Was ist
Sprache?
Verlag C. H. Beck
Originalausgabe
www.beck.de
Inhalt
Anmerkungen 295
Literatur 304
Drucknachweis 316
Register 317
1. Was ist Sprache?
1.1. Noch nie wußten wir so viel über die Sprache wie heute: Die
Sprachen der Menschheit sind weitgehend erfaßt, auch wenn noch
Hunderte der genauen Beschreibung harren. Sie sind hinsichtlich
ihrer Abstammungsverhältnisse einigermaßen plausibel zu Sprach-
familien zusammengefaßt, ihre strukturellen Eigenschaften werden
quer zu diesen genealogischen Zusammenhängen verglichen, und
die sogenannten Kultursprachen sind gleichsam bis in die letzten
Winkel ihrer historischen und aktuellen Erscheinungsformen aus-
geleuchtet. Wie Kinder ihre Muttersprache erwerben, ist gut er-
forscht. Was sich im Gehirn beim Sprechen abspielt, erfassen immer
raffiniertere Untersuchungsmethoden. Aufgrund paläoanthropo-
logischer Funde, evolutionsbiologischer und neurologischer Ein-
sichten läßt sich sogar einiges zur Entstehung der Sprache sagen.
Natürlich gibt es in jedem der angesprochenen Bereiche noch un-
endlich viel zu tun, aber zweifellos hat sich das Wissen über die
Sprache vervielfacht, seitdem es professionelle Sprachforschung
gibt.
Dennoch: Je mehr wir über die Sprache wissen, desto schwieri-
ger scheint es zu sein, die einfache Frage zu beantworten, was Spra-
che ist. Dies ist nicht nur so, weil das große Wissen die Sache
unüberschaubar und kompliziert macht, sondern auch weil ge-
nauere Kenntnisse gute alte Sicherheiten ins Schwanken bringen.
Bestimmte Selbstverständlichkeiten sind auf einmal umstritten:
etwa ob Sprache kommunikativ ist, ob Sprache lautlich ist, ob sie
etwas Kulturelles ist oder etwas Natürliches, ein «Organ» oder «In-
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stinkt» etwa. Wie steht es um das Verhältnis von Denken und Spre-
chen? Ist es eigentlich gut oder schlecht, daß es so viele verschie-
dene Sprachen gibt? Diese Diskussionen bringen Bewegung in die
Frage nach den Beziehungen der Sprache zur Literatur, also zu den
«hohen» schriftlichen Diskursen einer sich ihrerseits dramatisch
wandelnden Sprach-Kultur. Die folgende kurze einführende Ant-
wort auf die Frage, was Sprache ist, ist daher ein Versuch, viele
Fragen offenzuhalten, bzw. ein Plädoyer für mehrere Sowohl-als-
auch. Einzelnen Sprach-Fragen gehen dann die weiteren Kapitel
des Buches ausführlicher nach.
1.3. Wer die Sprache als eine mit artikulierten Lauten vollzogene
kognitiv-kommunikative Technik bezeichnet, wird hinzufügen,
daß die Menschen dies aber auf jeweils ganz verschiedene Arten
und Weisen tun. Ihr Vorkommen in vielen verschiedenen lautlichen
Formen gehört (noch) zu den evidentesten und verwirrendsten Er-
fahrungen von Sprache. Damit ist nicht die natürliche Verschieden-
heiten der Stimmen gemeint, also die Tatsache, daß sich jedes Indi-
viduum anders anhört, daß dieselben Wörter bei Männern anders
klingen als bei Frauen, bei Jungen anders als bei Alten. Gemeint ist
die Verschiedenheit der Wörter selbst, ihre kulturelle Diversität.
Die Menschen produzieren verschiedene Lautfolgen ja nicht auf-
grund natürlicher Differenzen, sondern weil sie verschiedenen Ge-
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meinschaften angehören und in diesen sprechen gelernt haben.
Sprache erscheint in der Mehrzahl, als Pluralität verschiedener
historischer Sprachen.
Die Feststellung der Verschiedenheit beziehen viele Menschen
darüber hinaus nicht nur auf die Laute, sondern sie sagen auch, daß
die anderssprachigen Menschen anders denken. Es wird oft schwer
sein, eine genauere Antwort auf die Frage bekommen, wo sich denn
dieses andere «Denken» zeigt. Man wird solche Meinungen hören,
wie daß die Franzosen doch im Wort esprit etwas ganz besonders
Französisches ausdrückten. Vermutlich werden aber auch die Eski-
mos angeführt, die doch so viele Wörter für den Gegenstandbereich
hätten, den wir nur mit dem einen Wort Schnee abdecken. Diese
berühmten Beispiele müßten sicher im einzelnen genauer betrach-
tet werden, aber sie deuten doch an, was gemeint ist: Mit dem in
den Sprachen sedimentierten partikularen «Denken» wird die Ein-
sicht bezeichnet, daß die Sprachen die Welt geistig (semantisch) je-
weils unterschiedlich gestalten.
1.3.3. Ist es denn nun gut oder schlecht, daß die Menschheit ver-
schiedene Sprachen hat? Der Heilige Stephan, König von Ungarn,
schreibt zu Beginn des 11. Jahrhunderts in sein politisches Testa-
ment, daß das ein armes und bedauernswertes Reich wäre, in dem
nur eine Sprache gesprochen und in dem nur eine Sitte herrschen
würde. Den französischen Revolutionären des achtzehnten Jahr-
hunderts ist genau dies ein Greuel. Die Vielzahl der Sprachen und
Sitten behindert die Kommunikation zwischen den Menschen, sie
behindert die Teilhabe der Bürger an der neuen demokratischen
Ordnung: Wie soll denn jemand, der gar nicht Französisch kann –
und das traf 1789 auf immerhin zwei Drittel der Bevölkerung Frank-
reichs zu – , am politischen Geschehen des Landes teilnehmen und
ein Vollbürger des neuen Staates werden, der auf der aktiven Teil-
nahme seiner Bürger basiert? Außerdem haben die Revolutionäre
natürlich gewußt, daß die gemeinsame Sprache ein wichtiges Mittel
zur Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls und kollektiver Identi-
tät ist. Sie schlagen daher Maßnahmen zur sprachlichen Vereinheit-
lichung ihres Landes vor (die allerdings erst einhundertfünfzig
Jahre nach der Revolution erfolgreich abgeschlossen sein wird).
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1.3.4. Weitgehend dachte das abendländische Europa und denkt
die westliche Welt immer noch so wie die französischen Revolutio-
näre: Die Verschiedenheit der Sprachen ist eine Strafe, wie es der
biblische Mythos von Babel erzählt. Um die Anmaßung der mit
«einerlei Sprache» miteinander kommunizierenden Menschen zu
bestrafen, fuhr Gott hernieder und verwirrte die gemeinsame Spra-
che, die die Menschen noch aus dem Paradies mitgebracht hatten.
Die Verschiedenheit der Sprachen sollte die universelle Kommu-
nikation aller mit allen unmöglich machen. Aufhebung dieser alt-
testamentarischen Strafe, Herstellung der sprachlichen Einheit –
und sei es auch nur auf dem Territorium eines Staates – ist daher
Wiederherstellung des Paradieses.
Angesichts dieses in unserer Kultur so tief verwurzelten Mythos,
der die Sehnsucht der Menschen nach der einen, überall verständ-
lichen Sprache artikuliert, haben es die Liebhaber vieler Sprachen
wie der König István schwer. Leibniz war, wie wir gesagt haben,
einer von ihnen. Gegenüber dem aufgeklärten (und christlich tradi-
tionellen) Lamento über die Verschiedenheit der Sprachen plädiert
er dafür, sich auf diese Vielfalt einzulassen, die den Reichtum des
menschlichen Geistes bezeuge. Babel als Glück und Chance!
Wie denn nun? Reichtum oder Plage? Glück oder Strafe? Gerade
eben beides. Die Vielzahl der Sprachen ist ein Reichtum des Den-
kens, ein kultureller Reichtum der Menschheit, und ein kommuni-
katives Hindernis. Sowohl als auch.
Wilhelm von Humboldt wird von Noam Chomsky und der von
Chomsky abhängigen Sprachwissenschaft seit Jahrzehnten als
Gründungsvater der Linguistik angerufen, weil er die Kreativität
der Sprache erkannt habe, die Tatsache, daß Sprache «von endlichen
Mitteln unendlichen Gebrauch» mache. Dieses zentrale Prinzip der
Sprache wird technisch genauer als «Rekursivität» gefaßt. Es han-
delt sich dabei um die Möglichkeit, eine (syntaktische) Regel immer
wieder anzuwenden, so daß unendlich viele und unendlich lange
Sätze entstehen können.1 Humboldt hat in der Tat gesagt, daß die
Sprache «von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch ma-
chen» müsse (VII: 99), aber er hat das nicht in dem Sinne gemeint,
in dem man das im Kontext der generativen Sprachwissenschaft
verstanden hat, gar im technischen Sinne von Rekursivität.2 Rekur-
sivität ist in der generativen Theorie das Grundprinzip von Sprache
überhaupt, sie ist ihr Wesenszug, und sie ist damit auch der Kern
des menschlichen Geistes, der Zug, der menschliche Sprache von
tierischem Verhalten unterscheidet. Es kann daher auch nicht über-
raschen, daß Erkundungen zum Ursprung der Sprache sich auf die
Suche nach Rekursivität machen. Wo diese auftritt, ist der Ursprung
der Sprache. Moderner gesagt: in einer evolutionsbiologischen Per-
spektive muß nach Vorgängern für Rekursion in der Naturge-
schichte des Menschen gesucht werden.3
Es geht mir hier nicht darum, zu entscheiden, ob tatsächlich
Rekursivität der entscheidende Zug menschlicher Sprache ist oder
nicht. Wohl aber möchte ich der Chomskyschen Anrufung Hum-
boldts entgegenhalten, daß, wenn man einen zentralen Begriff in
Humboldts Sprachauffassung suchen würde, man sicher nicht auf
den Begriff der Rekursivität der Sprache stoßen würde. Natürlich
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macht die Sprache unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln,
aber dies ist bei Humboldt kein besonderes Charakteristikum von
Sprache. Die Natur verfolgt «mit endlichen Mitteln unendliche
Zwecke», schreibt Humboldt einmal, lange bevor er sich mit Spra-
che beschäftigt (I: 322). Und in der Tat kommt dieses Prinzip, je-
denfalls so wie Humboldt es versteht, aus seiner Naturphilosophie.
Es ist ein allgemeines Prinzip des Lebens, das überhaupt nicht auf
Sprache beschränkt ist, sondern alle kreativen Vorgänge betrifft. Es
hat daher in seiner Sprachtheorie auch nicht den Status eines tech-
nisch-strukturellen Prinzips wie die Kreativität-Rekursivität in der
generativen Theorie.
Der Begriff aber, der ganz sicher das Wesen der Sprache für Hum-
boldt ausmacht, der gleichzeitig ein durchaus technisch-strukturel-
les Prinzip bezeichnet und den er ausführlich theoretisch ausführt,
ist derjenige der «Artikulation» oder der «Gliederung»: «Da die
Articulation das Wesen der Sprache ausmacht […]» (V: 115) oder:
«Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Sprache» (V: 122).
Wenn man Humboldt in dieser Auffassung folgt, müßte man in
einer evolutionären Fragestellung nach der Entstehung und Ent-
wicklung von «Artikulation» suchen. Humboldt meinte mit der
Tatsache, daß Sprache wesentlich «artikuliert» sei, grob gesagt,
etwas Zweifaches: nämlich daß wir in «artikulierten» Tönen spre-
chen, also in Kombinationen von unterscheidbaren Lautproduktio-
nen, und daß mit diesen «artikulierten» Tönen die Sprache auch
die geistigen Erfahrungen des Menschen «gliedert», also die Welt
in «Bedeutungen» oder in «Gedanken» einteilt und kombiniert.
Dieses allgemeine zweiseitige Gliederungs-Prinzip heißt in der
Sprachtheorie amerikanischer Provenienz nicht «articulation».
«Articulation» ist dort, wenn ich es richtig sehe, nur auf die Laut-
produktion bezogen. Die Verbindung der phonetischen Artikula-
tion mit der semantischen Gliederung, von der bei Humboldt die
Rede ist, erscheint dort unter dem Stichwort der «duality of patter-
ning».4 Diese wird dort zwar durchaus als eine der universellen
Eigenschaften der Sprache betrachtet, sie ist aber nicht wie die Re-
kursion die fundamentale Eigenschaft der Sprache überhaupt.
Der Begriff der Artikulation hat aber in anderen wissenschaft-
lichen Traditionen (damals, als es noch andere Traditionen gab)
durchaus eine zentrale Rolle gespielt, so etwa als «double articula-
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tion» oder «zweifache Gliederung» in der strukturellen Sprach-
wissenschaft, besonders in Frankreich. Die französische Tradition
bezieht sich dabei aber nicht ausdrücklich, sondern bestenfalls im-
plizit auf Humboldt. Der Theoretiker der (doppelten) Artikulation
war in Frankreich André Martinet, der sich dabei vor allem auf den
dänischen Linguisten Louis Hjelmslev berief, welcher sich seiner-
seits als den Vollender Saussurescher Gedanken betrachtete. Hjelms-
lev hatte in seiner Saussure-Interpretation herausgestellt, daß die
beiden unauflöslich miteinander verbundenen Seiten der Sprache,
das Lautliche und das Inhaltliche, jeweils anders gestaltet sind, daß
also das Lautliche nicht einfach ein Abbild des Inhalts ist, sondern
daß der Laut eine andere Form hat als der Inhalt. Daß also z. B. das
deutsche Wort Fisch einerseits aus einer Lautsequenz / fi∫ / besteht,
die nichts Fischartiges oder Fischförmiges hat, sondern aus drei laut-
lichen Einheiten (Phonemen) kombiniert ist, und andererseits aus
der Bedeutung «Fisch». Hjelmslev benutzt den Ausdruck der «Ar-
tikulation» nicht, sondern spricht von zwei unauflösbar miteinan-
der verbundenen unterschiedlichen «Formen»: der Verbindung von
Ausdrucksform und Inhaltsform.5 Martinet faßt diesen Gedanken
unter dem Ausdruck der «doppelten Gliederung» folgendermaßen
zusammen:
2.2.1. Der dritte Akt von Richard Wagners Parsifal beginnt unarti-
kuliert, mit einem Stöhnen:
2.2.2.1. Grundlegend für das 18. Jahrhundert ist die Erzählung des
Sprachursprungs von Condillac, der die Sprache aus dem «cri des
passions», dem Schrei der Leidenschaften oder, wie Herder über-
setzt: dem «Geschrei der Empfindungen», hervorgehen läßt: Der
«Urmensch», der ein Bedürfnis empfindet (etwa Hunger oder
Durst), das er nicht unmittelbar und allein befriedigen kann, stößt
einen Schrei aus, begleitet von der Bewegung seines Körpers, d. h.
der «Urschrei» ist gar nicht nur Schrei, sondern ein gesamtsoma-
tisches Ereignis, ein Doppelereignis von Schrei und Handlung
(action). Während der Schrei im wesentlichen die Emotion aus-
drückt (also der Bühlerschen «Kundgabe» entspricht), deutet die
Gebärde (action) auf die Sache (sie ist also Index bzw. in Bühler-
schen Termini «Darstellung»). Dieser Schrei der Passion wird von
einem anderen Menschen wahrgenommen, der dem Schreienden in
einem Akt der Kom-Passion, des Mit-Leids, zur Hilfe kommt (der
Schrei war damit also gleichzeitig auch «Appell»).8
Rousseau kritisiert dieses Szenario, weil er an dem angeborenen
Instinkt zum Mit-Leiden zweifelt. Die Liebe zum anderen muß
nach Rousseau erst erfunden werden. Daher fällt Rousseaus Ur-
Szene der Spracherfindung auch zusammen mit der Erfindung der
Liebe: Aber auch hier ist das Ur-Wort ein lautliches Ereignis, das
allerdings schon von einer «höheren» Passion, von einem «morali-
schen Bedürfnis» (besoin moral), nämlich der Liebe, kündet. Daher
ist es eigentlich auch kein Schrei mehr, sondern Gesang, also schon
sublimiertes Geschrei: Das erste Wort singt, aber noch ziemlich un-
artikuliert, «Aimez-moi!»: «Lieben Sie mich!» Es drückt dieses Ge-
fühl aus («Kundgabe») und ist zugleich «Appell» an den anderen.
Bei Herders Ursprungsszenario schreit nicht der spracherfin-
dende Mensch (er gibt weder seine Passion kund, noch appelliert er
an den anderen), sondern die lebendige Welt, der er gegenübersteht
und die er «kennenlernen» möchte: es blökt das Schaf. Insofern
geht hier die Sprache nur indirekt aus dem Schrei hervor, nämlich
aus dem gehörten Schrei. Der Mensch hört den Schrei des Lammes
und schafft ihn in seinem Inneren nach, der innere Schrei ist ein
akusmatisches Lautbild, welches der erste Gedanke ist.9 Erst in
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einem dritten Schritt – nach dem Schrei des Lammes und dem akus-
matischen Gedanken-Schrei des Menschen – tritt der Schrei nach
außen: als onomatopoetisches Lautbild des Gedanken.
Bei den Urwörtern dieser philosophischen Erzählungen handelt
es sich je nach der angenommenen Grundfunktion der Sprache um
zwei verschiedene Arten von Wörtern mit grundverschiedenen
Semantiken: einerseits um Wörter mit emotiv-pragmatischen Be-
deutungen («ich habe Hunger», «hilf mir!», «liebe mich!»), ande-
rerseits um Wörter, die Objekte in der Welt darstellen, um Wör-
ter mit referentiell-repräsentativen Bedeutungen («Schaf» bzw. in
Herders Formulierung des ersten Gedanken-Worts: «Ha! du bist
das Blökende!», Herder 1772: 33). Der Schrei der Leidenschaft
erscheint gezähmt als Interjektion (Condillac, Rousseau), der
Schrei der Welt als akusmatisches Bild und Onomatopoesie (Her-
der).
Eigentlich ist dies die Frage nach der Entstehung der Buchstaben-
schrift. Aber die Einsicht in die lautliche Artikulation, in die «Be-
standteile der willkürlichen Worte», hängt historisch tatsächlich
mit der Erfindung der Buchstabenschrift zusammen, die ja nichts
anderes ist als die Einsicht in die Gliederung des Lautstroms in
seine «Bestandteile». Die ausführlichste Theorie der Artikulation,
nämlich diejenige von Humboldt, wird daher auch im Zusammen-
hang mit Überlegungen zur Buchstabenschrift entwickelt.
Rousseau ist, vermutlich weil sein Ursprungs-Essai ja auch ein
Essai über die Musik ist, am klarsten: Die Artikulation ist nämlich
die Zerstörung des Gesangs des Anfangs. «Articulation» heißt bei
ihm, dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend, vor allem: «Kon-
sonant». Artikulation ist daher im wesentlichen: Einfügung von
Konsonanten in den musikalischen Strom der singenden Stimme.
Am Anfang passen die Konsonanten noch gut zum Gesang, der
damit fließender wird:
Für Rousseau ist die Artikulation gerade der Sündenfall der Spra-
che: Sie ist zwar der Ursprung der «normalen» menschlichen Spra-
che, gleichsam der zweite Ursprung der Sprache, aber sie ist eben
auch zugleich das Ende der «eigentlichen» Sprache, der singenden
Sprache der Liebe. Mit der Ausbreitung der Artikulation verändert
sich auch die Semantik der Wörter: Nicht mehr Gefühle (senti-
mens), Passionen, transportiert die artikulierte Sprache, sondern
«Ideen», also objektive Vorstellungen. Auch bei Rousseau öffnet
sich mit der Artikulation, also mit der Gliederung des Lauts in mit-
einander gelenkig verbundene Sequenzen, die Perspektive auf die
Schrift. Die «artikulierende» Schrift, die Buchstabenschrift, radi-
kalisiert die Zerstörung der schönen Sprach-Musik des Anfangs,
die sie «analysiert» (Rousseau 1781: 57), und beschleunigt damit
den Niedergang der Sprache in der Zivilisation. Schrift ist nicht nur
wegen der «Analyse» Zerstörung der Sprache, sondern auch weil
sie als visuelle Sprache wieder in das Medium des vormenschlichen
Stadiums zurückfällt: in die Gebärde, in das Sichtbare. Sie ist
eigentlich das Zeichen der Wildheit der Zivilisation.
37
2.3. Das Theilungsgeschäft der Sprache
Wie verschieden auch immer die Schwerpunkte der Ursprungssze-
narien im 18. Jahrhundert sind – kommunikativ-emotional bei
Condillac und Rousseau, kognitiv bei Herder – , das Sprachdenken
des 18. Jahrhunderts versucht, in den Szenarien des Ausgangs der
Sprache aus dem Schrei durch Konjekturen über die zunehmende
Artikulation beide Seiten der Sprache in den Griff zu bekommen:
den Laut und die Bedeutung. Aber ich denke, es ist nicht falsch zu
sagen, daß dieses Sprachdenken mehr die strukturelle Eigenschaft
der Artikulation umkreist, als daß es sie wirklich erfaßt. Das gelingt
erst Humboldt, der schon in seinem ersten sprachtheoretischen
Text von 1795 / 96 «Über Denken und Sprechen» eine Theorie der
Artikulation skizziert, die dann zunehmend an Präzision gewinnt.
2.3.1. Dieser frühe Text schließt noch an die Diskussion seiner Vor-
gänger über den Sprachursprung an, es geht immer noch um den
zeitlichen Beginn der Sprache: «Die Sprache beginnt daher […]»
(VII: 581). Humboldt knüpft ganz offensichtlich an Herders kog-
nitives Ursprungsszenario an, nämlich an das «Stillestehen» der Re-
flexion (§ 3, § 7), welche «Abschnitte» des Denkens unterscheidet.
Sprache entsteht wie bei Herder mit diesem «ersten Act der Refle-
xion» (VII: 581). Allerdings bildet dieser kein akusmatisches Bild
des Schreis der Natur, keinen Gedanken-Schrei oder Schrei-Gedan-
ken wie bei Herder, sondern Denken und Sprechen sind bei Hum-
boldt deutlich voneinander geschiedene Aktivitäten, auch wenn sie
«unmittelbar und sogleich» zusammen entstehen. Der zweite Teil
des kleinen Textes ist der materiellen Seite der Sprache gewidmet:
nicht räumlich-statische, visuelle, sondern zeitlich-bewegliche Phä-
nomene sind Signifikanten, die dem Abschnitte bildenden Denken
gemäß sind. Nicht die Hand, sondern die Stimme ist das Organ, das
diese Zeichen erzeugt: Töne, die einmalig sind in der ganzen Natur:
2.3.3. Aber Humboldt nennt 1820 die Artikulation noch nicht so.
Der Ausdruck «Articulation» ist hier nur auf die lautliche Artikula-
tion bezogen. Daß die komplizierten Teilungs- und Verbindungs-
aktivitäten unter dem Ausdruck der Artikulation oder der Gliede-
rung zusammengefaßt werden können, das wird ihm erst in seinem
Aufsatz über die Buchstabenschrift von 1824 deutlich.
Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet eine Theorie der Schrift zu
Überlegungen zur sprachlichen Artikulation führt. Jede Reflexion
über die Schrift kann nicht übersehen, daß die Buchstabenschrift
auf der linguistischen Einsicht basiert, daß der Laut, der beim Spre-
chen unserem Munde entströmt, kein ununterschiedenes Konti-
nuum ist (was er physikalisch durchaus ist), sondern daß er sich aus
kleinen lautlichen Einheiten, die durch wiederkehrende Bewegun-
gen der entsprechenden Organe erzeugt werden, zusammensetzt.
Dies ist ja mit «Artikulation» gerade gemeint: articulus ist das «Ge-
lenk» (und metonymisch dann auch das «Glied»), und Artikulation
also die gelenkige Verbindung von unterschiedlichen Gliedern. Die
Buchstabenschrift unterscheidet die Bestandteile des Lautstroms,
aus denen die Wörter unserer Sprache gemacht sind, und sie verbin-
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det sie wieder im geschriebenen Wort. Jede Schrifttheorie steht des
weiteren vor der Evidenz, daß das andere große Prinzip des Schrei-
bens das Schreiben des Inhalts ist, also das – nicht ganz korrekt –
«ideographisch» genannte Prinzip (richtiger wäre es, von «logo-
graphisch» zu sprechen, da die «Ideen» nicht ohne die Wörter
vorkommen, sondern ja gerade in Wörtern gefaßt sind). Sie steht
hier vor den Einheiten der «ersten» Gliederung. Schrifttheorie ist
also gleichsam automatisch Theorie der sprachlichen Gliederung in
ihren beiden Bereichen.
Die Überlegungen zur Schrift stehen im Zusammenhang mit
Humboldts Begegnung mit den Forschungen Champollions, der ja
entdeckt hatte, daß die ägyptischen Hieroglyphen durchaus keine,
gar auch noch bewußt geheimnisvolle, Bilderschrift sind, sondern
eine phonetische Schrift, daß sie also nicht Inhalte, sondern Laute
wiedergeben.10 Auch die Beschäftigung mit dem Chinesischen ver-
langt eine Auseinandersetzung mit der Schrift. Was Humboldt
dabei aber insbesondere interessiert, ist der Zusammenhang zwi-
schen Schrift und Sprache, wie er es im Titel seiner Akademierede
ja ausdrücklich formuliert: «Über die Buchstabenschrift und ihren
Zusammenhang mit dem Sprachbau». Insbesondere geht es um
die Frage, welche Schrift dem «Sprachbau» am besten entspricht.
Humboldt argumentiert nun dafür, daß die Buchstabenschrift dem
Wesen der Sprache am angemessensten sei, weil sie ihrem «Bau» am
besten entspreche, d. h. weil sie das artikulatorische Prinzip der
Sprache abbilde.
Was er 1795 / 96 und 1820 angedeutet hatte, führt er nun hier
als Begründung für diese Auffassung aus. Ausgangspunkt ist die
von Humboldt immer wieder und immer eindringlicher festge-
stellte synthetische Vereinigung der beiden «Gebiete», des Lauts
und des Denkens («Es vereinigen sich also im Menschen zwei Ge-
biete»):
Dasjenige worin sich diese Form [des Geistes] und die Articula-
tion, wie in einem verknüpfenden Mittel begegnen, ist, dass beide
ihr Gebiet in Grundtheile zerlegen, deren Zusammenfügung lau-
ter solche Ganze bildet, welche das Streben in sich tragen, Theile
neuer Ganzer zu werden. (VI: 152)
2.3.5. Der letzte Satz deutet implizit auch die Haltung des reifen
Humboldt zu den Spekulationen über den Ursprung der Sprache
an, zu denen er in Über Denken und Sprechen durchaus noch
selbst beigetragen hatte. Daß die «ursprüngliche Einrichtung der
menschlichen Natur» nicht weiter zu erklären ist, heißt auch, daß
Humboldt Konjekturen über die Vorgeschichte der Sprache ab-
lehnt. Er wirft höchstens einen vergleichenden Blick auf die Tiere,
die naturhistorischen Kenntnisse seiner Zeit erlauben aber keine
auch nur andeutungsweise plausiblen Überlegungen über die Evo-
lution. So stellt Humboldt an der oben zitierten Stelle zwar den
«ungeheuren Unterschied zwischen der Stummheit des Thiers und
der menschlichen Rede» kontrastierend fest, aber er verbietet es
sich, sie in ein evolutionäres Nacheinander zu setzen. Über den
zeitlichen Anfang wissen wir nichts, wir haben keinerlei Doku-
mente, die uns darüber Aufschluß geben, wie es früher gewesen ist.
Daher gibt es bei Humboldt auch keine Geschichten von der all-
mählichen Verfertigung der Sprache aus dem Schrei. Das ist aus der
Sicht des damaligen Standes der Wissenschaft konsequent.
Was wir nach Humboldt aber durchaus wissen, ist, wie Sprache
funktioniert, wir erfahren es in jedem Sprechen. Wir wissen, aus
welchen Kräften und Anlagen des Menschen die Sprache entspringt.
Nach einer Unterscheidung Kants können wir zwar nicht das «An-
heben», wohl aber das «Entspringen» der Sprache erfassen. In die-
ser Perspektive des (ewigen) Ursprungs, des Entspringens, d. h. der
jedesmaligen aktuellen Tätigkeit, geht Sprache nicht aus dem Schrei,
aus dem unwillkürlichen Ausdruck der unverfügbaren körper-
lichen und passionalen Überwältigung, hervor, sondern aus dem
Denken, den Stimmwerkzeugen und dem Gehör – und deren Arti-
kulation.
46
2.4. Die Rückkehr des Schreis
In the beginning there was the word, but the vocal communica-
tions of our most distant hominid ancestors five million years or
so ago probably didn’t really differ from those of the ape-homi-
nid ancestor. Most of their cries would have been linked to emo-
tion and instinct. And […] the ability to produce vocalizations
that are not linked to emotion and instinct seems to create the
gulf between human language and the vocal communication of
apes. Whereas we can produce a chorus of changing formant
frequency patterns that signal concepts abstract and concrete, apes
are bound to simple melodies tied to mood. (Lieberman 1998:
133 f., Herv. J. T.)
Am Anfang war zwar das Wort, aber die stimmlichen Mitteilun-
gen unserer am weitesten entfernten menschenähnlichen Vorfah-
ren vor ca. fünf Millionen Jahren waren nicht wirklich verschie-
den von denen des Affen-Menschen-Vorfahrs. Die meisten ihrer
Schreie waren sicher mit Emotion und Instinkt verbunden. Und
[…] die Fähigkeit, Vokalisierungen zu erzeugen, die nicht mit
Emotion und Instinkt verbunden sind, scheint den Abgrund
zwischen der menschlichen Sprache und der stimmlichen Kom-
munikation von Affen zu erzeugen. Während wir eine Reihe von
49
wechselnden Formanten-Frequenz-Mustern bilden können, die
abstrakte und konkrete Konzepte signalisieren, sind Affen an
einfache, von Stimmung abhängige Melodien gebunden.
Wenn auch hier die Sprache allmählich aus dem Schrei hervorgeht,
so geht sie doch nicht aus dem Geschrei der Empfindungen hervor,
sondern wie bei Herder aus dem «Bedürfnis, das Schaf [d.h. die
Welt] kennenzulernen» (Herder 1972: 32), aus dem Denken der
Welt. Der erste Gedanke des Herderschen Urmenschen war ein
akusmatischer Schrei: «Ha! du bist das Blökende!» So kurios war
das also doch nicht!
2.4.3. Daß der Ursprung oder vielleicht besser: die Evolution der
Sprache heute wieder so intensiv diskutiert wird, hat damit zu tun,
daß die Biologie zur Leitwissenschaft der Wissenschaften vom
Menschen geworden ist und daß man sich Aufschluß über das We-
sen des Menschen von einem Einblick in seine Naturgeschichte
erwartet und das heißt von einem vergleichenden Blick auf andere
Lebewesen, insbesondere auf andere Primaten. Angesichts der Fort-
schritte der Genetik, der Paläoanthropologie und der Neurowis-
senschaften haben sich Gruppen von Biologen, Neurowissenschaft-
lern, Psychologen und (eher wenigen) Linguisten auf die Suche
nach den biologischen Vorgängern und der vorgeschichtlichen Ent-
wicklung der menschlichen Sprache gemacht, die ja das ganz spezi-
fisch Menschliche des Menschen zu sein scheint.16 Was dabei ge-
sucht wird, ist nicht immer ganz klar bzw. hängt wesentlich davon
ab, was man unter dem Ausdruck «Sprache» versteht. Wenn man
unter «Sprache» ein Mittel der Kommunikation versteht, etwa gar
durch Lautproduktionen des homo sapiens, sucht man nach etwas
anderem, als wenn man unter «Sprache» eine im menschlichen Ge-
hirn angeborene, mentale universelle Grammatik versteht. Die
theoretischen Vorannahmen determinieren den Blick auf die natur-
geschichtlichen Tatsachen, die man rekonstruiert.
Das war auch im 18. Jahrhundert so: Der politische Denker
Rousseau etwa verstand unter «Sprache» im wesentlichen ein kom-
munikatives soziales Verhalten, also etwas Gesellschaftliches, wäh-
rend Herder «Sprache» vor allem als Erzeugung von Gedanken be-
griff, als ein wesentlich kognitives Geschehen. Folglich erzählten
50
beide bei ihren Überlegungen zum Ursprung jeweils ganz andere
Geschichten. Allerdings stand die Suche nach dem Sprachursprung
im 18. Jahrhundert nicht unter dem Gesetz der Biologie, sondern
unter dem der Philosophie. Damals stellte die Philosophie die Reli-
gion in Frage, die vorgab, genauestens über den Sprachursprung
Bescheid zu wissen (Adams Benennung der Welt, Evas sprachliche
Verführung, Babel). Nicht die Frage nach dem Verhältnis zu den
Tieren stand in der philosophischen Emanzipation von der Theo-
logie im Vordergrund (obwohl dieses durchaus auch behandelt
wurde), sondern vor allem das Verhältnis zu Gott, d. h. die Frage, in
welchem Maße Gott den Menschen und in welchem Maße der
Mensch sich selbst schafft. Und im Zusammenhang mit dieser Frage
nach den göttlichen oder menschlichen Gründen des menschlichen
Tuns wurde gefragt, ob und inwiefern die (für den Menschen defi-
nitorische) Sprache Bedingung oder Hindernis des Wahren (der
Wissenschaft) und des Guten (der Gesellschaft) ist.
Aber vielleicht geht es ja auch noch heute um dieselbe Frage?
Nur daß Gott jetzt nicht mehr Gott, sondern «die Evolution» heißt.
Jedenfalls möchten wir wissen, wie und warum die Evolution ge-
rade das geschaffen hat, was den Menschen zum Menschen macht.
Und wir möchten auch immer noch wissen, welchen Anteil der
Mensch selbst an seiner Menschwerdung hat. Der Mensch als (han-
delnder) Mensch spielt im Gegensatz zum 18. Jahrhundert bei den
meisten modernen Geschichten des Sprachursprungs eher eine ge-
ringe Rolle. Die Evolution macht so ziemlich alles. Sie schafft den
Menschen aus dem Tier – nicht aus Lehm und schon gar nicht aus
dem göttlichen Wort. Sie schenkt ihm (Rekursion und) Artikula-
tion. Wie immer sie das aber macht, es geht dabei nach wie vor um
das Anhalten des Ozeans der Empfindungen und um die Zähmung
des Schreis.
3. Fremdheit der Sprache
3.1.1. Lesgisch
Das Lesgische kennt in Mitteleuropa kaum jemand auch nur dem
Namen nach. Es ist den meisten hier eine wirklich fremde Sprache.
Lesgisch ist eine kaukasische Sprache, die im Grenzgebiet zwischen
Aserbeidschan und Rußland gesprochen wird. Sie gehört zur
Gruppe der nakho-dagestanischen Sprachen (zu der auch das
Tschetschenische gehört) und ist von Martin Haspelmath (1993) in
einer exzellenten Grammatik beschrieben worden. Wenn ein Spre-
cher des Deutschen, der diese Sprache noch niemals gehört hat,
einem Gespräch in dieser Sprache lauscht, so werden ihm unter all
den fremden Lauten vermutlich bestimmte eigenartige konsonan-
tische Laute als besonders fremd auffallen. Es sind sogenannte
ejektive Konsonanten, die für diese Sprache charakteristisch sind.
Etwas anderes Fremdes, das ebenfalls für das Lesgische charak-
teristisch ist, das aber der genannte Deutschsprachige sicher nicht
hören wird (weil man Inhaltliches nicht hören kann), ist die so-
genannte Ergativität. Dies ist ein morphosyntaktischer Zug, der
unseren indoeuropäischen Sprachen weitgehend fremd ist und der,
grob gesagt, darin besteht, daß der Handelnde – genauer der etwas
52
in Bezug auf etwas Machende (in unseren Sprachen das Subjekt
eines transitiven Satzes) – morphologisch markiert wird und die
anderen Aktanten nicht, insbesondere nicht der intransitiv Han-
delnde und Objekte.
Fremd wird ihm des weiteren z. B. auch die Nominalflexion sein,
die, wie man der folgenden Tabelle (aus Haspelmath 1993: 74) ent-
nehmen kann, achtzehn Kasus hat:
es ist uns, als wenn wir mit dem heimischen [Laut] einen Theil
unseres Selbst vernähmen (ebd.).
3.1.1.4. Und damit nähern wir uns jener Klage, die in der Moderne
immer wieder geführt worden ist und die ihre modernen Wurzeln
wohl bei Locke hat, nämlich daß eigentlich jedes Individuum seine
eigene Sprache habe, daß keiner mit einem Wort dieselbe Vorstel-
lung verbinde wie der andere4 und daß daher auch jeder jedem
sprachlich fremd sei, auch wenn wir die gleichen Sprache sprechen,
und daß wir folglich «just don’t understand.»
Auch dies ist wieder ebenso richtig wie falsch, weil wir bei aller
Erfahrung des Nichtverstandenwerdens ebenso die Erfahrung des
Verstandenwerdens nicht verleugnen können: Es ist ja richtig,
daß wir unsere je individuellen Vorstellungen nicht vollständig mit-
teilen können und nur hoffen können, daß der andere sie einiger-
maßen versteht: «Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein
Nicht-Verstehen» (Humboldt VII: 65). Es geht aber darum, wie
man damit umgeht. Ich kann mich aus Verzweiflung in die Wüste
zurückziehen, weil ich das Innerste des anderen nicht verstehe, weil
es mir ewig fremd bleibt und weil ich meinerseits dem anderen mein
Innerstes nicht mitzuteilen vermag, so daß es ihm fremd bleiben
muß. Mein Eigenstes ist dem anderen ewig fremd, sein Eigenstes ist
mir ewig fremd. Also fliehe ich «dans mon désert», in meine Wüste-
nei, wie Alceste, der Misanthrop. Wenn wir uns völlig fremd wären,
wäre es in der Tat verlorene Liebesmüh, sich weiter um Kommuni-
kation zu bemühen.
57
Die Verweiflung über das Nichtverstandenwerden ist aber inso-
fern falsch, als wir ja durchaus auch, zumindest teilweise, verstan-
den werden. Daß überhaupt nichts verstanden wird, hat selbst der
ärgste Sprachskeptiker noch nicht behauptet. Daß uns sozusagen
alles völlig lesgisch – oder spanisch – vorkommt, ist eine nicht halt-
bare Übertreibung. Und selbst bei den lesgischen Lauten, die sicher
sehr fremd klingen, verstehen wir immer noch, daß es sich um
Sprechen handelt. Diese Töne sind nicht einfach irgendwelcher
Lärm, sondern Laute einer Sprache, von denen wir zumindest wis-
sen, welchem Zweck sie dienen.5 D. h. ebenso wie wir sagen kön-
nen, daß uns das Sprechen des anderen fremd ist, können wir auch
sagen, daß uns jedes menschliche Sprechen vertraut ist.
Unser Wort muß uns aus «fremdem Munde wiedertönen» (VII: 56),
damit unser Wort und unser Denken «Objektivität» bekommen:
3.1.2.2. Ist mein Begriff von Fremdheit jetzt noch derselbe wie am
Anfang? Ich glaube schon. Die exotischen, nichtverstandenen Töne
des Lesgischen, die Ergativität, die fremde Semantik, sind gewiß
«fremder» als jenes Wort meiner Sprache, das mir aus dem fremden
Mund wiedertönt. Aber die Differenz ist doch nur eine graduelle:
Sofern es ein Wort aus anderem Munde ist, ist mir auch das Wort
meiner Sprache radikal entrückt. Und umgekehrt ist noch das un-
verständliche Wort aus der Fremde insofern mein Wort, als es aus
einem menschlichen Mund ertönt und jederzeit mein Wort werden
kann.
Im übrigen sollte man sich keine Illusionen über die sogenannte
eigene oder Mutter-Sprache machen: Natürlich ist sie eigen, und sie
scheint auch, so wie Humboldt dies an der eingangs zitierten Stelle
gesagt hat, gerade deswegen einen besonderen Zauber auf uns aus-
59
zuüben. Sofern sie wirklich die Sprache unserer Mutter ist, hat sie
uns sogar schon intra-uterinär geprägt. Man hat experimentell fest-
gestellt, daß Neugeborene zwischen der Sprache der Mutter und
anderer Sprache unterscheiden: Die sogenannte sucking rate der
Babies ist höher beim Hören der Mutter-Sprache. Andererseits aber
kann uns im Verlaufe unserer Sozialisation jede andere Sprache
genauso lieb und teuer werden wie die Sprache der Mutter, wir sind
ja außerhalb des Mutterleibes sprachlichen Einflüssen verschieden-
ster Art ausgesetzt – und damit auch der Idiotie der Muttersprache
entronnen.6
Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit,
für den Menschen etwas Fremdes; er ist dadurch auf der einen
Seite gebunden, aber auf der andren durch das von allen früheren
Geschlechten in sie gelegte bereichert, erkräftigt, und angeregt.
Indem sie dem Erkennbaren, als subjectiv, entgegensteht, tritt sie
dem Menschen, als objectiv, gegenüber. (IV: 27, Herv. J. T.)
3.1.2.4. Damit haben wir drei Kreise der Fremdheit der Sprache
festgestellt:
– Einmal die für das Sprechen konstitutive Fremdheit des Du, der
«fremden Denkkraft», des «fremden Mundes», aus dem mein
60
Wort – mein Wort wohlgemerkt – wiedertönen muß, damit mein
Denken und Sprechen nicht bei sich, privat, idiotisch bleibt.
– Zweitens die Fremdheit der eigenen Sprache, die uns von der Na-
tion und der Geschichte gegeben wird. Dies ist die Fremdheit
eines erweiterten Du, aus dessen Mund ein Wort ertönt, das ich
mir zu eigen mache. Diese beiden fremden Sphären bilden den
Kreis der wie ich Redenden.
– Drittens die Fremdheit des Lesgischen, also die Fremdheit jenes
Sprachlichen, das ich nicht verstehe, oder besser: die Fremdheit
des Sprechers, aus dessen Mund – auf den ersten Blick – nicht
mein Wort wiedertönt, an das ich nicht gesellschaftlich gebunden
bin und das mich auch nicht historisch «erkräftigt». Ein weiteres
Humboldt-Zitat markiert vor allem die Grenze zwischen zwei
und drei:
Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Meh-
reren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit ge-
genüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit
einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht
danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die,
wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Men-
schengeschlecht in zwei Classen, Einheimische und Fremde, thei-
lende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen gesel-
ligen Verbindung. (VI: 25, Herv. J. T.)
Dennoch schließt auch dieser Kreis der nicht wie ich Redenden an
den Kreis der wie ich Redenden an. Auch die wie ich Redenden sind
ja Fremde, und auch auch die fremd Redenden sind wie ich, näm-
lich Redende. Deswegen beginnt hinter dem Kreis der eigenen – aus
fremdem Munde wiedertönenden und aus der Nation und Ge-
schichte übernommenen – Sprache nicht etwas völlig Anderes, son-
dern nur etwas graduell Anderes. Insofern tönt auch aus dem ent-
ferntesten kaukasischen Mund immer noch mein Wort zurück,
strahlt immer noch meine Denkkraft aus der fremden Denkkraft.
61
3.1.3. Das Fremde als Monstrum
Dieser letzte, sozusagen universalistische Gedanke sollte uns auch
aufmerksam machen auf einen gefährlichen Zug im Reden über
das Fremde, auch in meinen einleitenden Bemerkungen über die
sprachliche Fremdheit. Dort habe ich das als fremd angesehen,
was eine besonders scharfe Differenz zu dem Meinigen aufwies:
die ejektiven Konsonanten, die ergative Konstruktion, das merk-
würdige üppige Kasussystem, die markante lexikalische oder prag-
matische Differenz. Diese Differenzen zu dem mir Eigenen wer-
den im Diskurs über das Fremde als das Besondere, als das Eigene
des Anderen, sein ídion, sein idíoma, angesehen. Diese Identifi-
zierung des von mir Abweichenden mit dem inneren Wesenskern
des Anderen, mit dem ídion des Anderen, ist aber die große Ge-
fahr des Diskurses über das Fremde: Dem Anderen sind ja die
Züge, die es mit mir gemeinsam hat, ebenso eigen, die gemeinsa-
men Züge sind ebenso idiomatisch wie die Züge, die mir fremd
sind.
Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: Von unserer eigenen Spra-
che aus fallen uns an der französischen Phonetik besonders die Na-
salvokale [ã, õ, ε̃] und der herrliche Diphthong [wa] auf: «Dieu et
mon droit», «l’état c’est moi», «car Didon dîna dit-on du dos d’un
dodu dindon». Aber alle anderen Vokale, die das Französische
mit dem Deutschen teilt, sind dem Französischen natürlich ebenso
eigen, machen sein phonetisches ídion genauso aus wie die uns
«fremden» Laute. Und das sind bedeutend mehr.
Das Achten auf die von mir und meinem Eigenen abweichenden
Züge in der Rede über das Fremde hat zur Folge, daß das Fremde
als Monstrum erscheint. Als Monstrositäten wurden lange Zeit
auch die fremden Sprachen beschrieben: Die linguistische Beschrei-
bung fremder Sprachen war bis ins 19. Jahrhundert hinein eine
Sammlung linguistischer Kuriositäten und Monstrositäten, so z. B.
noch in Adelung und Vaters Mithridates (1806 –17). Diese linguisti-
sche Teratologie ist nun aber seit langem von einer wissenschaft-
lichen Beschreibung abgelöst worden, die nicht nur das Monströse
an der fremden Sprache auflistet, sondern das Abweichende und
das Gleiche in einem Gesamtbild, einem «Totaleindruck» (Hum-
boldt), des Fremden abzubilden versucht.
62
Nicht das Fremde am Fremden ist sein Wesen, sein ídion. Diese
Gleichsetzung ist die reine Idiotie. Das Fremde des Fremden ist
bloß das uns Fremde. Mehr nicht. Dennoch können wir nicht um-
hin, das von uns Abweichende als das Fremde des Fremden anzu-
sehen, unabhängig davon, ob dies sein Wesen ist oder nicht. Das
von mir Differente ist mir das Fremde. Allerdings kann ich darauf
nun wieder auf verschiedene Art und Weise reagieren: Da das
sprachliche Fremde einerseits, wie Weinrich sagt, besonders depri-
mierend ist, weil ich es nicht verstehe, weil es gerade meine Erwar-
tung frustriert, mit dir zu kommunizieren, mag man es besonders
ablehnen oder gar hassen. Hier ist die Quelle der Rancune gegen-
über den fremden Wörtern, die Adorno (1959) ausgemacht hat. An-
dererseits aber wird es ja auch geliebt, weil es abweicht, weil es an-
ders ist. Ich bin sicher, daß ich Romanist geworden bin, weil ich
mich als Kind in diese schönen fremden Laute verliebt hatte [ã, õ,
ε̃, wa]. Deswegen war mir immer unmittelbar verständlich, was
Adorno von der erotischen Faszination der fremden Wörter ge-
schrieben hat.
63
3.2.1. Platon
Am Ende von Platons Dialog Kratylos, nachdem anhand zahlrei-
cher Beispiele das Problem traktiert worden ist, ob die Wörter
(onómata) von Natur gegeben sind (physei) oder durch mensch-
liche Satzung (synthéke, nomos, ethos), und natürlich keine Ant-
wort gefunden worden ist, stellt Sokrates die Frage, ob es denn nach
all dem Hin und Her nicht besser wäre, die Sachen (ta pragmata
oder auch ta onta) statt durch die Wörter (di’ onomaton) durch
diese selbst kennenzulernen. Und natürlich stimmt Kratylos dem
zu: Es ist viel besser, die Sachen aus sich selbst als aus den Wörtern
kennenzulernen. Denn die letzteren sind ja bloß Bilder – eikon – der
Dinge. Warum denn sich mit den Bildern zufriedengeben, wenn
man sich den Sachen direkt erkennend nähern kann?
Sokrates: Wenn man also zwar auch wirklich die Dinge durch die
Wörter kann kennen lernen, man kann es aber auch durch sie
selbst, welches wäre dann wohl die schönere und sichere Art, zur
Erkenntnis zu gelangen? Aus dem Bilde erst dieses selbst ken-
nenzulernen, ob es gut gearbeitet ist, und dann auch das Wesen
selbst, dessen Bild es war, oder aus dem Wesen erst dieses selbst,
und dann auch sein Bild, ob es ihm angemessen gearbeitet ist?
Kratylos: Notwendig, ja, dünkt mich, die aus dem Wesen.
Sokrates: Auf welche Weise man nun Erkenntnis der Dinge er-
lernen oder selbst finden soll, das einzusehen sind wir vielleicht
nicht genug, ich und du; es genüge uns aber schon, darin überein-
zukommen, daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch
sie selbst man sie erforschen und kennenlernen muß als durch die
Worte.
Kratylos: Offenbar, Sokrates. (439 a – b)
«Phainetai, o Sokrates!» Dies ist das Ende des Dialogs über die
Sprache. Und es zeigt, was Europa von der Sprache hält: nichts.
Statt sich mit der Sprache aufzuhalten, wendet es sich lieber gleich
den Sachen zu. Diesem Denken ist die Sprache fremd (diesem Den-
ken, das unser Denken ist, wird die Sprache fremd bleiben, bis
heute). Und zwar weil es nichts oder wenig von fremden Sprachen
weiß. Zwar wird die Frage, die der Dialog am Anfang noch disku-
64
tiert, ob nämlich die Richtigkeit der Wörter natürlich oder nach
menschlicher Übereinkunft gegeben sei, mit dem Hinweis auf die
fremden Sprachen, auf die Sprachen der Barbaren, in Gang gesetzt:
Wenn die Sprache natürlich wäre, müßte sie ja bei allen Menschen
gleich sein. Es ist aber evident, daß die Barbaren andere Wörter
haben. Immerhin wird den Barbaren das Sprechen zugestanden,
was im Ausdruck barbaros nicht unbedingt mitgesagt ist. Barbaros
ist ja der brbr-Sager, eigentlich jemand, der keine Sprache hat, quasi
ein Tier. Dennoch wird deren anderes Sprechen auch nicht beson-
ders ernst genommen, denn sonst hätte sich die Frage nach der Na-
türlichkeit der Wörter schneller erledigt, als dies der Fall ist. Fremde
Wörter werden im Kratylos nur an einer einzigen Stelle diskutiert.
Statt dessen wird Hermogenes, der Gegner des Kratylos und Ver-
treter der thesei-These, seitenlang gezwungen, die Abbildung der
Sachen in den griechischen Signifikanten anzuerkennen. Und Kra-
tylos muß umgekehrt zugeben, daß doch viel Nicht-Abbildliches
in den griechischen Wörtern ist. Aber letztlich ist dann diese Frage
einfach nicht wichtig: Die platonische Lösung der Frage nach dem
Verhältnis von Sprache und Welt ist diejenige der Sprachlosigkeit.
Es kommt für das Erkennen gar nicht auf die Sprache an.
Dennoch reden die Philosophen gern und viel. Und ihr Wort ist
ihnen lieb und teuer wie ein eigenes Kind – was kann weniger fremd
sein als ein eigenes Kind, was ist eigener? Daher verteidigt Sokrates
in einem anderen Dialog, im Phaidros, auch die Sprache. Allerdings
geht es dort um einen anderen Aspekt der Sprache: Es geht um die
Materialität der Kommunikation, um lautliche Rede gegenüber der
Schrift im Miteinander der Menschen, nicht um das Verhältnis der
Wörter zu den Sachen in der Erkenntnis-Relation zur Welt. In kom-
munikativer Hinsicht wird hier die Schrift als eine Entfremdung
des gesprochenen Wortes kritisiert. Die Schrift schafft nämlich eine
Distanz zwischen dem gesprochenen Wort und dem Vater des ge-
sprochenen Wortes:
3.2.2. Aristoteles
Aristoteles zieht die Konsequenzen aus den Lehren seines Lehrers.
Wenn es so ist, daß die Sprache zweitrangig ist fürs Denken und
nützlich fürs Kommunizieren, dann ergibt sich folgendes:
Es sind aber die Laute Symbole der Empfindungen der Seele. Ge-
schriebene Wörter sind die Symbole der lautlichen. Und wie die
66
Schriftzeichen, so sind auch die Laute nicht dieselben für alle
Menschen. Die Empfindungen der Seele, deren Zeichen [semeia]
die Laute sind, sind aber dieselben für alle, so wie auch die Sa-
chen [pragmata] dieselben sind, von denen diese Empfindungen
Abbildungen [homoiomata] sind. (De int. 16 a)
Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache über-
haupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder ein-
zelnen bestimmten. […] Ein sehr bedeutender Theil des Inhalts
jeder Sprache steht daher in so unbezweifelter Abhängigkeit von
ihr, dass ihr Ausdruck für ihn nicht mehr gleichgültig bleiben
kann (IV: 21 f.);
69
– drittens daß die Sprachen daher also keine Schälle und Zeichen,
sondern Weltansichten sind:
Die zentrale Einsicht war dabei sicher, daß das Denken nicht nur
von der Sprache überhaupt abhängig ist, sondern «bis auf einen ge-
wissen Grad» auch von jeder besonderen, daß die Sprachen also
verschiedene «Weltansichten» enthalten. Dies ist die Begründung
der Sprachwissenschaft überhaupt oder, wie es an der zitierten Stelle
(IV: 27) weiter heißt:
Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachunter-
suchung enthalten.
gwyrdd
Baum arbre green
træ
Holz bois blue glas
skov
gray
Wald llwyd
forêt brown
Uns ist das inzwischen sehr geläufig. Wir wissen, daß Sprachen
nicht nur materiell unterschiedlich sind, sondern daß sie die Welt
geistig verschieden gestalten. Um aber zu dieser Einsicht zu ge-
langen, mußten Jahrtausende vergehen, und diese Einsicht ist auch
auch heute durchaus nicht unangefochten, sondern wird von einem
sprachtheoretischen Neoaristotelismus neuerdings wieder vehe-
ment bestritten.
3.2.4.2. Doch die tiefe Verschiedenheit der Sprachen der Welt drängt
sich immer mehr auf. Europa sammelt linguistisches Material aus
Amerika, zunehmend aber auch aus dem riesigen Russischen
Reich,7 aus Asien und später aus Afrika. Ich glaube, es ist Locke,
der zum ersten Mal die lexikalische Divergenz zwischen Sprachen
72
in großer Deutlichkeit feststellt (und dabei gerade auch einen Blick
auf amerikanische Sprachen wirft).8 Er schreibt folgendes:
73
Vor allem bestimmte gesellschaftliche Institutionen werden in der
einen und in der anderen Sprachgemeinschaft jeweils anders ge-
dacht, d. h. insbesondere die sogenannten «mixed modes» sind von
Sprache zu Sprache verschieden. Aber, so fährt Locke weiter fort,
sogar bei solchen Wörtern, die das Gleiche zu bedeuten scheinen,
wie Fuß, Stunde und Pfund sind jeweils andere Neben-Ideen vor-
handen:
There are no ideas more common and less compounded than the
measures of time, extension, and weight; and the Latin names,
hora, pes, libra, are without difficulty rendered by the English
names, hour, foot, and pound; but yet there is nothing more evi-
dent than that the ideas a Roman annexed to these Latin names
were very far different from those which an Englishman expres-
ses by those English ones. (ebd.)
Aber auch die Mundart der rohesten Nation ist ein zu edles Werk
der Natur, um, in so zufällige Stücke zerschlagen, der Betrach-
tung fragmentarisch dargestellt zu werden. Sie ist ein organisches
Wesen, und man muss sie, als solches, behandeln. Die erste Regel
ist daher, zuvörderst jede bekannte Sprache in ihrem inneren Zu-
sammenhange zu studiren, alle darin aufzufindenden Analogien
zu verfolgen, und systematisch zu ordnen. (IV: 10)
Neu bei Humboldt ist dann auch das Verfahren der Beschreibung
der Sprachen: Die fremden Sprachen sind nicht, wie noch bei Ade-
lung und Vater, als eine Sammlung von Kuriositäten zu beschrei-
ben, also als Sammlung von Abweichungen von der eigenen gram-
matischen Form, wie auch wir das eingangs gemacht haben. Sondern
die Sprachen sind als je verschiedene Formen des Geistes als Ganze
in den deskriptiven Griff zu bekommen. Um es mit unserem Bei-
spiel zu sagen: am Lesgischen ist nicht nur der ejektive Laut oder
die Ergativität hervorzuheben, sondern die ganze Struktur ist zu er-
fassen, in ihrem «inneren Zusammenhang», so wie die Grammatik
von Haspelmath dies vorführt. Das Fremde ist nicht als Monstrum
zu beschreiben, sondern als ein Individuum in seiner Gänze darzu-
stellen.
3.2.4.5. Die Sprachwissenschaft ist aber zunächst nicht den Weg der
Beschreibung aller Sprachen der Menschheit gegangen, den Leibniz
gewiesen hatte. Eigentlich wollte man im 19. Jahrhundert gar nicht
mehr wissen, daß die verschiedenen Sprachen verschiedene Weltan-
sichten sind. Es ist gleichsam so, als scheue das 19. Jahrhundert vor
diesem Abgrund zurück, der die Einheit des menschlichen Geistes
stark in Frage stellt. Ähnlich wie im 16. Jahrhundert mit seinen
kopernikanischen, kolumbianischen und lutheranischen Revolu-
tionen ist Europa durch die Französische Revolution erneut einiger
76
Denk- und Lebensgewißheiten beraubt worden. Die alte politische
Weltordnung ist dahin, sie ist nicht mehr «par la grâce de Dieu»
und folglich ewig. Die Geschichte verändert alles. Vielleicht hält es
daher das verunsicherte Denken nicht mehr aus, weitere Diffe-
renzen kennenzulernen, weitere Unsicherheiten zu verkraften, den
europäischen Geist, den Geist der Vernunft, sich fragmentieren
zu sehen in der «variété de ses opérations». Es geht daher eher dar-
auf aus, die Verschiedenheiten zu reduzieren. Erneut steht – wie in
der harmonia linguarum – die Suche nach der verlorenen Einheit
auf dem Programm. Bei Hegel ebenso wie in der Sprachwissen-
schaft.
In der sogenannten historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft
(die übrigens ebenfalls auf ein Leibnizsches Projekt zurück-
geht),9 wird nicht die Verschiedenheit der Operationen des mensch-
lichen Geistes aufgesucht, sondern gerade im Gegenteil die Ein-
heit der verschiedenen Sprachen in der Zeit: Bopp und nach ihm
das riesige, erfolgreiche Unternehmen der Indogermanistik ist
auf der Suche nach der einen Sprache, auf die diese Sprachen
zwischen Indien und Island zurückzuführen sind. In der Intention
ist diese Suche derjenigen der harmonia linguarum ganz ähnlich,
nur wird jetzt mit wissenschaftlichen historischen Mitteln vorge-
gangen. Es ist ein Projekt, das die Fremdheit der Sprachen redu-
ziert.
Man hat immer gesagt, daß die historisch-vergleichende Sprach-
wissenschaft – vor allem in Deutschland – ein nationalistisches
Projekt gewesen sei, sofern sich hier die Nation in der Geschichte
verankert und dabei auch noch andere Sprachen an die Nation an-
nektiert. Bekanntlich ist ja Grimms Deutsche Grammatik mitnich-
ten eine deutsche Grammatik, sondern eine vergleichende Gram-
matik der germanischen Sprachen. Man kann aber auch umgekehrt
sagen, daß die historisch-vergleichende Grammatik gerade vor der
im Nationalismus sich verschärfenden Fremdheit zwischen den
Sprachen zurückschreckt und die Differenzen in die Identität der
Familie zurückholt. Es ist mir klar, daß dieses Geschäft insbeson-
dere für Europa betrieben wird, daß sozusagen eine große europä-
ische Nation geschmiedet wird im Projekt der Indogermanistik:
Europa gegen den Rest der Welt. Nichts aber begrenzt prinzipiell
das Projekt der historisch-vergleichenden Suche nach der Einheit
77
der Sprachen auf die indoeuropäische Familie, so daß es zurecht
jetzt wieder – wie bei Leibniz – auf die ganze Menschheit ausge-
dehnt wird.10
Das Humboldtsche Projekt einer Beschreibung der «Weltan-
sichten», die die verschiedenen Sprachen sind, wird eigentlich erst
im 20. Jahrhundert realisiert. Im 19. Jahrhundert war es durch
den außerordentlichen Erfolg der historisch-vergleichenden (dia-
chronischen) Sprachwissenschaft zunächst in den Hintergrund
gedrängt und im wesentlichen nur von den nicht-indoeuropäischen
Linguistiken weitergetragen worden. Im Rahmen der synchro-
nisch-strukturellen Linguistik (die explizit Humboldtsche An-
regungen aufgreift) beschreibt man dann aber im 20. Jahrhundert
die Sprachen der Welt in einem riesigen weltweiten Unterneh-
men. Am Ende dieses deskriptiven Jahrhunderts sind sehr viele
Sprachen der Welt beschrieben, ist das Leibnizsche Projekt der
Registrierung aller Sprachen ein gutes Stück vorangetrieben wor-
den, allerdings ohne daß dieser Teil des Humboldtschen Pro-
jekts des vergleichenden Sprachstudiums abgeschlossen wäre. Viele
Sprachen, die vermutlich die nächsten hundert Jahre nicht über-
leben werden, harren noch ihrer «mise en dictionnaire et en gram-
maire».
3.2.5.1. Was ich damit natürlich auch sagen möchte, ist, daß «le lan-
gage cet étranger» durch ein angemessenes Denken der Fremdheit
der Sprachen, der «langues étrangères», eine größere Rolle spielen
müßte in unserer Kultur. Wir kaufen Bücher über die Tempel Javas,
über die Kathedralen Frankreichs, über die Pyramiden in Yucatán
– und wenn wir in diese Länder reisen, schauen wir uns diese Denk-
mäler an, essen die fremden Speisen, hören vielleicht auch Musik
und genießen die Tänze. Die Reiseführer informieren uns über die
sogenannten Sehens-würdigkeiten, sehr selten aber über jene Hö-
rens-würdigkeiten und Denk-würdigkeiten, welche die Sprachen
sind. Wir finden in den Reiseführern höchstens ein paar Phrasen in
der einheimischen Sprache, die uns das Leben erleichtern können:
Wo geht’s zum Bahnhof? Was kostet ein Glas Bier? Bitte, Danke,
eins zwei drei etc. Schon an diesen Listen nützlicher Phrasen zeigt
sich, als was wir die Sprache betrachten: als Instrumente der Kom-
munikation, als praktische Instrumente. Warum aber sollten wir
uns für solche technischen Geräte interessieren? Wir besichtigen ja
auch keine Autowerkstätten oder Fabriken in Java, Mexiko oder
Frankreich. Dabei ist die Sprache aber eben nicht nur Kommunika-
79
tionsinstrument. Sie ist nicht nur Autowerkstatt, sondern auch Ka-
thedrale (auch die Kathedralen und Tempel und Pyramiden haben
umgekehrt übrigens oft noch eine instrumentelle Funktion, die des
Gottesdienstes nämlich). Sprachen sind auch Kunstwerke, kultu-
relle Schöpfungen der Völker, Kathedralen des Denkens.
3.2.5.2. Wie fremd in unserer Kultur die Sprache ist, zeigen uns
jedes Semester aufs neue sogar unsere Studenten, die Sprachen stu-
dieren. Nur wenige verstehen überhaupt, daß man die Sprache
selbst zum Gegenstand des Studiums, der Analyse, kurz der intel-
lektuellen Anstrengung machen kann. Sie verstehen es deswegen
nicht, weil sie in ihrer fremdsprachlichen Vorbildung die Sprache
vorwiegend als Mittel zum Zweck oder als eine Technik kennenge-
lernt haben, die man möglichst perfekt beherrschen soll. Diese
Sprach-Techniker mißverstehen das Philologiestudium als eine wei-
tere Perfektionierung der Sprachkompetenz und wollen sich dem
Fremden, das sie lieben (das ist immerhin schön), weiter mimetisch
anverwandeln. Es geht aber vor allem darum, das Fremde zu verste-
hen, es zu kennen, nicht nur, es zu «können». Die Virtuosi des Tuns
bleiben auf der Ebene der cognitio clara inadaequata, auf der Ebene
des – durchaus kostbaren – technischen Sprach-Wissens, das uns im
nächsten Kapitel beschäftigt. Daß es auch eine cognitio adaequata
dieser Technik geben kann, ist diesen Sprach-Technikern fremd.
Diese Fremdheit der Sprache hat sich verschärft, seitdem an den
Schulen die Grammatik nur noch eine geringe Rolle spielt: Der Un-
terricht in den alten Sprachen war der klassische Ort für gramma-
tische Übungen, für ein Jonglieren mit grammatischen Formen und
Kategorien als Selbstzweck. Seitdem aber im Sprachunterricht die
Erreichung der sogenannten kommunikativen Kompetenz – also
das Pseudo-Franzosentum, die Heranzüchtung des Quasi-Ameri-
kaners – ehernes Gesetz ist, sind Einblicke in die sprachliche Struk-
tur nicht mehr gefordert. Das Zurücktreten aus dem praktischen
kommunikativen Tun zum Zwecke der theoretischen Betrachtung
wird nicht mehr eingeübt.
Weil es ganz ums praktisch-technische Können geht, um cogni-
zing,12 sind natürlich auch hypno- oder suggestopädische Metho-
den hochwillkommen, die diese Technik völlig automatisieren.
Damit scheint die fremde Sprache dem Lernenden ganz eigen zu
80
werden, sofern sie ja im unbewußt-praktischen Tun belassen ist.
Gerade als ein Automatisiertes ist sie aber auch ein Uneingesehe-
nes, Unverstandenes und somit Fremdes. Psychoanalytisch ist die
solchermaßen erworbene Sprache ein Es, das automatisch in mir
wirkt. Die Psychoanalyse macht dieses Automatische, das nicht wir
beherrschen, sondern das uns beherrscht, zum Gegenstand: Das Es
ist ein Fremdes, das erst noch eigen, also Ich werden muß. In die
Helle der Analyse muß Es gerückt werden, damit Ich wird bzw.
damit Es mein wird. So ist es auch mit der Sprache: In die Helle der
linguistischen Analyse muß sie gerückt werden, wenn sie wirklich
unser eigen werden soll, wenn wo Es war, Ich werden soll. Über-
spitzt gesagt: wirklich beherrschen wir die Sprache erst dann, wenn
uns nicht mehr nur die beherrschte Sprache beherrscht, sondern
wenn wir auch über sie herrschen.
Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache über-
haupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder ein-
zelnen bestimmten. (IV: 21)
Es heißt ganz klar, daß das Denken nur bis auf einen gewissen Grad
von den bestimmten einzelnen Sprachen abhängig ist, aber nicht,
daß es völlig von den Sprachen abhängig sei. Deutlich heißt es an
derselben Stelle, es gebe «eine Anzahl von Dingen, welche ganz a
priori bestimmt, und von allen Bedingungen einer besondren Spra-
che getrennt werden können» (IV: 21). Während der sprachliche
Relativismus à la Whorf sozusagen jegliche Vermittlung ablehnt,
die natürlich nur auf der Basis eines universellen Gemeinsamen zu
denken ist, hat Humboldt immer ein solches Gemeinsames mit-
gedacht: Er hielt z. B. die Kantschen Kategorien für Universalien
des Denkens, und die allgemeine Grammatik war für ihn ein not-
wendiger Teil der Sprachforschung. Die moderne Linguistik hat
andere Universalien festgestellt als die Kantschen Kategorien. Wie
dem auch sei, diese sind das Gemeinsame, auf dessen Basis sich die
Verschiedenheit der sprachlichen Weltansichten abspielt. Die Spra-
chen sind natürlich einander fremd, aber sie sind es doch nicht
völlig. Sie sind verschiedende Formen desselben.
3.2.6.2. Weil Whorf die Relativität übertrieben hat, haben nun wie-
der andere Sprachwissenschaftler gemeint, die Annahme von sprach-
lichen «Weltansichten» sei insgesamt falsch. Zunächst hat man
daher wie im 17. Jahrhundert erneut den Weg der universellen
Grammatik eingeschlagen. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn die-
ser Weg nicht gleichzeitig mit der Negierung der einzelsprachlichen
Differenzen einhergeht. Gerade dies aber tun in letzter Zeit gewisse
neoaristotelische universalistische amerikanische Sprachwissen-
83
schaftler, wenn sie statt einzelsprachlicher Semantiken ein univer-
selles «Mentalese» annnehmen. Wie Aristoteles behaupten diese
Theoretiker, das Denken sei bei allen Menschen gleich und nur die
jeweils diesem Denken zum Zwecke der Kommunikation zuge-
schriebenen Signifikanten – die Oberfläche – seien verschieden. Wie
Whorf die Sprache fremd ist, weil er die Fremdheit der Sprachen
übertreibt, so ist den neuen Universalisten – wie einst den Griechen
– die Sprache fremd, weil sie deren Fremdheit unterschätzen.
Diese Position hat Stephen Pinker in seinem Buch über den
Sprachinstinkt vertreten. Diese Theorie spielt die Verschiedenheit
der Sprachen unzulässig herunter – gewiß aus den edelsten politi-
schen Motiven, aber dennoch falsch. Pinker polemisiert ausführlich
gegen Whorf und den linguistischen Relativismus, um dann das
linguistische Kind mit dem relativistischen Bade auszuschütten und
einen Universalismus zu etablieren, der demjenigen des Aristoteles
zum Verwechseln ähnlich ist: Alle Menschen denken gleich mit
«mentalesischen» universellen Konzepten. Und die Sprachen sind
im wesentlichen nur verschiedene Schälle und Zeichen.13
Auf dem Hintergrund starker universalistischer Aussagen be-
hauptet Pinker auf der letzten Seite seines Buches daher, daß ihm,
selbst wenn er kein Wort verstehe, kein Sprachliches, das er ver-
nehme, fremd sei: «no speech seems foreign to me, even when I can-
not understand a word» (Pinker 1994: 430). Dies ist völlig richtig.
Ich habe eingangs genau dasselbe gesagt. Nichts ist falscher als die
Übertreibung sprachlicher Fremdheit und die Klage «you just don’t
understand». Dennoch ist dies nur eine Scheinvertrautheit, wenn
das konstitutiv Fremde jedes Sprechens einfach geleugnet wird. Mit
demselben Recht kann man nämlich sagen: «all speech seems for-
eign to me, even when I understand every word». Die Pinkersche
Leugnung der Differenz ist wohl menschenfreundlich gemeint.
Aber nicht indem ich die Fremdheit der Sprache einfach leugne,
sondern indem ich in die Fremdheit hineingehe und sie in all ihrer
Tiefe aushalte, ist mir die Sprache nicht mehr fremd.
84
3.3. Zanzotto
Es scheint, daß dies der – schwierige – Weg ist, den der italienische
Dichter Andrea Zanzotto in seinem Dichten beschreitet, dem
Maike Albath (1998) eine schöne Arbeit gewidmet hat. In dem fol-
genden Gedicht aus der Sammlung mit dem einschlägigen Titel
Idioma sind die Sprachen Blüten, wunderbare, wilde. Sie sind aber
auch Abgründe des Schweigens und der Idiotie. Meine Sprache –
idioma – ist das, was von alledem durch mich hindurchgeht: Das
idioma verfolgt mich, keuchend. Es ist mir fremd, wie die fürs Ita-
lienische fremden Buchstaben (und Laute) andeuten: h j k ch. Und
doch ist es meins: idioma. Daher sollen diese fremden Wörter meine
Überlegungen zur Fremdheit der Sprache beschließen:
87
4.2. Noch einmal: ein Blick in die Geschichte
4.2.1. Die Sprache hat, wir haben das schon im vorigen Kapitel ge-
sehen, in Europa keine guten Karten. In der einen Tradition unserer
Kultur, in der biblischen, wird zunächst das Miteinander-Sprechen
(Adam mit Eva) als etwas Schlechtes, als Verführung, und dann die
Existenz vieler Sprachen als eine Strafe des Menschengeschlechts
dargestellt (Turmbau zu Babel). So etwas sitzt tief. Aber auch in der
anderen Tradition, der griechischen, sieht es nicht besser aus: «Ist
es nicht besser», fragt Sokrates, der Ur-Philosoph, «wenn wir die
Dinge direkt betrachten, als wenn wir uns mit den Wörtern, diesen
extrem unsicheren Abbildern der Dinge, abgeben?» «Phainetai, o
Sokrates!», stimmt Kratylos zu. Damit wird die Sprache von Pla-
ton letztlich als etwas Sekundäres abgetan. Aber immerhin wird im
Dialog Kratylos zunächst seitenlang darüber diskutiert, ob wir
etwas wissen und was wir wissen, wenn wir Wörter kennen. Kraty-
los glaubt, daß an den Wörtern, also an den lautlichen Gestalten,
etwas von den bezeichneten Gegenständen ist, so daß die Wörter
als Abbilder eine Art Wissen von der Welt enthalten. Sein Gegen-
spieler Hermogenes glaubt nicht, daß die Wörter etwas von der
Welt abbilden, aber er muß doch zugestehen, daß die Wörter außer
zur Mitteilung oder Belehrung (organon didaskalikon) auch zur
Unterscheidung des Seins dienen: «organon ousian diakritikon».
Die Unterscheidung des Seins ist zweifelsohne eine bedeutsame
kognitive Funktion der Sprache, sie ist Denken, unabhängig von
der Abbildlichkeit oder Nichtabbildlichkeit der Wörter. Aber So-
krates verwirft schließlich beide Auffassungen und kommt zu dem
zitierten Schluß, daß dies alles nicht so wichtig sei und daß ein Er-
kennen ohne Sprache doch viel besser wäre. Die Wörter sind be-
stenfalls Abbilder der Abbilder: doppelt entfernt vom wirklichen
Wesen der Dinge. Sprache-Können ist daher bestenfalls ein Wissen
von Trugbildern, kein wahres Wissen.
Aristoteles vollstreckt den Verdacht, daß nichts dran ist an den
Wörtern. Er macht dies auf eine geniale Art und Weise: Er trennt
die beiden Funktionen – Kommunikation und Denken – , die bei
Platons Funktionsbestimmung des Wortes noch zusammengedacht
worden waren. Auf der einen Seite haben wir die Kognition, das
88
Denken, das bei allen Menschen gleich ist. Und auf der anderen
Seite haben wir – zum Zwecke der Kommunikation – die Wörter,
die materiellen Lautereignisse, die bei den verschiedenen Völkern
verschieden sind. Die Wörter werden damit zu bloß kommunikati-
ven Instrumenten. Sie unterscheiden auch das Sein nicht mehr, das
macht das Denken ganz allein, sprachlos.
conceptus
ad placitum (Kognition)
(Kommunikation)
4.2.2. Denn dann, seit dem Beginn der Neuzeit, wird klar, daß wir,
wenn wir eine Sprache können, Falsches wissen. Francis Bacon ent-
deckt nämlich, daß wir nicht das Richtige wissen, wenn wir eine
Sprache können, jedenfalls wenn wir die Sprache des Volkes kön-
nen. Wir haben dann nämlich falsche Begriffe. Bacon greift den Ge-
danken Platons wieder auf, daß die Sprache das Sein unterscheidet,
und bemerkt, daß die Volkssprache das Sein anders unterscheidet,
als es der wissenschaftliche Geist verlangt. Die Sprache des Volkes
schneidet (secare) die Welt sozusagen in falsche Teile ein. Das Volk
ist dumm, und in seiner Dummheit bildet es dumme Begriffe, die an
den Wörtern kleben. Das sind die berühmten idola fori, die Trug-
bilder des Marktes:
Wenn man eine Sprache kennt, kennt man also bestenfalls die
Trugbilder des Pöbels, Vorurteile, doxa, falsches Wissen. Gegen
dieses muß die Wissenschaft kämpfen. Der Kampf gegen das in
der Volkssprache sedimentierte falsche Wissen bestimmt die Hal-
tung des wissenschaftlichen Denkens gegenüber der Sprache seit-
dem. Weg mit diesem falschen Wissen! Kritik der Volkssprachen
ist angesagt, Schaffung einer neuen, richtigen Sprache mit rich-
tigem Wissen ist das Gebot der Wissenschaft. Es ist der tägliche
Kampf der analytischen Philosophie, die ja deswegen «analy-
tisch» heißt, weil sie das in der Sprache enthaltene Vorurteil – das
falsche Wissen – auflösen muß, um das wahre Wissen zu ermög-
lichen.
90
Während in der Antike die Sprachen sozusagen der Gleichgül-
tigkeit verfallen, geraten sie mit der Aufklärung als Ensembles
von falschem Wissen in die philosophische Kritik. Das macht das
Sprachen-Können nicht gerade zu einem wertvollen Wissen. Die
Sprachen transportieren, wie ein witziger britischer Kollege einmal
gesagt hat, metaphysical garbage.1
conceptus
res
vox
Dies ist der Grund aller Sprachwissenschaft, aber auch die Basis
jener Überzeugung, auf die ich hinauswill und die allein begründet,
92
warum Eine-Sprache-Können – irgendeine Sprache können, nicht
nur Englisch-Können – ein kostbares Wissen ist und warum es be-
wahrt und befördert werden muß: weil es die «merveilleuse variété
des opérations de l’esprit humain» manifestiert. Wie Biodiversität
für die Natur, so ist Glossodiversität für den menschlichen Geist
von höchster Bedeutung.
EBENE GESICHTSPUNKT
Tätigkeit Wissen Produkt
energeia dynamis ergon
Universelle Sprechen im elokutionelles Totalität der
Ebene allgemeinen Wissen Äußerungen
Historische konkrete Ein- idiomatisches (abstrakte
Ebene zelsprache Wissen Einzelsprache)
Individuelle Diskurs expressives Text
Ebene Wissen
97
Coseriu zeigt, daß man das sprachliche Wissen weder auf die
Kenntnis der langue reduzieren darf, noch daß man es bei den uni-
versellen Regeln belassen darf:
Erstens ist schon das einzelsprachliche Wissen (historische
Ebene) weiter, als Saussure dies gesagt hat, es umfaßt eben auch ein
Wissen von diachronischen Zuständen und von Variationen. Cose-
riu nennt das einzelsprachliche Wissen idiomatisches Wissen. Das
sprachliche Wissen, das die generative Grammatik beschreibt, wäre
im wesentlichen dem universellen Sprechen-Können zuzuordnen,
das er elokutionelles Wissen nennt.
Zweitens sind das idiomatische und das elokutionelle Wissen um
eine weitere Art sprachlichen Wissens zu ergänzen, das wir bisher
überhaupt noch nicht berührt haben und das Coseriu expressives
Wissen nennt. Es handelt sich dabei um Textbildungs-Verfahren,
die nicht einzelsprachlich, aber auch nicht universell sind, wie z. B.
das Wissen um die Form eines Sonetts.
Das Wichtigste ist aber, drittens, daß alles dies beim Sprechen zu-
sammenwirkt. In ausdrücklichem und leidenschaftlichem Gegen-
satz zu Saussure und Chomsky will Coseriu den Fokus der Sprach-
wissenschaft umkehren: weg von der langue und der Kompetenz,
hin zu einer Wissenschaft vom Sprechen.
Im Sinne dieser Umkehrung möchte ich dann auch meine Frage
beantworten, was wir wissen, wenn wir eine Sprache können: Co-
seriu macht deutlich, daß es beim sprachlichen Wissen gar nicht nur
darum geht, eine Sprache zu können, sondern daß man beim Spre-
chen sowohl universelle Techniken des Sprechens überhaupt be-
herrscht, als auch daß man dies immer nach der Art und Weise einer
bestimmten historischen Sprachgemeinschaft tut (ein Teilwissen,
das aber weit über die Saussuresche langue hinausgeht) und daß
außerdem textuelle Verfahren gekonnt werden müssen, die nichts
mit dem einzelsprachlichen Wissen zu tun haben. Die Frage nach
dem Eine-Sprache-Können ist also nur im Zusammenhang mit dem
Sprechen-Können in diesem weiten Sinne zu beantworten.
Coseriu macht unter Hinweis auf eine lateinische Konstruktion
deutlich, was «eine Sprache sprechen» heißt: Das Lateinische faßt
die jeweilige bestimmte Sprache in einem Adverb, das die um-
fassende Tätigkeit des Sprechens determiniert: latine loqui, graece
loqui, germanice loqui: auf lateinische, griechische, deutsche Art
98
sprechen. Wenn ich eine Sprache kann, kenne ich sozusagen ein
«Adverb» zum «Verb» Sprechen, d. h. die partikulare Art und Weise
einer universellen Tätigkeit.
Ein solcher umfassender Begriff von sprachlichem Wissen über-
windet auch die Kluft zwischen naturwissenschaftlicher und kul-
turwissenschaftlicher Linguistik. Er integriert nämlich das von der
Natur gegebene (Chomsky-)Wissen mit dem durch die soziale Pra-
xis erworbenen (erweiterten Saussure-)Wissen, die beide aber hum-
boldtisch in der Rede (Diskurs oder Text) durch weiteres Wissen
ergänzt werden.
Es ist klar, daß hier nicht in dem Sinne von «Wissen» die Rede ist,
in dem wir wissen, daß die Erde um die Sonne kreist, daß der
99
Montblanc der höchste Berg in Europa ist, oder daß zwei mal
zwei vier ist. Wir sprechen in bezug auf die UG von «Wissen»
nicht im Sinne unseres Alltagsausdrucks, demzufolge ein Wissen
eben das ist, was wir unter dem Ausdruck «Wissen» verstehen.
Denn danach gehört zum Wissen etwa, daß wir Gründe vor-
bringen können, daß man das Gewußte bezweifeln kann, etc.,
Eigenschaften, die für das «Wissen» oder die «Kenntnis» der UG
natürlich nicht zutreffen. (Grewendorf u. a. 1999: 21)
That is, we cognize the grammar that constitutes the current state
of our language faculty, and the rules of this system as well as the
100
principles that govern their operation. And finally we cognize
the innate schematism, along with its rules, principles and condi-
tions. […] Thus «cognizing» is tacit or implicit knowledge […]
cognizing has the structure and character of knowledge, but may
be and in the interesting cases is inaccessible to consciousness.
(Chomsky 1980: 69 f.)
Das heißt, wir «kognisieren» die Grammatik, die den Grund-
bestand unserer Sprachfähigkeit bildet, und die Regeln dieses
Systems ebenso wie die Prinzipien, die deren Operation be-
stimmen. Und schließlich «kognisieren» wir den angebore-
nen Schematismus, zusammen mit seinen Regeln, Prinzipien
und Bedingungen. […] «Kognisieren» ist also stillschweigen-
des oder implizites Wissen, […] «Kognisieren» hat die Struktur
und den Charakter von Wissen, aber es kann – und ist in den
interessanten Fällen auch – dem Bewußsein nicht zugänglich
sein.
cognitio
confusa
clara
inadaequata
distincta
adaequata
Das, was wir im Deutschen «Wissen» nennen, eben jenes, bei dem
wir Gründe angeben können, ist die cognitio clara distincta
adaequata. Es ist Wissen in seiner höchsten Form, die wissenschaft-
liche und philosophische Erkenntnis. Cognitio obscura ist diejenige,
bei der wir nicht einmal bis zur Identifizierung eines Gegenstandes
vordringen. Klar-konfus ist dagegen ästhetisches Erkennen, das «je
ne sais quoi» der klassischen Ästhetik. Die Sprache nun entspricht
nach Leibniz der cognitio clara distincta inadaequata:
102
Coseriu nennt dieses Wissen dann – im Anschluß an das griechische
Wort techne – technisches Wissen. Der techne steht als «höhere»
Form des Wissens die episteme gegenüber.
Von dieser schönen philosophischen Begründung des Wissens
aus kritisiert Coseriu ausführlich die Konzeptionen des «Sprach-
wissens» bei Saussure und Chomsky. Dazu möchte ich die folgende
Bemerkung zu Saussure anfügen: Saussure hatte einerseits die
langue in den Gehirnen der Sprecher lokalisiert, sie also als ein Wis-
sen gefaßt. Andererseits aber sagt er an einer berühmten anderen
Stelle des Cours, daß die Benutzer des Sprachsystems die langue
zutiefst nicht kennen:
5.2.1. Zum ersten: Die Opposition von Wissen und Handeln ist in
unserer Kultur tief in einer ihrer fundamentalsten Oppositionen
verankert, im Gegensatz von Geist und Körper oder zumindest von
Kopf und Hand. Theorie und Praxis, Gelehrte und Handelnde, vita
contemplativa und vita activa etc. stehen einander daher in den bei-
den Wörtern «Wissen» und «Handeln» in so profunden Oppositio-
nen entgegen, daß eine Vermittlung kaum möglich erscheint. Man
kann die Opposition nicht einfach durch Dekret aufheben.
Man fragt sich aber auch gleich, warum sollen wir die Opposi-
tion denn überhaupt aufheben. Was bringt uns denn die schicke
Formel vom Wissen als Handeln? Ist in unserer Zeit der appeal des
Handelns, der Handlungs-Druck so groß, daß sich auch das Wissen
vor dem Tribunal der vita activa verantworten muß – und natürlich
ausgemerzt wird, wenn es das nicht kann? Als «Geistes»-Wissen-
schaftler, als Philologe allzumal, weiß ich, wovon ich spreche: Un-
ser Wissen ist von jedem Handeln so entsetzlich weit entfernt, daß
es gesellschaftlich zunehmend in Frage steht, außer in dem Teil, der
109
eindeutig ein Handeln ist. Bei den Philologien ist das die sogenannte
«Sprach-Praxis». Sprachbeherrschung ist ein technisches Wissen,
wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe. Sie ist – zumindest die Be-
herrschung bestimmter, «wichtiger», d. h. ökonomisch ertragrei-
cher Sprachen – auch nützlich, also behalten und fördern wir sie.
Diese kaum karikierte Auffassung kann man an allen Universitäts-
haushalten direkt ablesen: Sprachlabors ja – philologische Seminare
eher nein. Denn wo, bitte sehr, ist das Handeln in dem Wissen, daß
lateinisch / k / (geschrieben c) sich beispielsweise im Italienischen
vor e und i palatalisiert hat und / tsch / geworden ist, ansonsten
aber / k / geblieben ist (z. B. cera versus cantare)? Oder was ist prak-
tisch an dem Wissen, daß das lateinische Futur (amabo) unter-
gegangen ist und durch eine periphrastische Form ersetzt worden
ist: amare habeo – ameró, j’aimerai? Daß dies ein Wissen ist, wird
niemand bezweifeln. Aber daß dieses Wissen auch ein Handeln sei?
Bestenfalls ist es ein Wissen von einem Handeln, wenn Sprache
Handeln ist.
Wollen wir nun, indem wir auch solch esoterisches Wissen zum
Handeln erklären, dieses vor dem Verdikt der Nutzlosigkeit ret-
ten? Dies wäre gar kein schlechter Trick. All den eiligen und aktiven
Männern der Praxis rufen wir zu: «Alles ist Praxis!», in der Hoff-
nung, daß sie uns dann in Ruhe unser auch noch so abseitiges Wis-
sen produzieren lassen. Die aufgeregte Umbenennung der «Gei-
stes-Wissenschaften» in «Kultur-Wissenschaften» verdankt sich ja
durchaus auch einem solchen Pragmatisierungsdruck.
Nun, der Versuch, den Abgrund zwischen Wissen und Handeln
durch die Formel vom Wissen als Handeln zu überbrücken, ist
natürlich nicht nur dem gesellschaftlichen Druck durch den appeal
des aktiven Lebens geschuldet. Es gibt durchaus eine tiefere Be-
gründung für diese Verbindung von Wissen und Handeln. Das Wis-
sen ist nämlich insofern an das Handeln gebunden, als alles Wissen
(sofern es nicht angeboren ist) buchstäblich aus der Hand stammt:
Aus dem Betasten der Welt, aus der Erfahrung der Welt mit der
Haut, mit dem Auge (wissen ist etymologisch mit videre verbun-
den), mit dem Ohr, mit der Zunge und der Nase stammt unser Wis-
sen. Daß der «Be-griff» aus dem Greifen der Hand stammt, ist oft
genug gesagt worden und nicht nur eine Metapher. Und die Wis-
senschaft – die moderne jedenfalls – hat genau diesen Gestus des
110
Handelns ins Hand-Werk, d. h. ins Machen gesteigert. Modell der
Baconschen Neuen Wissenschaft ist das handwerkliche Herstellen:
der moderne Wissende ist der homo faber. «Das weiß ich, was ich
gemacht habe», ist seine Grundüberzeugung. Wissen als Gemacht-
Haben, Wissen als poiesis. Das Experiment – Kant macht das ja
dramatisch deutlich in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft
– schafft die Natur nach. Daß ich nur das weiß, was ich gemacht
habe, was ich also mit der Hand hergestellt oder zumindest nach-
gestellt habe, ist gemeinsame Überzeugung moderner Wissenschaft.
Auch Vico, der vermeintlich Anti-Moderne, sagt nichts anderes.
Nur sieht Vico diese Gewißheit der Hand und des Machens, die er
scientia nennt, gerade in der zivilen Welt gewährleistet, in der Kul-
tur, weil diese im Gegensatz zu der von Gott gemachten Natur vom
Menschen gemacht ist. Nur Kultur-Wissenschaft ist ihm überhaupt
Wissenschaft.5
Also: die Brücke von der Hand und vom Machen zum Wissen ist
nicht erst zu bauen, sie ist einfach da, und an ihr wird täglich ge-
baut. Unser Wissen stammt aus dem Handeln und dem Machen.
112
5.3. Energeia
5.3.1. Vielleicht ist aber der zweite differente Zug der Opposi-
tion zwischen Wissen und Handeln schwieriger zu überwin-
den als dieser erste zwischen Kopf und Hand (Geist und Kör-
per), nämlich der zwischen Zustand und Prozeß: Wissen ist ein
Zustand, kein Vorgang, sondern etwas Statisches. Handeln ist ein
Vorgang. Die Formel «Wissen als Handeln» verlangt in dieser
Hinsicht etwas besonders Schickes: nämlich action, «Äktschn»,
also eine Prozessualisierung. Das Wissen darf nicht mehr ruhig
sein, es muß werden, oder besser zappeln, wie ein Film. Eine
Forderung des Zeitgeistes: Nichts darf mehr ruhn, alles muß
sich bewegen, alles muß jung sein, dynamisch, frisch. Performa-
tiv.
Wissen ist aber kein Prozeß, sondern das Ergebnis eines Prozes-
ses, des Lernens nämlich oder des Erkennens. Erkennen ist etwas
Prozessuales und als solches ohne alle Schwierigkeit als ein Han-
deln oder besser: als eine Tätigkeit zu fassen. Das Erkennen ist ja
nicht etwas, das uns gleichsam in den Schoß fällt, sondern etwas,
das wir aktiv bewerkstelligen. Wissen aber ist der Endzustand des
Erkennens, das Erkannthaben. Es ist damit kein Handeln, sondern
ein Gehandelt-Haben.
Aber damit läßt sich – jenseits der Forderung nach Prozessuali-
sierung, Dynamisierung und Verjüngung (die wir nicht vergessen
wollen) – das Wissen auch in dieser Hinsicht durchaus ohne große
Verdrehungen wieder ans Handeln bzw. an die Tätigkeit binden.
Als Ergebnis der Tätigkeit des Erkennens ist es das ergon dieser
Tätigkeit, so wie das Gebäude das ergon des Bauens ist und der
Strumpf das ergon des Strickens. Als ein geistiges ergon ist es ge-
gebenenfalls sogar ein Handeln-Können, aristotelisch gesprochen
ist es nicht nur das ergon, sondern auch die dynamis des Erkennens.
Es ist nicht die energeia, die Tätigkeit selbst. Sofern aber energeia
nach Aristoteles’ Metaphysik eben drei Aspekte haben kann, näm-
lich energeia, ergon und dynamis, ist das Wissen doch ein Aspekt
der energeia: Im Werk ist das Wirken aufgehoben. In diesem Sinne
läßt sich auch vom Werk, dem Wissen, als Handeln bzw. als einer
Tätigkeit sprechen.
113
Die dynamis, das Handelnkönnen, drücken wir im Deutschen
übrigens sprachlich nur noch selten als ein Wissen aus – in etwas
altertümlichen Wendungen wie «er weiß sich zu benehmen». Nor-
malerweise nennen wir es «können», das natürlich mit «kennen»
eng verbunden ist, also durchaus auch ein Wissen ist. «Er kann
Latein» heißt eben, daß er ein solches Wissen hat, daß er entspre-
chend (sprachlich) handeln kann. Im Französischen und Englischen
wird dieses Wissen auch als ein «Wissen» bezeichnet: «he knows
Latin», «il sait le latin». Im Französischen ist dies auch bei anderen
Tätigkeiten der Fall: «il sait nager», wo die Engländer – wie die
Deutschen – eine nicht intellektuelle dynamis nicht als ein «Wis-
sen», sondern als ein «Können» fassen: «he can swim», «er kann
schwimmen».
5.3.2. In dieser zweiten Hinsicht, also bei der Opposition von ener-
geia versus ergon / dynamis, können Überlegungen aus der Sprach-
und Zeichentheorie vermittelnd nützlich sein. Hier wird nämlich
114
traditionellerweise zwischen einer Ebene der Realisierung und
einer Ebene des «Besitzes» der Sprache oder der Zeichen unter-
schieden: in der Sprachwissenschaft zwischen parole und langue, in
der Semiotik zwischen token und type. Zumal seitdem die Zeichen
und die Sprache als Handlungen betrachtet werden, müßten die
hier angestellten Überlegungen auch für die pragmatisch gewendete
Epistemologie interessant sein.
5.4. Praxis
Weniger vornehm gesagt: Die Frage nach der Sprache fragt auch
danach, wo’s langgeht. Wer das Sagen hat, hat es nämlich auch kul-
turell und also auch politisch.2 Cuius lingua eius regio oder zumin-
dest: cuius lingua eius cultura.
6.2.4.1. Italien, das trotz der Kriege der italienischen Staaten unter-
einander und trotz der Existenz mehrerer Staaten um 1450 so
125
etwas wie eine politische Italianität erreicht hatte (schon in Dan-
tes De vulgari eloquentia zeigt sich, daß es eine deutliche Vor-
stellung eines politisch-kulturellen und sprachlichen Raums
«Italien» gibt, der von den Alpen bis nach Sizilien reicht), wird
von den Franzosen (1494) und dann von Spanien und dem Kaiser
militärisch überrollt. Das sprachliche Medium dieser nun von
außen erschütterten Italianität war, wie gesagt, das Lateinische.
Valla hatte in den Elegantiae in einer Art von humanistischem
Größenwahn die Verbreitung der lateinischen Sprache noch mit
einer italienisch-lateinischen politischen Herrschaft gleichge-
setzt:
«Unser ist Italien, Gallien etc», nicht: «unser war»! Wenn das Prin-
zip cuius lingua eius regio Gültigkeit hat, so hat Valla natürlich
nicht unrecht. Nur: wer ist «wir», wer ist das politische Sub-
jekt, dessen Sprache das Lateinische – romana lingua – im Quattro-
cento ist? «Rom» ist nicht mehr das alte Rom, dessen vergangene
Macht hier nostalgisch evoziert wird. Ist es der Papst? Sind es die
Italiener, sofern sie lateinisch sprechen und schreiben, also die
Humanisten?
Nun zeigen die französischen und kaiserlich-spanischen Invasio-
nen, daß von einem lateinisch-italienischen Imperium «Roms»
nicht die Rede sein kann, nicht einmal in Italien selbst. Frankreich
und Spanien bestimmen jetzt die politischen Geschicke Italiens. In
Speronis Dialogo delle lingue, der uns hier beschäftigen wird, ver-
sucht Bembo, sich nach schönster Humanistenart mit dem Besitz
der klassischen Sprachen (wobei er dem Griechischen und Lateini-
schen noch das Toskanische zuschlägt) über diese politische Er-
niedrigung Italiens hinwegzutrösten, gewissermaßen nach dem
Motto: bella gerant alii, tu infelix Italia loquere:
126
Ma per certo noi siamo giunti a tempo che pare che il male lunga-
mente da noi sofferto voglia Iddio a qualche modo ricompen-
sarci; peroché in iscambio delle molte possessioni e città della
Italia, le quali occupano gli oltramontani, egli ci ha donato
l’amore et la cognizione delle lingue. (Speroni 1542: 287)
Aber sicher sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem
Gott uns anscheinend für das von uns so lange erlittene Leid
irgendwie entschädigen möchte; denn im Austausch für die
vielen Besitzungen und Städte Italiens, die die Leute von jenseits
des Berges besetzt halten, hat er uns die Liebe und die Kenntnis
der Sprachen gegeben.
Liebe und Kenntnis der Sprachen werden aber deutlich als Kom-
pensation (ricompensare) für das politische Übel bezeichnet. Das
Eigentliche scheint – jedenfalls für Speroni, der Bembo in einem
fiktiven Dialog inszeniert – also doch im Besitz der Städte Italiens
zu liegen, die jetzt die ultramontanen Barbaren besetzt halten. Der
kompensatorische Trost des Humanisten funktioniert daher auch
nicht bei seinen Gegnern. Der Höfling macht sich über diese völlige
Überschätzung der Sprache und der Gelehrsamkeit lustig. Der
Aristokrat, also die der politischen Macht am nächsten stehende Fi-
gur, weigert sich zu akzeptieren, daß (lateinische, griechische oder
toskanische) Sprach-Beherrschung wirkliche Herrschaft ersetzen
könne, daß sie besser sei als die «signoria del mondo» (292), die Be-
herrschung der Welt: «E io conosco di molti uomini che, per esser
mediocri signori, si contentarebbono d’esser muti» (291). Für die
Macht, so weiß der im aktiven Leben stehende Cortegiano, würden
die meisten Menschen leicht die Sprache hergeben. In der humani-
stischen Überschätzung der Gelehrsamkeit und der Sprache und in
der damit verbundenen Unterschätzung der Wirklichkeit, d. h. auch
wirklicher Politik, sieht er ganz offensichtlich eine politische
Dummheit. Der Humanismus wird damit also gerade als ein Grund
für die politische Misere Italiens namhaft gemacht.
6.2.4.2. Wenn die questione della lingua auch durch die politischen
Ereignisse angeregt wurde, so ist sie doch keine offen politische
Diskussion. Die soeben zitierte direkte Bezugnahme auf Politisches
ist eher eine Ausnahme. Die Diskussion geht um Kulturelles. Der
127
Ausdruck «Kultur der Sprache» erscheint hier ausdrücklich: coltura
della lingua (310) (vermutlich einer der ersten Belege für den Aus-
druck), und zwar noch ganz im etymologischen Sinne von Anbau
und gärtnerischer Pflege der Sprache. Das Ziel dieser gärtnerischen
Bemühungen ist eleganzia. Der Ausdruck «coltura» ist noch eine
Metapher, aber es geht um Kultur im modernen Sinn: um Literatur
und Gelehrsamkeit und um Lifestyle. Politik spielt in Italien – an-
ders als in Frankreich – bei den anstehenden Entscheidungen in der
Sprach-Frage keine aktive oder befördernde Rolle, sondern wirkt
eher als Hemmnis. Es gibt keine politische Instanz, die ein Interesse
an der Beförderung einer Nationalsprache hätte. Gewiß verwenden
auch in Italien wie in Frankreich und Deutschland die Kanzleien
volkssprachliche Scriptae, wenn sie nicht lateinisch urkunden. In
Frankreich aber wird der König selbst aktiv für die nationalsprach-
liche Vereinheitlichung. In der Ordonnance von Villers-Cotterêts
von 1539 wird das Französische für das ganze Königreich als Ver-
waltungs- und Gerichtssprache vorgeschrieben, eine Verwaltungs-
reform mit erheblichen Konsequenzen für die Verbreitung der
nationalen Koinè. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es in
Frankreich gerade die Politik ist, die im 16. Jahrhundert kraftvoll
die Nationalsprache befördert, die Dichter und Drucker kommen
noch hinzu. In Deutschland ist, wie gesagt, die Religion die mäch-
tige Verbreiterin der Koinè, und die Drucker sind die aktiven Ver-
bündeten der religiösen Erneuerung (die Dichter dichten eher noch
auf lateinisch). Nichts dergleichen in Italien: kein gemeinsamer
Staat wie in Frankreich, aber auch keine volkstümliche spirituelle
Massenbewegung wie in Deutschland, sondern nur das extrem enge
Diskursuniversum der Dichtung, das nur eine winzige Elite inter-
essiert.
6.2.4.3. Und im Bereich der Literatur siegt nun gerade auch noch
Bembo, d. h. es siegt das Unpolitische, das Harmlose, der Rückzug
aus der signoria del mondo in die Literatur. Denn statt der politi-
schen Herrschaft haben die Italiener ja die Liebe zu den Sprachen.
Literarische Bildung als Kompensation für politische Macht.5 Eine
solche Doktrin paßte natürlich ausgezeichnet in eine politische
Situation, die auf Teilhabe der Italiener an der Macht gerade keinen
großen Wert legte: Es ist die Zeit der Bestimmung italienischer
128
Politik durch ausländische Mächte und die Zeit der Gegenrefor-
mation, zu der, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, das neo-
humanistische Kulturmodell entschieden besser paßt als das Modell
des Cortegiano. Mit Bembo siegt außerdem die Erhebung der Spra-
che der Klassiker aus dem Trecento zur Norm der Literatursprache.
Dies ist auch für die Dichtung eine ungünstige, weil eng klassizisti-
sche, «akademische» Lösung. Die Accademia della Crusca sanktio-
niert später mit ihrem Wörterbuch diese Entscheidung, indem sie,
Bembo folgend, die Sprache der Klassiker Boccaccio und Petrarca,
denen sie noch Dante hinzugesellt, als Norm kodifiziert. Italienisch
schreiben ist also seit dem Cinquecento an den Klassikern aus
dem 14. Jahrhundert orientiert. Diese Entscheidung behinderte
eine freiere und modernere Entwicklung der italienischen Dich-
tungssprache.6 Sofern sie nicht nur rückwärtsgewandt, sondern
auch noch diatopisch eng (toskanisch) und diastratisch elitär, d. h.
ausgesprochen unpopulär war, war diese Entscheidung für die
sprachpolitische Entwicklung Italiens extrem ungünstig. Bei der
Errichtung eines italienischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert
wird dieses diastratisch elitäre, diatopisch provinzielle, diachro-
nisch antiquierte und diaphasisch «geschriebene» Norm-Italienisch
ein Problem.
6.2.5. Daß die Diskussion bei aller Begrenzung auf die Literatur
sich so ausdifferenziert und daß sie eine so große Aufmerksamkeit
erfährt, hat, wie schon erwähnt, mit der medialen Revolution der
Zeit zu tun, mit der Blüte des neuen Kommunikationsmediums, des
Buchdrucks. Obwohl in den klassischen Texten zur questione della
lingua – etwa im Vergleich zu den entsprechenden französischen
Texten – der Buchdruck kaum thematisiert wird, ist ihre Abhängig-
keit vom neuen Medium evident: Peter Koch (1988: 347) hat auf die
Beziehungen zwischen Bembo und dem Drucker Aldo Manuzio
hingewiesen. Den Druckern war natürlich daran gelegen, eine mög-
lichst weite Verbreitung ihrer Erzeugnisse zu ermöglichen und ab-
zuklären, welche italienische Schrift-Sprache dies denn am besten
ermöglichte. Daß Dantes Schrift De vulgari eloquentia, die als erste
die Frage nach der Sprache stellte und der Volkssprache eine hohe
Position zusprach, erst einmal zweihundert Jahre lang nicht gelesen
wurde, hat nicht nur damit zu tun, daß sie nicht in die Kulturpolitik
129
des Humanismus paßte und daher von den maßgeblichen Intellek-
tuellen nicht verbreitet wurde, sondern auch damit, daß sie ohne
Buchdruck, d. h. als Handschrift, leicht zu unterdrücken war. Nun
aber (1529) gibt sie Trissino in italienischer Übersetzung in Druck.
Die Abhängigkeit vom neuen Medium zeigt sich auch daran, daß
Trissinos Epistola, die 1524 die questione della lingua gewisserma-
ßen offiziell auslöst, um ein ortho-typographisches Problem kreist.
Trissino schlägt nämlich die Einführung einiger griechischer Buch-
staben in die Schrift-Sprache vor. Dann wird allerdings nicht nur
dieser ungewöhnliche ortho- und typographische Vorschlag dis-
kutiert, sondern vor allem der Ausdruck «italiano» in dem von
Trissino provokant gewählten Ausdruck «lingua italiana». Die Ab-
hängigkeit der Sprachen-Frage vom neuen Medium ist in Frank-
reich viel deutlicher, wo die Drucker selbst sich ganz entscheidend
an der entsprechenden Diskussion um die Normierung der Sprache
beteiligen (z. B. Tory, Robert Etienne, Meigret, Henri Etienne).
6.3.1.2. Bembo tritt für die Volkssprache ein, aber für diejenige der
großen Dichter aus dem Trecento, ein Bezug auf ein Textkorpus,
das immerhin schon zweihundert Jahre alt ist. Dies ist aber auch der
einzige Unterschied zu dem Humanisten, mit dem er ansonsten
alle Überzeugungen teilt. Er requiriert sämtliche humanistischen
Grundannahmen für das Volgare, d. h. für das Toskanische: Die
Kenntnis der Sprache und der Literatur ist das höchste, was ein
Mensch besitzen kann (vor allem ist sie besser als politische Macht);
das Toskanische ist eine hoch zu preisende Sprache wegen der gro-
ßen Literatur, die in ihm hervorgebracht wurde; Volgare-Schreiben
hat sich wie das Lateinisch-Schreiben an klassischer Literatur aus-
zurichten, an Petrarca und Boccaccio (nicht an Dante, weil dessen
Toskanisch nicht «rein» genug ist); Schreiben ist imitatio. Gegen-
über dem humanistischen Professor, der die lateinische Sprache und
Literatur verwaltet und pflegt, ist Bembo als der Dichter typisiert,
dessen Textproduktion «Literatur» ist («poetare e orare», «com-
porre o canzoni o novelle», 334). Beide, Professor und Dichter, sind
ganz offensichtlich Schreiber.
Ma avendo io già più volte pensato meco onde nasca questa gra-
zia, lasciando quelli che dalle stelle l’hanno, trovo una regula
universalissima, la qual mi par valer circa questo in tutte le cose
umane che si facciano o dicano più che alcuna altra, e ciò è fuggir
quanto più si po e come un asperissimo e pericoloso scoglio, la
affettazione. (Castiglione 1528: 59)
Aber, nachdem ich nun schon mehrfach bei mir darüber nachge-
dacht habe, woher diese Anmut denn kommt (wenn wir einmal
diejenigen beiseite lassen, die sie von den Sternen haben), so finde
ich eine sehr allgemeine Regel, die hierbei mehr als irgendeine an-
dere in allen menschlichen Dingen zu gelten scheint, die man
macht oder sagt, nämlich daß man so sehr als nur irgend möglich
und als eine außerordentlich schroffe und gefährliche Klippe die
Affektiertheit vermeiden soll.
Die grazia des Höflings wird dann bekanntlich näher als sprezza-
tura bestimmt, als eine freche, stilisierte Natürlichkeit, die jede
Affektiertheit vermeidet:
[…] e per dir forse una nova parola; usar in ogni cosa una certa
sprezzatura, che nasconda l’arte e dimostri ciò che si fa e dice ve-
nir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi. (Castiglione 1528:
59 f.)
135
[…] und, um vielleicht ein neues Wort zu sagen: daß man in allen
Dingen eine gewisse sprezzatura walten lassen soll, die die Kunst
verbirgt und die zeigt, daß das, was man macht und sagt, ohne
Mühe und gleichsam ohne Nachdenken gemacht wird.
6.3.2.3. Aus dem zweiten Teil des Dialogs kann schließlich noch
eine weitere anthropologische Eigenschaft des Cortegiano-Systems
an dieser Stelle hochgerechnet werden: Die tiefste Opposition
zwischen Humanismus und Kurtisanismus liegt vielleicht in der
Opposition der jeweils als zentral angesehenen geistigen Operation:
Der Humanist setzt auf imitatio, auf Nachahmung der klassischen
Vorbilder. Die geistige Produktion ist damit eher re-produktiv als
produktiv. Der Höfling setzt dagegen eine ganz andere, geistige
Fähigkeit ein: das ingenium. Er vertraut auf die eigene geistige
Kraft, auf seine Originalität; seine Kreativität ist produktiv, nicht
reproduktiv.12 Mehr noch als der Speroni-Cortegiano selbst macht
dies der später auftretende Philosoph Pomponazzi deutlich, der
sich vehement gegen die Nachahmung der alten Philosophen und
für das eigene Denken ausspricht. Ähnlich wie der protestantische
Mensch des Nordens den eigenen personalen Zugang zum Gött-
lichen durchsetzt, also seine Autonomie gegenüber den Autoritäten
(der Kirche) entdeckt, setzen mit der Berufung auf die Kraft des
ingeniums der Wissenschaftler und mit ihm der Cortegiano auf
137
Autonomie statt auf Autorität. Der Cortegiano ist in dieser Hin-
sicht der «protestantische» Typ des Südens.
6.3.3. Der letzte enjeu, das, worum es in der questione della lingua
letztlich geht, ist also nicht die Sprache. Es geht vielmehr um zwei
grundverschiedene kulturelle Systeme, um zwei anthropologische
Modelle, die in einer entscheidenden politischen Konjunktur um
die Vorherrschaft ringen. Sprachliches Verhalten ist ein zentraler
Bereich dieser beiden Systeme, aber es geht um mehr: um das kultu-
relle Modell, mit Gramsci gesagt: um die kulturelle Hegemonie.
Und damit geht es auch um das politische Leitbild.
In Italien setzt sich mit Bembos Sieg eine geringfügig (eben nur
bezüglich der Sprache) modernisierte Version des alten Kultur-
modells durch. Der schreibende poeta doctus, der doctor, wie Dante
die Dichter nennt, siegt gegenüber dem Konversation treibenden,
aktiv handelnden Weltmann. Historisch war in der politisch-so-
zialen Konjunktur Italiens vermutlich nur der Sieg des moderaten
Neohumanisten statt des modernen Typs des Höflings möglich:
Der Ort, an dem sich der junge, autonome, ingeniöse, elegante,
«italienische» Höfling eventuell hätte entfalten können, Rom und
der päpstliche Hof, wird nämlich im Sacco di Roma nachhaltig
zerstört. Die anti-reformatorischen Aktivitäten des Vatikans in der
zweiten Hälfte des Cinquecento begünstigen autonomes, Autori-
täten in Frage stellendes geistiges Tun nicht. Die ausländischen
Mächte, die in Mailand und Neapel das politische Geschehen be-
stimmen, haben keine national-italienischen Perspektiven und In-
teressen und sind nicht an einem aktiv handelnden Italiener interes-
siert. Der sich in die klassische Dichtung und «in die Kammer»
zurückziehende, schreibende und die Gelehrsamkeit für das Höch-
ste haltende doctor ist da sicher politisch genehmer. Der soziokul-
turelle Typ des Cortegiano, der honnête homme, wird erst hundert
Jahre später in Frankreich (und in England) stilbildend werden und
für die französische Kultur bestimmend sein.
Angesichts dieser Grundopposition kulturell-sozialer Typen
scheint mir daher in sprachlicher Hinsicht weder die Opposition
zwischen Latein und Volgare noch die Opposition zwischen den
verschiedenen Versionen von Schriftsprachlichkeit der Kern der
questione della lingua zu sein, sondern tatsächlich die zwischen
138
Schriftlichkeit (und Schriftstellerei) einerseits und (kultivierter)
Mündlichkeit andererseits bzw. die zwischen der Sprache der Di-
stanz und der Sprache der Nähe. Gloria oder grazia. Die im weite-
ren Gang des Dialogs deutlich werdende tiefe Antinomie der
Sprache wirft ihre Schatten voraus.
oder:
Daher kann man auch in allen Sprachen über alles (folglich auch
über Philosophisches und Wissenschaftliches) sprechen: «d’ogni
cosa per tutto ’l mondo possa parlare ogni lingua» (323). Alle Spra-
chen haben denselben Wert: «le lingue d’ogni paese […] siano d’un
medesmo valore» (323). Peretto führt dann schließlich genüßlich
gegen Lascari die höchste griechische Autorität, Aristoteles selbst,
ins Feld:
Più tosto vo’ credere ad Aristotile e alla verità, che lingua alcuna
del mondo (sia qual si voglia) non possa aver da sé stessa privile-
gio di significare i concetti del nostro animo, ma tutto consista
nello arbitrio delle persone. (325)
Ich möchte lieber an Aristoteles und an die Wahrheit glauben,
daß keine Sprache der Welt, es sei welche man immer will, von
sich aus ein Privileg haben kann, die Begriffe unseres Geistes zu
bezeichnen, sondern daß alles in der Willkür der Menschen liegt.
Dies ist der Verweis auf das kata syntheken des Aristotelischen De
interpretatione und damit auf die aristotelische Sprachauffassung,
die, wie wir gesehen haben, gleichsam die europäische Normalauf-
fassung von der Sprache ist. Der Humanismus hatte mit seiner In-
tuition einer (allerdings nur auf die klassischen Sprachen beschränk-
141
ten) semantischen Besonderheit der Sprachen diesen aristotelischen
Mainstream zeitweilig unterbrochen. Hier kommt nun die aristote-
lische Auffassung wieder zum Vorschein, die besagt, daß die Sachen
und das Denken der Menschen überall dasselbe sind und daß nur
die Signifikanten, die dieses Denken bezeichnen und mit denen
es den anderen mitgeteilt wird, verschieden sind: kata syntheken,
«nach historischer Tradition». Die Sprachen dienen also bloß der
Kommunikation des ohne Sprache Gedachten, sie sind sekundäre
Mittel der Mitteilung, deren Verschiedenheit einzig eine materielle
ist. Daher kann dann auch keine auf eine besondere Eignung für die
Wissenschaft Anspruch erheben.
6.4.3. Der Bericht des Scolare weitet das Feld der Volkssprache auf
die Wissenschaft aus. Dies ist, soweit ich sehe, ein durchaus revolu-
tionärer Schritt, dem ja auch zur Zeit des fiktiven Dialogs (zwanzi-
ger Jahre des Cinquecento) noch keine Realität entspricht. Gerade
auch der sich hier im Dialog so lebhaft für das Volgare einsetzende
Pomponazzi hatte in Wirklichkeit alles auf Lateinisch geschrieben.
Auf eine entsprechende Vorhaltung von Lascari muß er sich dann
auch damit herausreden, daß er die Einsicht in die Notwendigkeit
der Volkssprache zu spät gehabt habe. Speroni muß hier ganz
offensichtlich die historischen Fakten etwas strapazieren. Das Ent-
scheidende ist aber, daß ein neuer Typ von Wissenschaft gegen den
Humanismus in Stellung gebracht wird: Pomponazzi polemisiert
gegen eine Gelehrsamkeit, die im Sprachlichen verbleibt. Es sei
widernatürlich, bei den Wörtern zu verweilen (die, wie wir gerade
gesehen haben, ja nichts anderes sind als arbiträre Signifikanten).
Der menschliche Geist wolle etwas über die Welt und die Sachen
erfahren:13
Der Geist bleibt nämlich einfach leer, wenn er sich mit den leeren
Signifikanten beschäftigt. Der Neue Wissenschaftler greift daher
auf die Sachen zu. Gegenüber dem humanistischen Hören (oder
Lesen) des Wortes meldet sich hier die zupackende Hand des ex-
perimentierenden Neuen Wissenschaftlers theoretisch zu Wort.
Sofern die Neue Wissenschaft auf die Sachen zugreift, steht sie den
Hand-werken näher als der alten «Philosophie» aus den Büchern.
Die Techniken, bei denen die Bücher naturgemäß eine geringe Rolle
spielen, waren daher auch die Domänen, in denen die Volkssprache
zuerst verwendet wurde und die sozusagen das Terrain für die Neue
– empirische – Wissenschaft vorbereiteten.
Hier haben wir das Sprachwissen als niedriges Wissen: als cogni-
zing.14 Und dies ist auch der Beginn der aufklärerischen Polemik
gegen das Gedächtnis als der Gegnerin des Denkens. Ihr entspricht
die Polemik gegen die Imitatio als Hindernis des Fortschritts (avan-
zare):
144
forse per altezza d’ingegno non siamo punto inferiori agli antichi,
nondimeno in dottrina siamo minori […] coloro finalmente
imitiamo filosofando, alli quali alcuna cosa aggiugnendo dee
avanzare la nostra industria. (323, Herv. J. T.)15
vielleicht sind wir den Alten gerade nicht in der Stärke des Inge-
niums unterlegen, im Wissen sind wir aber weniger gut […], da
wir sie schließlich beim Philosophieren immer nur imitieren, un-
sere Anstrengung muß aber dahin fortschreiten, ihnen etwas hin-
zuzufügen.
6.4.5. Von grazia ist hier bei dem Neuen Wissenschaftler nicht die
Rede, wohl aber vom Fortschritt des Wissens. Die Berufspraxis
des Neuen Wissenschaftlers, welche ein ausschließliches Augen-
merk auf die Wahrheit, d. h. auf die Sachen selbst verlangt, radika-
lisiert und überbietet die Position des Cortegiano erheblich. Die
Figur des Peretto ermöglicht es, die Überzeugungen des Höflings –
unter Bezugnahme auf die höchste Autorität Aristoteles – theo-
retisch zu begründen und zu pointieren. Obgleich Peretto mit
seiner deutlicheren Betonung der Nähe über die lingua cortigiana
hinausgeht, erkennt der Höfling gleichwohl Perettos Position
als die seine an. Der Höfling macht sich damit das sich hier ab-
zeichnende System der Aufklärung zu eigen, eine für die euro-
päische Kultur wegweisende Verbindung. So wie der Cortegiano
in Frankreich und England das Kulturmodell des 17. Jahrhun-
derts sein wird, ist in der Gestalt des Speronischen Pomponazzi
gleichsam auch schon die Wissenskultur der Aufklärung prä-
figuriert, die in Galilei (der im Volgare schreibt!) ihre erste histo-
rische Realisierung findet und im modernen Baconschen Projekt
der Neuen Wissenschaft ihren europäischen Siegeszug antreten
wird.16
Noch einmal: die questione della lingua fragt nicht nur nach der
italienischen Sprache, sie fragt nicht einmal nur nach der Sprache
überhaupt, sondern sie stellt die große Frage nach den kulturellen
Modellen, nach den maßgeblichen Menschenbildern: grazia oder
gloria, und schließlich fragt sie – philosophisch – nach den maßgeb-
lichen Instanzen des Wissens: Bücher oder Welt. Typisch italienisch
ist diese Diskussion nur in einem negativen Zug: in der völligen Ab-
wesenheit der religiösen Dimension.
145
6.5. The Global Court
6.5.1. Der Höfling, der aktive, coole junge Mann, braucht eine
Sprache, in der er mit den anderen seinesgleichen reden kann. Heute
ist der Wirkungskreis der Coolen natürlich nicht Italien, Frankreich
oder sonst ein kleines Ländchen (ebenso wenig wie es im Cinque-
cento die Toskana oder sonst eine italienische Landschaft war). Der
Globale Hof der coolen Eliten führt Menschen aus der ganzen Welt
zusammen. Die lingua cortigiana ist das Englische (um deren grazia
es allerdings am Global Court nicht allzu gut bestellt sein dürfte).
Es ersetzt in dieser Hinsicht das Lateinische, das ja auch nach dem
Aufstieg der Nationalsprachen noch jahrhundertelang internatio-
nale Verkehrssprache war, und das Französische, das für zwei Jahr-
hunderte diese Funktion innehatte. Noch tut der nicht-anglophone
Coole gut daran, auch noch den alten nationalen Dialekt zu beherr-
schen, der an dem älteren, kleineren Hofe noch üblich ist: er muß
also zwei höfische Sprachen beherrschen. Wegen des höheren Pre-
stiges des Globalen Hofes tendiert der Globale Cortegiano aller-
dings dazu, auch in seiner nationalen Sprache Wörter aus der lingua
cortigiana zu verwenden, schon um zu zeigen, daß er zur Curia
Globalis gehört. Zwar hatte Castiglione der lingua cortigiana als
Moment ihrer grazia und sprezzatura – ihrer Coolness – Offenheit
für fremde Wörter und für semantische Neuerungen ausdrücklich
zugestanden. Aber der moderne – vor allem der deutsche – Corte-
giano neigt dazu, die sprezzatura zu übertreiben. Und übertriebene
sprezzatura ist nun wieder Affektiertheit, die schon von Castiglione
als völlig uncool kritisiert worden ist.17
la vostra lingua […] ha vertù in farvi più tosto grazioso che glori-
oso,
eure Sprache ist dazu angetan, euch eher anmutig als berühmt zu
machen.
7. Die Mehrsprachigkeit der Wissenschaften
Les savants des autres nations à qui nous avons donné l’exemple,
ont cru avec raison qu’ils écriraient encore mieux dans leur langue
que dans la nôtre. L’Angleterre nous a donc imité; l’Allemagne,
où le latin semblait s’être réfugié, commence insensiblement à
en perdre l’usage: je ne doute pas qu’elle ne soit bientôt suivie par
les Suédois, les Danois, et les Russes. (d’Alembert 1763 / 1894:
114)
Die Gelehrten der anderen Nationen, denen wir das Beispiel ge-
geben haben, haben zu Recht geglaubt, daß sie in ihrer eigenen
Sprache noch besser schreiben würden als in unserer. England
hat uns also imitiert; Deutschland, wohin sich das Lateinische ge-
flüchtet zu haben schien, beginnt allmählich, dessen Gebrauch
150
aufzugeben; ich zweifle nicht, daß die Schweden, die Dänen und
die Russen ihm bald folgen werden.
L’usage de la langue latine […] ne pourrait être que très utile dans
les ouvrages de philosophie, dont la clarté et la précision doivent
faire tout le mérite, et qui n’ont besoin que d’une langue univer-
selle et de convention. Il serait donc à souhaiter qu’on rétablît cet
usage. (ebd.)
Der Gebrauch der lateinischen Sprache […] könnte vor allem
sehr nützlich sein in philosophischen Werken, bei denen Klarheit
und Präzision vorrangig sein müssen und die einzig eine univer-
selle und konventionelle Sprache brauchen. Es wäre also zu wün-
schen, daß man diesen Gebrauch wieder einführte.
7.1.3. Aber was ist so schlimm daran? Ist es, wie d’Alembert sagt,
Zeitverschwendung, eine oder gar mehrere Sprache zu lernen? Es
ist Zeitverschwendung, wenn man wie d’Alembert und das ganze
alte Europa der Auffassung ist, die verschiedenen Sprachen seien
bloß mehr oder minder materiell verschiedene Signifikanten, und
daher eigentlich überflüssiges Zeug, als Strafe den Menschen auf-
erlegt, nachdem sie die Sprache des Paradieses verspielt hatten.
Europa hatte jahrhundertelang mit dem Lateinischen seine Paradie-
sessprache zumindest in der Gelehrsamkeit wieder hergestellt, und
nun hat es sie wieder verspielt. Die vielen leeren Signifikanten der
vielen Sprachen, so sagte ja Pomponazzi, belasten nur das Gedächt-
nis und zehren – außer der Lebenszeit – gleichsam die geistige En-
ergie auf, die eigentlich für das kreative Denken und die ingeniösen
Erfindungen gebraucht wird.
Nun, so ist es natürlich nicht. Aber es hat eine Weile gebraucht,
den Leuten klarzumachen, daß Sprachenlernen eine wunderbare
Erfahrung kultureller Alterität und ein geistiges Abenteuer ist
und daß es auch gar nicht schlecht ist für den menschlichen Geist
und für das Training geistiger Produktivität, eine oder besser
noch: mehrere andere Sprache zu können. Allerdings glaubt das nur
noch der nicht-anglophone Teil der Menschheit. Die anglophone
Menschheit verzichtet ihrerseits inzwischen auf diese Ertüchtigung
des Geistes.
153
7.1.4. Vor allem aber ist die weitere Schlußfolgerung d’Alemberts
einfach nicht zutreffend, nämlich daß die Vulgärsprachen die For-
schung behindert hätten. Im Gegenteil: Es ist gerade so, daß ganz
offensichtlich der Abschied vom Latein die wissenschaftlichen
Produktivkräfte entfesselt hat.
Denn man kann man viel sagen zu den zweihundert Jahren zwi-
schen d’Alembert und 1950, in denen die geschilderte Mehrspra-
chigkeit in den Wissenschaften galt. Aber daß diese Zeit durch eine
Behinderung des Denkens und der wissenschaftlichen Entwicklung
durch die volkssprachliche Vielsprachigkeit charakterisiert gewesen
sei, das kann man nicht behaupten: Die naturwissenschaftlichen Er-
kenntnisse sind in dieser Zeit gewachsen wie niemals zuvor in der
Geschichte der Menschheit. Und auch die Erforschung der Kultu-
ren der Menschheit ist niemals so intensiv und extensiv betrieben
worden wie in diesen Jahren, in denen die Wissenschaften das La-
teinische aufgegeben und die vielen Sprachen Europas gesprochen
haben. Es drängt sich daher eher die umgekehrte Vermutung auf,
daß die Verwendung der verschiedenen Mutter- oder Nationalspra-
chen die Bedingung für die Blüte der Wissenschaften gewesen ist.
Diese Vermutung will ich zu bestätigen versuchen, indem ich die
Gründe aufsuche, die die Wissenschaftler seit der Renaissance be-
wegt haben, sich vom Lateinischen abzuwenden.
7.1.5. Aber was einmal richtig war, muß ja nicht richtig bleiben. Der
einmal eingeschlagene Weg kann in einer veränderten Welt durch-
aus zum Holzweg werden. Wie es einmal richtig war, in den Wis-
senschaften die verschiedenen Volkssprachen Europas zu sprechen,
so kann es ja umgekehrt wieder richtig werden, in den Wissenschaf-
ten nur eine Sprache zu sprechen, also wieder zur mittelalterlichen
Diglossie zurückzukehren: unten Volkssprache, oben Globalesisch.
Es könnte also ein Irrweg sein, stur an einem früher einmal erfolg-
reich eingeschlagenen Weg festzuhalten. Dieser Frage möchte ich
am Ende des Kapitels nachgehen.
154
7.2. Die Volkssprachen in den Wissenschaften
7.2.2. Was uns aber hier interessiert, ist der Aufstieg, der ascensus
der Volkssprachen in die hohe Domäne des Wissens, die von der
Sprache Latein besetzt ist. Damit dieser Aufstieg gelingt, muß sich
das ganze System des Wissens ändern, ein revolutionärer Prozeß,
der für das moderne Europa charakteristisch ist und der im 15. Jahr-
hundert beginnt und im 18. Jahrhundert, also in der Zeit der
Encyclopédie, allmählich zu einem Abschluß kommt. Der dann er-
reichte Zustand hält etwa bis 1950 an. Danach übernimmt eine der
aufgestiegenen Volkssprachen das ganze obere Geschoß und
schubst die anderen wieder in die Niederungen des Alltags zurück.
Was muß geschehen, damit Wissenschaft Forschung wird? Die
Neugier muß sich wieder etablieren, die von Augustinus verdammte
concupiscentia oculorum, die Augengier, muß sich wieder einstel-
len. Sobald der europäische Geist in der Renaissance aufwacht aus
seiner Stasis, geschieht ein Doppeltes: Einerseits ereignet sich etwas
Revolutionäres in der Bücherwelt, also in jener Welt, die für die Ge-
lehrten vor allem zählt. Andererseits vollzieht sich Neues in der
wirklichen Welt. D. h. einerseits kommen neue Bücher, die Bücher
der heidnischen Antike, in den Blick der Gelehrten. Damit erneuert
sich auch das philosophische, historische, theologische Denken, je-
denfalls sofern es von Büchern abhängt. Hinsichtlich der Sprache
wird durch die Begegnung mit den antiken Texten die Sprache der
Gelehrsamkeit, das Lateinische selbst, renoviert (so wie in der bil-
156
denden Kunst die antiken Formen wieder hergestellt werden): Die
Philologie entdeckt die Texte der Antike, und die Gelehrten restau-
rieren das Lateinische, das bis dahin eher eine einigermaßen verwil-
derte koinè war, zu einer glanzvollen Literatursprache. Elegantiae
linguae latinae progagiert der Oberhumanist Lorenzo Valla. Diese
zweite Latinität gibt der neuen alten Sprache sogar die Weihen
eines Sakraments: sacramentum linguae latinae. So heilig war die
Sprache vorher nie. Die Feier des Lateinischen wird außerdem von
dem neuen Medium des Buchdrucks enorm verstärkt: lateinische
Bücher werden überall in Europa gekauft und gelesen.
Dieser Erfolg des Lateinischen ist aber gleichzeitig auch sein
Problem: Die sprachlichen Standards werden so hoch, daß nur ein
extrem zeitaufwendiges Training die aktive Teilnahme an den
humanitates erlaubt. Genau das kritisieren die Gegner der Huma-
nisten wohl zu Recht als Zeitverlust. Das renovierte Latein ist jetzt
noch weiter von der Sprache des Volkes entfernt, als es das mittelal-
terliche Latein jemals war, das zwar nicht sehr schön, aber doch ein
ganz praktisches internationales Ausdrucks- und Kommunika-
tionsmittel war.
Zweitens befreit sich das Denken von der Herrschaft der lateini-
schen Bücher, allerdings durchaus befördert von dem freieren Blick
auf die Welt, den die antiken Texte eröffnen und der das eigene
Können beflügelt. Ein Denken artikuliert sich, das nicht von diesen
Büchern abhängt, sondern das aus der handwerklichen Praxis
stammt. Menschen, die etwas können, Künstler oder – wie Dürer
sie nennt – «Werkleute»1 schreiben ein Wissen auf, das aus dem
Handeln und aus der Erfahrung stammt2 und dessen sprachliches
Medium die Volkssprache ist. Leonardo Olschki (1919–27) hat das
in seiner Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Litera-
tur klassisch beschrieben: Männer, die etwas mit den Händen tun –
Maler, Architekten, Chirurgen, Militärs – schreiben auf, was sie
können und neu erfinden: der Baumeister Alberti, der Mathemati-
ker Pacioli, Leonardo in Italien, Dürer in Deutschland, Ambroise
Paré, der Arzt der französischen Könige, in Frankreich. Das Neue
kommt nicht aus Büchern, sondern aus dem eigenen Tun.
Dieses Handwerklich-Technische geht dann aber rasch auch ins
Theoretische, also im engeren Sinne Wissenschaftliche über. Die
Mathematik folgt den praktischen Disziplinen auf dem Fuß. Galilei
157
repräsentiert schließlich diesen Neuen Wissenschaftler proto-
typisch: Das Experiment und die Mathematik sind die Säulen der
neuen Wissenschaft. Und Galilei wählt ganz bewußt die Volks-
sprache als ihr sprachliches Medium: Sein Nuntius sidereus ist
noch lateinisch, den Saggiatore, den Dialogo und die Discorsi aber
schreibt er in der Volkssprache. Mit Galilei hat die Volkssprache
ihren ascensus in die Sphäre der Wissenschaft geschafft. Während
sie bei Alberti, Paré oder Dürer noch «unten», bei den «Werkleu-
ten», war, ist sie bei Galilei die stolze Alternative zur lateinischen
Sprache der Schule und der Büchermenschen – und natürlich auch
der Kirche. Sie ist aufgestiegen in die Hohe Sphäre der Wissen-
schaft, die sich stolz eine Neue Wissenschaft nennt und es ja tat-
sächlich in jeder – auch in sprachlicher – Hinsicht ist.
7.2.5. Ich betrachte nun die Argumente für den Gebrauch der
Volkssprache in den folgenden fünf Punkten etwas näher.
7.2.5.1. Ich beginne mit dem fehlenden Argument, mit dem Lob der
Volkssprache. Das Lob der Volksprache ist ansonsten von Anfang
an Bestandteil der Rechtfertigungsstrategie: So lobt schon Alberti
in den 1430 er Jahren sein heimatliches Toskanisch, weil es lexika-
lisch besser ausgestattet sei für die Bezeichnung der praktischen Er-
161
fahrungen der Baukunst als das Schullatein oder das restaurierte
Cicero-Latein. Daß die eigene Volkssprache für die Wissenschaft
besonders geeignet sei oder gar besser als das Lateinische, wird mit
dem Aufstieg der Volkssprachen immer frecher behauptet: Am
kühnsten z. B. wenn französische Autoren im 17. und 18. Jahr-
hundert feststellen, daß die französische Syntax – die Wortstellung
Subjekt-Prädikat-Objekt – dem logischen Gang der universellen
Vernunft entspreche, während man auf Lateinisch sozusagen ver-
kehrt herum denken müsse. Dies ist natürlich ein starkes Argument
zugunsten des Französischen als universaler Wissenschaftssprache.
Galilei lobt die «ricchezza e perfezion di tal lingua [la nostra favella
fiorentina], bastevole a trattare e spiegar e’ concetti di tutte le facolt-
adi», also «den Reichtum und die Vollkommenheit unserer floren-
tinischen Sprache, die die Begriffe aller Vermögen behandeln und
ausdrücken kann» (Galilei 1953: 951). Und Leibniz hebt den rei-
chen Wortschatz des Deutschen im Bergwerkswesen hervor.
Dies sind strukturelle Vorzüge der Sprachen als langues. Tradi-
tionellerweise wird aber eher – bis heute – die Qualität einer Spra-
che an der Qualität der Sprecher oder bestimmter Texte festgemacht:
die Sprache Goethes, die Sprache der Freiheit, der Erklärung der
Menschenrechte etc. Diese textuellen oder pragmatischen Eigen-
schaften verweisen auf bestimmte Qualitäten der Sprachgemein-
schaft, auf die ich unter dem Punkt «patria» zu sprechen komme.
7.2.5.5. Der letzte Grund für den Gebrauch der Volksssprache ist
die Bevorzugung der Nähe. Pomponazzi spielt an der schon an-
geführten Stelle die patria als Land der Nähe gegen die Leute von
jenseits der Berge, die oltramontani, gegen la Magna, das (deutsche)
Land der Ferne, aus. Telekommunikation ist ihm gleichgültig,
Nähekommunikation zählt allein. Dieser Grund scheint mir in
der Diskussion der am meisten ausgearbeitete zu sein.
Patria kann dabei sehr verschiedene geographische oder so-
ziale Ausdehnungen haben. Sie wird positiv durch die Nennung der
Mitglieder der gesuchten Nähe-Gemeinschaft bestimmt, oft aber
auch nach außen negativ abgegrenzt. Für Speronis Pomponazzi ist
patria geographisch das Gebiet eines bestimmten italienischen Dia-
lekts, nicht einmal das ganze Italien. Sozial abgegrenzt ist es impli-
zit von den humanistischen Büchermenschen, die eine ganz andere
Vorstellung von Wissenschaft und Sprache haben als der Neue
Naturwissenschaftler. Galilei nennt das Volgare «la nostra favella
fiorentina» und lokalisiert es damit präzise in seiner eigenen Umge-
164
bung: in Florenz. An diesem Näheort sind es dann die Gesprächs-
zirkel, die «Accademie», aber auch die ganze Stadt, «tutta la città»,
die die Volkssprache vorziehen (Galilei 1953: 951). Die gesuchte
Nähegemeinschaft besteht sozial offensichtlich aus allen Schichten
der Gesellschaft: «Io l’ho scritta vulgare, perché ho bisogno che
ogni persona la possi leggere» (Galilei 1953: 985): «ogni persona»,
Menschen aller Schichten der Gesellschaft, und eben nicht nur
die Gelehrten in der Schule. Diese Opposition zur Schule wird
deutlich, wo Galilei als ganz besonderen Grund zum Gebrauch
der Volkssprache das Ausschöpfen der Begabtenreserve nennt: Er
möchte begabte junge Leute erreichen, die zu den arbeitenden
Menschen der Stadt gehören und keine lateinischen Bücher lesen,
die er als alte Wälzer aus einer überholten alten Welt charakterisiert
(Olschki 1919–27 III: 245). Galilei bringt also ausdrücklich als
seine patria, als seine Kommunikationsgemeinschaft, ein junges,
begabtes, aktives Publikum seiner Vaterstadt gegen die alte Latein-
Welt der Schulgelehrsamkeit in Stellung. Die internationale For-
schergemeinschaft, die ihm die Wahl der Volkssprache als Irrweg
vorwirft, stellt er damit zufrieden, daß er sich darum kümmert, daß
seine Schriften für die oltramontani, die Fernen hinter den Bergen,
ins Lateinische übersetzt werden. Das will er aber nicht selber tun,
da er zu beschäftigt sei: «occupatissimo» (Galilei 1953: 985). Bei
Galilei haben wir – wie ich finde – die vernünftige Lösung des Pro-
blems der Telekommunikation: die Übersetzung.
Auch bei Descartes ist die Volkssprache die Sprache seines Lan-
des, das geographisch nicht genau definiert ist, «mon pays», das
dann sozial näher als die positive Gemeinschaft derer, die sich ihrer
«natürlichen Vernunft bedienen», bestimmt wird, im Gegensatz zur
Schule und den Lehrern und denen, die nur den «alten Büchern
glauben» (Descartes 1637: 118).
Wenn Thomasius 1687 dann in A-la-mode-Kleidung an der Uni-
versität Leipzig auftritt, statt im üblichen mittelalterlichen Talar,
und zum ersten Mal auf deutsch – mit vielen französischen Ein-
sprengseln übrigens – wissenschaftlich zu sprechen beginnt, dann
ist damit soziologisch präzise die patria markiert, in der die Wis-
senschaft nun agieren möchte: eine sozial offene, mondäne Stadt in
einem Deutschland, das sich der modernen Welt nicht verschließt,
sondern an der französisch gefärbten Weltkultur teilhat. Diese Welt
165
spricht nicht mehr lateinisch, aber sie spricht auch nicht franzö-
sisch, sondern deutsch.
Also: die «patria», «mon pays», «tutta la città» ist die Sprach-
gemeinschaft der Nähe gegenüber einer Sprachgemeinschaft der
Ferne, deren Distanz gar nicht vorrangig geographisch, sondern vor
allem sozial, kulturell und geistig-zeitlich charakterisiert ist. Der
Vorteil der internationalen Kommunikation, den das Lateinische
bietet und den ja die Autoren durchaus sehen, wiegt ganz offen-
sichtlich die kulturellen, geistigen und sozialen Nachteile dieser
lateinischen Welt nicht auf. Neue Wissenschaft gedeiht nur in der
Sprache der Nähe, der Nähe zu den Menschen und der Nähe
zu den erforschten Sachen. Der Nachteil der erschwerten Tele-
Kommunikation ist leicht durch eine Übersetzung, die ein anderer
machen kann, zu beheben.
Aber: was einmal kein Irrweg war, könnte ja jetzt einer sein. Diese
Vermutung will ich abschließend diskutieren.
Bei all dem möchte ich aber doch, daß auch John Smith und die
anderen Transatlantischen mein Buch lesen könnten. Aber hier
brauchte ich eben, weil ich selber höchst beschäftigt bin, einen
großen Gefallen von Ihnen und von Herrn S., nämlich daß er so
freundlich sein möge, mir das Buch umgehend ins Englische zu
übersetzen.
8. Sprache und Revolution
174
8.2. Sprache und Denken
184
8.3.2. Révolutionner le français
Wenn das Problem der verschiedenen Sprachen gelöst ist, bleibt nur
das Französische als – wie es heißt – «universelle» Sprache der auf-
geklärten Republik übrig. Aber auch mit dieser Universalisierung
des Französischen wäre das Sprachproblem noch nicht ganz vom
Tisch. Mit der Eliminierung der wilden Sprachen sind zwar die
schlimmsten Quellen des Vorurteils ausgeräumt. Das Französische
selbst enthält aber ebenfalls noch Vorurteile, idola fori, die elimi-
niert werden müssen. Auch das Französische ist ja noch eine Spra-
che, deren Wörter von dem (dummen) «Volksverstand», dem «vul-
garis intellectus» (Bacon), geformt wurden und nicht von den
Wissenden. Das Französische selbst ist also zu reformieren – oder,
wie man sagte, zu «revolutionieren».
Nicht nur die Sympathie mit den Regionalsprachen, auch die
Sympathie mit dem Französischen, d. h. mit dem «unbestimmten»,
unwissenschaftlichen oder alten Denken, das im Französischen als
einer Volkssprache notwendigerweise noch enthalten ist, schwand
im Stress des revolutionären Kampfes. So etwa angesichts der
Tatsache, daß die royalistische – oder sonstige – Opposition, die ja
durchaus Französisch sprach, einfach nicht vom alten Denken las-
sen wollte. Diese französischsprechenden Konterrevolutionäre
dachten z.B immer noch «roi», «König», wo sie diesen Gegenstand
doch schon längst anders denken sollten, nämlich als «tyran».
Altes, unwissenschaftliches, wildes Denken, die alten Götter, die
idola fori der alten Sprache (oldspeak) sind noch in den Köpfen der
Franzosen.
Was tun? Hier ist ja tatsächlich die Guillotine eingesetzt wor-
den. Bei einigen Franzosen, die immer noch «roi» dachten und
vermutlich auch noch nach der alten aristokratischen Aussprache
[rwε] sagten und nicht volkstümlich [rwa], unter anderen beim
König selbst, ist das alte Denken mit ihrem Kopf gefallen. Den-
noch hat dies das alte Denken nicht ausgerottet. Man ist daher
auch hier anders vorgegangen, im wesentlichen mit zwei Maß-
nahmen.
Erstens ist an der Sprache selbst gearbeitet worden, so wie es
Locke und Condillac vorgeschlagen hatten. Die revolutionäre
Umgestaltung der Gesellschaft bringt eine große Zahl neuer Wörter
185
hervor, z. B. für die neuen Institutionen, für Maße und Gewichte,
für den neuen Kalender etc. Eine neue Semantik im Sinne der
Revolution ist erarbeitet worden, z. B. in revolutionären Wörter-
büchern.10 Mit der Reform der Sprache, also der Angleichung des
in den Wörtern sedimentierten Denkens an die richtigen Ideen, ent-
steht die richtige, die neue Sprache: newspeak. Eine solcherart
reformierte Sprache ist universell, weil ja ihre Semantik universel-
len Ideen entspricht. Eine nach den Prinzipien der Vernunft und
der Wissenschaft reformierte Sprache ist prinzipiell keine histori-
sche Einzelsprache mehr, sondern eine Universalsprache. Das von
der politischen Revolution reformierte Französisch ist also gar
nicht mehr Französisch, français, sondern Sprache der Menschheit:
«universalais» oder «humanais». Sofern es die verschiedenen Spra-
chen, mit denen die Menschheit seit Babel gestraft sind, hinter sich
läßt, ist dieses Universal-Französisch damit natürlich auch die
Sprache des Paradieses, die Sprache des neuen Paradieses.
Die Französische Revolution ist nämlich nach den religiösen
Mythen, die eine so große Rolle gespielt haben bei der Etablierung
dieser Neuen Kirche, kein neues Pfingsten. Pfingsten ist zwar das
biblische Ereignis, das den Weg aus dem Fluch von Babel weist.
Der pfingstliche Weg ist aber der Weg der Mehrsprachigkeit: Die
Apostel verkünden dieselbe Frohe Botschaft in mehreren Sprachen.
Dies aber tut die Revolution gerade nicht mehr. Sie hatte es ver-
sucht, es war ihr aber nicht gelungen. Deswegen geht sie einen
radikaleren Weg: Sie kassiert den Fluch von Babel und errichtet ein
Neues Paradies mit einer einzigen Sprache, die sie zur «natürlichen
Sprache» der Menschheit revolutionär transformiert. Das revolu-
tionierte Französisch ist die neue lingua adamica.
Es bedarf aber, zweitens, noch weiterer Anstrengungen zur Rea-
lisierung dieses sprachlichen Paradieses. Es ist nämlich noch eine
Methode vorzusehen, wie den französischsprachigen Franzosen die
universelle Semantik beigebracht werden kann. Wie bei den stören-
den fremden Sprachen ist eine Erziehungsmaßnahme zu ergreifen,
um die Vorstellungen der Revolution zu verbreiten. An dieser
systematischen Stelle ist das Projekt der Écoles normales und der
Écoles centrales angesiedelt. Die Etablierung einer «Normalschule»
für die Lehrer und eines ganzen Netzes von zentralen Schulen in
allen Départements des Landes verfolgt den Zweck, die Elite der
186
Schüler – die enfants sages – im Sinne der Revolution zu erziehen.
Es versteht sich von selbst, daß dem Curriculum dieser Schulen eine
Theorie der Erkenntnis und der Sprache zugrunde gelegt und auch
explizit gelehrt wird, die den hier geschilderten Vorstellungen ent-
spricht, im wesentlichen Condillacs Theorie des Geistes und der
Sprache: ein allmählicher Aufstieg des Geistes aus den sinnlichen
Empfindungen des Menschen über die Aufklärung der Sprache bis
hinauf zur Vernunft.11 In diesen Schulen werden die enfants sages
von aller Wildheit befreit. Sie steigen auf zu rationaler Wissen-
schaftlichkeit. Falls sie noch wilde Vorstellungen hegen, wie sie
etwa die Semantik des Französischen als historischer Einzelsprache
enthält (Beispiel: «roi»), so werden ihnen diese durch das wissen-
schaftliche Curriculum zur Erlernung der Sprache des Fortschritts,
der Demokratie und der Aufklärung endgültig ausgetrieben.
194
9.2. Die Sprache Europas
Soweit die Aufzählung der Probleme, die mit der Frage «Welche
Sprache für Europa?» verbunden sind. Wenn diese Frage wirklich
noch offen wäre, dann wäre meine Antwort: «natürlich Latein!»
Das Lateinische ist wie das Englische eine schöne Sprache, mit der
man alles sagen kann. Man kann auf Lateinisch nicht nur über
Theologie und Philosophie sprechen, sondern auch über Physik
und Geschichte sowie über Kühlschränke, Computertechnik, Busi-
ness usw., und man kann auch fragen, wie man zum Flughafen
kommt. Der Vatikan hat diese Sprache, die man immer nur mit
der alten Welt und der Kirche verbindet, nämlich lebendig und mo-
dern gehalten und kontinuierlich neue lateinische Wörter für neue
Lebenswirklichkeiten generiert. Das Lateinische ist eine voll ausge-
baute Sprache, die für die internationalen europäischen Zwecke
durchaus geeignet wäre. Es hätte gegenüber dem englischen Globa-
lesisch zwei Vorteile:
Erstens wäre es wirklich eine europäische Sprache. Es repräsen-
tiert und trägt wie keine andere die europäische Identität. Es ist die
Sprache des alten Europa, zu dem übrigens auch das gehört, was in
böser politischer Absicht das «neue Europa» genannt wurde. Denn
diese Sprache ist die Sprache Roms gewesen, und «Rom» – das Im-
perium, das Recht, die Kirche, die Universität – war als Erbin
Athens und Jerusalems jahrhundertelang Europa. Ein sinnvoller
kultureller Begriff von Europa bezieht sich auf «Rom», in dem
Athen und Jerusalem aufgehoben sind, wie Rémi Brague 1992 in
seinem großartigen Buch über Europa gezeigt hat: Europe, la voie
romaine. Europas Kultur und Identität ist der «römische Weg».
Und die Sprache, die diese Kultur getragen hat, war das Lateinische.
In dieser Sprache ist der wesentliche Teil des europäischen Ge-
dächtnisses aufbewahrt. Das Lateinische ist das Fundament oder
das Gefäß europäischer Geistigkeit, womit ich nicht nur die antike
Literatur – Cicero, Vergil, Horaz – meine, sondern ebensosehr die
christliche Tradition von Augustinus bis zu den humanistischen
und modernen lateinischen Texten in Wissenschaft, Recht und Phi-
losophie. Kant hat ebenso wie Giambattista Vico noch im 18. Jahr-
hundert seine ersten Werke auf Lateinisch geschrieben, bis beide
195
dann zu den jeweiligen Nationalsprachen übergegangen sind. «Eu-
ropäische Identität», wenn man sie denn in einer Sprache situieren
möchte, hätte im Lateinischen einen sprachlichen Ort.
Der zweite, immense Vorteil wäre, daß das Lateinische nieman-
des Muttersprache ist. Niemand hätte ein Privileg, alle müßten diese
Sprache als Zweitsprache erwerben. Das Lateinische ist ungefähr
seit dem 9. bis 10. Jahrhundert niemandes Muttersprache mehr.
Seitdem haben sich nämlich die romanischen Sprachen so sehr vom
Lateinischen entfernt, daß auch in den romanischen Ländern das
Lateinische eine Sprache geworden war, die man in der Schule
lernen mußte und die nicht mehr die «natürliche» Erstsprache der
alltäglichen Umgebung, die «Muttersprache», war. Die berühmte
späte Ausnahme ist Montaigne im 16. Jahrhundert. Er hatte einen
deutschen Erzieher, der ihn lateinisch sozialisierte, so daß tatsäch-
lich das Lateinische seine Muttersprache war. Da das Lateinische
heute aber niemandes Muttersprache mehr ist und von allen als
Zweitsprache erworben werden müßte, hätten wir eine gerechte
Diglossie: Oben, d. h. für die wichtigen Diskurse, für die Wissen-
schaft, die internationalen Beziehungen, für die Geschäfte, das von
allen zusätzlich gelernte Latein und unten, d. h. für den Alltag und
für die Dichtung, die «natürlich erworbenen» Volkssprachen. Wie
im Mittelalter.
An dieser historischen Diglossie, an dieser Zweisprachigkeit
des ganz alten Europa kann man allerdings auch die Gefahren auf-
zeigen, in die wir uns auch mit dem Lateinischen als Sprache Euro-
pas begeben würden. Die Gefahren gelten für das Lateinische ge-
nauso wie für das Englische. Auch das Lateinische wäre – und war
– ein «Sprachenkiller»: Erstens hat man im Mittelalter zwar Latei-
nisch als «obere» Sprache gelernt, aber kaum jemand ist bis ins
16. Jahrhundert hinein auf die Idee gekommen, irgendeine andere
Sprachen zu lernen (die vermeintlichen Ausnahmen – Französisch
für die Epen-Dichtung, Niederdeutsch für die Hanse – bestätigen
die Regel der Exklusivität der «wichtigen» Sprache). Zweitens hat
natürlich auch das Lateinische die Volkssprachen stark beeinflußt.
Das Deutsche z. B. ist eine zutiefst latinisierte Sprache. Ohne das
Lateinische kann man sich das Deutsche eigentlich gar nicht erklä-
ren. Aus der Sicht dieser historischen symbiotischen Bereicherung
müßte vielleicht die von mir eingangs beklagte massive Beeinflus-
196
sung des Deutschen durch das Englische anders bewertet werden.
Doch das sei einmal dahingestellt. Drittens würden auch mit dem
Latein als Hoch-Sprache Europas die Nationalsprachen wieder zu
Sprachen reduziert, deren Ausbau zurückgenommen, deren Status
niedriger und deren Reichweite geringer wäre als bisher, ja deren
Existenz in der Konkurrenz mit den Dialekten und Regionalspra-
chen sogar gefährdet wäre. Wir hätten wieder die mittelalterliche
Trennung in Wissende und Unwissende, in oben und unten, oben
Latein und unten die Volkssprachen. Dies war ja die Sprachsitua-
tion Europas bis ins 16. Jahrhundert.
Gerade aber weil sie unerträglich war, hat Europa diese Diglossie
aufgegeben in einem Prozeß der sprachlichen Emanzipation, der im
16. Jahrhundert begann und etwa im 19. Jahrhundert vollendet war.
Die Aufgabe des Lateinischen war ein großer kultureller und poli-
tischer Fortschritt, der die angedeuteten, mit der Diglossie zusam-
menhängenden Trennungen aufgehoben hat.6 Europas Abschied
von der alten Sprache Europas impliziert eine ganze Serie von Be-
freiungen: Die Aufgabe des Lateinischen war eine politische und
soziale Befreiung. Der französische König hatte z. B. im 16. Jahr-
hundert dekretiert, daß in Verwaltung und Gerichtsbarkeit seines
Königreichs das Französische verwendet werden mußte, weil er
wollte, daß das Volk etwas versteht, d. h. daß das Volk an Ver-
waltung und Rechtssprechung teilnimmt. Die Maßnahme wird
zwar im Rahmen einer Monarchie getroffen, sie ist aber durchaus
«demokratisch», sofern sie auf die Partizipation der Bürger zielt.
Die Aufgabe des Lateins hängt mit der Emanzipation und dem
Aufstieg des Bürgertums zusammen. Das Klassensystem des Mit-
telalters – Kirche, Ritter, Bauern – wird erschüttert, das Bürgertum
wird die bestimmende ökonomische Klasse, die zunächst auch die
neu entstehenden Nationalstaaten und deren Sprachen als ihren
Aktionsraum betrachtet. Die religiöse Befreiung, die Reformation,
ist ohne Abschied vom Lateinischen nicht zu denken. Sie hat in
Deutschland das Deutsche, in Frankreich das Französische als ihr
sprachliches Medium benutzt bzw. diese Sprachen als Medien für
197
den gesamten Sprachraum auch erst geschaffen. Religiöse Befreiung
bedeutet hinsichtlich der Sprache: Zwischen mir und Gott steht
kein Priester mehr, der in einer fremden Sprache – Lateinisch – ver-
mittelt. Ich spreche selbst mit meinem Gott, in meiner Sprache.
Damit geht eine weitere intellektuelle Befreiung einher, die das
Lateinische hinter sich läßt: Die Nichtwissenden, die «Laien» (und
Frauen), die durch die lateinische Sprachbarriere am Wissen gehin-
dert wurden, wollen es wissen, und sie wollen, daß ihnen das Wis-
sen in ihrer Sprache zur Verfügung gestellt wird. Und schließlich:
Es entsteht eine neue Art von Wissenschaft, eine, die etwas mit den
Händen macht, die experimentiert. Die Wissenschaftler im Mittel-
alter haben im wesentlichen Bücher gelesen, sie haben das Wissen
aus den lateinischen Büchern geschöpft. Sie haben nicht gehandelt,
keine Sachen, z. B. einen Apfel, in die Hand genommen und fallen
lassen. Die experimentierenden Wissenschaftler sind Handelnde,
die sich ganz bewußt vom Lateinischen abwenden, weil sie die
Sprache derer sprechen wollen, die im Leben stehen und im Han-
deln Neues schaffen und denken.
Die mittelalterliche Diglossie, oben Latein und unten Volksspra-
chen, verschwindet also seit dem 16. Jahrhundert, und die Volks-
sprachen übernehmen die Aufgaben der hohen Diskurse. In der
Verwaltung, in der Kirche, in den Wissenschaften werden Volks-
sprachen verwendet (gedichtet wurde sowieso immer eher in der
Volkssprache als auf Latein). Die prestigereichen Diskursdomänen
des Lateinischen werden von den Nationalsprachen erobert, die aus-
gebaut werden und ihren Status beträchtlich erhöhen. Das Lateini-
sche verzieht sich in immer kleinere internationale Bereiche: z. B. in
die katholische Kirche oder, bis ins 18. Jahrhundert, in die Diplo-
matie, bis dann das Französische diese Funktion für eine gewisse
Zeit übernimmt.
Europa soll vor allem nicht das tun, was Deutschland tut. Es soll
erstens nicht die eigene Sprache vollmüllen mit globalesischen Wer-
besprüchen, mit überflüssigen und snobistischen Entlehnungen,
nur weil das cool ist. Die Übertreibung der Coolness ist nämlich
überhaupt nicht cool, sondern Zeichen einer ziemlich uncoolen
Haltung, der Affektiertheit, der «affettazione», wie das Baldassar
Castiglione nannte. Castiglione, der den Typ des coolen jungen
Mannes als kulturelles Modell Europas geschaffen hat, nannte die
snobistische Übertreibung der fremdsprachigen Entlehnungen ein
«vicio odiosissimo», eine besonders verächtliche Verletzung des
Modells des modernen Europäers.8
Auch sollte Europa nicht den zweiten Fehler Deutschlands wie-
derholen: es sollte nicht in vorauseilender Beflissenheit dem Glo-
balesischen dort Sprach-Räume öffnen, wo es gar nicht nötig ist.
In Schulen, deren Direktoren sich besonders engagieren, die be-
sonders modern sein wollen, werden jetzt in Deutschland z. B.
Geschichte, Politik und Naturwissenschaften auf Englisch unter-
richtet. Diese Diskursdomänen können die jungen Deutschen, die
201
diesen Immersionsunterricht genossen haben, dann zukünftig nicht
mehr auf Deutsch besprechen. Vor allem für die Geschichte ist
dies geradezu fatal. Globalesischer Geschichtsunterricht ist nicht
nur fehlgeleiteter Kosmopolitismus, sondern auch eine sichere Me-
thode, die eigene Geschichte als fremde zu erleben (die mich dann
auch nichts mehr angeht), etwa nach dem Muster: «The German
Prime Minister’s name was the Führer. The Führer Adolf Hitler’s
office was called Reichskanzlei» etc. etc. Es ist auch nicht nötig, daß
unsere Universitäten zunehmend Curricula auf Englisch anbieten
(als ob damit auch nur ein einziger Student von englischen oder
amerikanischen Universitäten abgeworben werden könnte). Denn
zur Einführung in die Wissenschaft ist es eigentlich ganz gut, wenn
man die Leute da abholt, wo sie sind, d. h. (noch) in ihrer eigenen
Sprache. Sicher ist es vernünftig, in manchen Graduiertenstudien
oder zur Vorbereitung auf internationale Kongresse Englisch zu
sprechen.
Die Gründe, warum vor allem die Deutschen so begierig aus
ihrer Sprache auswandern, sind evident. Sie wollen heraus aus ihrer
Nazisprache. Wenn wir diese Sprache nicht mehr sprechen, merkt
niemand mehr, daß wir einmal diese Sprache gesprochen haben (die
uns überall auf der Welt aus den Fernsehern Naziparolen entgegen-
brüllt), wir sind entsühnt. Die Erinnerung an den Nationalsozialis-
mus scheint mir der besondere Grund für die massive Übertreibung
des Englischen in Deutschland, für den Austritt aus der eigenen
Sprache, dem wir im nächsten Kapitel ausführlicher nachgehen.
Dies ist nicht nur wieder einmal besonders deutsch, es ist auch un-
europäisch. Denn die anderen Völker Europas wollen ihre Sprachen
nicht aufgeben. Die merkwürdigen transnationalen Deutschen in
ihrer Mitte sollten ihnen Sorgen machen.
Was also können wir Europäer tun, wenn wir nicht das tun, was
die Deutschen tun? Welche Sprache für Europa?
Nicht eine, sondern (mindestens) drei Sprachen für Europa.
Erstens. Europa ist eine Kultur in mehreren Sprachen. Alle Spra-
chen sind Erben des römischen Lateins und des lateinischen Rom,
das seinerseits Athen und Jerusalem beerbt hat. Daher bleibt es die
erste sprachliche Pflicht der Europäer, die eigene Sprache zu för-
dern und zu pflegen, die diese europäische Kultur weitergetragen
hat und immer noch trägt. Die erste Sprache für Europa ist die
202
eigene. In Deutschland wäre das Deutsche zu pflegen und zu för-
dern. Man könnte daran denken, den Deutschunterrricht zu ver-
stärken, statt ihn zu schwächen. Der Deutschunterricht wird aber
bei allen guten Absichten in den derzeitigen Post-PISA -Diskussio-
nen schon konzeptuell im Kern geschwächt, wenn kluge Bildungs-
berater diesen Unterricht in der Sprache der Nation – der Termi-
nus «Muttersprache» paßt ja wirklich nicht mehr – als einen
Unterricht in der «Verkehrssprache» fassen.9 Ich kann mir schlicht
keinen Menschen vorstellen, der eine engere geistige und emotio-
nale Bindung zu einer «Verkehrssprache» aufbaut. Er soll es offen-
sichtlich auch nicht: Die «Verkehrssprache» wird als «rationale
Sprache» völlig von «nichtrationalen Kommunikationstechniken»
(damit sind die Künste gemeint!) getrennt und hat offensichtlich
keine ästhetisch-poetische, «nichtrationale» Dimension, die eine
emotionale Bindung an die Sprache ermöglichen würde.10
Es wäre auch wichtig, daß die Wissenschaften, die die Kultur er-
forschen und fortschreiben, die jeweilige Sprache, in unserem Fall
das Deutsche, weiterverwenden. Daß die Naturwissenschaften
Englisch sprechen und schreiben, ist zwar für den Ausbau und den
Status der Nationalsprache problematisch, andererseits aber ist es
(vielleicht) für diese Wissenschaften insofern nicht besonders
schlimm, als die Sprache bei diesen Tätigkeiten eine instrumentale
und untergeordnete Rolle spielt. Aber in den Kulturwissenschaf-
ten, in denen die Produktion von Texten, die sprachliche Aktivität
selbst das wesentliche wissenschaftliche Tun ist, sollten wir die
Sprache benutzen, die wir am besten können, und das ist – derzeit
jedenfalls – immer noch das Deutsche.
Zweitens. Natürlich müssen alle Englisch können, das ist ganz
klar, das brauchen wir zur internationalen Kommunikation, dar-
über braucht man gar nicht mehr zu sprechen. Globales Englisch
ist eine kommunikative Kulturtechnik, ihr Erwerb sollte vielleicht
auch nicht mehr «Fremdsprachenunterricht» heißen. Das Globale-
sische ermöglicht uns die Kommunikation mit allen Menschen der
Welt, also auch mit den anderen Europäern. Allerdings könnte der
Globalesischunterricht erheblich reduziert werden, eben auf den
Erwerb von Kompetenzen in internationalen Kommunikations-
situationen, d. h. neben den Alltagssituationen (Flughafen, Restau-
rant etc.) insbesondere wissenschaftliche, technische, kommerzielle,
203
administrative. Die derzeitigen übertriebenen Lernziele des Globa-
lesischunterrichts – quasi-muttersprachliche Kompetenz – wären
zu überdenken. In den oberen Klassen der Gymnasien, wo er ja
inzwischen gleichsam zu einer Verdoppelung des Unterrichts in der
Nationalsprache geworden ist, könnte die Zeit für wirklichen
Fremd-Sprachen-Unterricht genutzt werden.
Ich meine damit, drittens, daß man Sprachen nicht nur zum
effektiven Kommunizieren lernt – das machen wir ja schon mit dem
Englischen – , sondern daß man sich eine andere europäische Spra-
che wirklich als einen Kulturgegenstand zu eigen macht, daß man
eine fremde Sprache als einen Bildungsgegenstand erwirbt. Das
Problem des aktuellen Sprachenlernens in den Schulen ist doch, daß
die weiteren Fremdsprachen mit demselben Lernziel angeboten
werden wie das Englische: effektive internationale Kommunika-
tion. Das ist aber ziemlich uninteressant, wenn man dieses Ziel so-
wieso schon mittels des Englischen erreichen kann. Daher sollte an
ein ganz anderes Erlernen dieser dritten Sprache gedacht werden.
Lernziel des Fremdsprachenunterrichts sollte nicht allein die soge-
nannte kommunikative Kompetenz sein, sondern das – durchaus
auch kognitive – Kennenlernen der anderen Struktur der fremden
Sprache, das Lesen bedeutender Texte und die Anfreundung mit
der Kultur der Länder, in denen diese Sprache gesprochen wird.
Hier könnte wieder das alte Latein ein Vorbild sein: Der klassische
Lateinunterricht – wäre er jemals intelligent erteilt worden – hatte
eigentlich genau diese Aufgabe: Kennenlernen der Struktur des
Lateinischen, Lesen wichtiger Texte in dieser Sprache, Kennenler-
nen der Kultur, die sich in dieser Sprache ausdrückte, kurz: Bildung.
Das Ungarische, das Italienische, das Polnische sind genauso wert-
volle Gegenstände sprachlicher Bildung wie die klassischen «Bil-
dungssprachen» Latein und Griechisch (die man aber natürlich
ebenfalls nicht aus dem europäischen Sprachcurriculum verbannen
sollte).11
Welche Sprache für Europa? Der Singular ist falsch. Es geht um
mindestens drei Sprachen, von denen jede in verschiedener Hin-
sicht eine Sprache «für Europa» wäre: eine für die je eigene europä-
ische Identität, eine fürs praktische internationale Kommunizieren
(nicht nur) in Europa und mindestens eine für das Verständnis des
europäischen Anderen.
10. Die gebellte Sprache: Über das Deutsche
Am 26. Mai 2006 hatte der berühmte britische Komiker John Cleese
von Monty Python in einem Interview mit der FAZ folgendes
bemerkt: «Viele Engländer, die wie ich ihre Jugend damit verbrach-
ten, im Kino dauernd zu sehen, wie sich Engländer aus deutschen
Kriegsgefangenenlagern befreien, denken, Deutsch sei eine Sprache,
die gebellt wird.» Daß das Deutsche gar keine gesprochene, son-
dern eine gebellte Sprache ist, ist nun nicht nur eine irgendwie
ulkige englische, sondern eine ziemlich schreckliche gesamteuropä-
ische Erfahrung. Ganz Europa hat das deutsche Gebell gehört, es
hat sich tief in das Gedächtnis der Völker eingegraben. Und Europa
und Amerika haben dieses Gebell in Hunderten von Filmen über
den Krieg und die deutschen Greueltaten immer wieder nachge-
spielt. Wenn man heute in Italien oder in Großbritannien den Fern-
seher einschaltet, schallt einem in kürzester Zeit gebrülltes Deutsch
entgegen: «Jawoll, Herr Obersturmbannführer!», «Antreten!» etc.
Das Gebell ist in den Medien Europas präsent, es gibt keine Hoff-
nung auf ein Verklingen. Die mediale Endlosschleife stellt das ge-
bellte Deutsch ewig ins Gedächtnis der Völker. Das im Krieg und in
den Konzentrationslagern gebrüllte Deutsch hat die Stellung dieser
Sprache in der Welt, aber auch in der eigenen Sprachgemeinschaft
bleibend beschädigt.
«Deutschland», das war ja zuerst eine sprachliche Einheit, keine
politische. Der Ausdruck «deutsch» bezieht sich zunächst auf die
Sprache, «diutisk» heißt «volkstümlich», von diot, «Volk», und es
meint die germanische Volks-Sprache im Gegensatz zum Lateini-
schen als Staats-, Kirchen- und Gelehrten-Sprache. Das Adjektiv
taucht Ende des 8. Jahrhunderts auf. In den Straßburger Eiden von
842 etwa ist teudisca lingua der Name für die germanische Volks-
sprache, der hier das Französische als romana lingua gegenüber-
steht. Die lingua teudisca ist seit der Seßhaftwerdung der Germanen
205
in der mitteleuropäischen Zone ein Ensemble von deutlich unter-
schiedenen Dialekten, die wir ja immer noch unterscheiden: Ale-
mannisch, Bairisch, Fränkisch, Mitteldeutsch, Niederdeutsch. Das
Ensemble der «deutschen Nationen» entwickelt etwa seit dem
15. / 16. Jahrhundert eine gemeinsame geschriebene Sprache, die
über den deutschen Dialekten schwebt und sogar die große inner-
deutsche Sprachgrenze zwischen den niederdeutschen und den
oberdeutschen Dialekten überspannt. Diese koinè, diese gemein-
same Schriftsprache, diente zunächst der Verwaltung und der Reli-
gion (16. Jahrhundert), später auch der Literatur (17. Jahrhundert)
und noch später der Philosophie (18. Jahrhundert) und der Wissen-
schaft (19. Jahrhundert) – ungefähr in dieser Reihenfolge.
Die Schreiber dieser gemeinsamen Sprache, die man sich bis ins
19. Jahrhundert hinein nicht so einheitlich vorstellen darf wie heute,
aber lebten in sehr verschiedenen politischen Strukturen. Das Hei-
lige Römische Reich deutscher Nation ist ja seit dem 14. Jahrhun-
dert eine eher ideelle politische Einheit, es umfaßt im übrigen auch
viel mehr als nur deutsch(sprachig)e Länder, und diese umfaßt es
nur zum Teil. Es ist nicht Deutschland, und es ist eigentlich keine
politische Struktur, die die Menschen wirklich erleben. Der Kaiser
war noch weiter entfernt von seinen Untertanen als die Brüsseler
Bürokratie heute. Die Deutschen lebten im Herzogtum Bayern,
in Frankfurt, in der Mark, in der Grafschaft Thüringen, im Bistum
Mainz, in der Steiermark usw., nicht in Deutschland. «Deutsch-
land» ist – wie der nationalistische Dichter Arndt Anfang des
19. Jahrhunderts schreibt – das Land, «soweit die deutsche Zunge
reicht», keine politische Größe. Erst 1871 wird ein großer Teil von
«Deutschland» ein Staat.
Dies steht im übrigen in schärfstem Gegensatz zur Geschichte
unserer französischen Nachbarn: Frankreich ist zunächst eine
politische Einheit, das Königreich hat von 843 bis 1328 die Form,
die es in der Reichsteilung 843 erhalten hat, und im 17. Jahrhundert
hat es dann mehr oder minder die heutige Ausdehnung. Aber nur
der Norden dieses Staates sprach Französisch, er ist bis ins 19. Jahr-
hundert hinein ein multiethnischer Staat, der seine sprachliche Ein-
heit erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Wirkung des Staates
erreicht. Der Staat ist sozusagen ein Glück für die französische
Sprache. Die sprachliche Einheit Frankreichs ist eine sehr junge Er-
206
rungenschaft, wahrscheinlich wacht Frankreich deswegen so sorg-
sam über diese prekäre und schwer errungene sprachliche Einheit.
Deutschland dagegen ist umgekehrt sprachlich schon seit Jahr-
hunderten da, bevor es eine politische Größe, ein Staat, wird. Und
das ist dann – anders als in Frankreich – kein Glück für die deutsche
Sprache. Denn diese Staatswerdung endet in sehr kurzer Zeit in
einer Katastrophe auch für die deutsche Sprache. Der aus dem Krieg
geborene neue deutsche Staat wird in den ersten fünfundsiebzig
Jahren seiner Existenz Europa zweimal in den Krieg stürzen und
beim zweiten Mal sich selbst und ganz Europa so gründlich zerstö-
ren, daß auch die deutsche Sprachgemeinschaft in extreme Gefahr
gerät. Der deutsche Staat begeht die schrecklichsten Verbrechen der
Menschheitsgeschichte, und er brüllt dabei das Deutsche so in die
Welt, daß die Stellung dieser Sprache in der Welt und in der eigenen
Sprachgemeinschaft und letzlich die Einheit und der Bestand dieser
Gemeinschaft gefährdet ist. Das Schicksal der deutschen Sprache
hängt zutiefst mit diesem politischen Schicksal zusammen. Wir
sehen das heute besser als vor fünfzig Jahren. Wir erkennen nämlich
jetzt die Langzeitwirkungen.
Meine These ist: Die Deutschsprecher sind von dem großen Ver-
brechen traumatisiert, dessen sprachliches Medium die deutsche
Sprache war. Die deutschen Sprecher des Deutschen selbst vielleicht
noch mehr als die anderen Germanophonen in den anderen Län-
dern, in Frankreich, der Schweiz, Österreich, Belgien, Luxemburg.
Für die Deutschen ist das Trauma vielleicht am schwersten zu er-
tragen, weil das große Verbrechen ja ein selbstauferlegtes Trauma
ist. Es war, wie der französische Sprachwissenschaftler Hagège in
einem den europäischen Sprachen gewidmeten Buch gesagt hat, ein
«génocide étrangement suicidaire» (Hagège 1994: 69). Bei allem
Respekt für die wirklichen Opfer der Deutschen möchte ich sagen,
daß die deutsche Sprache das große kulturelle Opfer Hitlers ist.
Es ist vermutlich sein größtes kulturelles Opfer – und sein letzter
Triumph.
Das ist natürlich insofern gar nicht mit dem Opfer von Menschen
zu vergleichen, als Sprachen ja keine Wesen sind, denen man
Schmerzen zufügen kann oder die man quälen und töten kann. Sie
sind – wie anderes – nur kulturelle Techniken und Werke. Natür-
lich hat es der Frauenkirche nicht weh getan, zerstört zu werden.
207
Sie war aber trotzdem ein Opfer des Krieges. In diesem Sinne
will ich mit der Formel von «Hitlers größtem kulturellem Opfer»
sagen, daß die deutsche Sprache das kulturelle Produkt der Deut-
schen ist, das mehr als alle anderen kulturellen Werke oder Techni-
ken die Last der Erinnerung trägt und das unter dieser Last zusam-
menbricht. Im Gegensatz zu den im Bombenhagel verschwundenen
brennbaren Kultur-Schätzen sehen wir das bei diesem nicht-brenn-
baren Kulturgut erst jetzt in aller Deutlichkeit.
Jeder Sprecher des Deutschen, der vor dem Krieg stolz war, ein
Sprecher der Sprache Goethes zu sein, weiß nach dem Krieg, daß
er nun auch ein Sprecher der Sprache Hitlers ist, der diese Sprache
unvergeßlich in Europas Ohr gebrüllt hat, oder eben ein Sprecher
der Sprache, deren Gebell die Opfer der KZs auf ihrem Weg in den
Tod begleitete. Ganz Europa hat dies erfahren und in seine Erinne-
rung eingeschrieben; und auch die Beller und ihre Nachfahren kön-
nen es nicht vergessen. Ich erinnere mich noch des überraschten
Staunens meines besten Freundes, eines französischen Jungen, als
ich ihm – wir waren beide 16 Jahre alt – ein deutsches Gedicht vor-
sprach. Er konnte es nicht fassen, 1959, daß dies Deutsch sein sollte,
es war ja nichtgebellte Sprache.
Ich glaube nun, daß diese Erinnerung, das Gefühl der Schuld und
der Scham, eine spezifisch deutsche «Sprachscham», die sprach-
historischen Veränderungen, die derzeit ähnlich auch in anderen
europäischen Sprachgemeinschaften stattfinden, stark beeinflußt.
Die deutsche Sprachscham gibt diesen sprachhistorischen Entwick-
lungen hierzulande ihre ganz besondere Dramatik.
Was wir die Diasysteme der Einzelsprachen nennen, verändert
sich derzeit überall in Europa dramatisch. Wir meinen mit «Dia-
system» das Gefüge von Varietäten einer Einzelsprache, die ja
niemals nur eine einheitliche Gemeinsprache ist. Die gemeinsame
Kultursprache überwölbt normalerweise als Dach das Haus der
Sprache. Die Sprache insgesamt ist aber ein Ensemble von verschie-
denen Redeweisen, die sich je nach der geographischen Situation,
der sozialen Schicht und der Redesituation stark verändern können.
Das Haus der deutschen Sprache hat viele Zimmer im Erdgeschoß,
im ersten Stock – also gesellschaftlich eine Schicht höher – wird
aber schon ein bißchen anders gesprochen und wieder anders an der
gesellschaftlichen Spitze. Außerdem verändert sich eine Sprache je
208
nach Kommunikationssituation: die Sprecher einer Sprache spre-
chen anders auf dem Flur mit der Nachbarin, als wenn sie einen
wissenschaftlichen Vortrag halten müssen. Es kann also z. B. sein,
daß ich mit meiner Mutter richtig schön (Frankfurter) Dialekt rede,
dann auf der Straße mit dem aus Hamburg stammenden Nachbarn
ein dialektal gefärbtes Umgangsdeutsch und schließlich in der Uni-
versität Standarddeutsch oder Hochdeutsch, das wenig dialektal
gefärbt ist (zumindest bemühe ich mich darum). Und wenn ich das
aufschreibe, wird es wieder anders: der dialektale Klang schwindet
völlig in der Schrift.
Ein solches Diasystem ist immerzu in historischem Wandel be-
griffen. Ich will im folgenden drei Dimensionen der aktuellen
Transformation dieses Gefüges betrachten: 1. das Verhältnis der
nationalen Sprache zur internationalen Sprache Englisch, 2. das
Verhältnis der Nationalsprache als gemeinsame Standardsprache zu
ihren diatopischen Varietäten, d. h. zu den Dialekten, und 3. das Ver-
hältnis der eingeborenen Sprache zu den Sprachen der Immigran-
ten.
10.2.2. Das Deutsche – ich spreche hier natürlich immer vom Hoch-
deutschen, vom Standarddeutschen, also der kultivierten geschrie-
benen und gesprochenen Norm dieser Sprache – ist damit auf die
nationalen Verwendungsweisen reduziert, also auf die Presse, die
Literatur im engeren Sinne, Verwaltung und Rechtsprechung und
nationale Politik. Das ist zwar immer noch ganz schön, aber durch
den Verlust der höchsten (internationalen) Rede-Felder sinkt der
Status, wie die Linguistik das nennt, also das Ansehen der Sprache
212
in der Sprechergemeinschaft. Eine solche Schwächung des Status
hat immer auch Konsequenzen für den sogenannten Ausbau der
Sprache, also für die Sorge um die Wörter selbst, für das Korpus.
Zweitens droht diese Status-Schwächung, die Standardsprache dort
völlig zum Verschwinden zu bringen, wo die Dialekte, die regiona-
len Varietäten dieser Sprache, noch eine starke Stellung bewahren.
Die Status-Schwächung des Deutschen geschieht mit der aktiven
Unterstützung der offiziellen Kultur-Politik dieses Landes, die den
Prozeß erheblich beschleunigt. Deutschland hat seit dem Krieg –
insbesondere seit den 70 er Jahren – ja seine «nationalen» Belange
stark und programmatisch reduziert: Seitdem der Nationalsozialis-
mus als kriminelle Übertreibung nicht nur des Nationalismus, son-
dern des Nationalen überhaupt gedacht wird, gilt alles «Nationale»
– wie die gemeinsame Sprache – als verdächtig. Auswege aus dem
diskreditierten Nationalen finden die Deutschen im Regionalen
einerseits und im Internationalen andererseits.
Was das Regionale angeht: Es gibt in Deutschland ja kaum natio-
nale Kultur-Institutionen, und die jetzt noch bestehenden werden
durch die sogenannte Föderalismus-Reform weiter geschwächt.
Kultur und Bildung sind die Faustpfänder der Länder. Kultureller
Föderalismus schwächt zunehmend die nationale Sprache. Der kul-
turelle Internationalismus auf der anderen Seite favorisiert massiv
und geradezu ausschließlich das Englische. Das Adjektiv interna-
tional bedeutet in Deutschland niemals wirklich «international»,
sondern eigentlich immer «anglophon». In Wendungen wie «Inter-
nationale Schule» ist fast immer eine englischsprachige Schule ge-
meint. Eine staatliche Aktivität zur Verteidigung und Förderung
der Nationalsprache, wie sie etwa in Frankreich existiert, eine «dé-
fense et illustration de la langue allemande», ist in Deutschland
undenkbar. Institutionen wie die Deutsche Akademie für Sprache
und Dichtung haben, verglichen mit der französischen, überhaupt
nichts zu sagen. Sie ist natürlich auch keine staatliche Einrichtung,
sondern ein Verein, der mit öffentlichen Geldern funktioniert.
Offensichtlich geniert sich der Staat, Sprache und Dichtung direkt
unter seine Fittiche zu nehmen.
Die Sprache, die Deutschland dagegen wirklich verteidigt und
illustriert, ist nicht seine eigene, sondern das Englische. Die euro-
päischen Völker haben seit dem 16. Jahrhundert ihre eigenen Volks-
213
sprachen geliebt, gepflegt und gehegt (amore della lingua, cura della
lingua). Die meisten europäischen Völker tun dies auch immer
noch. Die Deutschen aber haben nun ihre Sprachliebe auf das Eng-
lische transferiert: Sie haben das Englische in Kindergärten und
Grundschulen eingeführt, sie bieten in ihren höheren Schulen die
wichtigsten Fächer inzwischen auf Englisch an (Geschichte, Poli-
tik, Naturwissenschaften), die Universitäten werden zum Um-
stellen des Lehrbetriebs auf Englisch gedrängt. Der deutsche
Bundeskanzler Schmidt sprach schon vor langer Zeit vor einem
Deutschlehrer-Kongreß in Korea englisch und beantwortete auch
auf Deutsch gestellte Fragen englisch. Ein deutscher Diplomat in
Kasachstan hält eine Rede auf Englisch vor Menschen, die diese
Sprache nicht können – wohl aber Deutsch.5 Solche Geschichten
lassen sich vervielfachen – und ich vermute, daß sich alle unsere
ausländischen Freunde, die sich der Mühe des Deutschlernens
unterzogen haben, schon in der Situation befunden haben, wo
Deutsche mit ihnen insistent englisch gesprochen haben, obwohl
klar war, daß sie gut Deutsch können.
10.2.3. Diese Situation, also der Statusverlust des Deutschen bei den
Deutschen, hat besonders dramatische Konsequenzen für das
zweite Problem in der Beziehung zwischen der Nationalsprache
und der International-Sprache. Sie hat, wie die Soziolinguistik das
nennt, Folgen für das Korpus des Deutschen. Natürlich sind alle
Sprachen der Welt den Einflüssen des mächtigen Englisch ausge-
setzt. Das bleibt bei der gewaltigen Dominanz der amerikanischen
Kultur und Politik nicht aus. Aber keine Sprache hat sich nach
meiner Beobachtung in solchem Maße den amerikanischen Sprach-
einflüssen geöffnet wie das Deutsche. Der Spiegel hat das in seiner
Titelgeschichte vom 2. Oktober 2006 zu Recht wieder einmal her-
ausgestellt. Dafür kann das amerikanische Englisch nichts, dies ist
ganz allein der kulturellen Schwäche des Deutschen geschuldet.
Wie das Deutsche schon einmal im 17. / 18 Jahrhundert – geschwächt
durch den ersten Dreißigjährigen Krieg – vor dem kulturell und
politisch überlegenen Französisch in die Knie ging, so beugt es sich
nun erneut dem Einfluß des amerikanischen Englisch.
Man könnte natürlich auch denken, daß dies eine Bereicherung
sei, die ja ein Sprachkontakt durchaus bewirken kann. So ist das
214
Deutsche im Verlaufe seiner Geschichte tief vom Lateinischen ge-
prägt worden, es hat den lateinischen Einfluß sozusagen zu seiner
Kräftigung in sich aufgenommen. Der Sprachkontakt mit dem Eng-
lischen aber bereichert es nicht wirklich. Das Deutsche behängt sich
eher mit amerikanischen Fetzen, es versucht gar nicht, das amerika-
nische Englisch zu verdauen. Das Deutsche ist inzwischen so etwas
wie eine sprachliche Dragqueen, aufgeputzt mit allerlei Tinnef aus
der anderen Sprache, ihre eigene Identität versteckend, schrill, aber
nicht eigentlich schön. Es möchte amerikanisch aussehen, das ist
vielleicht ganz lustig, aber wirklich amerikanisch ist es dadurch
nicht.
Ich brauche dafür eigentlich keine Beispiele zu geben. Wir er-
leben das täglich in unserer Umwelt, bei uns selbst, bei uns Profes-
soren. Es gibt kaum einen coolen Professor, der seine Studenten
nicht mit amerikanischen Wörtern überhäuft, er versucht gar nicht
erst, die Termini der supermodernen Forschungen in ein angemes-
senes Deutsch zu übertragen, das bleibt einfach auf englisch mitten
in der deutschen Rede stehen (ich werde das gleich ebenfalls tun).
Deutsche Professoren finden es schick, nicht mehr richtig Deutsch
zu können. Bei technischen Neuerungen wird gar nicht erst ver-
sucht, deutsche Ausdrücke zu finden, die Werbung ist in Deutsch-
land mehr oder minder auf englisch, es gibt service points, job cen-
ters und so weiter. Ein Tsunami amerikanischer Wörter überspült
diese Sprache. Der öffentliche Raum der deutschen Städte ist fast
ganz englisch: Die Theatinerstraße in München ist ein herrliches
Beispiel für die totale Abwesenheit des Deutschen im urbanen
Raum einer deutschen Stadt. «We kehr for you», sagt die Berliner
Stadtreinigung in einer Werbekampagne, sehr witzig, aber nur,
wenn man voraussetzt, daß die Bevölkerung Berlins schon zwei-
sprachig ist. Eine Zeitlang waren unsere Telefonrechnungen auf
Englisch: GermanCall, CityCall und WorldCall haben wir bezahlt.
Millionen Deutsche haben nicht verstanden, was sie da bezahlen
sollten.
Aber ich werde mich hüten, die puristische Klage anstimmen,
schon aus Angst vor dem Hammer, der sofort auf jeden niedergeht,
der solches tut: Wer über zu viele englische Wörter klagt, wird
sofort des Nationalismus geziehen, und das heißt eigentlich nichts
anderes als: Nazi. Jede Sorge um die deutsche Sprache – cura
215
linguae – wird hierzulande sofort disqualifiziert und unter Verdacht
gestellt. Deswegen wird es auch niemals eine Aktivität zum Schutz
und zur Bereicherung der Sprache – «enrichissement de la langue»
heißt das in Frankreich – wie in Frankreich geben. Die steht hier
von vornherein unter Nazi-Verdacht. Leider lockt der puristische
Kampf gegen die englischen Wörter, das muß ich zugeben, tatsäch-
lich nationalistische Kreise an. Mit solchen Genossen möchte man
nicht in den Kampf ziehen, also unterläßt man ihn.
Deutsch bleibt die Sprache der Familie, der Freizeit, die Sprache
in der man Privates liest, aber – Englisch wird die Arbeits-
sprache.6
Was gibt es Höheres für einen fleißigen Schwaben als eine Arbeits-
sprache? Herr Oettinger war daher auch ganz beglückt, daß jetzt
schon in seinen Elementarschulen diese höchste Sprache, Englisch,
218
unterrichtet wird. Da nun aber – wie der Werbespruch des Landes
feststellt – das Deutsche in den Familien in Baden-Württemberg
gar nicht verbreitet ist, bedeutet dies letztlich, daß das Deutsche in
Oettingers Land verschwindet: In den Familien herrscht nämlich
nicht das Deutsche, sondern der Dialekt. Die Diglossie Baden-
Württembergs wird also wie diejenige der Schweiz sein: oben –
bei der Arbeit – Englisch, unten – in der Familie – Schwäbisch und
Badisch.
Auf alle deutschen Länder hochgerechnet bedeutet dies das Ende
der deutschen Sprachgemeinschaft. Denn was die Deutschen noch
zusammenhielt, war – außer der D-Mark – gerade das Hochdeut-
sche, das die Schwaben nicht könnet und an dessen Stelle nun das
Englische rücken soll. Das Englische wird also zukünftig als ge-
meinsame Arbeitssprache die Vielzahl der deutschen Dialekte
überdachen: Das ist der sprachliche Triumph der postnationalen –
allerdings typisch deutschen – Vermählung von Föderalismus und
Internationalismus. Die deutsche Sprachnation ist dann auf jeden
Fall mausetot, oder auch, das ist ja gewünscht: «nie wieder Deutsch-
land», diesmal nicht von links, sondern aus der politischen Mitte
bzw. der Provinz.
Aber noch einmal: Die von Herrn Oettinger skizzierte diglossi-
sche Situation ist nicht nur, wie er glaubt, eine notwendige Konse-
quenz der Globalisierung, sondern auch der Effekt der auch ihn
immer noch quälenden Erinnerung an die gebellte Sprache. Der
Abschied aus der deutschen Sprachgemeinschaft ist ein eleganter
Weg aus der nationalen Gemeinschaft und der gemeinsamen Ge-
schichte.
10.4.2. Was aber an diesem Fall ebenfalls sichtbar wird, ist, daß diese
Blockade gelöst werden kann. Er zeigt nämlich, daß man – ohne
daß deswegen das historische Gedenken eliminiert würde – Bewe-
gung in das Denken über die deutsche Sprache bringen kann, indem
man den gesunden Menschenverstand walten läßt. Es gibt im übri-
gen auch ein Modell für die vernünftige Behandlung des Problems
des Verhältnisses von «Nationalsprache» oder «Verkehrsprache»
des Landes und den anderen Sprachen der Bewohner dieses Landes.
Ich meine die alte Diglossie zwischen dem Hochdeutschen und den
Dialekten des Deutschen: oben Hochdeutsch – unten Dialekt. Man
darf ja nicht vergessen, daß auch die Deutschen zumeist nicht das
Deutsche zur Muttersprache haben, sondern einen deutschen Dia-
lekt. Auch die Deutschen müssen mehrheitlich die Sprache Deutsch
erst in der Schule lernen. Es ist mir schon klar, daß das Türkische
weiter vom (Standard-)Deutschen entfernt ist als das Bairische.
Aber auch das Bairische, Hessische oder Schwäbische sind eben
nicht Deutsch oder Hoch-Deutsch. Die Schule ist auch für die
meisten Deutschen der Ort, an dem sie «ihre» Sprache erst lernen.
Sie lassen dann ihre «alte» Sprache zurück, teilweise jedenfalls. Das-
selbe geschieht nun auch mit den Muttersprachen der Immigranten:
Sie lassen in der Schule – teilweise und zeitweise jedenfalls – ihre
alten Sprachen hinter sich zurück. Die Schule ist der Ort der An-
kunft in der neuen Sprache, die Familie kann wie bei den Deutschen
auch der Ort der alten Sprache bleiben. Und übrigens kann dann
vielleicht auch der Schulhof der Ort der alten Sprache bleiben, es ist
ja der Ort der Pause, des Ausruhens von der Anstrengung. Aber
wenn die Bewohner des Schulhofes sich auf das Deutsche als ge-
meinsame Sprache einigen, so ist das auch gut. Jedenfalls hat es
nichts mit Zwangsgermanisierung und Nazigreueln zu tun.
Das Erlernen der Kultursprache ist nicht einfach, es war und ist
auch nicht einfach für bairische, hessische und schwäbische Kinder.
Aber es ist möglich und machbar, es ist auch für türkische und
arabische Kinder möglich und machbar. Aber: da dies in der Tat für
diese doch schwerer ist als für die Baiern und Schwaben, brauchen
222
diese Kinder die großzügigste Hilfe und Förderung durch die deut-
sche Sprachgemeinschaft. Wenn wir diese Kinder als Mitglieder un-
serer Sprachgemeinschaft – und unserer politischen Gemeinschaft
– wollen, dann müssen wir auch etwas dafür tun. In Amerika gibt
es an jeder Schule Extra-Lehrer für ESL , English as a Second Lan-
guage. Hierzulande sind aber ganz offensichtlich die Programme
und Mittel hierfür ungenügend. Wenn sie hinreichend wären, wür-
den unsere Schüler bei den entsprechenden internationalen Ver-
gleichstests besser abschneiden. Frankreich und Großbritannien
machen dies ganz offensichtlich besser. Wir tun nicht genug. Wir
tun übrigens auch nicht genügend für die dialektsprechenden deut-
schen Kinder. Darauf deutet ja die beschämende Klassenabhängig-
keit der Schulerfolge hin. Die da nicht weiterkommen in der Schul-
karriere sind natürlich Dialektsprecher.
10.6.2. Passion. Aus dem Gesagten ergibt sich ein trübes Bild von
der Zukunft der deutschen Sprache. Ein Volk distanziert sich aus
Sprachscham von seiner Sprache, die kulturellen Dynamiken wir-
ken daher unaufhaltsam gegen diese Sprache: Verschwinden des
Deutschen aus internationalen Prestige-Diskursen, dies schwächt
die entsprechenden nationalen Diskurse und folglich den Status der
Sprache. Schulpolitik und offizielle Sprachpolitik reduzieren die
Diskursdomänen der nationalen Hochsprache so, daß diese über-
flüssig wird. Halbherzige oder keine Aktivitäten für den Erwerb
der Nationalsprache bei Immigranten. Das befördert das Entstehen
fremdsprachiger Enklaven auf dem Sprachgebiet. Statusschwä-
chung bringt Korpusschwäche: das nicht mehr als prestigereich an-
gesehene Korpus wird nicht mehr gepflegt.
Gegen all dies regt sich Widerstand bei einigen Nostalgikern. Bei
diesen ist eine geradezu schmerzhafte Passion für die Sprache ent-
standen, die da ins Dialektale entschwindet, eine Passion, die derje-
nigen des französischen Philosophen Jacques Derrida nicht unähn-
lich ist. Jacques Derrida beschreibt in einem seiner letzten Bücher,
Le monolinguisme de l’autre, sein Verhältnis zur französischen
Sprache. Der inzwischen berühmt gewordene Satz auf der ersten
Seite dieses Buches heißt:
In seinem letzten Interview mit Le Monde vom 19. August 2004 hat
Jacques Derrida die zentralen Gedanken des erwähnten Buches Le
monolinguisme de l’autre (1996) zusammengefaßt – allerdings mit
einer auffälligen Auslassung, auf die ich am Ende des Kapitels zu
sprechen komme. Das Interview ist noch, wie Jean Birnbaum am
12. Oktober 2004 in der Sonderbeilage von Le Monde zum Tode
Derridas schreibt, von Derrida selbst redigiert und autorisiert wor-
den, so daß es tatsächlich ein echter Derrida-Text ist. Jean Birnbaum
stellt bei Derrida eine Passion für die französische Sprache fest:
«Quand on vous lit, on sent à chaque ligne l’intensité de votre pas-
sion pour elle». Er verwendet bewußt das Wort «passion», das Lei-
den und Leidenschaft bedeutet. Ich halte das Wort für das zentrale
Wort überhaupt: es geht um eine Sprach-Passion. Birnbaum fragt
dann:
Dies ist die im vorigen Kapitel schon zitierte These vom Beginn
seines Buches:
– Stelle dir vor. Nimm jemanden an, der das Französische kulti-
vieren würde.
Das was man «das Französische» nennt.
Und den das Französische kultivieren würde.
Und der, überdies französischer Staatsbürger, also ein – wie
man so sagt – Subjekt französischer Kultur wäre. Eines Tages
käme dieses Subjekt französischer Kultur, um dir zum Beispiel
zu sagen, in gutem Französisch:
«Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache».
Den Satz «Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache»
sagt also eine Person französischer Nation und französischer Kul-
tur, in einer zunächst im Irrealis präsentierten Gesprächssituation.
«Stelle dir vor. Nimm jemanden an, der das Französische kultivie-
ren würde». Wittgenstein spricht ähnlich in den Philosophischen
Untersuchungen, wenn er immer wieder einsetzt mit: «Denk dir …,
230
nimm an …». Diese Intertextualität ist sicher kein Zufall.3 In den
Philosophischen Untersuchungen unterläuft Wittgenstein die Suche
nach der einen «richtigen» wissenschaftlichen Sprache in der Viel-
falt der Sprachspiele. Jedenfalls: So dialogisch, anscheinend auf den
anderen bezogen, beginnt Derridas Buch. Allerdings ist Le mono-
linguisme – wie die Philosophischen Untersuchungen – nicht syste-
matisch auf den anderen bezogen. Auch der Irrealis verschwindet
schnell. Das Buch, das Die Einsprachigkeit des anderen heißt, Le
monolinguisme de l’autre, handelt zunächst nicht – oder auch gene-
rell nicht – vom anderen, vom Hörer, sondern vom Sprecher, vom
Ich, vom Subjekt, und von dessen Einsprachigkeit. Denn das imagi-
nierte Subjekt französischer Kultur fährt fort:
Hier artikuliert sich ein Ich, das sich in einer einzigen Sprache ge-
radezu einzunisten scheint – und zwar im guten Französisch, «en
bon français» (13). Diese gute französische Einsprachigkeit ist seine
demeure, seine Bleibe. Da davon die Rede ist, daß diese Sprache
vom Sprecher «kultiviert» wird – «en bon français» – und daß diese
Sprache den Sprecher kultiviert («et que le français cultiverait», 13),
handelt es sich darüber hinaus um eine tiefe gegenseitige Wechsel-
wirkung. Da jedem, der das Französische kultiviert, beim Satz «qui
cultiverait le français» der berühmte Schlußsatz von Voltaires Can-
dide einfällt: «mais il faut cultiver notre jardin», ist die Assoziation
mit der Pflege eines Gartens sicher willkommen: Hier wird eine
Sprache wie ein Garten kultiviert.4 Es ist ein Sprachgarten, dessen
Pflege auf den Gärtner zurückwirkt – «et que le français cultiver-
ait» – , so daß der Sprachgärtner seinerseits «de culture française»
231
ist. Diese einsprachige französische Sprachkultur – diese Mono-
kultur – ist so tief, daß sie sogar das Ich konstituiert: «C’est moi. Ce
monolinguisme, pour moi, c’est moi.» So wie der Staat das Ich von
Ludwig XIV. und Emma Bovary das Ich von Flaubert waren:
«l’État c’est moi», «Emma Bovary c’est moi». Tiefer kann Einspra-
chigkeit nicht sein (höchstens eine angeborene, natürliche Sprache
wäre noch tiefer mit dem Ich verbunden, doch es geht hier über-
haupt nicht um Natur, sondern um Kultur).
Aber: Bei aller tiefen, ja tiefsten Einsprachigkeit, die das Ich kon-
stituiert, sagt der Sprecher eben doch, daß diese eine Sprache, die er
hat («je n’ai qu’une langue»), nicht die seinige sei: «ce n’est pas la
mienne». Es gibt also im Zentrum der tiefen gegenseitigen Kultivie-
rung und Wechselwirkung von Ich und Sprache eine Spaltung, eine
ganz offensichtlich unaufhebbare Trennung, die einen Besitz dieser
Sprache unmöglich macht. Die eine Sprache, die seine Einsprachig-
keit konstituiert, ist nicht nur nicht seine Sprache, sondern sie war
sie auch niemals und wird sie auch niemals sein:
Wenn sie nicht meine ist, dann, so muß man folgern, gehört diese
Sprache in einen Raum der Alterität, dann ist diese Sprache die
Sprache des anderen, «la langue de l’autre». Der andere des Titels,
der in dieser Negation – «es ist nicht meine Sprache» – notwendig
mitgegeben ist, taucht allerdings erst viel später, auf S. 42, explizit
im Buch auf. Und dann heißt es:
Und an dieser Stelle und am Ende ist auch die Rede von einer:
«aliénation essentielle dans la langue – qui est toujours de l’autre»
(114), von einer «wesentlichen Entfremdung in der Sprache, die im-
mer diejenige des anderen ist». Die Sprache des Einsprachigen, von
der bisher die Rede war, ist also die Sprache des anderen. In diesem
232
Sinne ist dann natürlich auch meine Einsprachigkeit die Einspra-
chigkeit des anderen, genauer: eine Einsprachigkeit in der Sprache
des anderen oder eine Einsprachigkeit vom anderen her. Der an-
dere ist nicht das Subjekt der Einsprachigkeit, sondern der Ort, von
dem sie kommt.
Meine Sprache, die die Sprache des anderen ist, ist nach Derrida
ausdrücklich keine fremde Sprache, keine «langue étrangère» (18).
Wenn wir uns die von Brigitte Jostes in ihrer semantischen Analyse
des Adjektivs étranger aufgezeigten semantischen Züge vor Augen
führen, so heißt das: sie ist nicht «ausländisch», sie ist auch nicht
«nicht-zugehörig», sie ist nicht «unbekannt». Die Sprache ist in-
ländisch, dem Ich zugehörig und bekannt. Dennoch ist sie nicht
eigen – propre – sondern eben auch und offensichtlich wesentlich
«de l’autre». Auf Deutsch wäre «fremd» zur Bezeichnung dieses
anderen allerdings nicht falsch, sofern dt. «fremd» auch einen Teil
von frz. «autre» abdeckt. «Fremd» ist im Deutschen – anders als im
Französischen – auch das, was ich nicht besitze, z. B. beim «Fremd-
kapital» (das kein «capital étranger» ist).5 Die beiden Adjektive
fremd und étranger sind nicht ganz deckungsgleich. Wenn Hum-
boldt schreibt, daß mir «das von mir gebildete Wort aus fremdem
Munde wiedertönen» muß (VII: 56), so übersetzt man das ins Fran-
zösische besser mit «d’une autre bouche» oder «de la bouche
d’autrui» als mit «d’une bouche étrangère». Es ist der Mund, den
nicht ich besitze, sondern ein anderer. Es geht beim «anderen» um
diese Momente konstitutiver Fremdheit der Sprache überhaupt und
der eigenen Sprache, die Humboldt entdeckt hat.6 Es geht um die
Einsprachigkeit vom Fremden her, von dem, was ich nicht besitze.
Die Sprache also, von der hier die Rede ist, Derridas eine Spra-
che, ist gleichzeitig beim Ich und woanders, sie gehört gleichzeitig
dem Raum des Ich und des anderen zu. Die eine Sprache ist gleich-
zeitig eine andere, oder: die Einsprachigkeit ist gleichzeitig Anders-
sprachigkeit. Ja sie ist sogar eine ganz besonders radikale, jedenfalls
besonders schmerzliche Form der Anderssprachigkeit. Denn das
Andere ist nicht draußen, sondern im Inneren des Sprechers. Die
233
Anderssprachigkeit des Einsprachigen ist eine innere Spaltung, ein
Schizolinguismus.
Hier sind sie wieder, die Passionen. An einer anderen Stelle des
Buches wird sich Derrida geradezu als Schmerzensmann darstellen,
dessen Kreuz diese Trennung ist und dessen Wundmale durch diese
Trennung geschlagen sind. Die Passion für die Sprache basiert also
tatsächlich auf einer Kreuzigung.7
Die Trennung und die von ihr verursachten Schmerzen sind
historisch und autobiographisch begründet. Derridas Buch ist ja
auch eine sprachliche Autobiographie. Insofern erinnert es an Elias
Canettis Gerettete Zunge und den dort dargestellten schmerzhaften
Prozeß der Aneignung des Deutschen.8 Es ist allerdings ein philo-
sophischer, kein narrativer Text und gehört daher in die Tradition
des Discours de la méthode, also der philosophischen Autobiogra-
phie. Le monolingisme de l’autre hat im Gesamtwerk Derridas die
Funktion, die der Discours de la méthode im Werk von Descartes
hat: Es ist der Text, der Derridas ganze philosophische Suche auf
ein zugrundeliegendes Prinzip zurückführt. So wie das «je pense
donc je suis» die Grundlage der Philosophie Descartes’ und des
Denkens überhaupt ist, so ist Derridas Satz: «Je n’ai qu’une langue,
ce n’est pas la mienne» das Grundprinzip seines Denkens und – wie
bei Descartes – des Denkens überhaupt. Die Anderssprachigkeit
des Einsprachigen, der Schizolinguismus, ist die grundlegende Er-
fahrung des Denkens Derridas. Und wie das kartesische Prinzip
234
versteht sich auch Derridas fundamentale Wahrheit nicht bloß als
individuelle Einsicht, sondern als universelle Wahrheit, die für alle
Menschen gilt.
Als 1930 in Algerien geborener Jude wird Derrida französisch
sozialisiert. Die 1870 durch das Dekret Crémieux zu Franzosen
erklärten algerischen Juden waren begeistert zur französischen
Sprache und Kultur übergegangen, sie hatten das Spanische ihrer
eigenen Tradition und auch das Arabische oder Berberische ihrer
Nachbarn rasch hinter sich gelassen. Sie wurden leidenschaftlich
und hundertprozentig Franzosen. Im Interview spricht Derrida
sogar von einer «surenchère», von einer Überbietung ihres Fran-
zosentums. Die Aneignung der französischen Sprache ist mit einem
rasanten gesellschaftlichen Aufstieg verbunden gewesen. Derrida
charakterisiert die drei Generationen seit 1870 mit den Stichwor-
ten: Verbürgerlichung, Geschäftsleute, Akademiker. Gerade diesen
begeistert französischen Juden Algeriens entzieht nun das Vichy-
Frankreich 1940 die französische Staatsangehörigkeit, Frankreich
bricht mit den französischsten Franzosen. Den Kindern wird der
Schulbesuch verboten. Damit wird für Derrida die weitere An-
eignung oder weitere «Kultivierung» der Sprache für eine wichtige
Zeit seines Lebens verboten, gerade jener Sprache, die das Symbol
der Ankunft der algerischen Juden war. Es ist eine ganz eigene «dé-
fense de la langue française», der sich die algerischen Juden da aus-
gesetzt sehen: einer «défense» nicht im Sinne von «Verteidigung»,
sondern im Sinne von «Verbot» (das Wort défense hat diese beiden
Bedeutungen): «Verbot der französischen Sprache». Ein entschei-
dender Unterschied zu Du Bellay.
Diese Enteignung ist für Derrida das Grundereignis seiner
sprachlichen Biographie – aber auch der Ausgangspunkt seiner
universellen Einsicht in die Sprachlichkeit des Schriftstellers. Die
brutale Trennung zerstört den Schein eines unproblematischen
«Sprachbesitzes», in dem sich sogenannte echte Muttersprachler
wiegen. Die «défense de la langue française», das Verbot der franzö-
sischen Sprache, besagt gleichsam: «Die eine Sprache, die du zu
haben meinst, gehört dir gar nicht.» Dies war nun für die algeri-
schen Juden insofern von besonderer Dramatik, als es gar keine
Sprach-Alternative gab. Die Brücken zum Judenspanischen oder
zum Arabischen waren längst abgebrochen. Das unterscheidet die
235
Spracherfahrungen Derridas von denen des algerischen Schrift-
stellers Khatibi, mit dem er hier dialogiert. Der auf Französisch
schreibende Khatibi hat neben oder hinter der Schreib-Sprache
Französisch – hinter seiner Anderssprachigkeit – seine «Mutter-
sprache» Arabisch. Khatibis Buch heißt daher auch Du bilinguisme.
Doch gerade davon setzt sich Derrida ab: Le monolinguisme – Der-
rida hat keine zweite Sprache hinter der einen Sprache – de l’autre.
Die Enteignung und Entfremdung der eigenen Sprache wird also
als brutale Trennung erlebt, die als Trauma im Sprachbewußtsein
verbleibt. Näher betrachtet ist allerdings die Trennung auch keine
völlig neue Erfahrung. Das traumatisierende Erlebnis verstärkt und
radikalisiert die prekäre Beziehung, die die algerischen Juden ohne-
hin zur französischen Sprache aufgrund der Tatsache hatten, daß
das Französische eine von woanders herkommende Sprache – eine
Sprache des anderen – ist. Sie ist die aus der Metropole über das
Meer kommende Sprache, die vor allem über die Schule vermittelt
wird. Sie ist wesentlich geschriebene Sprache und eine literarische
Sprache, die man «kultiviert». Der Ort und die Norm, das Gesetz
dieser Sprache liegen nicht in Algerien, sondern jenseits des Meeres,
in einer weit entfernten, geradezu fiktiven Kapitale. Sie war immer
schon eine Sprache extremer Distanz.9 Die eigene Sprache war also
auch vor und nach dem Vichy-Dekret schon woanders, die Alteri-
tät war ihr ohnehin eingeschrieben. Sprach-Kultur und Kolonialis-
mus hängen hier aufs engste miteinander zusammen: Die Sprach-
Kultur der algerischen Juden ist ein Effekt des französischen
Kolonialismus. Sie sind Kolonisierte und zugleich – auch wenn sie
gar nicht wie die französischen Siedler aus Frankreich eingewan-
dert sind – «colons», Kolonisierende, nämlich Kultivateure des
Französischen. Ihre Sprache ist nicht nur eine Kultursprache, son-
dern auch eine Kolonialsprache, Sprache der anderen. Wie radikal
die koloniale Alterität dieser eigenen Sprache war, wurde durch den
brutalen Staatsakt von 1940 schmerzhaft bewußt.
Aber, noch einmal: eine Rückkehr in irgendeine jüdisch iden-
titäre Sprache war einfach nicht möglich, die französischen Juden
hatten keine andere Sprache als diese eine Sprache der anderen. Von
einer Rückkehr in eine jüdische Sprache träumt etwa Kafka, wenn
er über das Jiddische schreibt, das er zur eigen-fremden Sprache des
Vaters, zum Deutschen, in Gegensatz setzt.10
236
An dieser Stelle seines Buches, wo er die Erfahrung der algeri-
schen Juden mit dem Französischen beschreibt, setzt sich Derrida
nun mit anderen berühmten jüdischen Erfahrungen mit der Spra-
che auseinander. Das heißt er unterlegt seine eigene Geschichte mit
einer sich über dreiundzwanzig Seiten hinstreckenden Fußnote. Er
behandelt darin Rosenzweig, Hannah Arendt und Levinas. Man
kann zu dieser Fußnote noch die Ausführungen über Adorno in
der Rede zum Adorno-Preis von 2001 hinzuzählen.11 Seine eigene
Erfahrung grundiert Derrida also mit den Sprach-Auffassungen be-
rühmter anderer jüdischer Denker. Es sind naturgemäß vor allem
Reflexionen zur deutschen Sprache. Da sie Derridas schizolingui-
stische Erfahrung nicht teilen, werden Rosenzweig und Arendt
eher kritisch behandelt. Levinas, der seinen Aufenthalt im Fran-
zösischen als einen Gaststatus schildert, kommt Derrida dagegen
näher, man könnte sagen ohne die tragische oder schmerzhafte
Note der Derridaschen Erfahrung.
Exkurs
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die dem vorigen Kapi-
tel zugrundeliegende Sprach-Passion vieler Deutschsprachiger ver-
weisen, die Derridas jüdisch-algerienfranzösische Spracherfahrung
gleichsam paradox spiegelt: Immer noch verläuft die Sprach-Sozia-
lisation vieler Deutschsprachiger so, daß der heimische Dialekt –
die eigentliche «Muttersprache» der meisten Deutschen – in der
Schule allmählich von der deutschen Standard-, Schrift- und Litera-
tursprache überlagert wird. Der schulische und gesellschaftliche
Erfolg ist immer noch mit der Beherrschung dieser Sprache verbun-
den. Wer dieses Deutsch dann lesen, schreiben und sprechen kann,
lernt oft mit Entzücken, was in dieser Sprache alles gesagt und ge-
schrieben wurde und geschrieben und gesagt werden kann. Viele
lernen diese Sprache lieben – wie Derrida das Französische – durch
das Kultivieren dieser Sprache. Aber für den Deutschsprachigen
stellt sich notwendigerweise auch das Grauen vor dieser Sprache
ein. Das Deutsche ist ja auch die Sprache jener gewesen, zu denen er
auf keinen Fall gehören möchte, die Sprache jener Verbrecher, mit
denen er keine Gemeinsamkeit haben möchte, jener ihm absolut
237
Fremden, die Deutsche waren. Er kennt den Horror der Welt vor
dieser Sprache. Aber es ist doch seine Sprache. Ein Riß geht durch
seine Sprachigkeit. Deutschsprachigkeit ist bei vielen politisch be-
wußten Menschen schmerzhafter Schizolinguismus. Aber – hier ist
die Differenz zu Derrida – während die algerischen Juden von den
anderen ausgeschlossen wurden, müssen die deutschen Sprecher,
die ihre Sprache lieben, sich selbst aus ihr ausschließen: «L’allemand
est ma langue, mais j’ai horreur de ma langue». Trennung, Passion,
Leiden und Leidenschaft. Dem deutschen Schizolinguismus ent-
geht man nur durch die Flucht in eine andere Sprache. Es gibt dabei
im wesentlichen zwei Fluchtwege: den Dialekt und die Globalspra-
che – oder beides. Letzteres ist der Weg der Schweiz. Schwaben
können alles außer Hochdeutsch. In die Globalsprache fliehen Na-
turwissenschaftler, Geschäftsleute, die Funktionseliten des Landes
und mit ihnen allmählich das ganze Land. Die schmerzhafte Liebe
zur deutschen Sprache wird durch diese Fluchten noch schmerz-
hafter, eigentlich unerträglich für den, der ihr nicht entsagen will.
Die Sprache, auf die sich Derridas Erfahrung der Alterität und das
Trauma des Schmerzes bezieht, das geliebte, entfernte und immer
fern bleibende Sprach-Objekt, ist nun nicht «das Französische» im
allgemeinen oder in seiner ganzen variationellen Vielfalt, sondern es
hat eine ganz bestimmte Gestalt: Es ist – wohl durch die schulische
Aneignung – ganz offensichtlich das schriftliche, literarische und
normierte Französisch: «le bon français». Gerade diese Schul-Form
der Sprache war ja die traumatisch verbotene und verlorene. Auf
die geschriebene, literarische, gute Sprache richtet sich die passio-
nale Energie.
Je ne lis pas sans sourire, parfois avec mépris, ceux qui croient
violer, sans amour, justement, l’orthographe ou la syntaxe «clas-
siques» d’une langue française, avec de petits airs de puceaux à
éjaculation précoce, alors que la grande langue française, plus in-
touchable que jamais, les regarde faire en attendant le prochain.
Je décris cette scène ridicule de façon un peu cruelle dans La
Carte postale.
Ich lese, nicht ohne zu lächeln, manchmal mit Verachtung, die-
jenigen, die gerade ohne Liebe die klassische Orthographie oder
Syntax einer französischen Sprache zu verletzen glauben, wie
lächerliche Buben mit ejaculatio praecox, während die große
französische Sprache sie dabei betrachtet, unantastbarer als je,
und auf den nächsten wartet. Ich beschreibe diese lächerliche
Szene ein bißchen grausam in La Carte postale.
cette langue française qui est la seule langue qu’on m’a appris à
cultiver, la seule aussi dont je puisse me dire plus ou moins
responsable.
diese französische Sprache, die die einzige ist, die man mich zu
kultivieren gelehrt hat, die einzige auch, für die ich mich mehr
oder weniger verantwortlich fühle.
11.4.5. Trotzdem ist aber ein Moment der Gewalt in diesem gärtne-
rischen, verantwortungsvollen, liebevollen Umgang: Er ist eine «ich
würde nicht sagen perverse, aber doch ein bißchen gewalttätige Art,
diese Sprache zu behandeln. Aus Liebe», «une facon je ne dirais pas
perverse mais un peu violente de traiter cette langue. Par amour».
Derridas trace tut der Sprache Gewalt an («je violente»), aber im
Respekt ihres geheimen Gesetzes, «en respectant dans l’irrespect sa
loi secrète». Derridas Spur besteht darin, sozusagen die Anders-
sprachigkeit der eigenen Sprache mittels des Schreibens deutlich zu
machen. Er schreibt anders – violent. Aber er tut dies, indem er die
Potentialitäten der Tradition – das geheime Gesetz der Sprache –
aufgreift.
Seine terminologischen Innovationen machen diese «untreue
Treue» («fidélité infidèle») vielleicht am deutlichsten: Die berühmte
différance ist zwar ein vor Derrida inexistentes Wort der franzö-
sischen Sprache. Derrida greift bei seiner Schöpfung aber ein pro-
duktives französisches Wortbildungsverfahren auf: Verbstamm plus
-ance. Charakteristischerweise ist es natürlich nur eine graphische
Wortbildung: différance mit a statt mit e. Hören tut man den Un-
241
terschied zu différence, dem normalen französischen Wort, nicht.
Mit dieser Neubildung verletzt Derrida zwar die «Norm», er nutzt
aber – in den Coseriuschen Begriffen – das «System» des Französi-
schen aus, er wirkt sozusagen mit der Sprache gegen die Sprache.16
Ebenso funktionieren z. B. férance oder pliure. Einige dieser Bil-
dungen werden sicher als Spuren in der französischen Sprache zu-
rückbleiben.
11.5. Fremdheit
Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit,
für den Menschen etwas Fremdes. (IV: 27)
11.6. Asyl
Es gibt nicht sehr viele große Bücher über die Sprache in der
Geschichte des europäischen Denkens: Platons Kratylos, Aristote-
les’ De interpretatione, Augustinus’ De magistro, Dantes De vul-
gari eloquentia, Herders Sprachursprungsabhandlung, Humboldts
Akademiereden und Über die Verschiedenheit des menschlichen
Sprachbaues, Heideggers Unterwegs zur Sprache und Wittgensteins
Philosophische Untersuchungen.19 Derridas Monolinguisme de
l’autre gehört dazu.
Es gehört dazu, weil es – wie die anderen großen Bücher über die
Sprache – getrieben ist von einer bohrenden Frage an die Sprache in
einer dramatischen Krisensituation. Die griechische Philosophie
legt die Tradition, den Mythos, auf den Prüfstein des Denkens, auf
diesen wird auch der Kern der Tradition, die Sprache, gelegt. Augu-
stinus, der Rhetoriklehrer, muß die Verführungskunst des Spre-
chens und damit die ganze römische Kultur vor das Tribunal seines
neuen Glaubens führen. Dante sucht für seine Dichtkunst einen
245
sprachlichen Ort zwischen der alten lateinischen Gelehrtensprache
und den lokal fraktionierten Volkssprachen. Herder verteidigt, vom
Rande Europas herkommend, den Wert der verschiedenen – auch
«kleinen» – Sprachen und Kulturen angesichts der neuen «katholi-
schen», d. h. universellen Kultur, die sich französisch artikuliert.
Humboldt ist der Theoretiker einer Weltkultur der Verschieden-
heit. Heidegger sucht in den Tiefen der Sprache einen Rettungs-
anker in der unwirtlich gewordenen Welt der Technik und der Mo-
derne. Wittgenstein relativiert den arroganten Universalanspruch
wissenschaftlichen Redens in der Diversität der Sprachspiele. Der-
rida denkt Sprache – oder besser: das Schreiben – in einer politi-
schen und kulturellen Situation, die den Menschen universell ins
Exil treibt. Niemand kann sich mehr auf eine gemütliche Heimat
beziehen, auf eine Nation, in der er gleichsam problemlos aufge-
hoben ist, und damit auf eine Sprach-Gemeinschaft, die seine «Mut-
tersprache» spricht, die ohne Bruch Erstsprache und die Sprache
des Schreibens wäre. Exil, Trennung, Fremdheit sind die Erfahrun-
gen des postmodernen Schriftstellers (wenn wir als den modernen
Schriftsteller den in seiner Sprachgemeinschaft aufgehobenen be-
trachten).
Bei aller profunden Differenz zwischen dem Dichter des 14. Jahr-
hunderts und dem Philosophen des 20. Jahrhunderts steht Derridas
Monolinguisme von allen großen Büchern der Vergangenheit viel-
leicht Dantes Buch über die Sprachkunst in der Volkssprache, De
vulgari eloquentia, am nächsten.20 Denn es fragt wie dieses nach
den Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens: In welcher
Sprache kann ich überhaupt schreiben? Dante bewegt sozusagen
der Schrecken darüber, daß es mehrere Optionen gibt. Er möchte
schreiben, genauer: dichten, und er muß wählen zwischen einer
Sprache der Distanz, der Grammatica (d.h. der lateinischen Schrift-
sprache der Gelehrten), und einer Sprache der Nähe, der lokalen
Volkssprache. Das Dichten in der Grammatica wird von Dante gar
nicht mehr in Betracht gezogen. Es soll nämlich über Liebe, Waf-
fenruhm und Ehre – amor, salus und virtus – gedichtet werden, über
die vornehmsten Gegenstände einer raffinierten weltlichen Gesell-
schaft. Dafür kann er nicht in der Sprache der Gelehrten schreiben.
Aber auch die Sprache einer bestimmen Stadt oder gar eines Dorfes
ist nicht geeignet. Er braucht eine Sprache für einen größeren Raum
246
(die möglichst wenig in der Zeit variiert) und – damit zusammen-
hängend – einer gesellschaftlichen Elite: eine Sprache für die Welt
(mundus). Er vergleicht sie mit einem Panther, dessen – verführe-
rischen – Geruch man an allen Orten spüre. Es bleibt nur die
eine Wahl: Der Dichter Dante muß sich seine Sprache erst noch
schaffen. Analog zu Derrida formuliert, gilt für Dante etwa die
Ausssage: «Ich habe zwei Sprachen, beide sind meine Sprachen,
aber sie passen mir beide nicht, die eine ist mir zu nah, die andere ist
mir zu fern, also schaffe ich mir eine neue». Nicht der monolin-
guisme de l’autre, die Einsprachigkeit des anderen, quält Dante,
sondern seine Zweisprachigkeit: «Ich habe zwei Sprachen, aber
keine davon kann ich gebrauchen», «J’ai deux langues, mais aucune
des deux n’est celle dont j’ai besoin». Und am fremdesten von den
beiden ist ihm die Muttersprache, die lingua materna. Denn diese
ist eine Sprache der dörflichen Nähe, einer bornierten Enge, die sich
für den Nabel der Welt hält. Dante sucht dagegen eine Sprache der
Welt: «nos autem cui mundus est patria». Diejenigen, denen die
weite Welt Heimat ist, brauchen eine Distanz-Sprache, die noch zu
schaffen ist, das Vulgare illustre.
Derrida sucht keine Sprache, er hat eine Sprache. Aber ebenso
leidenschaftlich wie Dante die Sprache sucht, reflektiert Derrida die
Sprache, die da ist, auch um sie von sich zu distanzieren. Es ist nur
eine einzige – das Französische – aber diese Sprache ist fremd, sie ist
eine vom Fremden herkommende Sprache, de l’autre. Sie ist keine
Muttersprache, keine Sprache der familialen Nähe. Die Mutter
spielt als Instanz der sprachlichen Nähe keine Rolle bei Derrida.
Seine Sprache ist eindeutig keine lingua materna, sondern eine
lingua paterna, eine Vatersprache. Sie ist das Gesetz, das Gesetz
des Vaters, das aus der Ferne über das Meer gekommen ist. Die Ent-
eignung der Sprache 1940, die schmerzhafte Entfernung, ist zwar
ein Schock, aber eigentlich ist sie auch das Erwartbare: Die Sprache
gehört mir ja sowieso nicht, sondern sie ist woanders, dort drüben,
sie ist Distanzsprache, obwohl sie ganz nah ist, «meine Sprache».
Derrida dekouvriert diese Nähe als Schein.
Das Ergebnis der Danteschen Suche ist durchaus dem Ergebnis
der Derridaschen Entfernung ähnlich: ein Vulgare illustre, curiale,
aulicum, cardinale. Dante konstruiert eine Volkssprache, die durch
die literarische Glorie ihrer Benutzer (illustre) glänzt, die Norm
247
und Zentrum ist (cardinale), politisch maßgeblich (aulicum) und
kultiviert (curiale). Sie wohnt in keiner bestimmten Stadt Italiens,
man spürt sie aber in allen. Auch Derridas Französisch ist genau
dies: Sein Französisch ist ein an allen Orten duftender Panther.
Derrida lehnt jegliche diatopische, dialektale Tönung radikal ab.
Seine Sprache ist ein metropolitanes (cardinale), politisch und kul-
turell hochstehendes (aulicum, curiale) und von vielen Schriftstel-
lern illustriertes Medium des Schreibens: «la grande langue fran-
çaise». Der monolinguisme de l’autre ist auch ein monolinguisme
illustre: Hoch-Kultur der Sprache.
Dichtung und Wahrheit
12. Sprache der Geschichte
Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des
Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern
vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der
Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit Mögliche. Denn der Ge-
schichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht da-
durch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in
Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse
kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichts-
werk als ohne Verse -; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch,
daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was
geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres
und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung
teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen
das Besondere mit. (Aristoteles 1451 a-b)
«La lingua con cui parla la storia ideale eterna», «die Sprache,
mit der die ewige ideale Geschichte spricht», eine solche Sprache,
wie sie Vico in seiner Scienza Nuova von 1744 annimmt, muß den
Sprachwissenschaftler interessieren, der es normalerweise mit sehr
viel bescheideneren Sprechern und Sprachen zu tun hat: mit Men-
schen und Menschengruppen, mit Sprachgemeinschaften und deren
Sprachen, langues, wie sie die Linguistik terminologisch seit Saus-
sure nennt. Daß aber hier die Geschichte spricht, ja sogar die Ewige
Ideale Geschichte, la storia ideale eterna, das ist für jeden Sprach-
wissenschaftler eine besondere Herausforderung.
Vor allem aber ist die «Sprache der Geschichte» für den Lingu-
isten heute deswegen interessant, weil sich manche Historiker in
jüngster Zeit Sprachlichem zugewendet haben (was durchaus das
Entsetzen anderer Historiker ausgelöst hat). In diesem «linguistic
turn» der Historiker geht es einerseits ebenfalls um die sprechende
Geschichte, andererseits aber – und vor allem – um die Sprache der
Historiker, also um die Sprache der Geschichts-Wissenschaft. Der
Titel «Sprache der Geschichte» ist also zweideutig, weil der Aus-
druck «Geschichte» zweideutig ist und, wie Koselleck sagt (1979:
130), «den Ereigniszusammenhang und dessen Darstellung» bzw.
sie selbst und «das Wissen ihrer selbst» meint: res gestae und histo-
252
ria rerum gestarum. Wenn ich mich nun als Sprachwissenschaftler
mit der Sprache der Geschichte beschäftige, so ist das gleichsam ein
Beitrag zur einer noch zu etablierenden linguistischen Teildisziplin,
der Linguistik der Geschichte.2
Drei Dinge fallen dem Linguisten bei Vicos Satz über die Sprache
der Geschichte auf:
Erstens: Die Geschichte spricht, d. h. die Geschichte ist ganz
offensichtlich ein Subjekt, ein Sprache habendes Wesen wie der
Mensch, ein zoon logon echon. Dies ist auf den ersten Blick eine
ziemlich ungewöhnliche Sprecherin.
Zweitens: Die Sprache, mit der die Geschichte spricht, ist ein
Wortschatz: lessico. Sie ist keine Grammatik oder gar eine Syntax.
Die Sprache der Geschichte ist trotz dieser Einschränkung aber
offensichtlich eine langue, d. h. ein «System» und nicht, was zu-
meist mit «Sprache der Geschichte» gemeint ist: Rede, Diskurs,
kommunikative Handlung. Sie ist aber dennoch keine bestimmte
historische Einzelprache, also etwa das Lateinische, sondern ein
Gemeinsamer Geistiger Wortschatz der Menschheit.
Drittens: Der Gemeinsame Geistige Wortschatz ist die Sprache
der Geschichte als «Ereigniszusammenhang», aber er ist offensicht-
lich zugleich auch die Sprache der Wissenschaft von der Geschichte.
Vico sagt dies an mehreren Stellen ausdrücklich: Die Sprache der
Geschichte ist auch «lingua di questa scienza» (162). Das heißt
die Sprache des Ereigniszusammenhangs und Sprache des Wissens
über diesen Ereigniszusammenhang koinzidieren. Die beiden
Sprachen der Geschichte fallen zusammen. Diese schöne Koinzi-
denz ist allerdings in der modernen Wissenschaft von der Ge-
schichte fraglich geworden, ja das Verhältnis von sprechender Ge-
schichte – wenn die Geschichte denn spricht – und Sprache des
Wissens von der Geschichte ist gerade das Problem der Geschichts-
wissenschaft. Es ist der gefährliche Abgrund, in dem der linguistic
turn lauert.
12.1.1.1. Das Bild zeigt, daß in Vicos Welt alles bestens geregelt
ist: Die göttliche Vorsehung, la Provvedenza divina, herrscht in der
Welt, in der Natur, im mondo naturale, ebenso wie in der gesell-
schaftlichen Welt, im mondo civile. Oben links im mystischen Drei-
eck erscheint das Auge Gottes, welches die ganze Szene überblickt
und erleuchtet. Das menschliche Denken ist dargestellt von der
Dame mit den Flügeln, die auf der Erdkugel balanciert. Es ist die
Philosophie, genauer: die Meta-Physik im wörtlichen Sinne, metà
physikè – also das auf der physischen, der natürlichen Welt basie-
rende Denken. Das Neue an Vicos Philosophie ist nun aber gerade
die Tatsache, daß sich im Herzen der Metaphysik das Licht des
Göttlichen Auges bricht und auf den anderen Teil der Welt gewor-
fen wird: auf die gesellschaftliche Welt, den mondo civile. Vico grün-
det seine Wissenschaft – also die Suche nach sicherem und wahrem
Wissen – nicht auf der Natur, sondern auf dem Politischen. Nur
hier, so die bekannte Begründung, könne man sicheres Wissen ha-
ben, weil man nur das sicher wissen könne, was man selber gemacht
habe, und dies sei nun einmal der mondo civile und nicht die Na-
tur, die wir nicht erkennen könnten, weil wir sie nicht gemacht
hätten.
Mondo civile ist – außer der Erdkugel – alles, was man auf dem
Bild sieht: die Statue Homers, der Altar, der die natürliche Welt
trägt, das Ruder, der Pflug, die Urne, die Schrifttafel, das Liktoren-
bündel und so weiter. Dies sind Symbole, Bilder oder – wie Vico
sagt – Hieroglyphen des mondo civile, der gesellschaftlichen oder
mit dem alten griechischen Wort: der «politischen» Welt. Die Meta-
Physik wird bei Vico Meta-Politik.
254
Die beherrschende Gestalt der politischen Welt, des mondo ci-
vile, ist nun – einigermaßen überraschend – Homer, auf dessen
Statue aus dem Herzen der Metaphysik der Strahl der göttlichen
Vorsehung fällt. Die andere Hauptgestalt – man sieht sie kaum, und
sie wird deswegen auch gern übersehen – ist Herkules. Dieser ist
vermittels der Sternbilder Löwe und Jungfrau im Zodiak der Erd-
kugel dargestellt. Herkules ist der fundamentale politische Held. Er
überwindet die Wildheit der Natur, er ist die materielle Bearbeitung
der Welt, die Umwandlung der Natur in Kultur im wahrsten, also
landwirtschaftlichen Sinne des Wortes: coltura. Herkules ist die Ar-
beit und damit die Grundlage des Gesellschaftlichen überhaupt, der
Vater der Nation. Die andere Gestalt, Homer, ist demgegenüber der
Schöpfer der Zeichen – der poeta – , er repräsentiert die geistige
255
Bearbeitung der Welt, die geistige Transformation der Natur in
Kultur im modernen übertragenen Sinn (Vico verwendet das Wort
coltura allerdings nicht in diesem Sinne) bzw. genauer: in Sprache.
Homer ist die Sprache. Und Homer ist, jedenfalls in dieser Darstel-
lung der gesellschaftlichen Welt, offensichtlich die dominante Ge-
stalt.
12.1.1.2. «Homer» ist nun die eigentlich geniale Einsicht Vicos, das
wirklich Neue der Neuen Wissenschaft: Der mondo civile ist näm-
lich nicht nur das Recht, also die gesellschaftliche Organisation
selbst, das Soziale als solches, Herkules, sondern immer zugleich
auch Sprache, Homer. Und diese Einsicht Vicos ist nichts mehr und
nichts weniger als ein linguistic turn, eine sprachliche Wende, der
Philosophie. Es ist der erste linguistic turn in der Geschichte des
abendländischen Denkens, vor dem zweiten, den Herder und Hum-
boldt bewerkstelligen werden, und lange vor dem dritten, den je
nach Geschmack Frege oder Wittgenstein vornehmen, und sehr
lange vor dem linguistic turn der aktuellen Geschichtswissenschaft.
Die «sprachliche Wende» der Philosophie drückt sich bei Vico in
dem ganz harmlos klingenden Satz aus, daß er nach jahrelangem
Nachdenken herausgefunden habe, daß die ersten Menschen «Poe-
ten» gewesen seien, die in «poetischen Charakteren» gesprochen
hätten:
(34) […] ch’i primi popoli della gentilità, per una dimostrata
necessità di natura, furon poeti, i quali parlarono per caratteri
poetici.
[…] daß die ersten Völker des Heidentums – mit nachgewiesener
Naturnotwendigkeit – Poeten gewesen sind, die in poetischen
Charakteren sprachen.
Das heißt «Sprache» ist conceptus und vox zugleich. Denken und
Sprechen sind miteinander verbunden. Die geistige Bearbeitung der
Welt ist nicht ein reines Denken, sondern ein Schaffen von Zeichen,
die zweiseitig sind, d. h. aus vox und conceptus bestehen, oder, wie
Saussure sagt, aus signifiant und signifié, die unauflöslich miteinan-
der verbunden sind.
12.1.1.4. Aber an der eingangs zitierten Stelle hieß es, daß die Ge-
schichte spricht. «La lingua in cui parla la storia». Von «Geschichte»
war aber bisher noch nicht die Rede, sondern nur von gesellschaft-
licher Welt, mondo civile.
Erich Auerbach hat in seiner Übersetzung der Scienza Nuova
in Diltheyscher Redeweise den Ausdruck mondo civile mit «ge-
schichtliche Welt» wiedergegeben, was sicher nicht ganz falsch,
aber doch eine ganz bewußt tendenzielle Interpretation ist.5 Der
Ausdruck civile, der dem griechischen politikos entspricht, bedeu-
tet «gesellschaftlich», civitas oder polis ist «Gemeinschaft, Bürger-
schaft, Gesellschaft» und nicht «Geschichte». Die Grundoppo-
sition Vicos heißt natura versus civitas-polis, nicht Natur versus
Geschichte, im übrigen auch nicht Natur versus Kultur, wie Kitt-
ler (2000) uns glauben machen möchte, «Kultur» sagt Vico über-
haupt nicht. Vico sagt mondo civile und er sagt «Geschichte», wenn
er Geschichte sagen will: storia (bzw. das Adjektiv storico). Ge-
schichte, storia, ist die zeitliche, die diachronische Dimension des
Politischen.
In diesem zeitlichen Ablauf des mondo civile – la storia – wird die
genannte Duplizität von gesellschaftlicher Organisation und Spra-
che besonders deutlich. Die Geschichte spricht, weil der mondo
civile eine sprechende Welt ist. Die politische Diachronie sieht fol-
gendermaßen aus: Zuerst organisieren sich die Menschen in der
theokratischen Herrschaft eines Großen Vaters, dann assoziieren
sich die Väter zu einer aristokratischen Herrschaft, die schließlich
258
vom Volk revolutionär in eine Gesellschaft der Rechtsgleichheit
aller Menschen umgestaltet wird. Es folgen aufeinander das gött-
liche, das heroische und das menschliche Zeitalter. Diesen drei ge-
sellschaftlichen Organisationsformen entsprechen drei semiotische
Formen, d. h. jede der drei Rechtsformen hat auch eine sprachlich-
semiotische Struktur. Auf die ursprüngliche, göttliche Sprache folgt
die heroische und auf diese die menschliche Sprache. Grob gesagt
stellt sich Vico die Entwicklung der menschlichen Zeichen so vor,
daß am Anfang – wie in seinem Buch – abbildliche Zeichen stehen
und daß die Sprachen dann immer weniger abbildlich werden,
«willkürlicher», «arbiträrer». Außerdem wird die Sprache, die am
Anfang hauptsächlich visuell war, immer lautlicher. Am Ende der
Entwicklung der menschlichen Semiose stehen die menschlichen
Lautsprachen.
12.1.2. Wissenschaft
12.1.2.1. Diesen ausgesprochen universellen Zug der Vicoschen
Theorie hat gerade die Vico-Lektüre der modernen Historiker und
Kulturwissenschaftler immer gern übersehen. Sie hat zumeist nur
den ersten Teil von Vicos Epistemologie betrachtet: Sichere Er-
kennntnis ist möglich, weil die gesellschaftliche Welt vom Men-
schen gemacht ist und weil wir nur das erkennen können, was wir
selber gemacht haben. Das klingt ja wie eine wunderbare Recht-
fertigung der Wissenschaftlichkeit der sich im 19. Jahrhundert kon-
stituierenden Wissenschaften von der Kultur, der Geschichte und
der Politik. Und es klingt, als sei das hermeneutische Verstehen par-
tikularer historischer Gestalten gleich mitgedacht. Nur: dies ist
gerade ausdrücklich nicht gemeint. Denn zur Wissenschaft gehört
für Vico noch eine eherne zweite Bedingung, nämlich:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
261
Diese Wörter bezeichnen zwar alle dieselbe Sache, sie stellen aber
die Sache jeweils anders dar. Das eine Wort «sieht» die Stärke des
Urvaters, das andere die Waffengewalt, die Macht, die Priesterschaft
etc. Auch eine Kombination von Eigenschaften ist möglich, Vico
erwähnt insgesamt zwölf ewige Eigenschaften. Das Wort Heri etwa
bezeichnet die Eigenschaften 6 und 10, Re dagegen nur Eigenschaft
6. Verschiedene Wörter präsentieren also verschiedene Ansichten
von derselben Sache: diversi aspetti. Humboldt wird sagen, daß die
verschiedenen Sprachen verschiedene «Weltansichten» sind. Das Ge-
meinsame Geistige Wort ist das Ensemble dieser Wörter und ihrer
Semantik. Schematisch können wir das folgendermaßen darstellen:6
conceptus conceptus
vox vox
res
conceptus conceptus
vox vox
Spezifisch für das Gemeinsame Geistige Wort ist also, daß Vico die
verschiedenen «Ansichten» derselben Sache nicht tilgt, sondern in
seinem Lexikon aufhebt. Vico hält die verschiedenen Welt-Ansich-
ten aus. Die Verschiedenheit ermöglicht es gerade, möglichst viele
Eigenschaften des betrachteten Gegenstandes zu erkennen.7 Da-
bei interessiert ihn aber nicht der einzelne individuelle Anblick als
solcher. Ihn interessiert das Ensemble. Das Ensemble der verschie-
denen Ansichten ist das Universelle Wort, das Gemeinsame Gei-
stige Wort, und auf diese Gemeinsamkeit kommt es ihm an.
Die Sprache der Geschichte ist also ein Wörterbuch der politi-
schen Grundbegriffe der Menschheit. Diese setzen sich jeweils aus
262
den verschiedenen Wörtern individueller Sprachen zusammen. Die
Sprache der Geschichte ist gerade keine bestimmte Einzelsprache,
sondern das Zusammenschauen oder Zusammenklingen, Synopsis
und Symphonie, aller Sprachen der Menschheit.
Aber dann? Wenn sie mit der Sprache und den Zeichen nicht wei-
terkommt, schlägt dann die Geschichte wieder brutal zu, ohne
Sprache und Zeichen? Schweigen dann die Wörter wieder? Herrscht
dann die sprachlose Tat?
Die Sprache und die Zeichen sind nicht so unschuldig, wie sie in
dieser Gegenüberstellung zur Gewalt erscheinen, und die Gewalt
ist nicht sprachlos. Wörter und Zeichen sind nicht nur Abwesenheit
von Gewalt, sie ermöglichen sie auch. Die Gewalt, von der wir hier
reden, kommt nämlich ohne Sprache nicht zustande. Es handelt
265
sich bei der Gewalttat des 11. September ja nicht um die Aktion
von Löwen, die sich hungrig und sprachlos auf die Gazelle stürzen,
auch wenn die entsprechenden Herren sich gerne Löwen, Panther,
Wölfe etc. (schwarze, graue etc.) nennen. Eine unendliche Kette
von sprachlichen und semiotischen Handlungen war nötig, um die
Taten des 11. September zu organisieren: von der Haßrede der Mul-
lahs über den Unterricht an der Technischen Hochschule Harburg
und die Unterweisung an der Flugschule, mit Sprache und Zeichen,
Zeichnungen, Bildern, Diagrammen, bis zum Kauf der Flugtickets
und Messer und zu den Befehlen der Entführer an die Flugzeugin-
sassen. Die – in diesem Fall außerdem ihrerseits hochsemiotische,
d. h. auch als Zeichen intendierte – Tat ist eingebettet in sprachliche
und semiotische Handlungen, mit denen sie vorbereitet wird. Das-
selbe trifft zu für den Krieg, für die Konzentrationslager und Ver-
treibungen: alles das ist untrennbar vom Sprechen und Zeichen-
machen des Menschen. Ohne Sprache gäbe es das alles nicht. Seit
dem Sündenfall, d. h. von Anfang an, sind überall, wo der Mensch
handelt, auch seine Sprache und seine Zeichen präsent. Tatsächlich
spricht die Geschichte.
Diese Einsicht liegt dem ersten – und gewissermaßen harmlosen
– linguistic turn der aktuellen Geschichtswissenschaft zugrunde. In
diesem sind die «Wörter der Geschichte» – die Wörter, in denen
sich das Ereignis artikuliert, die Zeichen, die das Ereignis selbst
sind, die Ereignisse, welche Zeichen sind, und das kommunikative
Geflecht, in welches das Handeln verwoben ist – zum Gegenstand
der historischen Betrachtung gemacht worden. Die Sprachlichkeit
der Geschichte rückt in verschiedener Intensität ins Bewußtsein
der Historiker, und sie nimmt verschieden großen Raum in ihren
Forschungen ein: Bei Koselleck etwa, der ja durchaus schon einen
linguistic turn vollzieht, begleitet und ergänzt die Begriffsgeschichte
die Sozialgeschichte. Bei Chartier, Darnton, Zemon Davies domi-
niert der Blick auf die Zeichen und die Kommunikation: z. B. in
Darntons Geschichte vom Katzenmassaker oder in Poesie und Poli-
zei, in Deutschland etwa bei Kittsteiner (mit einem interessanten
theoretischen Rückgriff auf Cassirer). Guilhaumou (1989) stellt die
Französische Revolution als eine Sprach- und Kulturrevolution
dar. Chartier (1995) warnt allerdings davor, die Geschichte ganz im
Sprachlichen aufgehen zu lassen: Semiose und Praxis – mit Vico ge-
266
sprochen: Homer und Herkules – seien Sphären, die nicht völlig
ineinander aufgingen. Foucault hat jenen ganz eigentümlichen
historischen Gegenstand jenseits der handelnden Menschen erfun-
den, den er «Diskurs» nennt und der sprachförmig ist. Eine radikale
Semiotizität der gesamten gesellschaftlichen Welt nimmt etwa Ge-
ertz an: alles ist Text. Und der Philosoph Fellmann (1991) faßt, von
Vico, Schopenhauer und Dilthey angeregt, «Geschichte als Text».
conceptus
res
vox
Was mit dem linguistic turn der Historiographie heute vor allem
gemeint ist – die Erkenntnis der Sprachlichkeit oder der Literarität
von Geschichtsschreibung – läßt sich also bei Humboldt festma-
chen. Schon Humboldt weist mit seinen Überlegungen eine naive
Auffassung von Historiographie zurück, die meint, sie könne das
Geschehene einfach so aufschreiben, wie es eben daliegt, es sozu-
sagen einfach registrieren, und die damit sprachtheoretisch naiv
auch glaubt, die Semantik der Sprache und des Textes «vertilgen»
zu können.
12.2.2.2. Auch Roland Barthes, der für den linguistic turn der Ge-
schichtswissenschaft anderthalb Jahrhunderte später verantwort-
lich gemacht wird, schreibt zunächst nichts anderes: In seinem
berühmten Aufsatz «Le discours de l’histoire» von 1967 kritisiert
er nämlich im wesentlichen die Illusion der Historiker, sie könnten
aus der Sprache und ihrer Semantik aussteigen und – noch radika-
269
ler als Aristoteles – vox direkt mit res verbinden, moderner aus-
gedrückt: den Signifikanten direkt auf den Referenten beziehen (er
denkt offensichtlich an die sich extrem faktuell, «wissenschaft-
lich» gebende Historiographie der Annales-Schule). Roland Barthes
weiß mit Saussure, daß Wörter nicht einfach Namen sind, die auf
Sachen verweisen, sondern daß die Wörter unauflöslich zweiseitige
Größen sind, Laute, die ihre Bedeutungen mit sich herumschlep-
pen, Einheiten aus signifiant und signifié (er weiß offensichtlich
nicht, daß das lange vor Saussure auch schon Humboldt oder Vico
wußten oder daß Herder gesagt hat, daß die Gedanken an den Wör-
tern kleben). Barthes besteht darauf, daß die innertextuelle und in-
nersprachliche Semantik nicht «vertilgt» werden kann. Soweit ist
Barthes’ Analyse nichts anderes als das Einschreiben einer seit Vico,
Herder, Humboldt, Saussure bekannten sprachtheoretischen Ein-
sicht in das Stammbuch der modernen Geschichtsschreiber.
Allerdings – und damit schüttet Barthes das historische Kind mit
dem linguistischen Bade aus – radikalisiert Barthes seine Analyse
des historiographischen Diskurses insofern, als er dann jede Exte-
riorität des historischen Diskurses leugnet. Der Bezug auf einen
Referenten sei nur ein Schein, der Referent existiere ohne den Text
gar nicht. Der historische Diskurs sei, so schreibt er, der einzige, bei
dem der Referent zwar als dem Diskurs äußerlich anvisiert werde,
bei dem es aber niemals möglich wäre, den Referenten außerhalb
dieses Diskurses auch zu erreichen9 – einfach weil es ihn außerhalb
des Diskurses nicht gebe:
conceptus
res
vox
Die res gestae sind für Barthes nämlich allein durch den histori-
schen Diskurs selbst generiert und existieren als solche außerhalb
der Rede nicht. Die Unterscheidung von res gestae und historia
rerum gestarum wäre also nur ein Schein. Was Humboldt das «Hin-
zugefügte» nennt, wird hier absolut gesetzt. Das historische Fak-
270
tum existiert für Barthes nur sprachlich. Es gibt sozusagen gar
nichts, zu dem etwas «hinzugefügt» werden könnte. Das Faktum
hat keine andere als sprachliche Existenz: «Le fait n’a jamais qu’une
existence linguistique» (Barthes 1967: 425). Und doch werde beim
historischen Diskurs so getan, als ob das an sich nur sprachlich exi-
stierende Faktum die Kopie eines Außersprachlichen sei, comme si:
«comme si cette existence n’était que la ‹copie› pure et simple d’une
autre existence, située dans un champ extra-structural, le ‹réel› »
(ebd.). Das Außersprachliche, Wirkliche, ist für Barthes ein Als-ob,
ein Schein, den Barthes den «effet de réel», den Wirklichkeitseffekt
des historischen Diskurses, nennt. Humboldts Sinn für die Wirk-
lichkeit wäre nach dieser Analyse gleichsam nur eine Wahnvorstel-
lung.
Wieso konnte Roland Barthes (und die ihm folgenden «lingui-
stisch gewendeten» Historiker) zu dieser Auffassung von der (fast)
gänzlich sprachlichen Immanenz und Weltlosigkeit des historischen
Diskurses kommen? Dies hängt, wie man liest, mit Saussure zusam-
men. Das ist richtig.10 Mein Eindruck ist aber, daß Barthes einen
Gedanken Saussures auf eine Ebene transponiert, wohin er nicht
gehört: den Gedanken der Weltlosigkeit des sprachlichen Zeichens.
Dieser Gedanke Saussures steht in radikalisierter Form im Zent-
rum jener Sprachtheorie, die tatsächlich die linguistische Basis des
Barthesschen Sprachdenkens ausmacht: nämlich im Zentrum der
Sprachtheorie Louis Hjelmslevs:11 Hjelmslev hat die Substanz – den
konkreten Laut und die Welt (die uns hier interessiert) – radikal aus
der Betrachtung der Sprache ausgeschlossen und Linguistik auf die
ausschließliche Betrachtung der immanenten Form festgelegt.
Aber sowohl Saussure als auch Hjelmslev tun dies auf einer
Ebene der Sprachbetrachtung, wo dies legitim ist: auf der Ebene der
Betrachtung des abstrakten Sprachsystems, der langue. Weder Saus-
sure noch Hjelmslev schließen jedoch die Substanz – und das heißt
hier: die bezeichnete Realität – für die Ebene aus, um die es in der
Geschichtsschreibung geht: für die Ebene der Rede, des konkreten
Sprechens, der Texte. Im Gegenteil: die Rede ist gerade der Ort, wo
für Hjelmslev sowohl die Substanz des Ausdrucks, der konkrete
Laut, als auch die Substanz des Inhalts – die bezeichnete Wirk-
lichkeit – vorkommen. Es scheint, daß die Ausschließlichkeit des
Hjelmslevschen Blicks auf die immanente Form der Sprache
271
(langue) hier ihre Spuren in der Barthesschen Theorie des Textes
(parole) hinterlassen hat.
12.2.2.3. Der Ausschluß der Welt muß natürlich die echten Histori-
ker mit ihrem – für meinen Geschmack oft allzu ausgeprägten –
«Sinn für die Wirklichkeit» empören. Allerdings habe ich bisher
auch noch keinen vom linguistic turn ergriffenen Historiker getrof-
fen, der die radikale sprachliche Immanenz des historischen Dis-
kurses wirklich ernsthaft vertreten würde.12 Der radikal sprachlich
gewendete Historiker scheint mir eher ein Pappkamerad zu sein,
ein Buhmann, eine Art Vogelscheuche, die (in den Arbeiten von
Iggers herumgeistert und) vor der anderen und ziemlich unabweis-
baren Einsicht abschrecken soll, vor der Einsicht nämlich in die
unumgehbare Sprachlichkeit und Literarität des historischen Dis-
kurses. Hinter dem Vorzeigen des Popanzes steht die nostalgische
Sehnsucht nach «richtiger», echter, objektiver Wissenschaftlichkeit,
wie es sie in den «richtigen» Wissenschaften geben soll, die in kla-
rer und eindeutig referierender Sprache reden. So beschwört etwa
Iggers (1996: 89) das Sprachideal der analytischen Philosophie, das
Ideal von klarer und eindeutig referierender Sprache, d. h. eine
Sehnsucht nach Sprachlosigkeit.
Jedenfalls vertritt auch jener Theoretiker und Historiker, dem
die Position der referenzlosen Sprachlichkeit nachgesagt wird, eine
solche Position nicht. Ich meine Hayden White. White ist nach
meiner Lektüre seiner Schriften mitnichten ein Propagandist der
totalen immanenten Sprachlichkeit des historischen Diskurses à la
Barthes, sondern gerade eher ein Kritiker dieser Auffassung – zu-
mindest war er es ursprünglich. Er belegt in der Tat die von Barthes
nur angedeutete sprachlich-literarische Existenzweise des histori-
schen Faktums bei verschiedenen Historikern. Daß Klio dichtet,
wie eines seiner Bücher heißt, und wie sie dichtet, stellt Hayden
White in seinen zahlreichen metahistorischen Untersuchungen fest.
Aber er findet das eigentlich – zumindest am Anfang – überhaupt
nicht gut. Das erste große Buch war in seiner Tendenz eine Kri-
tik der Literarität der Historiographie, White hat dort (genau wie
Iggers) mehrfach die «Wissenschaftlichkeit», also die Objektivität
von Geschichte nach dem Vorbild der Naturwissenschaft eingefor-
dert (White 1973: XI, 2, 428). Inzwischen hat er sich allerdings,
wenn ich neuere Äußerungen richtig verstehe (White 2001), wohl
272
damit abgefunden, daß Historiographie – in verschiedenem Aus-
maß übrigens – literarisch ist, d. h. er hat davon Abstand genom-
men, sie auf den Pfad des objektiven Bezeichnens zurückführen zu
wollen. Aber er geht doch nicht so weit wie Barthes: Den «Sinn für
die Wirklichkeit» spricht er den Historikern nicht ab. Allerdings –
und dies halte ich für seine eigentliche Schwäche – auch den Dich-
tern nicht. Für ihn referiert auch die Dichtung auf die Wirklichkeit,
und deswegen gibt es keinen Unterschied zwischen dem literari-
schen und dem historiographischen Diskurs. Also: auch Kalliope,
Melpomene, Polyhymnia und sämtliche Musen der Dichtung refe-
rieren. Dies ist schon eher problematisch.13
12.2.3. Envoi
Abschließend möchte ich den entscheidenden sprachtheoretischen
Punkt noch einmal mit einem Beispiel illustrieren: die Sprach-
lichkeit oder Literarität des historischen Diskurses, die seine Refe-
rentialität nicht ausschließt. Das «Geschehene», auf das sich mein
Beispiel bezieht, ist das Warschauer Zeichen Willy Brandts, das
semiotisch-kommunikative Ereignis, das ich schon einmal ange-
führt habe. Zu diesem Geschehenen schreibt Marie-Luise Recker in
ihrem wunderbaren kleinen Buch zur Geschichte der Bundesrepu-
blik:
Recker schreibt also das Ereignis ein in die Erzählung der Entwick-
lung der Ostpolitik und des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ich
selbst – wenn ich mich hier einmal zu Illustrationszwecken als
Historiker aufwerfen darf – habe von demselben Geschehen vorhin
folgendes gesagt:
Und wenn ihr die Worte fehlen, gibt die friedliche Geschichte
273
Zeichen, wie das folgende, das sicher das bewegendste und be-
deutendste Wort unserer neueren Geschichte ist. Deutschland
konnte, was zu sagen war, nicht anders sagen als mit dieser Ge-
bärde.
13.2. Abweichung
In einer anderen Passage ist explizit von einem System die Rede,
vom «Sonnensystem» des Autor-Geistes nämlich, «into whose or-
bit all categories of things are attracted» (Spitzer 1948: 14), also auch
die abweichenden sprachlichen Strukturen. Nicht Abweichung
allein, sondern Abweichung und Systematizität dieser Abweichung
bilden den Kern des Konzepts der poetischen Sprache. Systematizi-
tät ist ein Element der Ordnung, welche das deviante Verhalten zu
heilen scheint. Aber in Wirklichkeit macht sie die Abweichung
noch abweichender, wie wir anhand nicht-sprachlicher Beispiele
sehen können: Ich kann von normalen sozialen und moralischen
Standards abweichen, indem ich eine Person töte, weil diese Person
mich bedroht hat und ich meine Beherrschung verloren habe; aber
mein Töten kann auch systematisch, konsistent, wiederholt sein –
wie bei James Ellroys Großen Amerikanischen Killern. Ich denke,
daß Richter jeweils anders reagieren. Das tun auch literarische
Richter.
Die Auffassung von poetischer Sprache als Abweichung von der
Norm hat großen Erfolg gehabt. Für die linguistische Annäherung
an Poesie war diese Konzeption deswegen so praktisch, weil sie es
Linguisten erlaubte, dieses schlüpfrige Ding zu lokalisieren und zu
fassen: das Poetische von Texten. Man brauchte nur sprachliche
Abweichungen zu sammeln, und schon hatte man eine wissen-
schaftliche Beschreibung des Poetischen. Spitzer tat das natürlich
nicht, dazu war er viel zu sehr Literaturwissenschaftler. Für ihn war
das Sammeln von Aberrationen nur ein erster Schritt, nach dem er
daran geht, die aberranten sprachlichen Strukturen zu erklären und
zu interpretieren. Aber szientifischer orientierte Linguisten, die
sich mehr um Objektivität, Wissenschaftlichkeit und ähnliches be-
mühten, stützten sich stark auf das Sammeln abweichender Struk-
turen. Die szientifischsten Linguisten jedenfalls haben diese Kon-
zeption begeistert aufgegriffen: Die generative Beschreibung von
Dichtung arbeitete mit dem Konzept der systematischen Abwei-
chung. Sie lokalisiert den sprachlichen Fehler in ihrer formalen Be-
schreibung, sucht nach der Systematizität des Regelverstoßes, und
schon ist das Poetische beschrieben. Die Wissenschaft ist glücklich.
284
Da sie weiß, wo sie nach Poetizität suchen muß, bekommt sie sie
auch deskriptiv wunderbar in den Griff.
Die ethischen Implikationen einer auf diese Weise beschriebenen
Poetizität sind evident. Abweichung vom Normalen ist ein Abge-
hen vom rechten Weg, und der rechte Weg ist der Weg der Tugend.
Devianz ist somit entweder eine mildere Form des Verbrechens
oder die klinische Beschreibung desselben. Devianz wird im übri-
gen oft als Abirrung von der sogenannten sexuellen Normalität ge-
dacht. Es ist kein bloßer Zufall, daß das Wörterbuch-Beispiel für
das englische Adjektiv «deviant» immer lautet: «sexually deviant».
Unter normalen Umständen wird Devianz bestraft oder sonstigen
Sanktionen unterworfen, oder, wenn sie nicht bestraft wird, ver-
sucht man wenigstens, sie zu heilen. Auf jeden Fall wird abwei-
chendes Verhalten von der Gesellschaft nicht einfach toleriert oder
gar gefeiert. Wir erinnern uns alle, um im eher harmlosen Feld
sprachlicher Produktionen zu bleiben, an die Sanktionen gegen un-
sere sprachlichen Abweichungen, auch die systematischen, in der
Schule. Unsere Lehrer pflegten die poetischen Freiheiten in unseren
Klassenarbeiten zu bestrafen. Und selbst wenn wir geltend mach-
ten, daß Georg Trakl oder Thomas Mann es doch genauso machten
wie wir, sagten diese grausamen Pädagogen, daß wir nicht Trakl
oder Thomas Mann seien – womit sie ja durchaus recht hatten.
Quod licet Jovi… Aber warum durften die schreiben, wofür wir
bestraft wurden? Es gab ganz offensichtlich zwei Gesetzgebungen,
eine für Leute wie Trakl und Thomas Mann und eine andere für
Leute wie dich und mich. Es mußte also etwas geben, was die Re-
geln und die Gesetze der Korrektheit suspendiert: Der einzige, dem
man abzuweichen erlaubt, ohne daß er bestraft oder therapiert
wird, ist das Genie. Diese Umbewertung von Devianz ist der Grund
dafür, daß normalerweise Poeten und Künstler nicht verfolgt wer-
den (Platon der Terminator oder irgendein fundamentalistischer
Mullah lauern allerdings hinter der nächsten Straßenecke!). Ich
werde später auf diese große Ungerechtigkeit zurückkommen, die
der einzige Ort der Hoffnung ist.
285
13.3. Gegen poetische Abweichung
295
«Artikulationsgen» zu sein: Bei bestimmten Vögeln ist es offensichtlich
für den gegliederten Gesang zuständig.
15 Vgl. aber Ujhelyi (1996) oder Dunbar (2003), der die affektiv-soziale
Situation des grooming als grundlegend für Sprache ansieht.
16 Die Literatur zum Sprachursprung wächst in unglaublicher Geschwin-
digkeit, die wissenschaftlichen Aktivitäten sind kaum noch zu überse-
hen. Kolloquien zur Evolution der Sprache sind derzeit die prominente-
sten Foren der anthropologisch-linguistischen Diskussion. Ich verweise
nur auf den von Sean Ward und mir herausgegebenen Sammelband (Tra-
bant / Ward Hrsg. 2001), auf Christiansen / Kirby (Hrsg. 2003) und auf
die seit 1996 alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen der Gruppe evo-
lang, vgl. Hurford / Studdert-Kennedy / Knight (Hrsg. 1998).
296
11 Vgl. Humboldt (VI: 119).
12 Zu diesem Ausdruck siehe das nächste Kapitel.
13 Weiteres hierzu im nächsten Kapitel.
297
5. Wissen als Handeln
1 Vgl. die Fußnote über den Berliner Finanzsenator im vorigen Kapi-
tel.
2 Auch die – mit einem Bacon-Zitat beginnende – Kritik der reinen Ver-
nunft ist an diesem Typ des denkend auf die Welt zupackenden Be-Grei-
fens ausgerichtet: «Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien […] in einer
Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der
anderen, an die Natur gehen» (KrV: B XIII).
3 Vgl. Maas / Wunderlich (1972).
4 Diese ist in den letzten Jahre weitgehend wieder kassiert worden: die
herrschende Linguistik ist zurück bei der rein kognitiven Kopfgeburt
jenseits jeglicher Gesellschaft: Sprache als – möglichst angeborenes – Wis-
sen, das bestimmt kein Handeln ist.
5 Vgl. Trabant (1994) und (2006), siehe unten Kap. 12.
6 Umgekehrt wäre es sicher nicht richtig, alle Zeichen als Aufhebungen
von Wissen anzusehen. Es gibt Zeichen, die andere Funktionen haben
wie z. B. «zum Handeln auffordern», «etwas in etwas verwandeln», «Ri-
tualia» etc., vgl. Trabant (1996).
7 Diese beiden Figuren spielen eine Hauptrolle im nächsten Kapitel.
298
9 Genau das meint übrigens auch Humboldt mit seiner berühmten Be-
stimmung der Sprache als energeia.
10 Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann (Übers. Fritz Baumgart).
München: dtv 1986: 53.
11 Bezeichnenderweise ist gravitas die Eigenschaft, die Vico immer wieder
für sich als ernsten Philosophen und für die anderen «Väter» der Kultur
in Anspruch nimmt.
12 Vgl. die klassische Passage im Cortegiano (der Conte spricht): «Ma il lor
vero maestro cred’io che fosse l’ingegno ed il lor proprio giudicio natu-
rale» (Castiglione 1528: 79).
13 Das Argument ist so alt wie die Philosophie: mit ihm endet, wie wir ge-
sehen haben, der erste bedeutende europäische Text über die Sprache,
Platons Kratylos.
14 Siehe oben Kapitel 4.
15 Advancement und augmenta der Wissenschaften wird auch Bacon, der
Vater der Aufklärung, auf seine Fahnen schreiben.
16 Systematisch diskutiere ich das von Speroni angesprochene Verhältnis
von Neuer Wissenschaft und Sprache im nächsten Kapitel.
17 Vgl. die völlig uncoole aktuelle Globanglisierung des Deutschen, von
der auch im zehnten Kapitel kurz die Rede sein wird.
299
4 Siehe oben Kap. 4.2.2.
5 Vgl. Martinet (1960: 17 f.).
6 Siehe oben Kap. 3.2.4.2.
7 Vgl. Trabant (2002: Kap. 3): «Condillac und die Französische Revo-
lution».
8 Vgl. die Dokumente zur Enquête von Grégoire in de Certeau / Julia /
Revel (1975: 173–249).
9 Dies wird z. B. auch deutlich, wenn ein paar Jahre später von den auf-
geklärten «Observateurs de l’Homme» die ländliche Welt Frankreichs
neben den fremden Völkern – les sauvages – und den Kindern als ein
bevorzugter Gegenstand der anthropologischen Forschung anvisiert
wird, vgl. Trabant (2004).
10 Vgl. die Einleitung von Ilona Pabst und Brigitte Schlieben-Lange zu
Rodoni (1793 / 94 / 1998). Die in der Revolutionszeit publizierte fünfte
Ausgabe des Wörterbuchs der Académie française enthält ein Supple-
ment mit neuen Wörtern.
11 Das berühmteste diesem Zweck dienende Grundlagenwerk ist Destutt
de Tracy (1801–15).
12 Nachzulesen unter www.dglf.culture.gouv.fr.
13 Dem Problem der «gebellten» deutschen Sprache ist das zehnte Kapitel
gewidmet.
300
10. Die gebellte Sprache: Über das Deutsche
1 Vgl. das Schema in Ammon (1991: 254).
2 Vgl. Ammon (1991) und (1998).
3 Vgl. Münkler / Straßenberger / Bohlender (Hrsg. 2006).
4 Vgl. Stark (2000).
5 Vgl. Weydt (2004).
6 In dem Fernsehfilm von Harald Wötzel: «Wer rettet die deutsche Spra-
che?», SWR , 24. 11. 2005.
301
Dichtung und Wahrheit
302
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1997: Deutsch und anders – die Sprache im Modernisierungsfieber. Rein-
bek: Rowohlt.
Vorarbeiten
Das vorliegende Buch ist hervorgegangen aus den folgenden Arbeiten, die
für dieses Buch zum Teil erheblich überarbeitet worden sind:
Was ist Sprache? In: Future 2 / 2000: 16 –20.
Vom Schrei zur Artikulation. In: Magnus Schlette / Matthias Jung (Hrsg.):
Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdiszipli-
näre Perspektiven. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005: 62–84.
Fremdheit der Sprache. In: Dirk Naguschewski / Jürgen Trabant (Hrsg.):
Was heißt hier fremd? Studien zu Sprache und Fremdheit. Berlin: Akade-
mieVerlag 1997: 93–114.
Was wissen wir, wenn wir eine Sprache können? In: Marianne Kubac-
zek / Wolfgang Pircher / Eva Waniek (Hrsg.): Kunst, Zeichen, Technik.
Philosophie am Grund der Medien. Münster: LIT 2004: 221–240.
Wissen als Handeln und die Vermittlung der Zeichen. In: Rechtshistorisches
Journal 18 (1999): 260 –269.
Gloria oder grazia. Oder: Wonach die questione della lingua eigentlich
fragt. In: Romanistisches Jahrbuch 51 (2000): 29–52.
Mehrsprachigkeit der Wissenschaften. Ein Irrweg? In: Eva Neuland / Kon-
rad Ehlich / Werner Roggausch (Hrsg.): Perspektiven der Germanistik in
Europa. München: Iudicium 2005: 203–222.
Sprache und Revolution. In: Particulae collectae. Festschrift Harald Weydt.
Linguistik Online 13 (2003).
Welche Sprache für Europa? In: Die Junge Akademie (Hrsg.): Welche Spra-
che spricht Europa? Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2005: 279–293.
Die gebellte Sprache: Über das Deutsche. In: Berichte und Abhandlungen
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin:
AkademieVerlag 2007.
Sprach-Passion: Derrida und die Anderssprachigkeit des Einsprachigen. In:
Susan Arndt / Dirk Naguschewski / Robert Stockhammer (Hrsg.): Exo-
phonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kadmos 2007:
48– 65.
Sprache der Geschichte. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002. Mün-
chen: Oldenbourg 2003: 41– 65.
Abweichung oder Distinktion. In: Dietmar Kamper / Christoph Wulf / Hans
Ulrich Gumbrecht (Hrsg.): Ethik der Ästhetik. Berlin: AkademieVerlag
1994: 55– 68.
316
Register
317
Diderot, Denis 283 Heidegger, Martin 245–246
Dilthey, Wilhelm 258, 267 Herder, Johann Gottfried 15, 29,
Domergue, Urbain 182–184 31–32, 34–39, 49–50, 178, 189,
Du Bellay, Joachim 148, 187, 229, 245–246, 256, 270
235, 239 Hervás y Panduro, Lorenzo 75
Dürer, Albrecht 157–159 Hjelmslev, Louis 27–28, 70–71,
Dunbar, Robin I. M. 296 93, 95, 271, 295, 297, 303
Hölderlin, Friedrich 291–292
Ellroy, James 284 Horaz 195
Etienne, Henri 130 Humboldt, Wilhelm von 13, 16, 20,
Etienne, Robert 130 25–28, 35, 38–47, 54, 57–62, 69–
70, 75–76, 78–79, 83, 92–93, 95,
Fellmann, Ferdinand 267 148, 177, 189, 199, 233, 242–243,
Ferguson, Charles 216, 218, 298, 245–246, 256–257, 262, 267–271,
300 275, 295–297, 299–300, 302
Ferry, Jules 184, 189 Hurford, James R. 296
Fichte, Johann Gottlieb 108
Fitch, W. Tecumseh 295 Iggers, Georg G. 272, 303
Flaubert, Gustave 232 Ionesco, Eugène 286
Foucault, Michel 267
Frege, Gottlob 81, 179, 256 Jäger, Werner 210
Jakobson, Roman 209, 287–291,
Galilei, Galileo 145, 157–158, 160, 303
162, 164–165, 169, 171–172 Joseph, John E. 297
Geertz, Clifford 96 Jostes, Brigitte 233, 296, 299–301
Gessinger, Joachim 300 Joyce, James 293
Gloy, Klaus 302 Julia, Dominique 300
Goethe, Johann Wolfgang 162, 208,
293, 299 Kafka, Franz 236, 278, 286
Goldstein, Louis 48 Kant, Immanuel 46, 111, 163, 195,
Gramsci, Antonio 120–121, 138, 278, 282, 298
201, 298 Katharina II., Kaiserin von
Grégoire, Henri (Abbé) 181, Rußland 296
183–184, 300 Khatibi, Abdelkebir 236
Grewendorf, Günther 99–100, 297 Kirby, Simon 296
Grice, H. Paul 278, 291–292 Kittler, Friedrich 258
Grimm, Jacob 77 Kittsteiner, Heinz Dieter 266
Grube, Gernot 108 Knight, Chris 296
Guilhaumou, Jacques 266 Koch, Peter 122, 129, 132, 301
Koselleck, Reinhardt 252, 266
Hagège, Claude 207 Küpper, Joachim 303
Haspelmath, Martin 52–53, 76
Hauser, Marc D. 295 Lagemann, Jörg 302
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Lascari 139–141, 143, 160
77, 109, 167–168 Latini, Brunetto 155
318
Leibniz, Gottfried Wilhelm 15, Quillier, Patrick 295
18, 20, 74–78, 91, 95, 101–102,
104–106, 160, 180, 189, 296, 297 Raffarin, Jean-Pierre 188
Leonardo da Vinci 157, 160 Recker, Marie-Luise 273
Lepenies, Wolf 211 Revel, Jacques 300
Levinas, Emmanuel 237 Rodoni, Jean 300
Lieberman, Philip 48–49 Rosenzweig, Franz 237
Locke, John 15, 57, 72–74, 81–82, Rousseau, Jean-Jacques 29, 31–39,
91, 179–182, 185 50
Ruhlen, Merritt 297
Maas, Utz 298
Machiavelli, Niccolò 125, 130, Sartre, Jean-Paul 293
298 Saussure, Ferdinand de 27–28,
Manzoni, Alessandro 298 69, 92, 94–95, 98–99, 103, 257,
Markl, Hubert 210 270–271, 295, 297, 303
Martinet, André 27, 178, 300 Schiller, Friedrich 135
Megenberg, Konrad von 155 Schlieben-Lange, Brigitte 177, 300,
Meier, Christian 303 303
Meigret, Louis 130 Schöttler, Peter 303
Meschonnic, Henri 276, 303 Schopenhauer, Arthur 267
Messling, Markus 295 Sokrates 64–65, 82
Mommsen, Theodor 275 Speroni, Sperone 126–127, 130,
Münkler, Herfried 301 133–134, 136–137, 139, 143,
160–161, 164, 176–177, 299
Naguschewski, Dirk 296 Spitzer, Leo 210, 281–284, 286,
Nicolini, Fausto 302 288
Stark, Franz 301
Oesterreicher, Wulf 122, 301 Staten, Henry 301
Oettinger, Günther 218–219, Stempel, Wolf-Dieter 302
223–224 Stephan, König von Ungarn 17–18
Olschki, Leonardo 157, 159, Strauss, Leo 210
164–165, 299 Studdert-Kennedy, Michael 48, 296
319
Vater, Johann Severin 62, 75–76 Weydt, Harald 301
Vergil 195 White, Hayden 272
Vico, Giambattista 111, 195, Whorf, Benjamin Lee 82–84
252–264, 266–268, 270, 274, Wittgenstein, Ludwig 91, 179,
299, 302 230–231, 246, 256, 276, 297
Voltaire 231 Wötzel, Harald 301
Wunderlich, Dieter 298
Wagner, Richard 29
Ward, Sean 296 Zabus, Chantal 296
Weinrich, Harald 53, 63 Zanzotto, Andrea 85
Werner, Heinz 210 Zemon Davies, Natalie 266