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An analysis of views of Hungarian mathematicians (and other people connected with Hungarian mathematical culture) about philosophy and education of mathematics.
Judul Asli
András Máté, Was heißt Mathematik und wie soll sie gelehrt werden? Antworten der ungarischen Mathematik
An analysis of views of Hungarian mathematicians (and other people connected with Hungarian mathematical culture) about philosophy and education of mathematics.
An analysis of views of Hungarian mathematicians (and other people connected with Hungarian mathematical culture) about philosophy and education of mathematics.
Die Geschichte der Mathematik in Ungarn im 20. Jh. ist eine
Erfolgsgeschichte, die fast kein Vorspiel hat. Im 19. Jahrhundert gab es eine einzige Leistung von internationaler Bedeutung: János Bolyai’s Arbeit zur Begründung der nichteuklidischen Geometrie. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts stehen jedoch die Mathematiker aus Budapest im Zentrum der mathematischen Forschung. Der ersten Generation der international anerkannten Mathematiker ging aber eine Generation von großen Lehrern voraus -- Professoren und auch Gymnasiallehrer --, die den Unterricht auf Weltniveau brachten und auch ein System der Begabtenförderung aufbauten. Diese Generationen haben aber auch eine mathematische Kultur zustande gebracht – ich meine damit eine Denkweise über die Mathematik, einen Stil der Behandlung mathematischer Probleme usw. Ich werde jetzt zwei Merkmale dieser Kultur hervorheben, und das sind ein philosophisches Interesse und eine Auffassung über die Natur der Mathematik. Die verschiedenen Verfässer denken natürlich auf verschiedene Weise; ihre Auffassungen sind aber nah verwandt und, was noch wichtiger ist, sie beziehen sich in ihren Reflexionen und Antworten aufeinander. Diese Ansichten haben wichtige Konsequenzen, besonders für den Unterricht der Mathematik. Die Mathematiker, von denen ich jetzt sprechen werde, haben alle versucht, ihre Ansichten über die Natur der Mathematik auch da geltend zu machen. Was vielleicht noch interessanter ist, der Unterricht der Mathematik spielt in den Werken über die Mathematik der beiden Nicht- Mathematiker, deren Ansichten ich auch darstellen werde, eine wichtige Rolle. 1. Pólya György/Georg Pólya (1887-1985) verließ Ungarn im Jahr 1914. Er wurde erst in Zürich, dann an der Stanford University einer der einflussreichsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Von den 40-er Jahren an beschäftigte er sich mit mathematischer Heuristik und mathematischer Erziehung. Er war Doktorvater von Imre Lakatos‘ bei dessen Dissertation in Cambridge. Pólya erinnert sich im Vorwort zur ersten ungarischen Ausgabe von Pólya 1944/1995 im Jahre 1956 an seine erste Prüfung in Mathematik in Budapest, nach juristischen, philosophischen und philologischen Studien. Der Professor Manó Beke – ein wichtiges Mitglied der Generation der Lehrer – hat in seinem Kollegbuch geblättert und gesagt: „Ja, sie kommen aus der Philosophie. Sie werden dahin zurückkehren. Tun Sie es aber nicht zu früh.“ Pólya schreibt, er hoffe, dass das Buch als „bescheidener philosophischer Versuch“ nach Jahrzehnten von Unterrichtserfahrungen nicht zu früh geschrieben wurde. In einem Sinne ist Pólyas Heuristik gewiss ein Beitrag zur Philosophie: dass die Suche nach den guten Methoden des Entdeckens traditionell ein Thema in der Philosophie von Aristoteles über Descartes bis in die neueren Zeiten ist. Pólyas Heuristik ist aber auch in einem tieferen Sinne von philosophischer Bedeutung: als Beitrag zur Frage der Natur der Mathematik. Man findet in seinen heuristischen Bücher zwar keine langen Erörterungen über diese Frage, sie legen aber ein Bild über die Mathematik nahe, das sehr weit von einer formalen, rein deduktiven Wissenschaft entfernt ist. Nicht als ob Pólya nur mit einem Wort bezweifle, dass Theoreme in der Mathematik rein deduktiv aus den Axiomen bewiesen werden sollen oder dass er seine Logik des plausiblen Schließens als eine Alternative der klassischen zweiwertigen Logik in der Begründung der Mathematik betrachte. Mathematik ist aber vor allem eine menschliche Tätigkeit, eine Suche nach Lösungen von Problemen, nach Theoremen und Beweisen. Man kann die Sache nicht einmal mit der herkömmlichen Unterscheidung von „Kontexte“ der Entdeckung und der Begründung erledigen. Man kann nicht einfach sagen, dass die Heuristik zur Entdeckung und die deduktive Logik zur Begründung gehört. Erstens, in der Mathematik sucht man nicht nur Theoreme, die entdeckt werden sollen, sondern vielmehr auch Beweise dazu, und die Heuristik wird eben dafür benutzt. Zweitens, was wesentlicher ist , Pólyas ganze Werk widerspricht dem Bild, dass Entdeckung in der Mathematik ein nicht durchsichtiger, subjektiver, individueller Prozess ist, im Gegensatz zu dem Beweis, der objektiv, für alle gemeinsam und im Prinzip vollkommen klar ist. Vielleicht hat diese, entdeckende Seite der Mathematik mehr mit den Künsten gemeinsam als mit automatisierbaren Prozessen des Rechnens und der Ableitung, ist aber ebenso objektiv und eben deshalb lehrbar. Dieser pädagogische Optimismus ist die Grundlage seines ganzen heuristischen Werks. Wo Mathematik gelehrt wird, soll man vor allem das Entdecken der Mathematik lehren. 2. Kalmár László Kalmár (1905-1976) war Professor der Universität Szeged. Seine wichtigsten Ergebnisse in der mathematischen Logik waren Beiträge zum Entscheidungsproblem. Von den frühen vierziger Jahren bis zum Ende seines Lebens hat er zahlreiche Schriften, Interviews, Bemerkungen über die Philosophie der Mathematik publiziert – immer verknüpft mit Problemen des Mathematikunterrichts. Kalmár hat zum ersten Mal im Jahr 1940 einen Vortrag über philosophische Fragen der Mathematik gehalten in einem Kreis junger kalvinistischer Intellektueller (Kalmár 1942/2011). In seinen Kollegheften über die Grundlagen der Mathematik - geschrieben nach seinen Vorlesungen Anfang 50er Jahre – versucht er in manchen zerstreuten Absätzen eine dialektisch- materialistische Philosophie der Mathematik aufzubauen. Im Jahre 1965 wurde er von Lakatos zu einer Konferenz über die Philosophie der Wissenschaften in London eingeladen und trat da für den mathematischen Empirismus ein (Kalmár 1967) – hier und auch in seinen Erklärungen in Ungarn gibt es auch kein Wort mehr über dialektischen Materialismus. Aber bei allen diesen Änderungen bleibt ein Gedanke unverändert und zentral: dass die Mathematik nicht unfehlbar ist. Auch der Vortrag von 1940 erörtert am Anfang die sprichwörtliche absolute Sicherheit der mathematischen Wahrheiten, die für den Autor nur ein falscher Anschein ist: die Exaktheit und der daher gewonnene hohe Grad der Sicherheit ist nicht absolut, sondern relativ und historisch. Kalmár konstruiert einen historischen Bogen der methodischen Entwicklung in der Mathematik von den anschaulichen Anfängen durch vier Stufen bis zu den modelltheoretischen Untersuchungen der 1930er Jahre. Zwei Punkte sind noch in diesem sehr kurz gefassten Überblick hervorzuheben. Erstens, das Erscheinen der Axiomatik kommt nach Kalmár von dem Bedürfnis, den Anderen zu überzeugen. Es kommt also nicht darauf an, ob die Axiome unfehlbare und unbezweifelbare Wahrheiten sind. Wenn wir bezüglich einer Behauptung mit dem Anderen nicht übereinstimmen, wir führen sie auf andere, überzeugendere Annahmen zurück. Auf diesem Wege gelangen wir am Ende zu den ersten Annahmen, die gegenseitig angenommen werden können, und das sind eben die Axiome (auf der Stufe der anschaulichen Axiomatik). Zweitens, Kalmár betont dass bei der Entwicklung der Exaktheit etwas Wichtiges verlorengeht – nämlich die Anschaulichkeit. Er argumentiert aber dafür, dass die Anschauung in der Mathematik, in der Entwicklung der Mathematik unentbehrlich ist und deshalb auch auf höheren Stufen der Abstraktion in anderer Form bewahrt werden soll. Er illustriert seine Auffassung mit dem Beispiel des Begriffs der Kontinuität. Der naive, anschauliche Begriff einer lückenlosen Kurve ist selbstverständlich ungenügend; man kann aber die exakte ε-δ-Definition nur verständlich machen, wenn man zeigt, wie man durch den Versuch, den naiven Begriff genau zu fassen, den exakten Begriff erreicht. Es kommt nicht darauf an, dass wir nach einer lückenlosen Ableitung eines Theorems noch bezweifeln sollten, dass es aus unseren Axiomen folge. Deduktives Schließen ist ein unentbehrlicher Teil der mathematischen Tätigkeit, aber nicht deren wichtigster Teil. Ganz besonders wenn wir Mathematik lehren, dürfen wir uns nicht auf Ableitungen und Einübung von Algorithmen beschränken. Wir sollen den Weg zu den Ableitungen und Algorithmen zeigen, und dann sind wir sofort im Gebiet des Versuchs und Irrtums, im Gebiet der Heuristik. 3. Rényi Alfréd Rényi (1921-1970) war Gründer und von 1950 bis 1970 Direktor des akademischen Instituts für Mathematische Forschung in Budapest. Er hatte wichtige Resultate in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, in der Zahlentheorie, der Graphtheorie und in anderen Gebieten. Er schrieb philosophische Schriften vom Ende der fünfziger Jahre, oft in literarischer Form (pseudo-Platonische Dialoge, fiktive Pascal- Briefe, usw.) So wie Kalmár unterstützte er die Erneuerung des Mathematikunterrichts in den sechziger Jahren. Seine Ansichten waren in gewisser Hinsicht wesentlich verschieden von den Vorangehenden. In einer Randbemerkung zu Rényis sokratischem Dialog über die Mathematik (die Kopie von Rényi 1967 wurde aufbewahrt im Lakatos-Archiv in London) schreibt Imre Lakatos böse: „Er spricht wie ein aristotelischer Infallibilist!“. An der betreffenden Stelle des Dialogs zitiert Hippokrates als Antwort auf die Fragen von Sokrates die Worte Theaitetos’: wir können mit absoluter Sicherheit wissen, dass ein Dodekaeder dreißig Kanten hat, im Gegensatz zu der Zahl der Bewohner von Hellas, die nur annähernd angegeben werden kann, weil sie sich im Laufe des Zählens ändern kann. Es ist also in der Tat eine Art von Infallibilismus, Lakatos bemerkt aber nicht, dass es eine recht sonderbare Art ist. Früher im Dialog war behauptet worden, dass die mathematischen Objekte nicht in der Welt der sichtbaren und tastbaren Dinge „existieren“, sie sind nur in unseren Gedanken. Wie kann man aber von nicht-existierenden Dingen überhaupt Kenntnisse, sogar sichere Kenntnisse haben? Rényi benutzt die Analogie der Fiktion. Wenn eine lebende Frau wegen der Ermordung ihres Mannes angeklagt ist, kann das Gericht nur selten ganz sicher entscheiden, ob sie es wirklich getan hat. Von Klytämnestra in Aischylos‘ Tragödie wissen wir ganz sicher, dass sie Agamemnon ermordet hat, weil sie als Heldin des Drama so geschaffen ist. Rényis Sokrates nach sind auch mathematische Objekte ähnlich: wir wissen sicher, wie sie sind, weil sie Produkte unseres schaffenden Denkens sind. Ein „aristotelischer Infallibilist“ gründet die Gewissheit der Mathematik auf die primäre, klare und unzweifelbare Sicherheit der mathematischen Axiome und die Unfehlbarkeit der Deduktion. Rényis Fragestellung ist wesentlich näher an den traditionellen Philosophien der Mathematik als die der Anderen: er fragt nach den Quellen und Garantien der mathematischen Sicherheit. Seine Antwort bringt aber seine Position näher an die der anderen betrachteten Denker, die die Mathematik vor allem als menschliche Tätigkeit sehen. Sie ist eigentlich identisch mit dem heutigen Fiktionalismus in der Philosophie der Mathematik. Nach diesen drei Mathematikern sollen zwei Nicht- Mathematiker vorgestellt werden, die in einer Periode ihres Lebens zur Organisation der ungarischen Mathematik gehörten und von der Gedankenwelt der ungarischen Mathematik beeinflusst waren und auch Einfluss darauf ausübten. 4. Szabó Árpád Szabó (1913-2001) war Altphilologe und Mathematikhistoriker, von 1957 bis 1983 Forschungsprofessor des Instituts für Mathematische Forschung. Wegen seiner Teilnahme an der Revolution hatte er seine Professur als Altphilologe verloren, Rényi hat ihm aber eine Stelle als Mathematikhistoriker in seinem Institut angeboten. Sein Hauptwerk Szabó 1969 ist der Frage: „Wie und warum ist die Mathematik eine deduktive Wissenschaft geworden“ und dadurch einer Kritik des aristotelischen Infallibilismus gewidmet. Szabó argumentiert dafür, dass der griechischen deduktiv- axiomatischen Mathematik eine Periode der anschaulichen Mathematik voranging, in der die Behauptungen mittels Figuren und Rechenstein-Konfigurationen schon überzeugend gezeigt, nicht aber im strengen Sinne des Wortes bewiesen wurden. Woher die Abkehr von dieser anschaulichen Mathematik? Szabó findet die Antwort in der Kritik der Anschauung und der Erfahrung durch die eleatischen Philosophen (Parmenides und Zenon). Sie bedienen sich einer Methode der Argumentation, die das anschauliche Zeigen übertrifft: die indirekte Argumentation. Die berühmte Entdeckung der Inkommensurabilität zwischen der Seite und der Diagonale des Quadrats war also nicht die Ursache einer Wendung in der griechischen Mathematik, sondern umgekehrt, sie war schon eine Folge der Anwendung der indirekten Methode. Er interpretiert die mathematische Stelle von Platons Dialog Theaitetos neu: sie soll nicht als ein authentischer historischer Bericht über den Entdeckungen von Theaitetos und seinem Lehrer Theodoros am Gebiet der irrationalen Proportionen gelesen werden, sondern als die Beschreibung einer musterhaften Mathematikstunde von Theodoros: er lässt seinen Studenten die genannten, sonst schon bekannten Zusammenhänge selbst neu entdecken – er benutzt also die Methode des Mathematikunterrichts, welche mit Sokrates‘ Methode der „Geburtshilfe“ der Gedanken im innigsten Verwandtschaft steht. Szabó geht aber weiter in der Verwandtschaft von beweisender Mathematik und sokratisch- platonischer Dialektik und zeigt, dass die ganze Terminologie der Grundlagen (arkhai) der griechischen Mathematik, so wie sie von Euklid auf uns gekommen ist, aus der Terminologie der Dialektik stammt. Die arkhai, von denen Euklids Beweise ausgehen, also die Definitionen, Axiome, Postulate sind alle Arten von Annahmen, die in der Dialektik von den Dialogpartnern gegenseitig akzeptiert werden, um daraus Konsequenzen zu ziehen -- oft widersprüchliche Konsequenzen, die also die ursprüngliche Hypothese widerlegen. Die arkhai der Mathematik sollen also nicht als absolut sichere Wahrheiten aufgefasst werden– sie sind eben nur Hypothesen, die angenommen werden, weil sie Beweise möglich machen und bisher noch zu keinem Widerspruch geführt haben. In den Aporien Zenons geht man von den anschaulichen Begriffen der Pluralität und der Bewegung aus, und die Aporien beweisen eigentlich, dass diese Begriffe widersprüchlich sind. In den euklidischen Axiomen und Postulaten ist weniger über Pluralität und Bewegung angenommen, als der implizite Inhalt der anschaulichen Begriffe, und deshalb ist zu hoffen, dass sie nicht zu denselben Paradoxien führen. Die Definition der beweisenden Wissenschaft in Aristoteles‘ Zweiter Analytik trifft also auf die Mathematik nicht zu. Die arkhai der Mathematik sind keine absolut sicheren Behauptungen; folglich können sie und auch die logische Ableitung der Theoreme keine absolute Sicherheit verleihen. Mathematik beginnt nicht mit Urwahrheiten, sondern mit Fragen und Problemen, und wir suchen Antworten darauf. Die axiomatische, und wie Szabó sie nennt: anschauungsfeindliche Wende der griechischen Mathematik ist auch eine Antwort auf ein Problem, welches in der Form der Zenonschen Aporien auftrat. 5. Lakatos Imre Lakatos (1922-1974) war Wissenschaftsphilosoph, Student und Freund von Szabó und Kalmár. Nach seiner Entlassung aus dem Zwangsarbeitslager im Jahre 1953 wurde er erst Bibliothekar, dann bis 1956 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mathematische Forschung. Wenn Lakatos (1967b) Kalmárs Ausführungen über die Möglichkeiten einer „empiristischen“ Wende in der Mathematik in Schutz nimmt, korrigiert er sie auch ein bisschen: er spricht von quasi-empirischer Wissenschaft, in der die eventuelle Falschheit von den letzten Schlussfolgerungen, von der wir uns irgendwie (durch empirischen Kontrolle, oder auf andere Weise) überzeugen können, aufwärts fließt durch die Kanäle der logischen Ableitung zu den Axiomen. Dies steht im Gegensatz zu der quasi-euklidischen Wissenschaft, in der die Wahrheit von den Axiomen abwärts zu den Konsequenzen fließt. Es wäre eigentlich besser gewesen, von quasi-aristotelischer statt quasi-euklidischer Wissenschaft zu sprechen, weil Euklids System an sich in dieser Hinsicht nicht interpretiert ist; Szabós Argumentation spricht dafür, dass eine quasi-empirische Interpretation historisch sowie auch theoretisch mehr zutreffend ist als die zweitausend Jahre lang traditionell gewordene aristotelische. In der quasi-empirischen Auffassung der Mathematik wollen wir nicht mathematische Theoreme auf induktive Verallgemeinerungen gestützt behaupten. Wir werden bloß unsere Forschungsarbeit, und darin die Rolle der deduktiven Ableitung auf andere Weise verstehen. Lakatos 1963/1976 zeigt, wie diese Arbeit analysiert werden kann; die Geschichte der Entdeckung der verschiedenen Fassungen von Eulers Polyeder-Theorem wird sich nicht zufällig in einem Klassenzimmer in logisch-dialektisch „rekonstruierter“ Form wieder abspielen. In diesem (quasi-) historischen Prozess werden Beweise als Gedankenexperimente und nicht als Ableitungen verstanden. Lakatos indentifiziert seinen Begriff des Gedankenexperiments mit Szabós Zeigen in der archaischen griechischen Mathematik, und legt nahe, dass diese Methode nicht nur die ursprüngliche, sondern auch die dem Geist der Mathematik wirklich entsprechende Weise des Beweises ist. Natürlich kann man jedes Gedankenexperiment in eine strenge Ableitung innerhalb eines axiomatischen Systems verwandeln – wenn wir das System schon haben. Aber die Definitionen, manchmal sogar auch die Axiome des Systems kommen aus dem Beweis (als Gedankenexperiment). Die nachträgliche Übersetzung eines Beweises in die Sprache der formalen Ableitung macht aus dem lebendigen Prozess der Entdeckung ein totes Skelett. Wenn wir mathematische Theorien innerhalb der formalen Sprachen von Frege oder Russell-Whitehead aufbauen, oder wenn wir sie als Mengen von inhaltlosen Zeichenketten aus der Perspektive der Hilbertschen Metatheorie betrachten, so tritt an die Stelle des riskanten und immer neue Ideen produzierenden Gedankenexperiments die sichere und triviale, tautologische formale Mathematik (s. Lakatos 1962). Beide erwähnten Hauptwerke, Lakatos 1963-64 und Szabó 1969 können als partiale Durchführungen eines alten, vielleicht von Lakatos um 1950 gefassten Plans betrachtet werden: gemeinsam eine Geschichte der Dialektik (in der Mathematik) zu schreiben. Lakatos‘ quasi-Geschichte des Polyeder- Theorems ist eben die Wirkung der dialektischen Vernunft in der Mathematik. Und seine genannte Hauptanklage gegenüber den formalistischen Philosophien der Mathematik ist in seinen Zetteln und Notizen in einer anderen Form formuliert: die Formalisten machen aus der lebendigen, dialektischen Methode der Mathematik ein starres, totes System. Lakatos benutzt hier einen Topos aus der marxistischen Kritik an Hegel: den Gegensatz zwischen der revolutionären Methode und dem reaktionären System. Und Lakatos erhebt dieselbe Anklage gegen den Sowjetsozialismus, wie gegen den mathematischen Formalismus: dass er aus der offenen revolutionären Methode ein reaktionäres, geschlossenes System gemacht hat. 6. Ein offener Abschluss Da ich in diesem kurzen Überblick kein geschlossenes System schaffen will, lasse ich zwei Ideen unausgeführt: den zuletzt angedeuteten Zusammenhang zwischen philosophischen Standpunkten und der Politik und das früher erwähnte Verhältnis zum Unterricht. Zum Letzteren soll aber ein kleines Zwischenspiel erwähnt werden, das sich in dem Londoner Kolloquium über die Philosophie der Wissenschaft im Jahre 1965 abgespielt hat. J.A. Easley (1967) stellte den Widerstreit zwischen den beiden Parteien in den Debatten um die Programme der New Math zur Reform des Mathematikunterrichts in den USA als den philosophischen Gegensatz zwischen der formalen, axiomatischen modernen Mathematik und der inhaltlichen, anschaulichen, heuristischen Mathematik dar und sprach von Pólya als dem schärfsten Gegner der Reform. Kalmár bemerkte dazu, dass es diesen Gegensatz in Ungarn nicht gebe, weil in der Komplexen Mathematik von Tamás Varga die Modernisierung des Inhalts (z. B. die Einbeziehung der Mengenlehre) mit den Aspekten der Anschaulichkeit und Heuristik vereinigt erscheine und deshalb sei auch Pólya in Ungarn nicht ein Gegner, sondern ein Beförderer der Reform. Bibliographie Easley, J.A (1967): Logic and heuristics in mathematics curriculum reform. In: Lakatos 1967a, S. 208-230. Diskussion dazu mit Kalmárs Beitrag: S. 231-241. Kalmár, L. (1967): Foundations of Mathematics: Whither Now?. In: Lakatos 1967a, S. 186-194. Kalmár, L. (1942/2011): The development of mathematical rigor from intuition to axiomatic method. In: Máté/Rédei/Stadler (Hrsg.), Der Wiener Kreis in Ungarn. Wien-New York: Springer, S. 269-288. Lakatos, I. (1962/1978): Infinite Regress and Foundations of Mathematics. In: Worrall, J./Currie, G.(Hrsg.): Imre Lakatos: Mathematics, Science and Epistemology. Cambridge: Cambridge University Press. S. 3-23. Lakatos, I. (1963/1976): Proofs and Refutations. Hrsg.Worrall, J./Zahar,E. Cambridge: Cambridge University Press. Lakatos, I. (1967a) (Hrsg.) Problems in the Philosophy of Mathematics. Amsterdam: North-Holland Publishing Co. Lakatos, I. (1967b): The renaissance of empirism in the recent philosophy of mathematics?, in: Lakatos 1967a, pp. 199-202. Pólya, G.(1944/1995): Schule des Denkens. Vom Lösen mathematischer Probleme4. Tübingen:Francke Verlag. Rényi, A. (1967): Dialogues on Mathematics. San Francisco: Holden Day. Szabó (1969): Die Anfänge der griechischen Mathematik. München: R. Oldenbourg – Budapest: Akadémiai Kiadó.