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Wo stehen wir?

Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung infinitesimalen Denkens erfuhr, verband sich mit dem
des Deutschen Werkbundes in Dresden 1911 Gebiete der Naturwissenschaften, die Vereinigung bei-
der ergab die Technik. Die wissenschaftlich begründe-
von Hermann Muthesius – Nikolassee te Technik hat, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
geboren, das Denken des neunzehnten Jahrhunderts
völlig mit Beschlag belegt. Man kann ihre unerhörten
Wie es eine Weltgeschichte der Realitäten gibt, eine Ergebnisse, wie sie heute zutage liegen, nicht anders
Geschichte des politischen Auf- und Abstiegs der Völ- erklären, als daß die gesamte Geisteskraft der Men-
ker, der Verschiebungen der Macht und des Reich- schen an ihrer Vorwärtsentwicklung beteiligt war. Nur
tums, so gibt es auch eine Geschichte der geistigen so konnten hier in einem Jahrhundert Erfolge erzielt
Strömungen. Die Geistestätigkeit der Menschen ist zu werden, die die frühere Arbeit von Jahrtausenden in
verschiedenen Zeiten ganz verschieden in Anspruch den Schatten stellen.
genommen, ihr Sinnen und Trachten jeweilig nur auf   Das Resultat dieser einseitigen Anspannung der
ganz bestimmte Ziele gerichtet. Die Zeiten erfüllen Geisteskräfte war aber In anderer Beziehung kein er-
Spezialaufgaben, so wie schließlich auch jeder Einzel- freuliches. Denn gewisse Tätigkeiten, die die mensch-
mensch nur ein Spezialist ist. liche Leistung früher zur Harmonie gerundet hatten,
  Wir beobachten, daß vom achtzehnten Jahrhun- waren durch die einseitige Richtung brachgelegt wor-
dert an die Aufmerksamkeit der Menschheit nach der den. Vernachlässigt wurden die Geistesgüter, die nicht
Richtung des verstandesmäßigen Erkennens gefesselt auf eine mathematische Formel zu bringen und nicht
wird. An die Stelle eines behäbigen Existenzgenusses durch Forschung und Quellenstudium zu erschließen
tritt die bohrende Gehirnarbeit, an die Stelle bis dahin sind, die Empfindungswerte, die im Religiösen, Poe-
gültig gewesener Dogmen und überlieferter Vorstel- tischen, Transzendentalen niedergelegt sind. In der
lungen der Zweifel an allem Bestehenden. Die Men- Nachlässigkeit, in der Gleichgültigkeit gegen sie liegt
schen beginnen den Ursachen aller Erscheinungen das charakteristische Merkmal des heutigen Men-
nachzugehen. Die Wissenschaft entwickelt die Metho- schen, verglichen mit dem Menschen früherer Zeiten.
de der exakten Forschung, die auf reiner, unvoreinge-   Der Rückgang des Kunstempfindens war eine der
nommener Beobachtung begründet ist. Sie baut das sichtbaren Folgen. Er war auf keinem Gebiete deut-
ganze Gebiet der Naturwissenschaften auf und steigt licher zu erkennen als in der Architektur, die einem
in der Geschichte zu den letzten Urquellen grauer Vor- raschen Niedergang anheim fiel. Und nichts ist in die-
zeiten hinab. Das Denken eines ganzen Jahrhunderts ser Beziehung vielleicht bezeichnender für den Geist
wird unter den Gesichtspunkt der Aufklärung gestellt. der Zeit, als daß im selben Jahrhundert, in welchem
Die unbezweifeltste aller Wissenschaften, die Mathe- die Konstruktion die höchsten Triumphe feierte und
matik, die durch Leibnitz die enorme Bereicherung des der gestaltenden Tätigkeit durch die sich drängenden

Muthesius: Wo stehen wir? – aus: Jahrbuch 1912 


Aufgaben der Technik die höchsten und glänzendsten und der Geste als Taktmesser. Die Baukunst ersteht
Aufgaben gesetzt waren, das Gefühl für das künstle- aus ihren primitivsten Äußerungen zu unzweifelhaft
rische Gestalten mehr und mehr sank und allmählich rhythmischen Gebilden, bei denen die reguläre Grund-
so gut wie ganz verloren ging. Was hier in Frage steht, form, die Symmetrie und die rhythmische Reihung der
ist die Form. Die Form, die nicht bestimmt wird durch Glieder von Anfang an vorhanden sind. Die Sprache
rechnerische Ergebnisse, die nicht erfüllt ist mit der aller jungen Völker ist gebunden. Die Form tritt bei ihr
Zweckmäßigkeit, die nichts zu tun hat mit verständi- stärker hervor als die Präzision des Gedankenausdru-
gem Denken. Es ist eine höhere Architektonik, die zu ckes. Das Drama, das sich aus dem Tanze der Urvölker
erzeugen ein Geheimnis des menschlichen Geistes ist, entwickelt, ist von strenger Architektonik beherrscht.
wie dessen poetische und religiöse Vorstellungen. Es Die Kleidung, bei der von Anbeginn die Schönheit
ist die Form, die uns an einzelnen Glanzleistungen der über der Nützlichkeit steht, folgt künstlerisch-architek-
menschlichen Kunst, dem griechischen Tempel, dem tonischen Grundsätzen und fügt sich dem Wohllaut
römischen Thermensaal, dem gotischen Dome, dem des menschlichen Äußerungskreises harmonisch ein.
Fürstenzimmer des achtzehnten Jahrhunderts in Ent- So hat die Form stets uneingeschränkt geherrscht, und
zücken versetzt, die Form, die uns gleich eindrücklich es wäre undenkbar gewesen, daß andere Gesichts-
berührt wie die Poesie und die Musik. Es ist die Form, punkte, wie solche nützlicher oder sentimentaler Art,
die wir in der letzten Vergangenheit noch an den Leis- ihren wohltätigen Zwang beseitigt hätten.
tungen Schinkels bewundern, jenen Leistungen, die   Und doch trat dieser Zeitpunkt ein, und zwar im
uns gegenüber allem, was dann folgte, als etwas Hö- achtzehnten Jahrhundert. Den ersten Ansturm ge-
heres, Erhabenes erscheinen, als etwas, das wir eben gen die Form beobachten wir in der Verdrängung
von da an verloren haben. des rhythmisch gestalteten Gartens durch den soge-
  Noch das achtzehnte Jahrhundert folgte in seinen nannten Naturgarten. Hier fiel der erste Stein aus dem
Umgangsformen, in seinen Festen, in der Einrichtung Gefüge der alten architektonischen Kultur heraus. Es
des Hauses, des Gartens, festumgrenzten Regeln, alle waren sentimentale Gedankengänge, die zersetzend
diese Dinge gingen aus einem Gefühl der wohltuen- wirkten, Gedankengänge, die, letzten Endes auf der
den Schicklichkeit hervor, ein Sinn für Rhythmus be- Lehre Rousseaus fußend, mit dem veränderten Geist
herrschte das ganze Leben. Damals konnte denn auch der Zeit zusammenhingen. Zum ersten Male kamen die
eine Architektur als Überzeugung eines Zeitalters le- Menschen auf den Gedanken, daß es nicht ihre Aufga-
bendig sein, denn in gewissem Sinne war die ganze be sei, dem Instinkt des rhythmischen Bildens, den der
Lebensführung architektonisch. Diese rhythmisch-ar- Schöpfer in ihr Gehirn gesetzt hat, Raum zu geben,
chitektonische Lebensbetätigung war im übrigen nur sondern gewissermaßen aus ihrem eigenen Selbst her-
das Ende eines Zustandes, der bis dahin die Mensch- auszutreten und etwas Äußeres nachzuahmen. Dieser
heit aller Kulturen überhaupt beherrscht hatte. Sehen erste Schritt der Zerstörung der Form ist von großer
wir doch schon bei den Urvölkern in jeder Tätigkeit, Bedeutung für den ganzen folgenden Verlauf der Ar-
sei es im Tanz, in der Sprache, selbst bei Verrichtung chitektur. Von ihr bröckelten von da an fortgesetzt Teile
ihrer primitiven Arbeiten, das Walten eines unbewuß- ab. Das menschliche Gehirn konnte die kosmischen
ten rhythmischen Instinkts. Die Musik dient dem Tanz Bildungsgesetze, die ihm vom Schöpfer eingepflanzt

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waren, nicht mehr zusammenhalten. Die Sentimen- des geschmacklichen Urteils der Menschen gelangten,
talität, die Nützlichkeit und andere Motive drangen wie es in der Geschichte noch nicht beobachtet wor-
ein und gewannen überhand über das Formgefühl. den war. Das empfand Gottfried Semper, als er das
Der Romantizismus, der sich schon um die Mitte des Ergebnis der Weltausstellung in London 1851 dahin
achtzehnten Jahrhunderts in den Schwärmereien be- zusammenfaßte, daß in der Kunst die barbarischen
kundete, die die pseudoossianischen Oden auslösten, und halbbarbarischen Völker die gebildeten Nationen
lenkte mitten in einer Zeit, in der noch die fest und besiegt hätten.
sicher gefügte Architektur der nachklassischen Zeit   Trotz der kunstgewerblichen Reformen, die schon
eine schöne Herrschaft ausübte, die Aufmerksamkeit um die Jahrhundertmitte einsetzten und in denen sich
auf die vergessene mittelalterliche Bauweise. Zugleich der dunkle Drang äußerte, verlorene Güter zurückzu-
entdeckte der kunstgeschichtliche Forschungseifer die erlangen, blieb in Deutschland die Situation bis gegen
sogenannten wahren Formen der griechischen Kunst. das Jahrhundertende dieselbe. Erst vom Beginn der
Beides wurde auf die ausübende Baukunst übertragen. neunziger Jahre an erhob sich wieder eine lebhaftere
Die kunstgeschichtliche Erkenntnisarbeit verscheuchte Geisteswelle, die getragen wurde von dem klaren Be-
die lebendige Architektur. Diese geriet durch die Zwei- wußtsein, daß der Form wieder ihr Recht werden müs-
fel an sich selbst ins Wanken, zumal jetzt die geistigen se.
Kräfte der Zeit, in Deutschland wenigstens, von der   Das erste deutlich hervortretende literarische An-
aufsteigenden Welle literarischer Interessen absorbiert zeichen der beginnenden neuen Geistesrichtung war
wurden. Und hier bereits liegt der Beginn für jenes in jenes krause Buch „Rembrandt als Erzieher“, das den
der Geschichte einzig dastehende Schauspiel, das uns Deutschen die Wichtigkeit der künstlerischen im Ge-
die Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts bieten, gensatz zu der wissenschaftlichen Kultur ins Gedächt-
in denen die Architekten überhaupt keine Überzeu- nis rief. Auf Lagarde und Nietzsche fußend, suchte der
gung mehr hatten, sondern sich zur Niederschrift ar- Verfasser jenen alten Wahrheiten wieder zum Rechte
chäologischer Diktate mißbrauchen ließen. Sie gaben zu verhelfen, daß die Verstandestätigkeit allein den
vor, sämtliche von der Kunstgeschichte festgestellten Menschen weder befriedigen noch die letzte Erfüllung
Stile reproduzieren zu können. seines Sehnens sein könne, daß keinerlei menschliche
  So drang die Zersetzung in die Architektur ein, Tätigkeit ohne den Einschlag der Empfindungswerte
und ihr Niedergang war um so natürlicher, als, wie ihr Endziel erreiche. Er wies auf die bekannte Tatsache
schon berührt, auch die allgemeinen Zeitverhältnisse hin, daß selbst alle großen wissenschaftlichen Forscher
sich gegen die Werte wandten, auf die die formbil- und Entdecker mehr durch Intuition als durch Empi-
denden Künste gerichtet sind, Der hastige Erwerbs- rik zu ihrem Ziele gelangt seien, und er kam zu dem
drang der Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, Schluß, daß nur, wenn Deutschland aus dem letzten
die gänzliche Beschlagnahme des Intellektes durch wissenschaftlichen nunmehr in ein künstlerisches Zeit-
wissenschaftliches und technisches Denken schwäch- alter trete, die Mängel unserer Zeit ausgeglichen wer-
ten das Gefühl für die Form so ab, daß es nicht mehr den könnten. Was der Rembrandtdeutsche seinen Zelt-
reagierte. Die Entwicklung der Zeit brachte es so mit genossen predigte, fing wenige Jahre darauf an, sich
sich, daß wir in Jahrzehnte eines völligen Versagens einzustellen. Wir erinnern uns jener Jahre des Garens

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und Aufwallens, die zwischen 1890 und 1895 liegen, auch ein erweitertes Wirkungsfeld sucht und Gebiete
jener Jahre, die den Geburtswehen einer neuen Zeit mit Beschlag belegt, die zeitweise der Architektur ent-
glichen, und in denen auf allen Gebieten der Kunst zogen waren, wie den Ingenieur- und Industriebau
sich mächtige Revolutionen ankündigten. Wir erinnern und die Anlage ganzer Siedelungen und Städte. „Vom
uns sodann der Jahre um 1895, in denen zunächst auf Sofakissen zum Städtebau“ so ließe sich der Weg, den
einem Spezialgebiete, dem des sogenannten Kunstge- die kunstgewerblich-architektonische Bewegung der
werbes, die Revolution zum Ausbruch kam. Wir wis- letzten 15 Jahre zurückgelegt hat, kennzeichnen.
sen, daß damals mit dem Schlagwort der modernen   So können wir heute das merkwürdige Ergebnis
Kunst alle Himmel gestürmt werden sollten, daß jede feststellen, daß binnen zwanzig Jahren dem Geistes-
Wiederholung früher gebrauchter Formen verpönt leben unserer Zeit eine neue Wendung gegeben wor-
war, daß man eine neue formale Ausdrucksweise der den ist. Auch der größte Zweifler muß zugestehen,
Architektur aus dem Boden zu stampfen versuchte. daß die Ideen, die der Rembrandtdeutsche, damals
In der Treibhausatmosphäre, aus der die rasch wech- ein Prediger in der Wüste, vortrug, einen Siegeslauf
selnden Stilmoden in jenen Jahrzehnten entsprungen zurückgelegt haben und daß seine damals verlachte
waren, erstand aber zunächst nur ein Wechselbalg der Prophezeiung, daß Deutschland wieder in ein künstle-
modernen Kunst, der Jugendstil, der, wie wir heute risches Zeitalter eintreten werde, wenigstens zu einem
sehen, fast noch größere Verwirrung gebracht hat als Teile erfüllt worden ist. Denn sicherlich ist heute ein
die vorher üblich gewesenen Repetitionen der his- weitverbreitetes Interesse an unseren Bestrebungen
torischen Stile. Aber es ist doch bezeichnend für die im großen Publikum vorhanden; der Sinn der Bevölke-
Kraft, die in der Bewegung lebendig war, daß das rung ist offen, das Evangelium zu hören. Namentlich
Mauserungsgefieder bald abgeschüttelt wurde. Nach aber steht die junge Generation mit voller Selbstver-
wenigen Jahren schon erreichten wir im Kunstgewer- ständlichkeit auf dem Boden der Anschauungen, die
be eine Klarheit des Ausdrucks, die, wie sich auf der wir vertreten. Die handwerklichen und industriellen
Ausstellung Dresden 1906 zeigte, fast ein einheit- Widersacher schweigen und bekunden ihre Stellung-
liches nationales Gepräge annahm. Die anfänglich rein nahme dadurch, daß sie sich still die Ergebnisse un-
kunstgewerbliche Bewegung wurde zu einer großen seres Strebens aneignen. Enthalten doch ihre Kataloge
allgemeinen Bewegung, die die Reform unserer ge- und Schaufensterauslagen heute durchweg das, was
samten Ausdruckskultur zum Ziele hatte. Der künst- sie noch vor fünf Jahren aufs heftigste bekämpften.
lerische Geist, einmal angefacht, griff in die Nachbar-   Wir, die wir mitgekämpft und mitgerungen haben,
gebiete ein, suchte die Bühne, den Tanz, das Kostüm können dies alles nicht ohne ein Gefühl innerster Ge-
zu reformieren. Und er machte selbst nicht vor den nugtuung feststellen. Wenn wir unterwegs verzweifeln
großen Nachbarkünsten, der Malerei und Bildhauerei, wollten gegenüber dem Unverstand der Menge, dem
Halt, die wenigstens zu einem Teil dem Drange der Zeit Gegeneifer der Berufskreise, die sich in ihrer Ruhe gestört
folgten und eine strengere architektonische Richtung sahen, so haben wir heute das Gefühl, daß wir über den
annahmen. Allerorten regt sich heute neues Leben, Berg hinweg sind. Sollte uns bei dieser Sachlage nicht
ein frischer architektonischer Geist beginnt zu treiben. ein Siegesgefühl beseelen? Sollten wir uns nicht darüber
Und es zeugt von seiner Kraft, daß er sich sogleich freuen, wie so herrlich weit wir es gebracht haben?

 Muthesius: Wo stehen wir? – aus: Jahrbuch 1912


  Die Freude am Erfolg wird uns niemand nehmen. uns zu kaufen. Beide Instanzen bleiben bei dem, was
Aber außerordentlich verfehlt würde es sein, den Sieg sie für aus- und abgemacht halten, sie sind dem Ver-
angesichts der heutigen Ergebnisse für errungen, die zu suche abhold und mißtrauisch gegen alles, was nicht
leistende Arbeit bereits für erledigt zu halten. Denn die abgestempelt ist. Die Götzen, die wir in unserem en-
Ergebnisse erscheinen uns nur, aus dem Mittelpunkte geren Kreise gestürzt haben, sie stehen für sie noch
unseres engeren Interessenkreises heraus betrachtet, aufrecht. Das Unechte, das wir erkannt haben, übt
so groß. Wir brauchen nur hinaus ins praktische Leben auf sie noch seine Wirkung aus, Alljährlich entstehen
zu treten, um sie bedenklich zusammenschrumpfen zu im Auslande große Ausstellungen mit der schlimms-
sehen. Jeder von uns, der als Künstler mit dem Publi- ten Kitscharchitektur. Und unsere heimischen reichen
kum zu tun hat, weiß, welche enormen Widerstände Leute treibt ihr Mangel an eigener Überzeugung zur
heute noch zu überwinden sind, um auch nur den ein- blinden Jagd nach sogenannten Antiquitäten, sie um-
fachsten und selbstverständlichsten Grundsätzen einer geben sich mit Dingen dunkler Abstammung, die sich
geläuterten architektonischen Auffassung Geltung zu nach zehn Jahren, in einer gewissen ausgleichenden
verschaffen. Sentimentalität, Nützlichkeitsverbohrt- Gerechtigkeit, als gefälscht zu erweisen pflegen. Und
heit, Gewöhnung an Schlechtes stehen hindernd im so müssen wir vielleicht auch heute noch sagen, daß
Wege. Weite Kreise, wie die Aristokratie und die rei- zwar ein Sieg der neuen deutschen Kunst zu konstatie-
chen Leute verhalten sich ablehnend, weil ihnen die ren ist, daß es sich jedoch nur um einen theoretischen
reinigende Tendenz der Bewegung unsympathisch, Sieg handelt. Es sind Resultate da, aber man macht
das bürgerliche Bekenntnis der neueren Kunstauffas- noch keinen Gebrauch von ihnen.
sung unheimlich ist. Wenn wir aber auch, trotz alle-   Daraus folgt die dringende Notwendigkeit, eifrig
dem, innerhalb Deutschlands einen weitreichenden weiter zu streben. Angesichts der Tatsachen liegt vor
Erfolg unserer Bestrebungen wahrnehmen können, allem die Aufgabe vor, die Bewegung auf eine gesi-
so dürfen wir doch nicht vergessen, daß das Ausland cherte Grundlage zu stellen, sie zu konsolidieren, ihr
im großen und ganzen noch wenig Anteil an unserer weiteste Kreise zu erschließen. Und diese Arbeit läuft,
neuen Geschmackskunst nimmt. Schließlich, was das bei Lichte betrachtet, nur auf eine große, allgemeine
Schlimmste ist, wir wissen auch selbst noch nicht recht, Wiedererziehung zur Form hinaus.
wohin wir im Sinne einer Stilentwicklung treiben, von   Der Form wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen, muß
der alle Welt spricht und die jedermann von uns er- die fundamentale Aufgabe unserer Zeit, muß der In-
hofft. Eine gefestigte Tradition unserer neuen forma- halt namentlich jeder künstlerischen Reformarbeit
len Ausdrucksweise hat sich noch nicht gebildet, sie ist sein, um die es sich heute handeln kann. Der glückli-
zwar im Keime vorhanden, aber den Zeitgenossen als che Verlauf der kunstgewerblichen Bewegung, die die
solche sicherlich noch nicht erkennbar. innere Ausstattung unserer Räume neu gebildet, die
  Diese heute festzustellenden Unzulänglichkeiten den Spezialgewerben neues Leben eingehaucht und
greifen ineinander über. Eben weil wir noch keine der Architektur fruchtreiche Anregung gegeben hat,
gefestigte neue Tradition haben, hat das bequemere kann nur als kleines Vorspiel dessen betrachtet wer-
große Publikum noch nicht das Bedürfnis, uns zu fol- den, was noch kommen muß. Denn trotz allem, was
gen, und das Ausland sieht noch keine Veranlassung, wir erreicht haben, waten wir noch bis an die Knie

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in Formverwilderung. Bedarf es dafür eines Beweises, erst jetzt, zugleich mit dem Eintritt in die Friedensä-
so sei auf die Tatsache hingewiesen, daß täglich und ra, die eigentliche Arbeit des Deutschen Werkbundes.
stündlich unser Land noch mit Bauerzeugnissen min- Und wenn bisher bei der Werkbundarbeit der Quali-
derwertigsten Charakters bedeckt wird, mit Erzeugnis- tätsgedanke im Vordergrunde stand, wir aber heute
sen, die unserer Zeit unwürdig sind und die der Nach- schon feststellen können, daß das Qualitätsempfinden
welt eine nur allzu beredte Sprache von der Unkultur in Deutschland, was Technik und Material betrifft, in
unserer Tage reden müssen. Was hat es aber für Sinn, raschem Aufstieg begriffen ist, so ist auch mit diesem
von Erfolgen zu sprechen, solange dies noch der Fall Erfolg die Aufgabe des Deutschen Werkbundes noch
ist? Gibt es ein treffenderes Zeugnis für den Stand des nicht erfüllt. Weit wichtiger als das Materielle ist das
Geschmackes eines Volkes als die Architekturgebilde, Geistige, höher als Zweck, Material und Technik steht
mit denen es seine Straßen und Ortschaften besetzt? die Form. Diese drei könnten tadellos erledigt sein,
Was wollte es demgegenüber heißen, wenn wir be- und wir würden, wenn die Form nicht wäre, doch
weisen könnten, daß heute bereits die Kräfte für eine noch in einer Welt der Rohheit leben. So stellt sich uns
anständige architektonische Gestaltung vorhanden als unser Ziel immer deutlicher die weit größere und
seien, daß diese Kräfte nur nicht an die Aufgaben weit wichtigere Aufgabe vor die Augen: die Wieder-
herangelangten? Eben daß sie nicht herangelangen, erweckung des Verständnisses für die Form und die
bezeichnet den Kulturzustand der Zeit. Eben daß Tau- Neubelebung des architektonischen Empfindens.
sende und aber Tausende unseres Volkes nicht nur an   Denn die architektonische Kultur ist und bleibt der
diesem Verbrechen gegen die Form empfindungslos eigentliche Gradmesser für die Kultur eines Volkes
vorübergehen, sondern daß sie als Bauherren durch überhaupt. Wenn ein Volk zwar gute Möbel und gute
die Wahl ungeeigneter Berater noch zu ihrer Vermeh- Beleuchtungskörper erzeugt, aber täglich die schlech-
rung beitragen, eben das ist das untrügliche Zeugnis testen Architekturgebilde hinsetzt, so kann es sich nur
für den Tiefstand unseres Formgefühls und damit un- um heterogene, ungeklärte Zustände handeln, um
serer künstlerischen Kultur überhaupt. Zustände, die eben gerade in ihrer Gemischtheit den
  Der Deutsche Werkbund wurde in Jahren gegründet, Mangel an Disziplin und Organisation beweisen. Kul-
in denen sich ein engerer Zusammenschluß aller an den tur ist ohne eine bedingungslose Schätzung der Form
guten Bestrebungen Beteiligten gegen anstürmende nicht denkbar, und Formlosigkeit ist gleichbedeutend
Widersacher notwendig machte. Seine Kampfesjahre mit Unkultur. Die Form ist in demselben Maße ein hö-
nach dieser Richtung sind heute vorüber. Den Ideen, heres geistiges Bedürfnis, wie die körperliche Reinlich-
um die es sich handelt, wird von keiner Seite mehr wi- keit ein höheres leibliches Bedürfnis ist. Dem wirklich
dersprochen, sie erfreuen sich allgemeiner Billigung. Ist kultivierten Menschen bereiten Rohheiten der Form
damit etwa seine Existenz überflüssig geworden? Man fast körperliche Schmerzen, er hat ihnen gegenüber
könnte auf solche Gedanken kommen, wenn man das dasselbe Unbehagen, das ihm Schmutz und schlech-
engere gewerbliche Schaffensgebiet allein in Betracht ter Geruch verursachen. Solange aber der Sinn für die
zöge. Wir können uns aber nicht damit begnügen, das Form bei den Gebildeten unserer Nation nicht bis zu
Sofakissen und den Stuhl in Ordnung gebracht zu ha- der Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach reiner Wä-
ben, wir müssen weiter denken. In Wahrheit beginnt sche entwickelt ist, so lange sind wir auch noch weit

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von jenen Zuständen entfernt, die sich in irgendeinen ziehung ist eingeleitet, und ihre Ergebnisse machen
Vergleich mit den Zeiten einer hohen Kulturblüte stel- sich in der jüngeren Generation schon bemerkbar.
len könnten. An die mittleren Schulen, die Baugewerkschulen, ist
  Wie sieht es aber in dieser Beziehung heute noch in eine reformierende Hand gelegt, die wenigstens die
Deutschland aus? Ein Blick in die Wohnungen unserer Schlacken der Prätension ausgeräumt hat. Ob unser
gebildeten Kreise enthüllt uns meist dasselbe uner- höheres baukünstlerisches Studium, wie es an den
freuliche Bild, das uns ein Blick auf die Straßen der Vil- Technischen Hochschulen seine Stätte findet, nicht
lenvororte gewährt. Der deutsche Baulustige hat kein reformbedürftig ist, diese Frage soll hier nur gestreift
Bedürfnis, sich geschulter Hilfskräfte zu bedienen, der werden. Eins steht fest: daß sich zum Unheil für die in-
Bauunternehmer scheint ihm die kongeniale Instanz. nere architektonische Ausbildung des Zöglings äuße-
Und derselbe Mann, der sich für seinen Anzug nur an re, vorwiegend auf Standesabgrenzungen abzielende
den besten Schneider wendet, der gute Musik pflegt, Gesichtspunkte in bedenklicher Weise in den Vorder-
und der auf einen exquisiten Weinkeller hält, er stellt grund stellen. Das Studium scheint mehr darauf ange-
an seine Behausung so mindere Ansprüche, daß ihm legt, spätere Räte vierter Klasse als Baukünstler erster
der erste beste gewesene Maurerpolier gut genug er- Klasse zu erziehen. Auch ist festzustellen, daß aus der
scheint, sein Bedürfnis zu befriedigen, Das ist der fast in Deutschland herrschenden Auffassung, man kön-
allgemein herrschende Zustand in Deutschland, zum ne sich, zwanzig Jahre alt geworden, ebenso wie man
Unterschied von England und Frankreich, wo sich der sich etwa zur Juristerei oder Medizin entschließt, auch
Gebildete mit voller Selbstverständlichkeit an den gu- eines Tages entschließen, Baukünstler „zu studieren“,
ten Architekten wendet, ebenso wie er im Krankheits- nichts Gutes erwartet werden kann. Zum mindesten
falle nicht den Lazarettgehilfen zu Rate zieht, sondern wäre das Vorhandensein künstlerischer Begabung zur
einen möglichst guten Arzt. Der gebildete Deutsche unerläßlichen Vorbedingung zu machen, über die der
vermeidet den Architekten, aber er sitzt in einem Nachweis zu erbringen wäre. Wie denn überhaupt die
Komitee für Kulturbestrebungen und ist in Baubera- im heutigen Unterrichtsbetriebe übliche bloße Aneig-
tungsstellen tätig. nung der architektonischen Äußerlichkeiten, die fern
  Überdenkt man, was hier noch zu tun ist, um auch von der Allgemeinkunst vor sich geht, ihre stark be-
nur die gröbsten Mißstände zu beseitigen, so erscheint denklichen Seiten hat.
die zu leistende Arbeit enorm. Wo ist der Hebel anzu-   Da aber der heutige gebildete Deutsche den ge-
setzen? Zwei Richtungen der Einwirkung bieten sich schulten Architekten überhaupt noch vermeidet, so
dar, die Einwirkung auf den Erzeuger und die auf den erscheint die Beschreitung des anderen Weges sehr
Verbraucher. Es handelt sich um die Erziehung des viel wichtiger, nämlich die Einwirkung auf den Kon-
baukünstlerischen Nachwuchses und um die Weckung sumenten. Das Interesse an Architektur hat im deut-
eines besseren architektonischen Verständnisses beim schen Publikum lange vollständig brachgelegen. Und
baulustigen Publikum. während in unseren Tageszeitungen jede erste The-
  Die Erziehung des baukünstlerischen Nachwuchses ateraufführung wie ein weltgeschichtliches Ereignis
ist die verhältnismäßig leichtere der beiden Aufgaben. behandelt und über jede Bilderausstellung lange Ar-
Wir sind hier bereits auf gutem Wege, die bessere Er- tikelserien geschrieben werden, tun unsere Zeitungen

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auch heute noch so, als wäre so etwas wie Architek- es möglich sei, einen schlechten Bauentwurf gut zu
tur nicht vorhanden. Der Zeitungskorrespondent weiß revidieren, wenn auch die Diktatorarbeit eines landrät-
nichts von Architektur. Erst ganz neuerdings beschäfti- lichen Bauberaters Besorgnis erwecken kann, so müs-
gen sich jüngere Kunstschriftsteller damit, ihr den Ein- sen wir uns doch hüten, das rege Interesse, das sich im
gang in die Markthallen der Tagesmeinung wenigstens größeren Publikum für diese Dinge eingefunden hat,
durch eine kleine Hintertür zu erzwingen. Der Leser durch Hervorhebung der Unzulänglichkeiten zurück-
flieht aber auch heute noch Diskussionen über Archi- zudrängen. Mag man zugeben, daß die Heimatkunst
tektur, als handelte es sich um Erörterungen über die nur ein neues Surrogat für wirkliches Kunstempfin-
Dialekte des Sanskrit. den sei, so befinden wir uns eben in der Notlage, in
  Und doch ist es in letzter Zeit gelungen, dem Publi- der auch Ersatzmaßregeln akzeptiert werden müssen.
kum wenigstens ein halbes Ohr für architektonische Nichts wäre gefährlicher, als etwa vom Standpunkte
Dinge zu öffnen, und zwar auf einem Umwege. Das der höchsten künstlerischen Anforderungen alle diese
Zauberwort, das die Apathie gelöst hat, heißt Hei- seitlich vorgenommenen Heilversuche zu durchkreu-
matschutz. Die Gedankengänge des Heimatschutzes zen. Und hier sei es gleich einmal ausgesprochen, daß
sind, das müssen wir heute freudig zugestehen, fast die von Künstlern oft verurteilte Art der Popularisie-
Allgemeingut des Volkes geworden, und es ist unse- rung des Kunstverständnisses durch breite literarische
re Pflicht, anzuerkennen, daß die Verbände, die diese Propaganda, wie sie etwa der Kunstwart oder der Dü-
Ideen verbreitet haben, ein gutes Werk getan haben. rerbund betreiben, als ein unbedingt notwendiges, in
Denn in der allgemeinen Anerkennung des Heimat- Deutschland noch nicht zu entbehrendes Erziehungs-
schutzgedankens liegt wenigstens das eine wichtige mittel anerkannt werden muß, und daß die Besorgnis
Zugeständnis, daß die Bauten, mit denen in den fünf derer, die in dieser Arbeit etwas Minderes, ja Kunstge-
letzten Jahrzehnten unser Land besetzt worden ist, öf- fährliches erblicken wollen, angesichts unserer trost-
fentlich als ungehörig erkannt sind. Das ist schon en- losen Allgemeinzustände verfrüht ist. Zudem können
orm viel, verglichen mit dem Zustande von vor zehn wir mit dem Grundsatz „l‘art pour l‘art“ am allerwe-
Jahren. Damals hatte das große Publikum noch keine nigsten in der Architektur etwas anfangen, die eine im
Ahnung von dem Werte oder Unwerte der architekto- Grund ihres Wesens populäre, eine soziale Kunst ist.
nischen Produktion, Im Heimatschutz haben wir also   Aber bei aller Anerkennung der Verdienste der po-
den Wiederbeginn eines architektonischen Erkennens pulären Kunstpropaganda müssen wir uns über eins
vor uns, das eifrig gepflegt werden sollte, denn es ist völlig klar sein: Der Künstler geht seinen Weg unbe-
die Hoffnung zu hegen, daß sich auf diese neu ge- kümmert um zeitweilig populäre Volksvorstellungen,
wachsene Pflanze das Pfropfreis eines eingehenderen die ihn nichts zu lehren und ihm nichts zu verbieten
Verständnisses für Architektur aufsetzen läßt. Wenn haben. Schließlich wird die Kunst vom Künstler ge-
auch manche Anhänger des Heimatschutzes vorläufig macht. In ihm allein ruht auch heute noch die Hoff-
in der Täuschung befangen sind, daß man mit dem nung für die künstlerische Zukunft unserer Nation, in
Rezepte: „Heilserum 1830“ den kranken Körper der ihm ist das künstlerische Schicksal der Zeit gegeben.
Architektur kurieren könne, wenn auch den Baube- Alle Popularisierungsbestrebungen schweben in der
ratungsstellen vielfach der Irrtum zugrunde liegt, daß Luft, solange nicht ein genügender Bestand an schöp-

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ferischen Kräften vorhanden ist, die mit ihrem Herz- ja in ihrer ewigen Abwechslungssucht nicht fähig ist,
blut und unbekümmert um die populären Richtungen Werte zu erkennen, heute bei 1850 angelangt, nach-
ihr Bestes geben. dem ihr die bisher geliebte Biedermeiermode, wie es
  Hieraus folgt die Unantastbarkeit, es folgt aber auch scheint, langweilig zu werden beginnt. Höher als die
gleichzeitig die hohe Verantwortlichkeit des schöpfe- Anpassungsfähigkeit an solche Vorgänge muß dem
rischen Künstlers. Künstler aber das Bewußtsein des Ernstes unserer Si-
  Und vielleicht gehört es auch zu den Aufgaben tuation stehen.
des Deutschen Werkbundes, einmal dieses Verant-   Denn große Werte stehen auf dem Spiel. Deutsch-
wortungsgefühl des Künstlers mit aller Schärfe her- land ist das Land, auf dessen Arbeit es bei der Stilent-
vorzuheben. Gerade heute, wo wir, wie es scheint, in wicklung der Zukunft ankommen wird. Nachdem Eng-
unserer Kunstbewegung wieder an einem kritischen land den Grund für eine wirkliche Reorganisation der
Punkte stehen, ist ein Mahnruf am Platze. Die letz- technischen Künste gelegt hatte, hat es Deutschland
ten Jahrzehnte haben eine gewisse Periodizität der verstanden, sich mit einem bewundernswerten Auf-
Kunstanschauungen erkennen lassen, derart, daß gebot von Kraft und Energie die Führung im Kunst-
ungefähr alle 15 Jahre die Richtung wechselte. Möge gewerbe anzueignen. Wirklich konnte es dabei einen
ein gütiges Schicksal unsere junge Kunst, die sich seit Augenblick scheinen, als ob die Verwilderungen, die
15 Jahren notdürftig im eigenen Hause eingerichtet ein kunstabgewandtes Jahrhundert gebracht hatte,
hat, vor einer Umquartierung bewahren! Sie ist kei- beseitigt werden könnten. Neue Hoffnungen waren
neswegs schon fertig ausgereift, sie ist soeben erst in erweckt, daß es möglich sein werde, der Zeit zu trot-
den Besitz eines gewissen Kraftgefühls getreten, sie zen und ein neues Schönheitsempfinden, begründet
befindet sich im allerersten Stadium ihres Eroberungs- auf der einzig möglichen, der dem eigenen Zeitemp-
zuges auf weitere Kreise. Und wir sollten alles, was finden entstammenden Leistung, zu errichten. Dürfen
wir errungen haben, jetzt schon leichtsinnig beisei- wir in einer solchen Stunde in die Imitationen schlech-
te werfen, um eine neue Fahne aufzupflanzen? Be- tester Kunstepochen zurückfallen?
fürchtungen dieser Art entbehren vielleicht noch der   Wenn Imitationen gewünscht werden und wenn
Begründung. Aber es treten selbst aus den Reihen die Neigung vorliegt, sie zu liefern, warum dann nicht
derer, die das heute bestehende Gute mitgeschaffen dem Beispiel Frankreichs folgen, wo eifrig die Werke
haben, Spaßmacher hervor, die vor dem Publikum der ausgezeichnetsten Epochen der Innenkunst ko-
ihre grotesken Sprünge aufführen, um diesem in einer piert und immer wieder kopiert werden? Warum der
neuesten Phase der Innenarchitektur die erwünschte Welt und dem Auslande das Schauspiel bieten, daß der
Abwechslung zu bieten! Leute, die behaupteten, daß deutsche Geschmack trotz allem doch noch so schlecht
gerade 1850 die Zeit wäre, in der die amüsantesten fundiert sei, daß er fähig sei, ausgerechnet die Dinge
Sachen gemacht worden wären, und daß es diese Zeit nachzuahmen, mit denen wir in London 1851 unseren
durch Nachahmung zu erschließen gälte. Sie verkün- Bankrott erklärten? Denn, das steht fest, mögen auch
den jetzt dieselben Sachen als musterhaft, über die die Imitationen von 1850 vom deutschen Publikum
sie vor 15 Jahren den Besitzer mit Hohn beschütteten. hingenommen werden, vor dem Auslande werden sie
Allerdings ist der Modezug der mondänen Welt, die lediglich kompromittierend für uns wirken.

Muthesius: Wo stehen wir? – aus: Jahrbuch 1912 


  In der Möglichkeit solcher leichtfertigen Sinnesän- sen große Verluste vorliegen, um den Anfang ganz
derungen, wie sie hier vorliegen, ist auch ein Stück von vorn zu erklären. Die großen Kunstzeiten hatten
Charakteristik unserer Zeit gegeben. Es herrscht Varie- Stil ohne Archaismus. Und das kam sicher daher, daß
té-Stimmung. Man fürchtet zu langweilen, wenn man damals der Sinn für das Rhythmische und Architekto-
standhaft das Gute vertritt. Der Zug der Unrast, der nische noch allseitig lebendig war und das Schaffen
Nervosität, des flüchtigen Stimmungswechsels, der der Menschen beherrschte, während in neuerer Zeit
dem modernen Leben anhaftet, findet auch seinen den Schwesterkünsten das Architektonische entzogen
Niederschlag in der Kunst. Es wird darauf ankommen, worden ist, das Semper als den „legislatorischen Rück-
ob sich unsere kunstgewerblich-architektonische Be- halt“ bezeichnete, „dessen keine andere Kunst ent-
wegung von ihm infizieren läßt oder nicht. Sicherlich ist behren kann“.
das Flüchtige mit dem innersten Wesen der Architektur   So ist die Wiedergewinnung einer architektonischen
unvereinbar. Sie hat das Stetige, Ruhige, Dauernde zu Kultur für alle Künste die Grundbedingung, und für
eigen. Repräsentiert sie doch in der durch Jahrtausen- einen zu erhoffenden, allgemein-künstlerischen Re-
de reichenden Tradition ihrer Ausdrucksformen selbst generationsprozeß überhaupt die Grundlage. Hierin
gleichsam das Ewige der Menschheitsgeschichte. In liegt die enorme Tragweite der Bewegung, in deren
gewissem Sinne ist ihr daher auch die in den anderen Mitte wir heute stehen. Denn das, was aus ihr ent-
Künsten heute herrschende impressionistische Auffas- springen wird, hat dann direkt die Bedeutung eines
sung ungünstig. In der Malerei, in der Literatur, zum Zeitenschicksals. Es handelt sich darum, wieder jene
Teil auch in der Bildhauerei, vielleicht selbst noch in der Ordnung und Zucht in unsere Lebensäußerungen zu
Musik ist der Impressionismus denkbar und hat sich bringen, deren äußeres Merkmal die gute Form ist.
Gebiete erobert. Der Gedanke an eine impressionis-   Deutschland könnte den Mut in sich fühlen, diese
tische Architektur aber wäre einfach furchtbar. Den- Aufgabe zu erfüllen. Ist doch der ganze architekto-
ken wir ihn nicht aus! Schon sind in der Architektur nische Auftrieb der letzten fünfzehn Jahre ausschließ-
individualistische Versuche unternommen, die uns in lich eine Angelegenheit der germanischen Völker. Und
Schrecken versetzt haben, wie sollten es erst impres- gewisse günstige Momente dafür liegen überhaupt in
sionistische tun. Wenn irgendeine Kunst, so strebt die unsrer Zeit verborgen. In der modernen sozialen und
Architektur nach dem Typischen. Nur hierin kann sie wirtschaftlichen Organisation ist eine scharfe Tendenz
ihre Vollendung finden. Allein durch das allseitige und der Unterordnung unter leitende Gesichtspunkte, der
stetige Verfolgen desselben Zieles kann jene Tüchtig- straffen Einordnung jedes Einzelelementes, der Zu-
keit und unzweifelhafte Sicherheit zurückerobert wer- rückstellung des Nebensächlichen gegen das Haupt-
den, die wir an den Leistungen vergangener, in ein- sächliche vorhanden. Diese soziale und wirtschaftliche
heitlichen Bahnen marschierender Zeiten bewundern. Organisationstendenz hat aber eine geistige Ver-
Und das trifft bis zu einem gewissen Grade auch auf wandtschaft mit der formalen Organisationstendenz
die Malerei und Bildhauerei zu. Es muß doch bedenk- unserer künstlerischen Bewegung.
lich stimmen, daß die jetzt dort einsetzenden Bestre-   Deutschland genießt nun den Ruf, daß die Organi-
bungen, zum Stil zurückzugelangen sich nur mehr in sation seiner Unternehmungen, seiner Großbetriebe,
den Skalen des Ladens der Urvölker äußern. Hier müs- seiner Staatseinrichtungen die straffste und exakteste

10 Muthesius: Wo stehen wir? – aus: Jahrbuch 1912


von allen Völkern sei (die militärische Zucht wird als reicher zu machen, Dies ist aber ohne die Kunst nicht
Grund dafür angeführt). Ist das aber der Fall, so liegt denkbar, und die Architektur ist die Dienerin, welche
vielleicht auch hierin die Berufung Deutschlands aus- dem Bedürfnis die höhere, durchgeistigte Form gibt.
gedrückt, die großen Aufgaben, die auf dem Gebiete Nur wenn jeder im Volke völlig instinktiv sich in der
der architektonischen Form liegen, zu lösen. Wie gut Deckung seiner Bedürfnisse der besten Form bedient,
unsre wirtschaftliche Großorganisation den architek- nur dann werden wir als Volk auf ein Niveau des Ge-
tonischen Zug der Zeit zu verstehen beginnt, geht aus schmacks gelangen können, das des sonstigen vor-
dem Umstande hervor, daß Verbände und Betriebe wärts gerichteten Strebens Deutschlands würdig ist.
dieser Art der Heranziehung bester Vertreter der Ar- Für die zukünftige Stellung Deutschlands in der Welt
chitektur nicht mehr entbehren zu können glauben. liegt aber darin, wie wir uns geschmacklich, das heilet
Sollte es gelingen, die gesamte Schicht der deutschen in der Handhabung der Form, entwickeln, eine aus-
Gebildeten, vor allem unsere reichen Privatleute von schlaggebende Bedeutung. Der Anfang ist die Reform
der Notwendigkeit der geläuterten Form zu überzeu- zu Hause. Erst wenn wir hier zu geklärten und har-
gen, so wäre ein weiterer großer Schritt in Deutsch- monischen Zuständen gelangt sind, erst dann können
land getan. wir hoffen, nach außen zu wirken. Erst dann kann uns
  Der Reichtum hat für den Fortschritt der Welt keinen die Welt als eine Nation würdigen, die unter anderen
Sinn, wenn er nur materielle Vorteile häuft. In ihm liegt Dingen, die man uns zutraut, auch die Aufgabe lösen
auch die kategorische Verpflichtung, das Bedürfnis könnte, dem Zeitalter das verloren gegangene Gut ei-
zu veredeln, um das Leben innerlicher, um es geistig ner architektonischen Kultur zurückzugeben.

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Muthesius: Wo stehen wir? – aus: Jahrbuch 1912 11

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