Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung infinitesimalen Denkens erfuhr, verband sich mit dem
des Deutschen Werkbundes in Dresden 1911 Gebiete der Naturwissenschaften, die Vereinigung bei-
der ergab die Technik. Die wissenschaftlich begründe-
von Hermann Muthesius – Nikolassee te Technik hat, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
geboren, das Denken des neunzehnten Jahrhunderts
völlig mit Beschlag belegt. Man kann ihre unerhörten
Wie es eine Weltgeschichte der Realitäten gibt, eine Ergebnisse, wie sie heute zutage liegen, nicht anders
Geschichte des politischen Auf- und Abstiegs der Völ- erklären, als daß die gesamte Geisteskraft der Men-
ker, der Verschiebungen der Macht und des Reich- schen an ihrer Vorwärtsentwicklung beteiligt war. Nur
tums, so gibt es auch eine Geschichte der geistigen so konnten hier in einem Jahrhundert Erfolge erzielt
Strömungen. Die Geistestätigkeit der Menschen ist zu werden, die die frühere Arbeit von Jahrtausenden in
verschiedenen Zeiten ganz verschieden in Anspruch den Schatten stellen.
genommen, ihr Sinnen und Trachten jeweilig nur auf Das Resultat dieser einseitigen Anspannung der
ganz bestimmte Ziele gerichtet. Die Zeiten erfüllen Geisteskräfte war aber In anderer Beziehung kein er-
Spezialaufgaben, so wie schließlich auch jeder Einzel- freuliches. Denn gewisse Tätigkeiten, die die mensch-
mensch nur ein Spezialist ist. liche Leistung früher zur Harmonie gerundet hatten,
Wir beobachten, daß vom achtzehnten Jahrhun- waren durch die einseitige Richtung brachgelegt wor-
dert an die Aufmerksamkeit der Menschheit nach der den. Vernachlässigt wurden die Geistesgüter, die nicht
Richtung des verstandesmäßigen Erkennens gefesselt auf eine mathematische Formel zu bringen und nicht
wird. An die Stelle eines behäbigen Existenzgenusses durch Forschung und Quellenstudium zu erschließen
tritt die bohrende Gehirnarbeit, an die Stelle bis dahin sind, die Empfindungswerte, die im Religiösen, Poe-
gültig gewesener Dogmen und überlieferter Vorstel- tischen, Transzendentalen niedergelegt sind. In der
lungen der Zweifel an allem Bestehenden. Die Men- Nachlässigkeit, in der Gleichgültigkeit gegen sie liegt
schen beginnen den Ursachen aller Erscheinungen das charakteristische Merkmal des heutigen Men-
nachzugehen. Die Wissenschaft entwickelt die Metho- schen, verglichen mit dem Menschen früherer Zeiten.
de der exakten Forschung, die auf reiner, unvoreinge- Der Rückgang des Kunstempfindens war eine der
nommener Beobachtung begründet ist. Sie baut das sichtbaren Folgen. Er war auf keinem Gebiete deut-
ganze Gebiet der Naturwissenschaften auf und steigt licher zu erkennen als in der Architektur, die einem
in der Geschichte zu den letzten Urquellen grauer Vor- raschen Niedergang anheim fiel. Und nichts ist in die-
zeiten hinab. Das Denken eines ganzen Jahrhunderts ser Beziehung vielleicht bezeichnender für den Geist
wird unter den Gesichtspunkt der Aufklärung gestellt. der Zeit, als daß im selben Jahrhundert, in welchem
Die unbezweifeltste aller Wissenschaften, die Mathe- die Konstruktion die höchsten Triumphe feierte und
matik, die durch Leibnitz die enorme Bereicherung des der gestaltenden Tätigkeit durch die sich drängenden