer.
31,34), wirkt erfahrungsgemäß befreiend auf die Sterbenden,
so daß sie ruhig und still sterben konnten.
AIDS ist ein Test für die Gemeinde von heute. Ist sie für
diese Herausforderung genügend vorbereitet? Wird sie den
Aids-Opfern Christus gemäß begegnen und sie in ihre Reihen
integrieren können? Wird sie Barmherzigkeit üben oder sich
"bürgerlich" von den HIV-positiven abgrenzen? Wird sie
imstande sein, den Opfern dieser schrecklichen Krankheit
eine "heilende Gemeinschaft" zu bieten? Diesen Fragen und
anderen müssen wir uns stellen - hoffentlich nicht zu spät.
Hermann Hartfeld
Zürich, Herbst 1990