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COM/WSNWS

Nr. 42 / 13.10.2018
Deutschland € 5,10
Printed in
Germany
Tschechien Kc 185,-
Ungarn Ft 2350,-
Spanien/Kanaren € 6,70
Spanien € 6,50
Slowenien € 6,30
Slowakei € 6,60
Polen (ISSN00387452) ZL 32,–

1848 1918 1968 1989


Portugal (cont) € 6,50,–
Norwegen NOK 82,–
Österreich € 5,80

Warum
Griechenland € 7,–

die Deutschen
Italien € 6,50

so oft
scheitern
Frankreich € 6,50
Finnland € 8,–
Dänemark dkr 53,–
BeNeLux € 5,80

Ein Fall für den Verfassungsschutz? Digitale Zukunft Großwinzerin Antinori


Braune Umtriebe an der Basis Die deutsche Wirtschaft »Wein ist zum Trinken da,
und in der Führung der AfD verpasst den Anschluss nicht zum Sammeln«
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Volle
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Transparenz?
Hausmitteilung
Betr.: Maas, CSU, »DEIN SPIEGEL«, SPIEGEL WISSEN Durch digitale Zusammenarbeit

mit meinem Steuerberater.


Ende März dieses Jahres, wenige Tage nach-
dem Heiko Maas seinen Antrittsbesuch als
deutscher Außenminister in Israel gemacht
hatte, zog Alexander Osang nach Tel Aviv.
Der deutsche Reporter begegnete nur noch
XANDER HEINL / IMAGO

dem Eindruck, den der deutsche Politiker


hinterlassen hatte. Maas war von der israeli-
schen Regierung mit offenen Armen emp-
fangen worden, was seiner zurückhaltenden
Kritik an der israelischen Siedlungspolitik
Maas (l.), Osang (r.) in Auschwitz zugeschrieben wurde, aber auch dem Zitat
aus seiner Antrittsrede: »Ich bin wegen
Auschwitz in die Politik gegangen.« Osang versuchte den Gründen für dieses große
Motiv auf die Spur zu kommen. Er hat Maas in Berlin getroffen, auf Reisen zu Ge-
denkstätten des faschistischen Terrors begleitet und ist ihm in der vorigen Woche
auch am Rande der deutsch-israelischen Regierungskonsultationen in Jerusalem
begegnet. Als die Kanzlerin und alle anderen Minister abgereist waren, legte der
Privatmann Maas einen Kranz in Yad Vashem nieder. Wenn er jemanden als unser
aktuelles deutsches Gewissen in einem internationalen Spielfilm besetzen müsste,
würde er Maas nehmen, sagt Osang. Seiten 28, 62

Begeistern sich eigentlich noch junge Leute für die CSU –


und, wenn ja, aus welchen Gründen? Auf der Suche nach
einer Antwort landete SPIEGEL-Redakteur Timofey
Neshitov in Dingolfing, Niederbayern, anderthalb Auto-
stunden von München entfernt. Hier lebt Valentin Walk,
21 Jahre alt, angehender Finanzbeamter und Ortsvorsit-
zender der Jungen Union. Walk glaubt an die Christlich-
DIETER MAYR / DER SPIEGEL

Soziale Union, trotz aller Querelen, aller Schwierigkei-


ten, die diese Partei seit einiger Zeit plagen. Deshalb
zog er in diesem Wahlkampf von Tür zu Tür, klingelte
bei Fremden, um sie für die CSU zu gewinnen. Wahl-
kampfhelfer werden allerdings nicht immer freundlich
empfangen, Valentin Walk musste sich auch schon als
»Zeuge Seehofers« verhöhnen lassen. »Das trifft ihn«, Neshitov, Walk
sagt Neshitov. »Walk hat Humor und kann selbstironisch
sein, aber er findet, man sollte sich in Zeiten wie diesen nicht über junge Menschen
lustig machen, die in ihrer Freizeit für demokratische Parteien werben.« Seite 56

Wer ist der stärkste Mann der Welt? Welcher Vogel kann 96 000 Kilometer weit flie-
gen? Warum ist eine kleine Milbe das schnellste Tier? »DEIN SPIEGEL«, das Nach-
Mit den digitalen DATEV-Lösungen haben Sie jederzeit
richten-Magazin für Kinder, zeigt in seiner Titelgeschichte über Rekorde, was Mensch,
den Überblick über Ihre aktuellen Geschäftszahlen.
Tier, Pflanzen und Technik alles leisten können. Außerdem im Heft: wie Feuerwehr-
leute für ihre Einsätze trainieren. Die Ausgabe erscheint am Dienstag. Nicht dem Und sind direkt mit Ihrem Steuerberater verbunden. So
Kindsein, sondern dem hohen Alter und der Sorge für hilfsbedürftige Väter und können Sie anstehende Investitionen sicher entschei-
Mütter widmet sich das neue SPIEGEL- den. Informieren Sie sich im Internet oder bei
WISSEN-Heft »Wenn Eltern alt werden«, Ihrem Steuerberater.
das ebenfalls am Dienstag erscheint. Es
bietet unter anderem einen Leitfaden für
gute Vorsorge, der helfen soll, die emo-
Digital-schafft-Perspektive.de
tionalen, juristischen und finanziellen
Probleme zu meistern, die oft mit der
Pflege der eigenen Eltern verbunden
sind. Wie in früheren Ausgaben wird
auch ein Onlinecoaching angeboten. An-
meldung unter: spiegel.de/pflegecoaching

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 3


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Inhalt
72. Jahrgang | Heft 42 | 13. Oktober 2018

Titel Familie Die Bewegung


der selbst ernannten
Deutschland Die Lebensschützer radikalisiert
Revolutionen von 1848, sich zunehmend . . . . . . . . . . . . 48
1918, 1968 und 1989 –
was sie über uns Deutsche Hambacher Forst Im Fall
sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 des verunglückten
Journalisten verbreitet
das Innenministerium
Deutschland Halbwahrheiten . . . . . . . . . . . . 50

Leitartikel Wie die #MeToo- Behörden Ein Mann wird


Bewegung die Geschlechter verwechselt, kommt
versöhnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 ins Gefängnis und stirbt nach
einem Brand in seiner Zelle –
Meinung Der gesunde wie konnte das passieren? . . . 52

STAATSBIBLIOTHEK BERLIN
Menschenverstand /
So gesehen: »Bild«
investigativ . . . . . . . . . . . . . . 8 Gesellschaft

FDP fordert Suizidbeihilfe / Früher war alles schlechter:


Neue Ermittlungen zu Lebensmittel leben
Colonia Dignidad / länger / Rettet die Shisha
Glyphosat für Gärtner Erst mutig und radikal, dann Deutschlands Tabak? . . . . . . . 54
weiter erlaubt / Schleppende
Visumvergabe für kleinmütig und romantisch Eine Meldung und ihre
ausländische Studierende . . . 20 Geschichte Wie sich ein
Vor 100 Jahren begannen Matrosen den Aufstand katholischer Unternehmer
Populisten Warum die gegen Krieg und Kaiserreich. Dies mündete in an den Zeugen Jehovas
AfD vom Verfassungsschutz der Weimarer Republik, die bald scheiterte. Andere rächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
beobachtet werden
Revolutionen verliefen nach einem ähnlichen
sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Gesinnung Was treibt
Muster. Es geht gut los, dann fehlt die Entschlossen- einen Jugendlichen,
Karrieren Außenminister heit, etwas wirklich Neues zu beginnen. Seite 10 für die CSU zu kämpfen? . . . 56
Heiko Maas reist als
Gewissen Deutschlands Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 62
um die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Wutrede Die CSU, Sport


ein Fluch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Wie oft Keeper zu
Widerrede Die CSU, Torschützen werden /
HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS

ein Segen ................... 35 Magische Momente:


Der beinamputierte
Recht Was ist der Sinn von Tom Belz über seinen
Strafe? Der ehemalige Kilimandscharo-Aufstieg ... 63
Bundesrichter und Strafrechts-
experte Thomas Fischer Idole Diego Maradona
erklärt im SPIEGEL-Gespräch, versucht ein neues
wie sie wirken soll und Comeback: als Trainer
warum es manchmal ums Blick nach rechts in der zweiten Liga
Prinzip geht . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Mexikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Die Verfassungsschützer ringen um den richtigen
#MeToo Weil sein Stell- Umgang mit der AfD. Dabei sind die Standpunkt Warum es
vertreter Frauen belästigt ein wichtiges Signal wäre,
haben soll, verlor
Radikalen längst an die Parteispitze vorgedrungen. Ronaldo wegen der
Stasijäger Hubertus Staatsrechtler fordern eine Beobachtung durch Vergewaltigungsvorwürfe
Knabe seinen Job . . . . . . . . . . . 42 den Geheimdienst. Seite 24 zu suspendieren . . . . . . . . . . . . 68

4 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Wirtschaft Wissenschaft

DGB-Vizechefin fordert Jungen verunglücken öfter im

MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL


verbindliche Frauenquote Straßenverkehr als Mädchen /
für Vorstände / Bahn Einwurf: War der Neandertaler
will Co-Working-Spaces ein Schöngeist? . . . . . . . . . . . . 106
einrichten / Regierung
gegen neues TTIP . . . . . . . . . . . 71 Astronomie Mithilfe des
Weltraumteleskops »Tess«
Digitalisierung Deutsche suchen Forscher nach
Unternehmen sind für Planeten, auf denen es
die Wirtschaft von morgen Leben geben könnte . . . . . . . 108
schlecht gerüstet . . . . . . . . . . . . 74 Eine andere Note Gesundheit Umweltmedizinerin
Kommentar Kanzlerin Er twittert gegen rechts, er sammelt für Barbara Hoffmann erklärt,
Merkel verspielt die digitale wie gefährlich Stickoxide
Zukunft des Landes . . . . . . . . 79
die Seenotrettung im Mittelmeer – und er spielt wirklich sind . . . . . . . . . . . . . . . 111
Klavier wie kaum ein anderer: Igor Levit ist
Dynastien Albiera Antinori, die Ausnahme unter den Pianisten der Gegenwart. Umwelt Europas Holzhunger
Chefin des italienischen Weil er sehr begabt ist. Und sehr politisch. Seite 126 bedroht die artenreichen
Weinhauses, im SPIEGEL- Wälder in der Ukraine . . . . 112
Gespräch über Traditionen und
Billigwein im Supermarkt . . . 82 Mobilität Warum die
Elektrofahrzeuge von
Wettbewerb Kommissarin Der Triumph der Identität Audi und Mercedes
Margrethe Vestager kämpft für keine Öko-Autos sind ..... 114
die Rechte von EU-Bürgern – Vor knapp 30 Jahren postulierte der Politologe
und macht dabei Karriere . . . 86 Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte«.
Analyse Nutzer sollten von
In einem großen Essay schreibt er nun über Kultur

Digitalkonzernen den Schutz die Gefahr, die der Demokratie droht, wenn sie sich Science-Fiction-Starautor
ihrer Daten einfordern . . . . . 89 in viele kleine Gruppen spalten lässt. Seite 118 Cixin Liu / Polnisches Kino
unter politischem Druck /
Kolumne: Besser weiß ich
Ausland es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Wie der rechte Präsident- Debatte Der US-amerika-


schaftskandidat in Brasilien nische Politikwissenschaftler
den Amazonas-Urwald Francis Fukuyama über
zerstören will / Korrupte Seil- die gefährliche Identitäts-
schaften lähmen Südafrika 90 fixierung westlicher
Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . 118
Italien Innenminister Matteo
Salvini stürzt das Land Klassik Igor Levit, ein
im Kampf gegen Brüssel und politischer Pianist . . . . . . . . . 126
Migranten ins Chaos . . . . . . . 92
Literaturkritik Rudolf
Weshalb im kalabrischen Borchardts posthum
Riace ein flüchtlings- entdeckter pornografischer
freundlicher Bürgermeister Tausendseitenroman
DOMINIK SOMMERFELD / BILD

unter Hausarrest steht . . . . . . 95 »Weltpuff Berlin« . . . . . . . . . . 130

USA Kann Beto O’Rourke,


neuer Star der Demokraten,
im Kampf um den Senat
in Texas gewinnen? . . . . . . . . . 98

Russland Porträt des Militär-


geheimdienstes GRU, der Ganz nach oben
für Wladimir Putin weltweit
die Drecksarbeit macht . . . 100 Apple, Facebook, Google – EU-Wettbewerbs- Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
kommissarin Margrethe Vestager schreckt nicht Impressum, Leserservice . . . 132
Saudi-Arabien Kronprinz Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
vor großen Gegnern zurück. Das zahlt auch
Mohammed bin Salman hat Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 134
angeblich einen Journalisten auf die eigene Karriere ein. Viele wünschen sich die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
ermorden lassen . . . . . . . . . . . 104 Dänin als EU-Kommissionspräsidentin. Seite 86 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 138

Titelfotos [M]: Interfoto; Ullstein Bild; action press; Keystone; Hulton-Deutsch Collection/Corbis via Getty Images 5
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Versöhnung der Geschlechter


Leitartikel Warum #MeToo auch die Männer freier gemacht hat

E
in Jahr nachdem die #MeToo-Bewegung ihren Kachelmann hat gezeigt, dass es Falschbeschuldigungen
Anfang genommen hat, ist die Welt, wenn man gibt. Das aber ändert nichts an den großen und kleinen
Donald Trump glauben will, eine düstere geworden Übergriffen, die in manchen Teilen der Gesellschaft ende-
für Männer – also für Menschen wie mich: »Das ist misch und strukturell stattfanden und stattfinden. Den
eine sehr furchterregende Zeit für junge Männer in Ameri- Blick darauf zu lenken ist das Verdienst von #MeToo. Und
ka.« Die »Unschuldsvermutung« gelte nicht mehr, klagte damit hat diese Hashtag-Bewegung viele Männer und Frau-
der Präsident, der sich einmal brüstete, dass er Frauen en für etwas Größeres sensibilisiert – den Feminismus.
ungestraft an die Geschlechtsteile fassen könne, weil er Die gute Nachricht ist nämlich, dass der Feminismus
berühmt sei. Für Trump ist der Skandal nicht, dass Frauen nicht nur etwas für Frauen ist, sondern auch die Männer
sich vor Übergriffen fürchten müssen, sondern dass Män- freier macht. Eine Welt, in der der Wert von Frauen auf ihr
ner wie er von Frauen beschuldigt werden, übergriffig zu Äußeres, ihre Kinder und ihre Rolle im Haushalt reduziert
sein. Als Mann finde ich nur wenig ärgerlicher als Männer wird, ist auch eine Welt, in der sich der Wert von Männern
in Machtpositionen, die sich zu Opfern stilisieren. an ihrem Einkommen, ihrer Karriere bemisst und in der
Denn natürlich sind dies falsch verstandene männliche
noch immer prächtige Zeiten Stärke vor allem Schwächen
für Männer, auch für Sexisten. kaschiert. Wer will eine Welt,
Der konservative Richter Brett in der auf Vorstandsfotos lau-
Kavanaugh, dem Frauen Über- ter fast identisch aussehende
griffe in seiner Jugend vorwer- Männer zu sehen sind? Ich
fen, wurde auf Lebenszeit an nicht. Ich trauere auch den
den Obersten Gerichtshof der Testosteronrunden und Dino-
USA gewählt, ohne dass die sauriermännern nicht nach,
Vorwürfe wirklich geprüft wor- denen ich zu Beginn meines
den wären. In Brasilien steht Berufslebens begegnet bin.
ein Mann vor der Wahl zum Das Atmen fällt heute leichter.
Präsidenten, Jair Bolsonaro, Betrachtet man den Femi-
der einmal zu einer Abgeord- nismus auf diese Weise, steht
CHAMUSSY / SIPA / ACTION PRESS

neten im Parlament sagte, er er nicht für den Kampf der


werde sie nicht vergewaltigen, Geschlechter, sondern für
weil sie »zu hässlich« sei. Auch ihre Versöhnung. Er steht
in Deutschland sind Männer dafür, dass Macht gleich ver-
ein Jahr nach #MeToo nicht teilt werden sollte und jeder
die Opfer, sondern meistens Mensch, Frau oder Mann,
immer noch die Täter, sein kann, was sie oder er
wenn es um sexuelle Über- sein will, befreit von den Fes-
griffe geht. seln fester Zuschreibungen.
Trotzdem: Die #MeToo-Bewegung hat vieles erreicht in Im SPIEGEL-Sonderheft »#frauenland«, das diese
diesem Jahr. Sie hat ein Bewusstsein geschaffen für die Rea- Woche erschienen ist, steht eine bemerkenswerte Umfrage:
lität von Macht und Missbrauch im Alltag, sie hat damit die Zwei Drittel der Deutschen – und auch zwei Drittel der
Wirklichkeit ein klein wenig verändert. Es hat etwas Befrei- Männer – finden demnach, dass #MeToo vor allem Posi-
endes, dass Männer wie Harvey Weinstein und Bill Cosby tives bewirkt habe. Was das zeigt? Eine Mehrheit der Frau-
vor Gericht und im Gefängnis büßen müssen für das, was en und Männer ist froh darüber, dass die Decke gelüftet
sie Frauen angetan haben. wurde über der Welt des sexuellen Machtmissbrauchs.
Es wäre ein Leichtes, sich als Mann beleidigt zurückzu- Diese Mehrheit der Deutschen will auch nicht, so
ziehen und zu jammern, dass man sich wegen seines deute ich das, dass sich die Möglichkeiten von Menschen
Geschlechts mit Nötigern, Grapschern, Vergewaltigern in durch ihr Geschlecht verringern. Sie wünschen sich für
einen Topf geworfen sehe. Stehen alle Männer unter Gene- ihre Töchter die gleichen Chancen wie für ihre Söhne –
ralverdacht? Die Antwort ist natürlich nein. Es ist nun mal und sie wünschen sich ihre Söhne nicht in die Welt des
so, dass die Täter fast immer Männer sind, und natürlich »boys will be boys« zurück, in der Jungs als Jungs
hat das dann auch etwas mit dem Mannsein zu tun, mit gesehen werden, die halt nicht anders können. Deshalb ist
Rollenbildern, überlieferten und erlernten. Im Übrigen diese neue Zeit, in der wir seit einem Jahr leben, eine
stimmt es ja nicht, dass nicht unterschieden würde zwi- ziemlich gute für junge Frauen und für junge Männer.
schen missglückten Flirts und Straftaten. Und ja: Der Fall Mathieu von Rohr

6 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Meinung So gesehen

Der letzte Sepp


Wie der »Bild«-Zeitung ein
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand echter Scoop gelang

Erschütterndes über die AfD G Eigentlich ist ja der SPIEGEL das


Zentralorgan des investigativen Jour-
nalismus, aber manchmal sind uns
Falls Sie, liebe Leser, mindest. Ich habe sie mir ausgedacht. die Kollegen von der »Bild«-Zeitung
bereits gewisse Ressenti- Sie haben somit denselben Wahrheits- einen Schritt voraus. Diese Woche
ments gegenüber der AfD gehalt wie jene »Nachrichten«, die etwa haben sie Hitler interviewt.
hegen, werden die fol- AfD-Mitglieder und ihre Sympathisan- Nicht Adolf, sondern Alexander, ei-
genden Nachrichten Sie ten gern in den sozialen Netzwerken nen Nachkommen von Hitlers Halb-
gewiss interessieren: Wie teilen, um Ressentiments zu schüren. neffen, der irgendwo in den USA
die Bundesinformationsstelle Es handelt sich um Lügen und Ver- lebt. Hitler heißt er zwar nicht, ein
am Freitag mitteilte, feiern die Bun- schwörungstheorien, die zwar das eige- richtiges Interview war es auch nicht,
destagsabgeordneten der Partei in den ne Weltbild stärken, aber jeglicher der Mann, der dem Führer so nahe
Sitzungswochen jeden Dienstagabend Grundlage entbehren. Zu den Klassi- gekommen ist wie du und ich, hat
eine Champagnerparty, die den Steuer- kern gehört die Meldung, wonach offenbar ein paar Sätze durch ein
zahler jedes Mal mehr als 8000 Euro Flüchtlinge 700 Euro Weihnachtsgeld Fliegengitter geknurrt.
kostet. Zudem bestellte die AfD-Frak- von der Bundesregierung erhalten. Aber was »Bild« unter der Über-
tion bei der Materialstelle des Bundes- Oder die frei erfundene Forderung von schrift »Letzter Hitler bricht sein
tags allein zwischen Januar und August Grünenpolitikerin Claudia Roth nach Schweigen« zusammengetragen hat-
dieses Jahres 788 Füllfederhalter der einem generellen Alkoholverbot im te, war schon stark: Hitlers Groß-
Marke Montblanc, was einem Schnitt Ramadan, aus Rücksicht auf muslimi-
von mehr als acht Montblancs pro sche Mitbürger. Sie stehen auf ver-
Abgeordneten entspricht. meintlichen »News-Seiten« wie Nach-
Ein prominentes Mitglied der Frak- richten.de.com und beginnen gern mit
tion ließ sich im selben Zeitraum zwei- der Formulierung »Wie das Bundes-
mal pro Woche von der Fahrbereit- kanzleramt am Freitag mitteilte ...«
schaft des Bundestags in ein Bordell Und egal wie oft solche Meldungen
chauffieren und reichte die Rechnungen später widerlegt werden: Irgendetwas
mit den Einzelposten »Rosi« und bleibt wohl immer hängen.
»Rosé« später sogar als Bewirtungsbeleg Die ersten beiden Absätze dieses
bei der Bundestagsverwaltung ein. Textes stehen übrigens unter strenger
Derweil sind die Gelder aus dem lange Beobachtung der 70 Kollegen aus neffe trägt beigefarbene Hosen und
verschollen geglaubten Schattenhaus- der SPIEGEL-Dokumentation. Deren trinkt den Kaffee schwarz. Er mag
halt des »Dritten Reiches«, den soge- Aufgabe ist es normalerweise, alles Angela Merkel, Donald Trump mag
nannten braunen Kassen, über argenti- aus Texten zu streichen, was falsch er nicht. Und sein Haus umgibt ein
nische Mittelsmänner auf das Konto der ist. Selbst dann, wenn das Gestrichene Maschendrahtzaun. Natürlich ist
Bundes-AfD geflossen. Es handelt sich in ihr Weltbild passen würde. hier bei uns sofort die Hektik ausge-
um rund 19,3 Milliarden Reichsmark. brochen. Mehrere Investigativteams
Und nun zur Wahrheit: Keine dieser An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan wurden losgeschickt. Sie sind nicht
Informationen stimmt. Hoffe ich zu- Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. mit leeren Händen zurückgekom-
men. Unsere Mitarbeiterin in Chile
hat ein Interview mit dem letzten
Kittihawk Honecker (»Letzter Honecker bricht
sein Schweigen«) geführt. Der Mann
trägt blaue Button-down-Hemden
und tut zwei Stück Zucker in den
Kaffee. Er heißt nicht Honecker und
ist auch nicht mit ihm verwandt,
aber er hat unserer Reporterin anver-
traut: »Ich würde Göring-Eckardt
wählen.« Die Kollegen vom Sport
sind bei der Suche nach dem letzten
Herberger fündig geworden, der
unter dem Pseudonym »Sepp« in
der Pfalz lebt. Ein Nachbar will
den Satz gehört haben: »Ich hätte
Khedira nicht aufgestellt.« Das alles
und noch viel mehr können Sie ex-
klusiv im nächsten SPIEGEL lesen.
Ralf Neukirch

8 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Denn die Welt


zu ernähren
muss nicht heißen,
die Natur
auszubeuten.
Bis 2050 müssen 2 Milliarden mehr
Menschen mit Nahrung versorgt werden.
Stara Agrarmaschinen und SAP® Leonardo
IoT-Technologie ermöglichen Farmern,
die exakte Menge an Düngemittel für jede
3DQ]HLQGLYLGXHOOIHVW]XOHJHQ$OOHVLP
Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft
und für ertragreichere Ernten. DIE BESTEN
UNTERNEHMEN VERÄNDERN DIE WELT.
Mehr unter sap.de/landwirtschaft
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Titel

Wir Zahmen

10 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Deutschland Zum Jubiläum der Revolution von 1918: eine kleine Geschichte der dreieinhalb
deutschen Revolutionen. Was ist das Muster? Was sagt es über uns aus? Und könnte
es sein, dass es eines Tages neue Umwälzungen gibt, diesmal von rechts? Von Dirk Kurbjuweit

W
er freut sich eigentlich des
9. November?«, fragte Gustav
Stresemann zum ersten Jah-
restag der Revolution von
1918. Alle seien enttäuscht, die Liberalen,
das Zentrum, sogar die Sozialdemokratie,
die »im Zeichen des Katzenjammers«
stehe. Die Gefühle seiner Parteigenossen
von der nationalliberalen DVP müsse er
gar nicht erst beschreiben. Ȇberall Nie-
derbruch, fast nirgends ein Anfang von
Neuem.«
Später freundete sich Stresemann doch
noch halbwegs mit den Ergebnissen jener
Revolution an, wurde Reichskanzler und
Außenminister der Weimarer Republik;
seine versöhnliche Politik gegenüber
Frankreich trug ihm 1926 den Friedens-
nobelpreis ein. Damals sah es fast so aus,
als könnte sich die Demokratie in Deutsch-
land etablieren. Aber es folgte der Zivili-
sationsbruch von 1933, Hitlers »Macht-
ergreifung«.
Wer erinnert sich eigentlich des 9. No-
vember 1918, könnte man heute fragen,
99 Jahre nach Stresemann, kurz vor dem
100. Jahrestag jener Revolution. Sie ist bei-
nahe vergessen, das Jubiläum wird längst
nicht so gefeiert wie ein Lutherjahr oder
ein Wagnerjahr. Es gibt keinen Revolu-
tionsmythos, keinen Revolutionshelden.
Dabei war sie zunächst erfolgreich, hat
die Monarchie weggefegt, eine Demo-
kratie gegründet. Aber 1918 gilt heute vor
allem als die Revolution, die es nicht ge-
schafft hat, die Nazis zu verhindern. Oder
sie gar hervorgebracht hat. So wird man
kein Star der Geschichte.
Dabei hat sie den Deutschen eine Men-
ge zu erzählen. Wie sie so sind. Und was
das für Gesellschaft und Politik bedeutet.
Das gilt vor allem, wenn man 1918 mit den
anderen deutschen Revolutionen ver-
knüpft, denen von 1848 und 1989 und der
halben von 1968. Weil es überraschende
Parallelen gibt. Weil Muster erkennbar
werden. Noch klarer macht dies ein Ver-
gleich mit anderen Revolutionen, vor al-
lem der amerikanischen von 1775, die so
erfolgreich war. Zusammen mit einem
Blick auf eine deutsche Spezialität, die Re-
volutionen von oben, ergibt das schon ein
sehr deutliches Bild, ein Porträt der Deut-
schen im Spiegel ihrer Revolutionen.
SCHERL / SV-BILDERDIENST

Es geht dabei um die Frage der Ent-


schlossenheit, um das Verhältnis zur Frei-

Demonstrierende Matrosen in Kiel 1918


»Reicht euch die Hände«

11
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ber der Revolution sein. Aber dafür sind


sie zu zögerlich, zu vernünftig. In den ver-
gangenen Jahren haben sie sich zu »Ver-
nunftmonarchisten« entwickelt.
Sie hatten sogar die Kredite für den
Krieg des Kaisers bewilligt. Daraufhin spal-
tete sich eine pazifistische Minderheit ab
und gründete die USPD, die unabhängige
SPD. Diese Partei steht nun, zu Beginn
der Revolution, aufseiten der Radikalen.
Die gespaltene Linke, auch das ist ein The-
ma bis heute.
Die Berliner Arbeiter folgen den Aufru-
fen in Massen, arbeiten nicht, sondern zie-
hen in die Berliner Innenstadt. Die SPD

ULLSTEIN BILD
AKG-IMAGES
merkt, dass sie am Ende des Tages isoliert
sein könnte, und stellt sich auf die Revolu-
tion ein.
SPD-Chef Ebert um 1918, Revolutionärin Luxemburg 1914 Gegen Mittag wird die Abdankung des
»Pflaumenweiche Elemente« Kaisers verkündet. Im Reichstag berät die
Führung der SPD, was zu tun sei. Partei-
vorsitzende sind Friedrich Ebert, gelernter
heit, zur Nation, zur Stabilität, zur Obrig- Gesellschaft und wählen Arbeiter- und Sol- Sattler, und Philipp Scheidemann, gelern-
keit. Und es geht um die Frage: War es das, datenräte. Rote Fahnen wehen bald in vie- ter Schriftsetzer und Buchdrucker. Ge-
oder kommt noch eine Revolution? len deutschen Städten. drängt von Arbeitern und Soldaten, die
Zuletzt hat der AfD-Vorsitzende Ale- Im Ersten Weltkrieg hat sich das Kaiser- an der Sitzung teilnehmen, tritt Scheide-
xander Gauland eine »friedliche Revolu- reich ruiniert. Zwei Millionen Soldaten wa- mann auf die Balustrade eines Fensters
tion« gefordert, ein neues »politisches Sys- ren in vergeblichen Schlachten gefallen. und ruft die Republik aus. Ebert ist sauer:
tem im Sinne des Parteiensystems«. Bun- Die Kriegswirtschaft machte die Menschen »Du hast kein Recht, die Republik auszu-
destagspräsident Wolfgang Schäuble in der Heimat arm, Hunger, Elend. Kaiser rufen.« Jetzt ist sie allerdings da, und man
(CDU) hat das sofort zurückgewiesen: Wilhelm II. hatte seine Autorität verloren, muss etwas aus ihr machen.
»Wir brauchen keine Revolution, sondern die Oberste Heeresleitung unter Erich Ebert schreibt einen Aufruf an das Volk:
einen starken und toleranten Rechtsstaat.« Ludendorff und Paul von Hindenburg hat- »Verlasst die Straßen. Sorgt für Ruhe und
Es gibt also im Jubiläumsjahr der Revolu- te eine Militärdiktatur etabliert. Deutsch- Ordnung!« Es folgt ein Aufruf an die Be-
tion sogar eine Revolutionsdebatte. Und land war reif für die Revolution. amten: »Ich appelliere an Ihre Liebe zu
manche würden sagen, ganz rechts sogar Zunächst soll sie von oben kommen. In unserem Volke. Ein Versagen der Organi-
so etwas wie eine Revolutionsstimmung. einem perfiden Manöver übergibt die Hee- sation in dieser schweren Stunde würde
Auch darum soll es hier gehen. resleitung dem Parlament Ende Septem- Deutschland der Anarchie und dem
Was immer wieder vorkommen wird, ber 1918 die Macht, damit es die Kapitula- schrecklichsten Elend ausliefern.« Der drit-
ist der 9. November, mal ein heller und tion erklären und die Folgen der Nieder- te Aufruf geht ans Militär, die Soldaten
mal ein dunkler Tag, der große Tag der lage verantworten müsse. Aber für solche sollten »ihre Dienstgeschäfte unverändert
deutschen Geschichte, der in beinahe allen Spielchen ist es zu spät. weiterführen«. Es ist Revolution, aber es
Revolutionen eine Rolle spielt. »Der 9. November 1918 ist ein Samstag, soll auch fast alles so bleiben, wie es ist.
Ohne das berühmte Bonmot von Lenin ein normaler Arbeitstag in den Berliner Immerhin bildet die SPD am 10. No-
geht es natürlich nicht. Er soll gesagt Betrieben. Es ist ein typischer November- vember mit der USPD eine Regierung, den
haben: »Revolution in Deutschland? Das tag: 9 Grad, trüb, in der Frühe regnet es. »Rat der Volksbeauftragten«. Vorsitzender
wird nie etwas, wenn diese Deutschen Wie an jedem anderen Tag machen sich ist Ebert. Die kontrollierende Macht liegt
einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die Arbeiter auf den Weg in die Fabriken.« bei den Arbeiter- und Soldatenräten.
die sich noch eine Bahnsteigkarte.« So beginnt das Buch »Die Revolution von Am Abend dieses Tages telefoniert
1918/19« von Wolfgang Niess. Ebert mit Generalleutnant Wilhelm Groe-
Am Abend zuvor hat der Vollzugsaus- ner, einem der Köpfe der Obersten Heeres-
Die Revolution von 1918
schuss des Arbeiter- und Soldatenrats Ber- leitung. Groener hat später behauptet, die
Am Abend des 29. Oktober gibt die lin zum Generalstreik und zu Demonstra- beiden Männer hätten ein »Bündnis« be-
Admiralität der deutschen Flotte, die vor tionen aufgerufen. »Heraus aus den Be- schlossen. Das Offizierskorps verhalte sich
Wilhelmshaven auf Reede liegt, den »See- trieben. Heraus aus den Kasernen! Reicht loyal, wenn Ebert den Bolschewismus be-
klar-Befehl«, angeblich für ein Manöver. euch die Hände. Es lebe die sozialistische kämpfe, also das Rätewesen. Ebert hat das
Drei Geschwader mit 60 000 Mann sollen Republik.« nicht bestätigt, und wahrscheinlich hat
sich zum Auslaufen bereit machen. Der »Vorwärts«, das Parteiblatt der Groener übertrieben. Aber tatsächlich
Die Soldaten glauben das nicht. Sie glau- SPD, warnt dagegen vor »Unbesonnenhei- fährt Ebert nun eine Doppelstrategie. Ei-
ben, nicht zu Unrecht, dass sie sich in einer ten«. Die Arbeiter sollten erst einmal ab- nerseits kooperiert er mit den Räten, an-
letzten Schlacht aufopfern sollen. Dabei warten. dererseits mit dem Militär, von dem er sich
ist der Krieg längst verloren. Das wissen Schon ist die erste Bahnsteigkarte ge- das verspricht, was ihm als gutem Deut-
auch die Seeleute. Eine Meuterei bricht löst. Besonnen sein, abwarten. Entschlos- schen so sehr am Herzen liegt: Stabilität.
aus, die schnell nach Kiel schwappt. Werft- senheit klingt anders. Die Sozialdemokra- »Ich hasse sie wie die Sünde«, soll Ebert
und Fabrikarbeiter schließen sich den Sol- ten stecken, wie eigentlich immer, in einem über die Revolution gesagt haben.
daten an. Sie wollen jetzt mehr als das ei- Dilemma. Sie haben den größten Rückhalt Er will in Wahrheit keine Räterepublik,
gene Leben retten, sie wollen eine andere in der Arbeiterschaft, könnten also Antrei- sondern eilig eine Nationalversammlung

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Titel

wählen lassen, die den Weg für eine par- korpssoldaten Liebknecht und Luxem- Historiker Heinrich August Winkler in
lamentarische Demokratie ebnen soll. Am burg. »Angewidert«, notiert Thomas »Der lange Weg nach Westen«, seinem
13. Dezember sagt er: »Das Herum- und Mann in seinem Tagebuch. Standardwerk zur deutschen Geschichte.
Hineinregieren der Arbeiter- und Sol- Der Mann fürs Grobe bei der SPD ist Das Problem dieser Revolution war
datenräte im Lande muss aufhören.« Am Gustav Noske, der von sich gesagt hat: »Ei- nicht nur mangelnde Entschlossenheit.
29. Dezember verlässt die USPD den Rat ner muss der Bluthund werden.« Den gibt Von der Politologin Hannah Arendt
der Volksbeauftragten. Die SPD regiert er dann auch in Bayern. Dort hat sich im stammt der treffende Gedanke, dass die
allein weiter. April 1919 eine Räterepublik gegründet. SPD schon aus Eigennutz nicht an einer
Sie ist getrieben von einer Angst, der Noske lässt sie mithilfe von Freikorps und Räterepublik interessiert sein konnte. »Die
Angst vor russischen Verhältnissen. Im Reichswehr brutal niederschlagen. Räte bildeten von Anfang an eine tödliche
Jahr zuvor hatte die Oktoberrevolution Nach vielen Streiks und blutigen Kämp- Gefahr für das Parteiensystem überhaupt«,
ein Rätesystem etabliert, seitdem herr- fen setzt sich die SPD durch. Bei der Wahl schrieb sie in ihrem Buch »Über die Revo-
schen Anarchie und Bürgerkrieg. Ebert zur verfassunggebenden Nationalversamm- lution«. Die SPD war damals bereits Teil
sagt: »Wer die Dinge in Russland erlebt lung am 19. Januar 1919 wird sie die mit dieses Systems.
hat, der kann im Interesse des Proletariats Abstand stärkste Partei, 37,9 Prozent. Weil Man weiß nicht, was aus einer deut-
nicht wünschen, dass eine solche Entwick- die linke Arbeiterschaft immer noch in Ber- schen Räterepublik geworden wäre. Es
lung bei uns eintritt.« lin rumort, versammeln sich die Abgeord- gibt auch die Lesart, dass die SPD mit ihrer
Im Januar 1919 scheint auch Deutsch- neten im Deutschen Nationaltheater in Wei- Politik einen großen Bürgerkrieg verhin-
land in den Bürgerkrieg zu kippen. Die mar. Sie wählen Ebert zum Reichspräsiden- dert habe, in den sich eventuell Russland
Regierung will den Berliner Polizeipräsi- ten, Scheidemann zum Reichskanzler. zugunsten der Räte eingemischt hätte.
denten entlassen, Emil Eichhorn von der Die neue Verfassung sichert allen Deut- Man weiß aber, was aus der Weimarer
USPD. Seine Partei und der noch radika- schen Grundrechte wie die Meinungsfrei- Republik geworden ist: die Voraussetzung
lere Spartakusbund um Karl Liebknecht heit, aber von Rätedemokratie ist keine für Hitler, den Mann mit dem größten
und Rosa Luxemburg rufen zur Demons- Rede mehr. Stattdessen wird ein Ersatz- Stabilitätsversprechen. Die Republik war
tration auf dem Alexanderplatz auf. Hun- kaiser geschaffen, ein machtvoller Reichs- nicht stabil, sondern wurde zwischen den
derttausende kommen, der Beginn des präsident, dessen Regierungen zur Not Extremisten von links und rechts zerrieben.
sogenannten Spartakusaufstands. »Alle ohne das Parlament herrschen können. Die demokratische Mitte war zu schwach.
Macht den Räten«, fordert Liebknecht. Die Reichsflagge wird schwarz-rot-gold. Es gab zu wenig Rückhalt.
Linke kämpfen gegen Linke, die SPD Aber die Handelsmarine fährt unter einer Das hatte auch damit zu tun, dass die
stützt sich dabei auf rechtsradikale Frei- Flagge, die an das Kaiserreich erinnert. Siegermächte die junge deutsche Demo-
korps ehemaliger Frontsoldaten. Hunderte »Der Obrigkeitsstaat wurde durch die kratie nicht förderten, sondern sie mit ex-
sterben. Am 15. Januar ermorden Frei- Verfassung nicht überwunden«, urteilt der trem harten Friedensbedingungen belas-

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Barrikadenkämpfe am Berliner Alexanderplatz 1848 (zeitgenössische Lithografie): »Lasst endlich das Geleier sein«

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teten, Reparationen, Gebietsverlusten. hend: »Ein Reich wie ein Sonnenschein! / Der Dichter Herwegh hat inzwischen
Die Frage der Freiheit wurde fortan von Ein Herz, ein Volk und ein Wappen! / Helf im Pariser Exil deutsche Handwerker, die
einer nationalen Frage überlagert. Wie uns Gott – so soll es klappen!« in Frankreich arbeiten, zu einer kleinen
kann man diese Demütigung überwinden? Auch wirtschaftlich ging es den Deut- Armee vereint und ausbilden lassen. Er
So ging Ludendorffs Plan doch noch auf. schen nicht gut. Karge Kartoffelernten, will sie zu Hecker führen, aber der macht
Aber auch die Republik selbst hat Hitler neue Maschinen, die den Handwerkern sich inzwischen ebenfalls Bahnsteigkarten-
den Weg geebnet. zusetzten. Die Weber in Schlesien mach- gedanken. Würde er die Legion aus dem
Rosa Luxemburg sah »pflaumenweiche ten 1844 einen Aufstand. Er blieb lokal Ausland herbeirufen, könnte das als Lan-
Elemente« am Werk, und damit sollte sie und wurde bald niedergeschlagen. desverrat gelten, weil dort auch Franzosen
recht behalten. Als im März 1920 Frei- Für eine Revolution brauchten die Deut- mitmachen. So weit will er zunächst nicht
korps und Teile der Reichswehr gegen die schen den Anstoß von außen, von den gehen.
Republik putschten, erwies sie sich zwar Franzosen. Die jagten im Februar ihren Als sich Hecker dann doch noch er-
als überlebensfähig und wurde durch ei- Bürgerkönig Louis Philippe I. davon und mannt, Herweghs 650 Legionäre zur Re-
nen Generalstreik gerettet. Man versäum- gründeten eine neue Republik. Nun nah- volution einzuladen, ist es zu spät. Bevor
te es jedoch, die Putschisten hart zu be- men auch die Nachbarn ihren Mut zusam- sich beide Trupps vereinen können, wird
strafen und sich so Respekt zu verschaffen. men und forderten ihre Fürsten heraus, in Heckers kleine Schar in der Schlacht bei
Die sogenannte Überkontinuität nach Preußen, in Baden, in Österreich, fast über- Kandern aufgerieben. Herweghs Legion
der Revolution sorgte dafür, dass die alten all in den deutschen Staaten. geht wenig später in der Schlacht von Dos-
Eliten weitgehend intakt blieben, die ost- Barrikaden in Berlin, Kämpfe am 18. senbach unter. Hecker flieht nach Amerika
elbischen Großgrundbesitzer, das Offi- und 19. März, mehr als 200 Tote. Und, ein und wird eine Weile als Freiheitsheld ge-
zierskorps, die kaisertreuen Beamten, die Wunder, der preußische König Friedrich feiert. Aber selbst er war ein Zauderer.
Wirtschaftsbarone. Sie lösten sich emotio- Wilhelm IV. gibt klein bei. Er schickt seine Die Folgen seines Fehlschlags wertet
nal vom Kaiser, der im niederländischen Soldaten aus der Stadt und verneigt sich Historiker Winkler als fatal: »Die Idee der
Exil Holz hackte, aber als Reichspräsident mit bloßem Haupt vor den Toten, die im deutschen Republik hatte nachhaltigen
Ebert 1925 an den Folgen einer Blinddarm- Schlosshof aufgebahrt sind. Schaden genommen; im Bürgertum
entzündung starb, gab ihnen die Verfas- Sieg, die Freiheit liegt auf der Straße, wuchs die Neigung, alles Heil von einer
sung die Chance auf einen Ersatzkaiser in man kann sie sich nehmen. Was machen Verständigung mit den alten Gewalten zu
ihrem Sinne. Die Deutschen wählten Hin- die Deutschen? Lösen eine Bahnsteigkarte. erhoffen und einen scharfen Trennungs-
denburg, der dann gemeinsam mit den Die Besonnenen im Vorparlament wählen strich zu Vertretern radikaler Positionen
Kumpels aus den alten Eliten Hitler an die die als unbesonnen geltenden Badener zu ziehen.« Großes Gemäßigtsein also
Macht rief. Friedrich Hecker und Gustav Struve nicht auch hier.
So ähnlich hatte sich das schon einmal in den wichtigen Fünfzigerausschuss. Das zeigt sich schnell in der Paulskirche,
abgespielt, 70 Jahre zuvor. Hecker zieht die Stulpenstiefel an, setzt wo das neu gewählte Parlament an einer
seinen Federhut auf und versucht es auf Verfassung für ein vereintes Deutschland
eigene Faust. Im April 1848 soll er in Kon- arbeitet. Die Linke tut erst einmal das, was
Die Revolution von 1848/49
stanz die Republik Baden ausgerufen ha- die Linke fortan immer wieder tun wird,
Der Schriftsteller Georg Herwegh kannte ben. Dann zieht er mit einer winzigen sie spaltet sich. Es gibt bald die Fraktionen
seine Deutschen gut, als er 1841 das Ge- Schar in Richtung Karlsruhe, um den »Donnersberg« und »Deutscher Hof«,
dicht »An die Zahmen« schrieb: »Lasst Großherzog zu stürzen. Das wirkt ent- man benennt sie nach den Wirtshäusern,
endlich das Geleier sein / Und rührt die schlossen, doch dann zögert er, die Deut- in denen sich die Abgeordneten treffen.
Trommel nur! / Der Deutsche muss erst sche Demokratische Legion über den Auch von »Linken im Frack« ist schon die
freier sein, / Dann sei er Troubadour.« Rhein zu rufen. Rede. Der spätere »Autokanzler« Gerhard
Trotz Verbots wurde seine Gedichtsamm- Schröder von der SPD kann sich also auf
lung »Gedichte eines Lebendigen«, die zur eine Tradition berufen.
Revolution aufrief, ein Bestseller. Das Parlament tagt und tagt, und die
Seit 1815 hatte sich Unmut zusammen- Revolution verliert ihren Schwung. In
gebraut, seit dem Wiener Kongress, auf Wien setzt sich die Konterrevolution
dem Europa nach der Niederlage Napo- durch. Am 9. November 1848 wird dort
leons neu geordnet wurde. Das war eine Robert Blum, Kölner von Geburt, dann
Sache der Fürsten, aber als kleines Zuckerl Theatermensch in Leipzig und einer der
versprachen sie ihren Völkern, dass die Anführer der ersten Stunde, hingerichtet.
Staaten Verfassungen bekommen würden, So beginnt die Geschichte der dunklen Sei-
eine Maßnahme gegen die totale Willkür. te dieses Datums.
Die Preußen hielten sich nicht dran. Es habe sich gezeigt, schreibt der His-
Aber auch anderswo waren die Zustän- toriker Wolfgang Mommsen in seinem
de schwer erträglich. Der österreichische Buch »Die ungewollte Revolution«, dass
Kanzler Fürst von Metternich, damals der »nicht nur die Liberalen, sondern auch ein
dominierende Politiker des Deutschen großer Teil der Linken eine gewaltsame
Bundes, förderte überall ein System von Wende der Dinge überhaupt nicht ernst-
Spitzelei, Zensur und Repression. haft ins Auge gefasst hatten«. Den Ab-
Der Freiheitstraum ließ sich jedoch geordneten war bewusst, dass die Franzö-
nicht aus den Köpfen der Bürger ver- sische Revolution von 1789 in Jahre des
treiben. Dazu kam die Sehnsucht nach Terrors und einen langen Bürgerkrieg
Einheit. Die deutschen Bürger wollten in gemündet war. Das wollten sie unbedingt
BPK

einem großen deutschen Staat leben, nicht vermeiden.


in den 39 kleinen und mittelgroßen des Staatsmann Bismarck 1894 Zudem habe im Bürgertum eine über-
Deutschen Bundes. Herwegh dichtete glü- »Nur die Könige« triebene Angst vor dem Proletarier gewa-

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KEYSTONE / SYGMA
Reichskanzler Hitler vor Hitlerjungen in Nürnberg 1938: »Ich aber beschloss nun, Politiker zu werden«

bert, schreibt Mommsen. Zwar war das nicht aus eigener Kraft verwirklichen Den Freiheitswunsch berücksichtigte er
»Manifest der Kommunistischen Partei« konnten, hatte verhängnisvolle Folgen für ein bisschen, indem er im Deutschen Reich
von Friedrich Engels und Karl Marx im das deutsche politische Bewusstsein: Es das allgemeine und gleiche Wahlrecht
Februar 1848 erschienen, aber es hatte un- blieb obrigkeitlich verformt.« zuließ. In Preußen galt weiterhin das
ter den Proletariern noch keine Wirkung Und weiter: »Die Verschleppung der Dreiklassenwahlrecht. Für den Schweizer
entfaltet. Marx machte bei der Revolution Freiheitsfrage im 19. Jahrhundert bildet Historiker Jacob Burckhardt war dies »die
nicht mit. eines der wichtigsten Kapitel in der Vor- große deutsche Revolution«, und er hatte
Die Abgeordneten rieben sich überdies geschichte der ›deutschen Katastrophe‹ keine Zweifel daran, dass sie eine Antwort
auf in der nationalen Frage, der Frage der der Jahre 1933 bis 1945.« Was vermasselte auf 1848 war.
Einheit. Konnte, sollte Österreich dazu- Revolutionen so anrichten können. Genauso war 1933 eine Antwort auf
gehören? Schließlich wurde es eine klein- 1918. Hitler war so besessen vom 9. No-
deutsche Lösung, ohne Österreich. Und die 1871 und 1933: die vember, dass er den Beginn seiner politi-
Revolutionäre taten das, was ihre Nach- Revolutionen von oben schen Karriere im Nachhinein in diese
folger von 1918 auch tun sollten: Sie such- Zeit legte. In seinem Buch »Mein Kampf«
ten wieder Halt bei den alten Kräften, bei »Revolutionen machen in Deutschland nur heißt es großspurig: »Ich aber beschloss
der Obrigkeit. Am 28. März 1849 wählte die Könige«, prahlte der preußische Mi- nun, Politiker zu werden.« Seinen Münch-
das Parlament den preußischen König ohne nisterpräsident Otto von Bismarck einmal ner Putschversuch von 1923, zusammen
Gegenstimmen zum deutschen Kaiser, der gegenüber dem französischen Kaiser Na- mit Ludendorff, legte er auf genau jenen
durch eine Verfassung gebunden und durch poleon III. Ein wenig stimmte das sogar, Tag. Er scheiterte, kam jedoch, pflaumen-
ein Parlament kontrolliert sein sollte. wenn man sich nicht an die Definition von weich, mit ein paar Monaten Festungshaft
Doch Friedrich Wilhelm IV. nahm die Hannah Arendt hält. Für sie sorgt eine Re- davon.
Krone nicht an, da an ihr der »Luder- volution für die »Gründung der Freiheit«. Die alten Eliten hievten ihn an die
geruch der Revolution« hafte. Das Parla- Aber das kann man auch anders sehen. Macht, um das Erbe von 1918 loszuwerden,
ment war blamiert, die Revolution geschei- Dann geht es bei einer Revolution darum, und da hätten sie niemand anderen finden
tert. Sie flammte noch einmal kurz auf, in kurzer Zeit sehr viel zu verändern. können, der das fanatischer betrieb. Seine
wurde aber rasch niedergeschlagen. Die Das hat Bismarck von 1864 bis 1871 Revolution von oben machte aus dem
Deutschen hatten ihre Stabilität zurück, geschafft. Er nahm einen Teil des Traums Deutschen Reich einen exzessiven Obrig-
gesichert von der Knute der Fürsten. von 1848 auf und machte in Kriegen gegen keitsstaat, der zudem emotionsgetrieben
Winkler schreibt: »Dass die Liberalen Dänemark, Österreich und Frankreich die war. Für Europa wurde diese Mischung zur
und Demokraten Einheit und Freiheit deutsche Einheit klar, ohne Österreich. Katastrophe, in besonderer Weise für die

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AKG-IMAGES
Revolutionsgeneral Washington bei der Fahrt über den Delaware 1776*: »An Traditionen überhaupt nicht gebunden«

Juden. Es ist wohl kein Zufall, dass die Der Vergleich: Dies ist ein Musical, »Hamilton«. Es läuft
Reichspogromnacht 1938 auf einen 9. No- Amerika 1775 seit mehr als drei Jahren am Broadway und
vember fiel. Die Nazis hielten 1918 für eine anderswo, und es ist nahezu unmöglich,
»Lumpen- und Judenrevolte«. George Washington singt. Thomas Jeffer- Karten zu bekommen. Die Amerikaner
Beide, Bismarck und Hitler, so verschie- son singt. Alexander Hamilton singt. nehmen ihre Kinder und schauen sich mit
den sie waren, hatten leichtes Spiel, die James Madison singt. Das sind vier Grün- ihnen an, wie ihre Revolution getanzt und
Deutschen für ihre Revolutionen zu gewin- derväter der Vereinigten Staaten von Ame- gesungen wird. Selten wurde komplexe
nen, anders als die klassischen Revolutio- rika, vier Revolutionäre. Ihr Aufzug erin- Politik so unterhaltsam präsentiert. Man
näre von 1848 und 1918. Wenn die Deut- nert durchaus an das Ende des 18. Jahr- geht raus und summt tagelang Ohrwürmer
schen einem starken Mann, der sein Sta- hunderts, wirkt aber etwas schrill. Hören politischen Inhalts. Kommt ja nicht oft vor.
bilitätsversprechen mit einer nationalen wir kurz rein, was Hamilton dem Kollegen Kaum eine Revolution war so erfolg-
Agenda verband, folgen konnten, dann ta- Jefferson rappend zu sagen hat: reich wie die amerikanische. Die britische
ten sie das entschlossen. Dann waren sie »If we assume the debts, the union Kolonialmacht wollte den Amerikanern
nicht zahm oder zaghaft, sondern zu allem gets / A new line of credit, a financial die Kosten für einen Krieg vor allem gegen
bereit. Das ist die Lehre aus vier Revolu- diurectic. / How do you not get it? If we’re die Franzosen aufbrummen. Die Kolonien
tionen in 85 Jahren, zwei echten und zwei aggressive and competitive / The union wehrten sich, wollten nicht zahlen, ohne
von oben. Zum Fürchten eigentlich. gets a boost. You’d rather give it a seda- im Parlament mitreden zu können. 1775
Allerdings waren auch Bismarcks und tive? / A civic lesson from a slaver. Hey stellten sie eine Armee unter dem Kom-
Hitlers Stabilitätsversprechen nicht nach- neighbor, / Your debts are paid cuz you mando von George Washington zusam-
haltig. Bismarcks deutsche Einheit mün- don’t pay for labor.« men und führten acht Jahre lang Krieg ge-
dete nach 43 Jahren in den Ersten Welt- Dies ist eine Kabinettsdebatte. Die Her- gen die Briten, bis sie ihre Unabhängigkeit
krieg, Hitlers Reich währte lediglich zwölf ren streiten über die große Frage, was für durchgesetzt hatten.
Jahre. ein Staat die USA nach der Revolution Vieles ist nicht zu vergleichen mit deut-
So ist es oft nach Revolutionen. Sie sein soll. Finanzminister Hamilton plädiert schen Verhältnissen, aber mindestens vier
schaffen nur selten nachhaltig stabile dafür, dass sich die Bundesregierung für Vorteile hatten die Amerikaner.
Verhältnisse. Frankreich brauchte nach ihre Politik verschulden dürfe. Er will Big Erstens: Sie waren weder zaghaft noch
der viel gerühmten und überaus radikalen Government, den starken Zentralstaat. Au- zahm. Im Krieg nahm Washingtons Kon-
Revolution von 1789 mehr als 80 Jahre ßenminister Jefferson möchte die Macht tinentalarmee unglaubliche Entbehrungen
und drei weitere Revolutionen, um eine lieber bei den Einzelstaaten lassen. Der auf sich, um überhaupt existieren zu kön-
dauerhafte Demokratie zu etablieren. Die New Yorker Hamilton verhöhnt ihn, weil nen. Sie verlor viele der Schlachten gegen
Russische Revolution mündete in die Jefferson aus Virginia kommt und eine die weit überlegenen Briten. Die Soldaten
Sowjetunion, die lange für die Ewigkeit Menge Sklaven hält. Auch das ist ein gro- hungerten, froren, wurden schlecht oder
gemacht schien, aber dann doch gut 70 ßes offenes Thema nach der Revolution: gar nicht bezahlt und miserabel ausgerüs-
Jahre später unterging. Anders ist es in Wie umgehen mit der Sklavenfrage? tet. Aber sie hielten durch, weil Washing-
den USA, wo eine besonders nachhaltige ton durchhielt. Er pfiff auf Stabilität, er
Revolution gelang. * Gemälde von Emanuel Leutze, 1851. wartete im Chaos des Krieges auf ein Wun-

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Montagsdemonstranten in Leipzig 1989: Leiden an der eigenen Revolution

der, das den Kolonien die Freiheit besche- die Errungenschaften der Revolution bis Bei aller Kritik wurde er so sehr bewun-
ren könnte. Das geschah 1781 in der heute, trotz des Bürgerkriegs von 1861 bis dert, dass er ewig hätte regieren können.
Schlacht von Yorktown, als die Amerika- 1865, der die Frage der Sklaverei zuguns- Wenngleich Washington die erste große
ner mit ihren französischen Verbündeten ten des Nordens entschied. Demokratie der Neuzeit anführte, ver-
die Briten schlugen. Die Amerikaner stritten in der Demo- stand er, dass es in dieser Staatsform vor
Vorteil zwei ist der Wille zur Freiheit. kratie, die Deutschen über die Demokra- allem auf das Ende ankommt. Nach zwei
Als die Revolution ausbrach, waren die tie. Das ist ein gigantischer Unterschied. Legislaturperioden hörte er auf, obwohl
Kolonien gespalten. John Adams, einer Vorteil drei: »Die Männer der Revolu- das damals keine Vorschrift war.
der Wortführer, schätzte die Lage so ein: tion fühlten sich durch Traditionen über- Im Musical singt er: »If I say goodbye,
»Wir sind ungefähr zu einem Drittel Tories, haupt nicht gebunden«, schreibt Hannah the nation learns to move on. / It outlives
zu einem Drittel ängstlich, zu einem Drit- Arendt. Sie lebten in einer neuen Welt me when I’m gone.« Ohne ihn werde die
tel wahrhaft blau.« Tories waren die Ame- und wollten sie auf ihre Weise gestalten. Nation lernen, weiter voranzugehen. Da
rikaner, die dem britischen König die Die Deutschen hingegen sind stark von fließen dann Tränen im Theater, und man
Treue hielten, blau stand für die Revolu- der Romantik beeinflusst. Sie schauen hat das Gefühl, dass eine Nation, die sich
tionäre. gern schmachtend zurück und tun sich eines solchen Mythos erfreuen kann, wohl
Aber im Krieg fand man weitgehend zu- schwer, entschlossen in eine neue Zeit zu auch einen Donald Trump überstehen wird.
sammen. Und danach waren die Gründer- schreiten.
väter schlau genug, so zu tun, als gäbe es Der vierte große Vorteil war schlicht
Die Revolution von 1989
keinen großen Graben zwischen ihnen. In George Washington, der von 1789 bis 1797
den südlichen Bundesstaaten wurde die der erste Präsident der Vereinigten Staaten Für den Staatsmythos der alten Bundes-
Sklaverei exzessiv betrieben, in den nörd- war. Genau wie in Deutschland gab es republik spielten die Revolutionen keine
lichen kaum oder mit schlechtem Gewis- auch dort die Sehnsucht nach einem Er- Rolle, man berief sich stattdessen auf das
sen. Man hielt diese Frage offen und schaff- satzkönig. Bei ihm war diese Sehnsucht Wirtschaftswunder, die Westbindung und
te es so, miteinander eine starke Verfassung bestens aufgehoben, während sie ein Ebert das Wunder von Bern, den Sieg bei der
zu erarbeiten, deren Kern bis heute gilt. nicht bedienen konnte und ein Hinden- Fußballweltmeisterschaft 1954.
Die Politik der USA spaltete sich trotz- burg missbraucht hat. Die DDR hingegen brauchte unbedingt
dem rasch in zwei Lager, die Federalists, »In der Geschichte«, schreibt Washing- einen Revolutionsmythos. Die Regierun-
die von Hamilton angeführt wurden, und tons Biograf Ron Chernow, »finden sich gen der SED beriefen sich auf Karl Marx,
die Republikaner, die Partei Jeffersons. Es wenige Beispiele für einen Anführer, der den wohl einflussreichsten Revolutions-
ging hässlich zu, mit Lügen, Intrigen und so aufrichtig das Richtige tun wollte, nicht denker der Welt, sie fühlten sich der Rus-
verbalen Attacken, die denen von Donald nur für sich selbst, sondern für sein Land.« sischen Revolution von 1917 verbunden,
Trump nicht nachstehen. Hamilton starb Washington war nicht intellektuell, doch aber die DDR war nun einmal nicht durch
1804 in einem Duell mit Vizepräsident Aa- er war ungeheuer mutig, hatte Grandezza eine Revolution entstanden.
ron Burr. Aber es gab keine starke Frak- und das richtige Gefühl für die Lage seines Man behalf sich damit, dass man der
tion, die an der Freiheit zweifelte. Daran Landes. Die Macht des amerikanischen DDR von Anfang an den Auftrag gab,
hielten sie fast alle fest, und das sicherte Präsidenten hat er behutsam eingesetzt. »planmäßig die revolutionäre Umwälzung

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auf dem Weg zum Sozialismus fortzufüh- Viele Studenten der späten Sechziger-
ren«, wie es Erich Honecker ausgedrückt jahre hatten das Gefühl, noch immer in
hat. Damit wurde die DDR zum Staat der einem Obrigkeitsstaat zu leben. Der erste
permanenten Revolution erklärt. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte die
Aber was konnte der Mythos sein, die Bundesrepublik ziemlich autoritär geführt,
Tradition, in die man sich stellte? Die Auf- Staat und Wirtschaft waren durchsetzt mit
stände von 1848 und 1918 kamen nicht in- Leuten, die früher in der NSDAP waren
frage. Das verhinderte auch die »Misere- oder in jener Zeit Karriere gemacht hatten.
Theorie«, die in der DDR eine Zeit lang Zwar war Adenauer schon seit 1963 nicht
gehätschelt wurde. Demnach waren die mehr im Amt, und die Gesellschaft hatte
deutschen Revolutionen von Bürgern bereits begonnen sich zu liberalisieren,
(1848) und Sozialdemokraten (1918) ver- doch Dutschke und seine Gefolgschaft
raten worden. Man berief sich lieber auf glaubten, eine Revolution müsse noch sein.
den Bauernkrieg, den Thomas Müntzer Sie war dann, das versteht sich von
Anfang des 16. Jahrhunderts gegen die selbst, nicht so radikal wie in Frankreich,
Fürsten geführt hatte, zudem auf die Be- wo Studenten und Arbeiter so viel Rabatz
freiungskriege gegen Napoleon Anfang machten, dass Präsident Charles de Gaulle
des 19. Jahrhunderts. Das war ziemlich vorübergehend aus Paris floh. In Berlin

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wackelig, allerdings sind Mythos und Tat- gab es die »Schlacht am Tegeler Weg« und
sachen ohnehin nicht gerade Schwestern. einige andere gewaltsame Proteste, aber
Bekanntermaßen hielt sich der Gott der Studentenführer Dutschke 1968 der Elan verflog bald. Dutschke musste
Geschichte nicht an Honeckers Planun- »Machtergreifungsplan ausgepackt« sich zurückziehen, nachdem ihn ein
gen, sondern beendete die permanenten Rechtsextremist am 11. April 1968 nieder-
revolutionären Umwälzungen der SED im republik geworden«, schreibt Winkler. geschossen hatte.
Herbst 1989 durch eine echte Revolution. Man könnte es so zuspitzen: Was den Re- Es fehlte, mal wieder, die Entschlossen-
Gründe: Die DDR konnte ihr karges volutionären von 1848 der preußische Kö- heit. Bald war ’68 mehr Kneipe als Macht-
Wohlstandsversprechen kaum noch hal- nig war, denen von 1918 das Militär und ergreifungsplan, man konzentrierte sich
ten, und im Mai hatten gefälschte Kom- die alten Eliten, war den Revolutionären auf die sexuelle Revolution, machte sein
munalwahlen den Bürgersinn für die von 1989 die Bundesrepublik: ein Garant Studium brav zu Ende und trat den
Vorteile der Freiheit stärker denn je auf- für Sicherheit und Stabilität. Marsch durch die Institutionen an.
flammen lassen. Immerhin ging es nicht mehr um eine Ein paar Leute allerdings waren finster
Republikflucht in Massen, Montagsde- Obrigkeit. Die war der Bundesrepublik in- entschlossen. Sie gingen in den Untergrund
monstrationen zuerst in Leipzig und bald zwischen ausgetrieben worden. und suchten die Bundesrepublik bis in die
in vielen anderen Städten brachten das SED- Neunzigerjahre mit Terror heim, Andreas
Regime zu Fall, ohne dass ein Schuss fiel. Die halbe Revolution Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin
Am 9. November öffneten sich die Grenz- von 1967/68 und ihre Nachfolger, die sich als Revolutio-
übergänge, die Mauer war Geschichte. näre ohne Bahnsteigkartenhemmungen
Winkler: »Die Öffnung der Berliner »In der Kneipe Machtergreifungsplan aus- verstanden und komplett scheiterten.
Mauer am 9. November 1989 war für die gepackt.« Diese schönen Worte notierte Die anderen, die Zahmen, waren erfolg-
DDR das, was der Sturm auf die Pariser Rudi Dutschke Ende Juni 1967 in seinem reicher. Sie trugen eine Menge dazu bei,
Bastille am 14. Juli 1789 für das franzö- Tagebuch. Am 2. Juni hatte ein Polizist den aus der Bundesrepublik eine zutiefst libe-
sische Ancien régime gewesen war: der Studenten Benno Ohnesorg bei einer De- rale Gesellschaft zu machen. ’68 war ein
Schlag, von dem sich die bisherige Ord- monstration gegen den Schah von Persien großer Schlag gegen die Obrigkeit und das
nung nicht mehr erholen konnte.« vor der Deutschen Oper in Berlin ohne er- Obrigkeitsdenken. Es ist nicht ausgerottet,
Diese friedliche Revolution gilt als die kennbaren Grund erschossen. Daraufhin es kann sich wieder breitmachen, aber die
einzige, die Deutschen wirklich gelungen begann das, was später ’68 genannt wurde. halbe Revolution hat durchaus ihre Ver-
ist. Ein repressiver Staat wurde weggefegt, Der Studentenführer Rudi Dutschke hat- dienste. Im Untertitel seines Buches nennt
eine Obrigkeit abgeschafft, Freiheit ge- te diesen Aufstand durchaus als Revolution Koenen sie »Unsere kleine deutsche Kul-
gründet. Das war mutig und großartig. geplant. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, turrevolution«. Das trifft es.
Und doch zeigt sich auch hier das Mus- schrieb er mit dem Pathos jener Tage in
ter von 1848 und 1918. Die Bürger suchten einem Artikel im »Oberbaumblatt«, »und
Und heute?
schnell nach Stabilität. Deshalb wurde er- ich weiß nicht, wie ich euch nennen soll …
neut die Frage der Freiheit mit der natio- es sei denn, ihr akzeptiert den Begriff und Es sieht aktuell nicht nach einer Revolution
nalen Frage verknüpft. Dies war die be- die Anrede des Revolutionärs.« in Deutschland aus, weder von links noch
rühmte Wende in der Wende. Die De- Dutschke nahm das Erbe von 1918 voll von rechts. Linke Proteste gegen die Globa-
monstranten riefen nicht mehr »Wir sind an und plante den »Freistaat West-Berlin«, lisierung, zum Beispiel von Occupy, nahmen
das Volk«, sondern »Wir sind ein Volk«. kontrolliert von Räten. Gerd Koenen, der nie richtig Schwung auf. Gewaltausbrüche
So ganz ins Freie mochte man nicht tre- später die Geschichte der 68er in seinem wie beim Hamburger G-20-Gipfel 2017 blie-
ten, keine neue DDR bauen, nicht einmal Buch »Das rote Jahrzehnt« beschrieb, hör- ben lokal und zeitlich begrenzt. Die rechts-
einen neuen Gesamtstaat entwickeln, der te Dutschke bei einer Rede im Februar extreme Gruppe Revolution Chemnitz trau-
eine reformierte Bundesrepublik hätte sein 1968 sagen: »Die Revolutionierung der Re- te sich dem Namen nach eine Menge zu, hat
können. Bei der ersten freien Wahl zur volutionäre ist so die entscheidende Vo- aber zum Glück wenig zustande gebracht
Volkskammer der DDR am 18. März 1990 raussetzung für die Revolutionierung der und wurde schnell ausgehoben. Alexander
entschieden sich mehr als zwei Drittel der Massen. Es lebe die Weltrevolution und Gauland und die AfD scheinen von einer
Wähler für Parteien, die Richtung Westen die daraus entstehende freie Gesellschaft Revolution weit entfernt zu sein.
strebten. »Die Wahl war zu einem Plebis- freier Individuen.« Man kann das wohl Re- Allerdings kamen die Umstürze für die
zit für den Beitritt der DDR zur Bundes- volutionsbesoffenheit nennen. Zeitgenossen meist überraschend. Auch

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Titel

die Gründerväter der USA hatten nicht Im Osten kommt das Leiden an der Was kann man tun? Für die Antwort
mit einer Revolution gerechnet, sie hatten eigenen Revolution dazu. Inzwischen gilt noch einmal der Blick auf die amerikani-
sie nicht einmal im Sinn gehabt, sondern es als Demütigung, dass die Bundesrepu- sche Revolution. Die erste Regel, die sich
waren lange dazu bereit, sich mit dem eng- blik die ehemalige DDR einfach übernom- dort findet: nicht halsstarrig sein. Wäre
lischen König Georg III. zu verständigen. men hat, ohne größere Zugeständnisse. Georg III. den späteren Gründervätern
Wir könnten also in vorrevolutionären Damals war dies den meisten Ostdeut- der USA entgegengekommen und hätte ih-
Zeiten leben und würden es nicht ahnen. schen recht, bloß weg von der DDR. Und nen eine parlamentarische Vertretung ge-
Es ist jedoch interessant, sich vorzustellen, der Westen war allzu dankbar, den Osten stattet, hätte er seine Kolonien behalten.
dass wir in nachrevolutionären Zeiten le- schlucken zu können, ohne große Aner- Man muss Protest ernst nehmen.
ben. Die Aufstände von 1968 und 1989 lie- kennung für die mutige Revolution. Die zweite Regel steht schon weiter
gen ein paar Jahrzehnte zurück, doch Ge- Mittlerweile wirkt in Teilen Ostdeutsch- oben und kommt vom größten aller Revo-
schichte hat einen langen Atem. In beiden lands das Prinzip der Romantik: Der Deut- lutionäre: Die amerikanische Demokratie
Fällen ging es, bei allen Unterschieden, um sche schaut ganz gern zurück und findet hat auch deshalb 230 Jahre überdauert,
einen antiautoritären Impuls. Deutschland die Vergangenheit meist behaglicher als weil George Washington nach acht Jahren
West und Deutschland Ost haben sich zu die Gegenwart. Manche vermissen sogar abgetreten ist und damit einen Maßstab
verschiedenen Zeiten liberalisiert und sind die Obrigkeit. geschaffen hat. Es hält Gesellschaften
nun in einer sehr liberalen Bundesrepublik Für den Osten, aber auch für den Wes- zusammen, wenn jeder, der mit den Re-
vereint. Angela Merkels Flüchtlingspolitik ten verbindet sich wieder einmal die Frage gierenden nicht einverstanden ist, ein
ist auch ein Ausdruck fortgeschrittener Li- der Freiheit mit einer nationalen Frage. Datum vor Augen hat, zu dem sich garan-
beralität. Die lautet diesmal: Wer darf in Deutsch- tiert etwas ändern wird. Das ist das beste
Fast jeder Revolution folgt irgendwann land leben, darf dazugehören, wer nicht? Mittel gegen Revolutionen und Konter-
der Konter, so war es 1848, so war es 1918. Bei nationalen Fragen sind die Deutschen revolutionen.
Der Konter auf die antiautoritären Revo- als verspätete Nation traditionell sehr emp- Deshalb, zum Schluss, ein Lektüretipp
lutionen würde autoritär sein, logisch. findlich. auch für die Bundeskanzlerin: »Washing-
Was ist derzeit los in Deutschland? Pro- Das alles heißt nicht, dass bald wieder ton« von Ron Chernow, ein sehr gutes, ein
teste gegen die Flüchtlingspolitik, ein Un- Barrikaden aufgetürmt werden, um die lehrreiches Buch.
behagen gegen gesellschaftliche Liberalität, Macht zu erringen. Die deutsche Revolu-
gegen eine angeblich linke Diskursherr- tionsspezialität ist ja eine andere: Sie
schaft. All das drückt sich im Erfolg der kommt von oben, von denen, die die Video
»Manchmal ist es auch
AfD aus. Fast 20 Prozent der Deutschen Macht schon haben und dann radikal für nötig, radikal zu sein«
finden eine Partei, die den Kampf gegen nationale autoritäre Politik einsetzen. Die spiegel.de/sp422018revolution
das Antiautoritäre kämpft, so attraktiv, finden leicht Gefolgschaft. Deshalb darf oder in der App DER SPIEGEL
dass sie die AfD wählen würden. es dahin nie kommen.

ODD ANDERSON / AFP

Pegida-Demonstranten in Chemnitz im August: Fast jeder Revolution folgt irgendwann der Konter

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Deutschland
Der Eindruck verfestigt sich, dass Spitzenvertreter der AfD den demokratischen Raum verlassen haben. ‣ S. 24

Netzwerke

Gruppenbild mit Merkel


Ein bislang geheim gehaltenes Foto kursiert in der Bundesregierung.
 Zu einem wochenlang gut gehüteten Regierungsgeheimnis falsche Botschaft zu setzen, wurde das Treffen zunächst
ist ein Beweisfoto aufgetaucht. Es zeigt Bundeskanzlerin geheim gehalten. Das Gruppenfoto, auf dem die Genossin-
Angela Merkel (CDU) bei einem Treffen mit rund drei Dut- nen einträchtig mit Merkel posieren, dokumentiert: Die
zend weiblichen SPD-Bundestagsabgeordneten am 12. Sep- Stimmung im Kanzleramt war offenkundig gut; die Partei-
tember. Der Termin, bei dem es vornehmlich um einen linke Cansel Kiziltepe (vorn, 2. v. l.) formt mit ihren Händen
Austausch über frauenpolitische Themen ging, war bei den sogar die berühmte Merkel-Raute. Auch der Kanzlerin
Sozialdemokraten hinter den Kulissen zu einem Politikum scheint der Termin gefallen zu haben: Auf dem Originalbe-
geworden (SPIEGEL 41/2018). Aus Sorge, öffentlich eine weisbild findet sich unten rechts ihr Autogramm. VME

Suizidbeihilfe fraktion. Mit ihrem Vorstoß wollen die »zu versagen«. 61 Gesuche hat das BfArM
FDP fordert Ausweg für Liberalen Spahn dazu bringen, ein Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts umzuset-
seither abgelehnt, 21 Antragsteller sind
inzwischen verstorben. Die Liberalen
Schwerstkranke zen, das der CDU-Politiker bislang miss- fordern, dass Anträge »binnen angemes-
achtet. Die Richter hatten im März 2017 sener Zeit bearbeitet werden«, gegebenen-
 Die FDP-Bundestagsfraktion will Bun- entschieden, dass das zuständige Bundes- falls müsse eine Kommission entscheiden.
desgesundheitsminister Jens Spahn ver- institut für Arzneimittel und Medizin- »Wir wollen für die Betroffenen Rechts-
pflichten, unheilbar Kranken einen schmerz- produkte (BfArM) Schwerstkranken die sicherheit schaffen und ihnen mehr Selbst-
freien Suizid zu ermöglichen. Die Regie- Erlaubnis zum Kauf todbringender Medi- bestimmung am Lebensende ermögli-
rung müsse per Gesetz klarstellen, dass kamente in Ausnahmesituationen nicht chen«, sagt die FDP-Abgeordnete und
Schwerstkranken »in extremen Notlagen« verwehren dürfe. Seither sind beim Medizinrechtlerin Katrin Helling-Plahr.
der Kauf eines todbringenden Betäu- BfArM 115 offizielle Anfragen eingegan- Über den Antrag werden nun die Ab-
bungsmittels ermöglicht werde, heißt es gen. Spahn hat die ihm unterstellte Behör- geordneten im Rechts- und Gesundheits-
in einem Antrag der FDP-Bundestags- de aber im Juni angewiesen, die Erlaubnis ausschuss des Bundestags beraten. COS

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Glyphosat Europa Roth: Das war ein Kompromiss. Und


Kein Verbot für Gärtner? »Nicht immer Neinsager« Le Maire hat jüngst in einem Interview
die zögerliche Umsetzung kritisiert. Ich
 Im neuen »Aktionsprogramm Insek- Michael Roth, 48 (SPD), verstehe seine Ungeduld, aber wir haben
tenschutz« von SPD-Umweltministerin Staatsminister im auch erst seit wenigen Monaten einen

T. KOEHLER / PHOTOTHEK
Svenja Schulze geht es auch um Glypho- Auswärtigen Amt, SPD-Finanzminister.
sat. Nicht nur die industrielle Landwirt- kritisiert die zögerliche SPIEGEL: Die Einnahmen des künftigen
schaft nutzt das umstrittene Pflanzen- Europapolitik von Eurozonen-Budgets sollten sich teilweise
schutzmittel, auch Hobbygärtner Bundeskanzlerin aus neuen EU-Steuern speisen, doch
bekämpfen damit Unkraut. In Belgien Angela Merkel. auch da hakt es.
und Frankreich verbietet die Regierung Roth: Bei der Finanztransaktionsteuer
glyphosathaltige Mittel für Privatgärten. SPIEGEL: Nächste Woche hält die Kanz- kommen wir einfach nicht voran. Das är-
Das deutsche Umweltministerium will lerin eine Regierungserklärung zum gert mich, zumal das auf eine Initiative
den Einsatz von Pestiziden »in Haus- Europäischen Rat, es geht unter anderem deutscher und französischer Sozialdemo-
und Kleingärten« jedoch lediglich stär- um Migration und die Vertiefung der kraten zurückgeht. Auch bei der Digital-
ker einschränken. »Was Frankreich und Wirtschafts- und Währungsunion. Was steuer gibt es Schwierigkeiten, die wir
Belgien können, kann Deutschland erwarten Sie? rasch ausräumen müssen. Wir laufen Ge-
offenbar noch lange nicht«, kritisiert Roth: Wir müssen endlich liefern. Merkel fahr, die Erwartungen der Bürgerinnen
der grüne Bundestagsabgeordnete ist eine gute Managerin, aber keine und Bürger zu enttäuschen. Wir brauchen
Harald Ebner: »Es ist ein politisches Visionärin. Letzteres brauchten wir aber europäische Regeln gegen Steuerdumping,
Armutszeugnis, dass selbst die SPD- jetzt, um Menschen wieder begeistern Steuerflucht und Steuervermeidung!
Umweltministerin sich nicht mal mehr zu können. Allein mit Kleingedrucktem SPIEGEL: Auch in der Migrationsfrage
traut, ein schweres Geschütz wie den kommen wir nicht weiter. geht es kaum voran.
Allround-Pflanzenvernichter Glyphosat SPIEGEL: Die SPD hat in den Koalitions- Roth: Wir dürfen die Italienerinnen und
aus privaten Gärten zu verbannen.« vertrag ein sehr ambitioniertes Europa- Italiener nicht allein lassen. Auch Frank-
Im Koalitionsvertrag ist zudem verein- kapitel eingebracht. reich, Schweden und viele andere Staa-
bart, den Glyphosat-Einsatz schnellst- Roth: Darauf bin ich noch heute stolz. ten sind für mehr Solidarität und eine fai-
möglich zu beenden. Hier rudert das Europa war der Grund, warum viele re Verteilung. Deutschland sollte sich in
Umweltministerium offensichtlich zu- Mitglieder meiner Partei dem Koalitions- der Migrationspolitik stärker mit diesen
rück. Im Insektenschutzprogramm heißt vertrag zugestimmt haben. Das ist auch gleichgesinnten Mitgliedstaaten zusam-
es, Glyphosat könne weiterhin einge- zu verstehen als unsere Antwort auf die menschließen, um voranzukommen. Das
setzt werden, »wo und soweit dies ab- Vorschläge des französischen Präsidenten wäre eigentlich eine Aufgabe für den
solut nicht anders geht«. RED Emmanuel Macron. Wir sagen nicht, CSU-Innenminister Horst Seehofer.
dass die alle richtig sind. Aber wir Deut- SPIEGEL: Fehlt der SPD ein profilierter
sche dürfen nicht immer als Neinsager Europapolitiker wie Martin Schulz?
in die Manege treten. Ich halte eine Roth: Es gibt in der SPD viele, denen
stärkere und verbindliche Koordination Europa ein Herzensanliegen ist. Es muss
in der Eurozone für zentral. uns gelingen, mit mutigen und leiden-
SPIEGEL: Der deutsche Finanzminister schaftlichen Beiträgen zu überzeugen.
KATHARINA HÖLTER / DPA

Olaf Scholz und sein französischer Jetzt wäre es an der Zeit, den Menschen
Kollege Bruno Le Maire haben sich und unseren europäischen Partnern ein
vor dem Sommer auf gemeinsame Angebot zu unterbreiten, was genau wir
Vorschläge für eine Vertiefung der unter den Vereinigten Staaten von Euro-
Eurozone geeinigt. pa verstehen. CSC, VME

Mord an Journalistin zung, die sich der Bulgare bei der Tat anwaltschaft Lüneburg, die gegen Sewe-
Verdacht erhärtet zugezogen haben könnte. Marinowa war
laut bulgarischen Behörden so heftig
rin K. wegen Urkundenfälschung er-
mittelt, hatte diesen Mitte September
 Der Verdacht gegen den mutmaßlichen geschlagen worden, dass sie zwei Gehirn- bundesweit zur Aufenthaltsermittlung
Mörder der bulgarischen Journalistin Vik- schäden davongetragen hatte. Der Mord ausgeschrieben. GUD
torija Marinowa hat sich offenbar erhär- an der investigativen TV-Journalis-
tet. In einer ersten Vernehmung äußerte tin hatte europaweit großes Auf-
sich der am Dienstagabend im niedersäch- sehen erregt, weil sie über Korrup-
sischen Stade verhaftete Tatverdächtige tionsthemen berichte hatte. Unter
zu den Vorwürfen. In der bulgarischen anderem soll es um den Verdacht
Stadt Russe habe er mit einem Freund viel gegangen sein, dass in Bulgarien
Alkohol getrunken und zusätzlich Kokain EU-Fördergelder veruntreut wer-
genommen, sagte der 1997 geborene Bul- den. Das bulgarische Innenminis-
gare Sewerin K. aus. Dann habe er am terium sieht keinen Zusammen-
Donauufer eine Joggerin getroffen, mit hang zwischen dem Mord und der
DIMITAR DILKOFF / AFP

der es Streit gegeben habe. Die Frau habe Arbeit der Journalistin. Der Hin-
ihn geschlagen, behauptet K. Er habe sie tergrund für den Mord sei eine
ebenfalls geschlagen. An Näheres könne Vergewaltigung gewesen. Für die
er sich nicht erinnern. Als belastend wer- deutschen Behörden ist der Täter Marinowa-Gedenken in Russe
ten die Ermittler zudem eine Handverlet- kein Unbekannter. Die Staats-

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AfD-Meldeportal Schülern verbieten, solange sich diese Einwanderung I


»Alberner Mediengag« im Rahmen des Grundgesetzes bewegen.
Die AfD hat dazu aufgerufen, über die
Grüne Karte für Talente
 Eine Internetplattform der AfD, auf Internetseite »Neutrale Schulen Ham-  Die Grünen suchen in der Einwan-
der Schüler ihre Lehrer melden können, burg« Lehrer zu benennen, die vermeint- derungspolitik den Schulterschluss
falls diese sich kritisch über die Partei lich gegen dieses Gebot verstießen. Diese mit der Industrie. In der ersten Sitzung
äußerten, wird in der Hamburger Lehrer- Meldungen würde die Partei dann ano- ihres neuen Wirtschaftsbeirats am
schaft nach Ansicht von Schulsenator nym »zur Überprüfung« an die Ham- kommenden Montag will die Partei-
Ties Rabe »wenig ernst genommen«. Sie burger Schulbehörde weiterleiten. »Hier und Fraktionsspitze mit Unternehmens-
werde »vor allem als alberner Medien- sollen Lehrer eingeschüchtert und Schü- vertretern über Konzepte beraten,
gag betrachtet«, sagt der SPD-Politiker. ler zu Denunzianten erzogen werden. wie mehr ausländische Fachkräfte ins
Die Hamburger AfD hat die Internet- Die AfD tut genau das, was sie anderen Land geholt werden können. »Es gibt
plattform vor wenigen Wochen ins Netz vorwirft: Sie politisiert die Schule und da große Gemeinsamkeiten«, sagt
gestellt, viele weitere Landesverbände missbraucht Schüler für ihre politischen Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.
haben angekündigt, dem Beispiel folgen Ziele«, sagt Senator Rabe. Auch in der So wollen die Grünen eine sogenannte
zu wollen. Grundsätzlich sind Lehrkräfte Vergangenheit sei seine Behörde bereits Talentkarte einführen, mit der quali-
in Deutschland zu politischer Neutralität »allen ernsthaften Hinweisen auf Ver- fizierte Ausländer zur Jobsuche in die
verpflichtet. Sie dürfen beispielsweise letzung der Neutralität« nachgegangen. Bundesrepublik einreisen dürfen. Zu-
nicht für Positionen einzelner Parteien »Bisher hat es allerdings kaum Fälle ge- dem sollen Asylbewerber, die eine feste
werben oder politische Äußerungen von geben.« OLB Anstellung haben, besser vor Abschie-
bungen geschützt werden. Die Grünen
seien, ähnlich wie viele Wirtschafts-
vertreter, »der Auffassung, dass die
Pläne der Großen Koalition zum
Thema nicht ausreichen«, sagt Göring-
Eckardt. Der Fachkräftedialog soll
den Auftakt für regelmäßige Treffen
mit dem neuen Beirat bilden, dem
46 Unternehmer und Manager aus
Mittelstandsbetrieben sowie Großkon-
zernen wie BASF oder Thyssenkrupp
angehören. Das Gremium soll als
»Forum fungieren, um grüne parlamen-
tarische Vorhaben einer Art Stresstest
zu unterziehen«, heißt es in einem
Papier der grünen wirtschaftspoliti-
schen Sprecherin Kerstin Andreae. MSA
CHRISTIAN CHARISIUS / DPA

Einwanderung II
Warten in Teheran
Rabe  Ausländische Studierende und Wis-
senschaftler, die in Deutschland for-
schen wollen, müssen oft Wochen auf
einen Termin warten, um ihren Visum-
antrag überhaupt stellen zu können.
Colonia Dignidad ECCHR-Anwälte soll D. zwischen 1973 Das geht aus der Antwort der Bundes-
Regimegegner getötet und 1976 mitgeholfen haben, Oppositio-
nelle des Regimes von Diktator Augusto
regierung auf eine Anfrage der Grünen
hervor. Grund sei, dass »die Visum-
 Die juristische Aufarbeitung der Ver- Pinochet, die auf das Gelände der deut- nachfrage an einigen Auslandsvertre-
brechen in der ehemaligen deutschen schen Siedlung unter Sektenchef Paul tungen ungewöhnlich stark gestiegen«
Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chi- Schäfer verschleppt worden waren, dort sei, sodass man mit den »personellen
le weitet sich aus. Wie erst jetzt bekannt zu erschießen. Insgesamt sollen zwischen als auch räumlichen Kapazitäten« an
wurde, ermittelt die Staatsanwaltschaft 20 und 30 Regimegegner getötet worden Grenzen stoße, heißt es in dem Schrei-
Münster bereits seit August 2016 gegen sein. In früheren Zeugenaussagen bestritt ben der Bundesregierung. Extremfall
den 72-jährigen Reinhard D. aus Gronau D., von Erschießungen gewusst zu haben. ist Teheran, wo die Wartezeit auf einen
wegen des Vorwurfs der Entführung. Auch gegen den ehemaligen Sektenarzt Ersttermin mehr als ein Jahr beträgt.
Grundlage ist ein polizeiliches Festnahme- Hartmut Hopp wird weiter ermittelt. Danach folgen Serbien mit 25 Wochen
ersuchen aus Chile. Zusätzlich erstattete Gegen ihn führt die Staatsanwaltschaft und Pakistan mit 24 Wochen. »Deutsch-
die Menschenrechtsorganisation Euro- Krefeld ein Verfahren auch wegen Betei- land will Wissenschaftsnation und Land
pean Center for Constitutional and Hu- ligung an Tötungen. Das Oberlandesge- der Dichter und Denker sein, schreckt
man Rights (ECCHR) am 12. April dieses richt Düsseldorf hatte kürzlich abgelehnt, aber gleichzeitig internationale Talente
Jahres in Münster Strafanzeige gegen D. ein chilenisches Urteil gegen ihn wegen mit einer lahmen Visavergabe ab«, kri-
wegen Beihilfe zum Mord in mindestens Beihilfe zum sexuellen Missbrauch und tisiert Kai Gehring, der wissenschafts-
zwei Fällen. Nach Erkenntnissen der Vergewaltigung zu vollstrecken. KNO politische Sprecher der Grünen. AKM

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OLYMP.COM/SIGNATURE

GERARD BUTLER’S
CHOICE
PHOTO: GREG WILLIAMS
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Deutschland

Extremes Unterlassen

FLORIAN GAERTNER / PHOTOTHEK / IMAGO

AfD-Fraktionschefs Gauland, Weidel

Populisten Die Verfassungsschutzämter scheuen eine Beobachtung der AfD, dabei reichen
die radikalen Umtriebe längst bis in die Parteispitze. Zwar fürchten die Funktionäre,
überwacht zu werden. Doch niemand greift ernsthaft gegen die braunen Teile der Partei durch.

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D
as Dossier aus Sachsen-Anhalt die AfD-Basis sich nicht zur Mäßigung sie kreuzbrave Bürger ebenso wie Grenz-
für den AfD-Bundesvorstand ist zwingen lassen will. Verwunderlich ist nur gänger zu rechtsradikalen Gefilden – und
79 Seiten lang und liefert erdrü- das lange Zögern der Sicherheitsbehörden. beide Gruppen sitzen bald neben dem
ckende Beweise dafür, dass im Politiker des linken Spektrums fordern Bundestag in allen Landesparlamenten.
AfD-Kreisverband Börde keine Demokra- seit geraumer Zeit eine Überwachung der
ten am Werk sind. AfD. Seitdem deren Funktionäre in Chem- Mittwochabend, AfD-Wahlkampf in Bay-
Minutiös beschreibt der Schriftsatz die nitz und Köthen in einem Zug mit Rechts- ern. Alice Weidel tritt auf in der »Fortuna
»stark erhöhte Dichte an rechtsextremen extremisten, Hooligans und dem vor- Kulturfabrik« im fränkischen Höchstadt
Inhalten« in den Facebook-Posts der ost- bestraften Pegida-Chef Lutz Bachmann an der Aisch. Sie kennt die Gegend gut,
deutschen Parteifreunde: ihre antisemiti- marschierten, mehren sich solche Rufe im nahe gelegenen Bayreuth studierte sie
schen Sprüche (»Amerika und die Juden aber auch aus der ursprünglich zurückhal- einst Volkswirtschaftslehre. »Da war die
sind Deutschlands größte Feinde«), ihre tenden CDU: »Die AfD entwickelt sich in Welt hier ja noch in Ordnung«, ruft die
Mordfantasien gegen Flüchtlinge oder So- Richtung Rechtsextremismus«, sagt Ba- Fraktionschefin in den Saal, wo etwa 60
zialdemokraten wie Sigmar Gabriel (»Ein den-Württembergs Innenminister Thomas AfD-Anhänger ihr zujubeln.
Dreckschwein, so was hätte man früher ge- Strobl. Die rechte Einheitsfront in Chem- In Bayern macht Weidel dieser Tage vie-
tötet«) und ihre Appelle an eine noch wei- nitz zeige, »dass wir hier gefordert sind«. le Termine, kurz zuvor hat sie auf einer
ter rechts stehende Partei: »NPD, tue end- Zwar liege die Entscheidung beim Ver- Bühne in Bad Aibling gesessen, wo der
lich was!« fassungsschutz, so Strobl. Aber: »Wenn örtliche Landtagskandidat über das Mikro-
Der Bundesvorstand will nun tatsächlich die Voraussetzungen für eine Beobachtung fon gegen die »Neger« giftete, von denen
etwas tun, handelt jedoch denkbar spät: vorliegen, muss ganz schnell gehandelt er sich nicht »anhusten« lassen wolle, weil
Die rechtsextremen Umtriebe in Börde, to- werden.« Auch für den CDU-Innenpoliti- sie bekanntlich Aids, Krätze und Tuber-
leriert und gedeckt von den örtlichen Spit- ker Armin Schuster erscheint eine Über- kulose ins Land schleppten. Das AfD-Vi-
zenleuten, sind seit einem Jahr intern be- wachung zunehmend geboten: »Die Rhe- deo zur Rede zeigt eine lächelnde Weidel.
kannt. Ende 2017 sollte das radikale Nest torik der Partei ist umstürzlerisch.« Später behauptet sie, die rassistischen
aufgelöst werden, doch wie so oft interve- Für die Verfassungsschützer ist die AfD Sprüche nicht gehört zu haben.
nierte ein Parteischiedsgericht. Nun hat der eine besondere Herausforderung: eine ur- In Höchstadt wird Weidel als »hoffent-
Bundesvorstand den Fall an sich gezogen, sprünglich bürgerliche Partei eurokriti- lich zukünftige Kanzlerkandidatin« vorge-
will den Kreisverband auflösen und die Rä- scher Professoren, die sich schleichend zu stellt. Gut eine halbe Stunde rattert sie das
delsführer aus der Partei werfen lassen. einer islam- und ausländerfeindlichen Programm ihrer Partei herunter, und im-
Spät erkennt die AfD-Spitze, dass der Kraft gewandelt hat. Noch immer vereint mer wieder kommt sie auf den Verfas-
Kampf gegen rechtsaußen für die Partei sungsschutz zu sprechen: Weidel prangert
zur Überlebensfrage wird. Die AfD-Füh- den Besuch des türkischen Staatspräsiden-
rung steht wie nie zuvor unter dem Druck ten Recep Tayyip Erdoğan in Berlin an.
der Sicherheitsbehörden, fünf Jahre nach Dessen Fans hätten den Gruß der ultra-
Gründung der Partei fordern Wissenschaft- rechten türkischen Nationalistengruppe
ler wie Politiker deren Überwachung. So- »Graue Wölfe« gezeigt. »Die werden vom
gar Verfassungsschützer diskutieren ernst- Verfassungsschutz beobachtet!«, ereifert
haft eine bundesweite Beobachtung. Wür- sich Weidel.
den die Sicherheitsbehörden ähnliche Dass auch Teile der AfD im Visier der
Maßstäbe anlegen wie in den Neunziger- Verfassungsschützer stehen, erwähnt sie
jahren an die Republikaner, hätten sie nicht. Im Gegenteil: Sie verkündet, gerade
wohl längst aktiv werden können. habe man Organklage gegen Bundesinnen-
Denn die AfD ist nicht nur an der Basis minister Horst Seehofer eingereicht, der
im Osten vielerorts von Radikalen durch- die AfD »staatszersetzend« genannt hatte.
setzt; einige sind bis an die Parteispitze vor- Lange hat sich das Bundesamt für Ver-
gedrungen. Führende Funktionäre ducken fassungsschutz unter seinem bisherigen
sich entweder weg – oder tragen selbst Präsidenten Hans-Georg Maaßen im Um-
dazu bei, dass die Partei sich weiter radi- gang mit der AfD zurückgehalten. Manche
kalisiert. Der Eindruck verfestigt sich, dass Landesämter drängen die Behörde schon
Spitzenvertreter der AfD den demokrati- lange, AfD-Verbindungen zu rechtsextre-
schen Raum verlassen haben. men Gruppen auszuleuchten. Inzwischen
Parteichef Alexander Gauland sinniert betreibt das Bundesamt einen offiziellen
öffentlich über den »Systemwechsel« im Prüfprozess, der bald in die entscheidende
Land und will alle Merkel-Unterstützer Phase geht.
»aus der Verantwortung vertreiben«. Der Bis Ende vergangener Woche sollten die
brandenburgische Landeschef Andreas Länder ihre Erkenntnisse nach Köln-Chor-
Kalbitz, ein Veteran rechtsextremer Zirkel, weiler in die Behördenzentrale schicken,
mischt sein Publikum gern mal mit Neo- bis auf drei haben alle geliefert. Die Dos-
naziparolen auf: »Wer Deutschland nicht siers sind von unterschiedlicher Qualität.
liebt, soll Deutschland verlassen.« Die meisten Länder haben Berichte mit
Der prominenteste Parteirechte ist aber zweistelliger Seitenzahl geliefert, einzelne
Thüringens AfD-Chef Björn Höcke, der weit mehr als hundert Seiten. Während
die Kanzlerin als »Diktatorin« diffamiert manche Länder Belege für Vernetzungen
und in seinem Buch einen Neuanfang für von AfD und Rechtsextremisten aufzeigen,
Deutschland unter der Führung eines star- melden andere: Fehlanzeige.
ken Mannes prophezeit. Bei solchen Vor- Chat-Fotos der AfD-Jugend Nichts geliefert hat ausgerechnet Sach-
bildern ist es kaum verwunderlich, dass Niemand protestierte sen, wo die AfD in Umfragen auf 25 Pro-

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Deutschland

Der Verfassungsschutz sammelt Informationen über »Bestrebungen gegen tisch motiviert sein, sondern müssen im-
die freiheitliche demokratische Grundordnung« oder gegen »Bestand und Sicherheit des mer fachlich versiert getroffen werden«.
Bundes oder eines Landes.« Er beobachtet Vorhaben, die durch »Gewalt auswärtige Belange Der Verfassungsschutz in Thüringen
Deutschlands gefährden« und gegen die »Völkerverständigung gerichtet sind.« prüft seit September eine Beobachtung
unter Beobachtung (Auswahl)
von Höckes Verband – explizit unter Be-
rufung auf dessen zunehmend aufwieg-
lerische Auftritte. So hatte Höcke im Juni
extrem linke Parteien extrem rechte Parteien beim »Kyffhäusertreffen« seiner Anhänger
verkündet, die »Zeit des Wolfes« sei in
Deutschland gekommen. Polizisten forder-
te er auf, nicht auf Vorgesetzte zu hören,
sonst würden sie nach der Machtübernah-
me des Volkes zur Rechenschaft gezogen.
Strömungen inner- Jugendverbände der Dennoch spricht alles dafür, dass Höcke
halb der Partei
(Kommunistische Plattform, Cuba Sí) an diesem Wochenende zum AfD-Spitzen-
einzelne AfD-Politiker, etwa wegen kandidaten für die Landtagswahl 2019 ge-
Verbindungen zur Identitären kürt wird. Stephan Kramer, Chef des Lan-
Zeitungen wie die marxistische Bewegung oder zu den
»Junge Welt« Reichsbürgern desverfassungsschutzes, betont zwar, seine
Prüfung sei »ergebnisoffen«. Allerdings
sei klar: »Wenn die AfD Björn Höcke zum
Spitzenkandidaten macht, bekennt sie sich
zu dem, was er sagt. Damit würde die Par-
zent kommt, wo Parteifunktionäre seit der »Umvolkung« Deutschlands, bezeich- tei zementieren, wo sie steht.«
Jahren mit der islamfeindlichen Pegida nen Flüchtlinge als »Invasoren«, die Re- Eine Beobachtung von AfD-Jugendver-
paktieren und wo sich unter den jüngsten gierung als »Regime« und den National- bänden gibt es in Bremen und Niedersach-
AfD-»Trauermarsch« in Chemnitz sogar sozialismus als »Vogelschiss«. sen, wo die Verstrickungen der JA mit Neo-
Mitglieder der mutmaßlichen Terrorzelle Der Extremismusforscher Steffen Kai- nazis und Identitären besonders augenfällig
»Revolution Chemnitz« mischten. litz vom Hannah-Arendt-Institut in Dres- sind. Bremens Innensenator Ulrich Mäurer
Der Vizechef des Bundesamts, Thomas den sagt: »Der Verfassungsschutz hat die attestiert der Jugendorganisation »puren
Haldenwang, berichtete im Innenausschuss AfD zu lange gewähren lassen.« Eine früh- Rassismus«. Nicht besser sind die Verhält-
des Bundestags am Mittwoch hinter ver- zeitige Intervention hätte womöglich die nisse in der niedersächsischen AfD-Jugend,
schlossener Tür, dass die Experten der Äm- radikalen Kräfte in der Partei gebremst. deren Chef erst kürzlich abgesetzt wurde.
ter sich im November nochmals treffen »Heute sind fast alle ostdeutschen Landes- Dem SPIEGEL liegen Screenshots aus einer
und sich über die Materialsammlung beu- verbände im rechtsextremen Spektrum an- WhatsApp-Gruppe vor, in der JA-Funktio-
gen würden. Bis Jahresende soll entschie- gekommen«, sagt Kailitz. näre den Holocaust infrage stellen: »Hat so
den werden, ob die Partei ganz oder in Das Weltbild des rechten AfD-Flügels nicht stattgefunden, wie allgemein kolpor-
Teilen beobachtet wird – oder nicht. sei von dem rechtsextremer Gruppen wie tiert«. Ein Teilnehmer will eine »Horst-Wes-
Für eine Überwachung der AfD müssen der »Identitären Bewegung« kaum zu un- sels-Kampfgemeinschaft« gründen, ein an-
»tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebun- terscheiden. Beide strebten eine »ethnisch- derer sehnt die »Endlösung der Muselfrage«
gen gegen die freiheitliche demokratische kulturelle Reinheit« des deutschen Volkes herbei. Niemand protestierte.
Grundordnung« vorliegen. So steht es im an, so Kailitz, die mit dem Grundgesetz Niedersachsens Landeschefin Dana
Gesetz. Vermutungen reichen nicht. Ver- kaum zu vereinbaren sei. Guth, eine Immobilienmaklerin, zeigt sich
fassungsfeindliche Aussagen dürfen auch Auch namhafte Staatsrechtler sehen das auf Anfrage »entsetzt« über die Ausfälle.
nicht nur Entgleisungen einzelner Mitglie- so. »Teile der Partei verfolgen Bestrebun- Ihr Landesverband gehe konsequent ge-
der sein, vielmehr müssen Extremisten ei- gen, die es gestatten, sie zu beobachten«, gen rechtsradikale Umtriebe vor, beteuert
nen »steuernden Einfluss« haben. sagt der Leipziger Staatsrechtler Christoph sie. Wie glaubwürdig ist das?
Degenhart. Der Berliner Rechtsprofessor Nach der unrühmlichen Demonstration
Diese Hürden erscheinen hoch, doch Christoph Möllers, der den Bundesrat im in Chemnitz setzte die AfD-Spitze eine
wer in die Archive steigt und Verfassungs- NPD-Verbotsverfahren vertreten hat, sieht fünfköpfige Kommission um Parteichef
schutzberichte über die Republikaner her- Höckes thüringischen Verband als klaren Jörg Meuthen ein. Deren Aufgabe besteht
vorholt, reibt sich die Augen. Im Bericht Fall für eine Beobachtung. »Wenn ein Lan- aber nicht etwa darin, Extremisten aus der
des Geheimdienstes von 1994 lassen sich desvorsitzender völkisches Gedankengut Partei zu sieben. Vielmehr soll die »Ar-
»die Anhaltspunkte für rechtsextreme Be- verbreitet, wie Höcke, rechtfertigt das eine beitsgemeinschaft Verfassungsschutz-Be-
strebungen« gegen die Republikaner nach- Beobachtung allemal«, sagt Möllers. obachtung« eine Strategie entwickeln, wie
lesen: »Ihre Funktionäre reden von einer Doch die Verfassungsschutzämter zö- man sich am besten gegen ebendiese Ge-
Überschwemmung durch Ausländer«, die gern. Nichts fürchten sie mehr als eine Kla- fahr schützen kann.
zu einer »allmählichen Entdeutschung ge der AfD gegen eine Beobachtung, zu- Melanie Amann, Jörg Diehl, Hubert Gude,
Deutschlands« führe. »Schmähende bis mal das Verfassungsgericht die Hürden für Martin Knobbe, Timo Lehmann,
rassistische Äußerungen« verdeutlichten eine Überwachung gewählter Volksvertre- Ralf Neukirch, Wolf Wiedmann-Schmidt
rechtsextreme Positionen »bis in die Par- ter erhöht hat. Gewönne die AfD dann
teispitze«, heißt es da. Die Partei greife vor Gericht, wäre die Blamage groß.
»Institutionen und Repräsentanten der frei- »Der Verfassungsschutz sucht sich nicht Video
Unter
heitlichen Demokratie« in »verunglimp- aus, womit er sich befasst«, sagt der Ham- Beobachtung
fender Weise« an. burger Amtschef Torsten Voß, der die Ar- spiegel.de/sp422018afd
All das könnte man heute über die AfD beit der Ämter bundesweit koordiniert. oder in der App DER SPIEGEL
sagen: Auch ihre Spitzenleute warnen vor Deren Entscheidungen »dürfen nicht poli-

26 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Deutschland

Ein Satz wie Blei


Karrieren Außenminister Heiko Maas sagt, er sei
wegen Auschwitz in die Politik gegangen. Was meint er
eigentlich damit? Von Alexander Osang

I
n der Heiligen Messe von Marzabot- hält sich in der Regel ans Manuskript. Er
to holt Heiko Maas sein Leben ein, will die italienischen Namen lautschriftlich.
kurz vorm Abendmahl. Er steht in Aus Ricci, Vizepräsident des Partisanen-
der ersten Reihe der Pfarrkirche verbandes, wird Ritschie. Die Schriftgröße:
Chiesa Santi Giuseppe e Carlo, direkt vor 22 Punkt. Damit er alles lesen kann. Maas
ihm predigt der Erzbischof von Bologna, steht in der Kirchenbank wie ein Zinnsol-
Monsignor Zuppi. Der deutsche Außen- dat. Auch als die anderen Kirchgänger nach
minister und der Bischof sind hier, um der vorn gehen, um die Kommunion zu emp-
Opfer eines SS-Massakers aus dem Herbst fangen, rührt er sich nicht.
1944 zu gedenken. Es ist halb elf vormit- Er sei ja geschieden, sagt Maas.
tags am letzten Septembersonntag, die Kir- Ein zweites moralisches Dilemma ent-
che ist bis auf den letzten Platz gefüllt, in steht ein paar Minuten später auf der Piaz-
den Bänken sitzen Menschen mit Hals- za von Marzabotto. Es ist ein herrlicher
tüchern in den Farben Italiens und mit Par- Platz, an dem man sich das Böse schwer
tisanenflaggen. vorstellen kann. Mehr als 200 Kinder ha-
Maas steht aufrecht in der Bank. Von ben SS und Wehrmacht hier vor 74 Jahren
hinten, aus der fünften Reihe, sieht es aus, ermordet. Die Bürger der Stadt schwenken
als sei er hellwach. Er, der Messdiener aus ihre Fahnen, eine Kapelle spielt die deut-
der saarländischen Kleinstadt Elm-Derlen, sche Nationalhymne. Ein paar Leute sin-
reiht sich ein zwischen italienischen Anti- gen mit, der deutsche Außenminister nicht.
faschisten und Katholiken. Einmal Minis- Er steht auf der Bühne in der Sonne, die
trant und Partisan sein. In Wirklichkeit Lippen geschlossen wie Mezut Özil vorm
hält ihn nur sein eng geschnittener Anzug Länderspiel. Keine Hymne. Keine Hostie.
zusammen. Und die Mission, die ihn um Es ist schwer, alles richtig zu machen, in
die Welt jagt. Kirche und Staat, aber Heiko Maas ver-
»Ich wäre da fast aus der Bank gekippt«, sucht es.
sagt Maas später. Er wird Punkt zwölf ans Mikro gerufen.
Er habe die lange Reise gespürt. Die Die Glocken von Marzabotto läuten bis
Zeit. Die Entfernung. Er war drei Wochen weit in seine Rede hinein. Er spricht dage-
unterwegs. Vorgestern ist er nach fünf Ta- gen an. Er bedankt sich, dass er als Vertre-
gen Uno-Generalversammlung aus New ter Deutschlands hier stehen darf. Er, als
York in Berlin gelandet. Heute Morgen ist deutscher Außenminister. Das sagt er häu-
er von dort nach Bologna aufgebrochen, fig: ich, als deutscher Außenminister. Als
übermorgen fliegt er nach Washington, um träte er aus seiner Rolle und beobachtete
am 3. Oktober das Deutschlandjahr zu er- sich von außen. Manchmal schaut er auch
öffnen. Von da reist er direkt zu den einfach nur an sich herunter, streicht die
deutsch-israelischen Regierungskonsulta- Krawatte glatt und lächelt, als erfreue er
tionen nach Jerusalem. Er hat in den ers- sich an seinem Beruf und den schönen Warum? »Es ist bewegend, als Außenmi-
ten hundert Tagen jetzt schon mehr Flug- Schuhen. Der Außenminister erinnert an nister der Täter dazustehen und so freund-
kilometer gesammelt als jeder Außen- die Toten. 770 Menschen, wahllos erschos- lich empfangen zu werden.«
minister vor ihm. sen von SS und Wehrmacht. An Taten, die Als Heiko Maas vor einem halben Jahr
Beim Frühstück über den Alpen erzählte noch heute den Atem stocken lassen. Außenminister wurde, hat er in seiner An-
er seinen Mitarbeitern, wie er vor ein paar Er sagt die Wörter. Unvorstellbar. trittsrede gesagt: »Ich bin wegen Ausch-
Tagen morgens um sechs mit seinem Fahr- Schändlich. Grausam. Tiefe Demut. Ent- witz in die Politik gegangen.« Es ist ein
rad durch den Central Park fuhr, verfolgt setzlich. großer und schwerer Satz, vielleicht der
von fünf riesigen amerikanischen Gelän- Er sagt: »In Trauer und Scham verneige schwerste, den ein deutscher Politiker sa-
dewagen. Die Mitarbeiter lachen. Diese ich mich.« gen kann. Wenn man sich die Rede heute
Amis. Sein Flugzeug heute heißt Global Aber er verneigt sich nicht. noch mal ansieht, wirkt es fast so, als ver-
5000. Die kleine, elegante Maschine lan- Man denkt an Willy Brandt, der auf die lasse Heiko Maas die Kraft, während er
det in Bologna. Begrüßung durch den Bot- Knie fiel. Heiko Maas hat keine Geste, er ihn spricht. Aber dann ist der Satz in der
schafter. Schwarze Limousinen rollen über hat nur die Rede in 22 Punkt großen Buch- Welt.
gewundene italienische Straßen. In einem staben, die ihm ein Sekretär in einer schö- An einem heißen Sommernachmittag
Kleinbus arbeiten die Redenschreiber an nen Mappe überreichte. im Juli, auf einer Terrasse der Villa Borsig,
letzten Korrekturen. Sigmar Gabriel, Maas’ Auf dem Heimflug nach Berlin sagt er: sucht Heiko Maas nach Gründen für die-
Vorgänger, hat oft frei gesprochen, Maas »Ich bin froh, dass ich das gemacht habe.« sen Satz. Draußen glitzert der Tegeler See

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FLORIAN GÄRTNER / PHOTOTHEK


Minister Maas in New York: Die Mitschüler erinnern sich an einen stillen Jungen

in der Sonne. Auch die Villa Borsig ist deut- Eltern jedenfalls waren zu jung. Der Vater der es früher Stahlindustrie gab und heute
sche Geschichte. Erst haben sich hier In- ist 1939 geboren, die Mutter noch später. eine große Moschee steht. Auf dem Flur
dustrielle entspannt, dann Nazis, dann Fragt man ihn nach einem konkreten Er- des Gründerzeitbaus hängen die Porträts
französische Besatzer. Jetzt ist es das Gäs- eignis, einem Erlebnis, das diesen großen der Direktoren, die die Schule seit ihrer
tehaus des Auswärtigen Amtes. Satz rechtfertigt, erzählt er von einem Ge- Gründung im Jahre 1902 geleitet haben.
»Vielleicht wollte ich nie wahrhaben, schichtslehrer, der ihn mal aus der Klasse Man glaubt in ihren Gesichtern die Ge-
dass so was passieren kann, die Nazizeit«, geworfen habe, weil der Schüler Maas im schichte des Landes lesen zu können.
sagt Maas. »Ich wollte irgendwann heraus- Unterricht erklärt hatte, es sei gut, dass Julius Pentz war hier von 1939 bis 1945
finden, ob es in meiner Familie Leute gab, Deutschland den Zweiten Weltkrieg ver- Oberstudiendirektor. Die Brillengläser fun-
die sich widersetzt haben. Aber es gab lei- loren habe. Sonst säßen überall Nazis. keln, die Lippen sind schmal, niemand hat
der nur Mitläufer. Aus diesem nicht erfüll- Es ist eine Anekdote, hier auf der son- ihm das Parteiabzeichen vom Revers re-
ten Wunsch ist bei mir dann immer stärker nigen Terrasse. Eine Geschichte wie aus tuschiert. Es gibt den lächelnden Nach-
das Bedürfnis erwachsen, unter den heuti- einem schwarz-weißen deutschen Lehrer- kriegsdirektor, der neben einer Tafel mit
gen, weitaus undramatischeren Umstän- film an einem verregneten Sonntagnach- Mathematikformeln steht. Den Mann mit
den meinen Teil beizutragen, dass dieses mittag. Pfeiffer mit drei F. Aber wenn man den breiten Koteletten und Hemdkragen
Land ein tolerantes, ein weltoffenes ist.« in Maas’ altem Gymnasium von Völklin- aus den Sechzigern. Maas’ Oberstudiendi-
Wessen Biografien er genau untersucht gen steht, wird die Geschichte schärfer. rektor sieht aus wie der Kommissar aus
hat, kann er dann aber nicht sagen. Seine Völklingen ist eine Stadt im Saarland, in einem ZDF-Vorabendkrimi der Achtziger-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 29


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Deutschland

jahre, er leitete die Schule bis zur Wieder- Genossen aus Saarbrücken. All die Förde- »Und dann kann der Sinn eines Antritts-
vereinigung. rer. Kühn. Lafontaine. Sigmar Gabriel. besuchs in Israel ja nicht darin bestehen,
Maas’ Mitschüler Reimund Franz und »Ich hab den Heiko nach Berlin geholt«, sich die Köpfe einzuschlagen«, sagt Maas.
Hans-Georg Müller erinnern sich an einen sagt Gabriel. »Der wär sonst im Saarland Gabriel hat mit Maas über all das nicht
stillen Jungen. Sie waren alle Katholiken, versauert. Der hatte ja schon zwei oder geredet. Es sei natürlich, sich von seinem
sie haben in der Teestube, die es gegen- drei Wahlen verloren.« Vorgänger abzugrenzen, sagt Gabriel.
über der Schule gab, über den Hunger in Es ist Freitagnachmittag in Berlin. Er Maas sei ja noch ein junger Mann. Das be-
Afrika diskutiert und waren zur Exkursion wolle nach Hause, sagt Gabriel. Vorher deute aber nicht, dass man seinen Vorgän-
in Dachau. Franz und Müller waren über- aber hält er noch eine Rede vor alten West- ger gar nicht mehr beachte.
rascht, als Maas plötzlich im saarländi- Berliner Genossen. Im Hotel Palace gegen- »Guten Tach sagen wäre schon gut«,
schen Landtag auftauchte. Er ist der einzi- über vom Zoo. Heinz Buschkowsky tigert sagt Gabriel.
ge der engagierten, katholischen Schüler schon seit einer halben Stunde durch das Dann geht er zu den alten West-Berliner
des Völklinger Gymnasiums von damals, Foyer. Genossen, während Heiko Maas irgendwo
der in die Berufspolitik gegangen ist. Franz Worüber redet er denn? dort draußen den Weltfrieden sichert.
hat Theologie studiert und unterrichtet »Über die Welt«, sagt Gabriel. Am Ende des Sommers, fünf Monate
heute Religion am Völklinger Gymnasium. Sigmar Gabriel war ein Jahr lang Au- nach seiner Antrittsrede, besucht Maas
Hans-Georg Müller wurde Pfarrer von ßenminister. Es war seine beste Zeit. Wes- Auschwitz.
St. Josef in Elm, der Kirche, in der Heiko halb hat dann die SPD Maas zum Außen- Morgens, beim Kaffee auf dem Regie-
Maas Ministrant war. minister gemacht? rungsflughafen in Tegel, rätseln die Jour-
Pfarrer Müller kennt die Familie, die El- »Zuallererst mal, weil sie mich loswer- nalisten, die Heiko Maas auf seiner Reise
tern wohnen um die Ecke und besuchen den wollten«, sagt Gabriel. nach Krakau begleiten, wer der letzte deut-
regelmäßig seine Gottesdienste. Maas ist Maas sei der politischste von allen ge- sche Außenminister in Auschwitz war.
ein Name, der häufig vorkommt im Ort. wesen, zuverlässig und anständig, sagt Ga- Gabriel? Steinmeier? Fischer?
Die Leute hier, auch in der Familie von briel. Der Auschwitz-Satz habe ihn aller- Nö.
Maas, waren meist Bauern, dann Bergleu- dings überrascht. Der letzte war Kinkel, das hat jemand
te, eine Zeit lang beides. Eine Gegend wie »Ich rate immer zur Vorsicht, damit ein nachgeschaut. Ein Vierteljahrhundert ist
gemacht für die Sozialdemokratie. Und Auschwitz-Bezug nicht als Versuch ver- das her. Heiko Maas weiß das, er wird spä-
die Kirche. standen wird, das eigene Anliegen größer ter selbst daran erinnern.
Soziales Engagement sei ja ein zutiefst aussehen zu lassen, und damit übrigens Von Krakau aus geht es im Bus weiter.
christlicher Wert, sagt Pfarrer Müller. das Menschheitsverbrechen zu instrumen- Jemand aus dem Informationsstab des
Maas sagt, er sei wegen Auschwitz in Auswärtigen Amtes sagt: »Wenn Sie in
die Politik gegangen. Reimund Franz hat Auschwitz Internet brauchen, habe ich für
dafür gesorgt, dass Fritz Lieser, ein Schüler »Ich bin der erste Sie einen Hotspot.«
ihres Gymnasiums, der in Auschwitz er-
mordet wurde, einen Stolperstein in Völk-
Außenminister seit Es gibt immer noch keine Sprache
für die Vermarktung des Schreckens. In
lingen bekam. Hans-Georg Müller hat da- Klaus Kinkel, der Auschwitz-Birkenau gebe es Fotomöglich-
für gekämpft, dass Johannes Schulz, der Auschwitz besucht.« keiten beim Gang zur Rampe und beim
in der NS-Zeit Pfarrer an seiner Kirche in Aufstellen des Grablichts, steht im Begleit-
Elm war, in Maas’ Heimatort nicht verges- heft des Auswärtigen Amtes. »Der Minis-
sen wird. Schulz hatte von der Kanzel ge- talisieren«, sagt Sigmar Gabriel. »Aber ter darf von der Bildpresse auf den Gleisen
gen die Nazis gepredigt, er starb in Dachau wenn er das so empfindet, dann ist es gut, überholt werden«, sagt jemand aus dem
und wurde anonym in Saarbrücken be- dass er es so sagt.« Informationsstab.
erdigt. Anfang der Nullerjahre setzte Pfar- Begründet Heiko Maas mit seinem Satz Vorm Lagertor, über dem der Spruch
rer Müller durch, dass die Urne gehoben nicht einen neuen Ansatz in der Nahost- »Arbeit macht frei« steht, verlangsamt Hei-
und im Priestergrab von Elm bestattet wur- politik? ko Maas seinen Schritt. Neben ihm läuft
de. Müller fuhr die Urne seines Vorgängers »Das Bittere für die deutsche Außen- ein ehemaliger Lagerinsasse. Maas, einge-
auf dem Beifahrersitz seines Opel Astra politik ist doch, dass wir im Nahen Osten gossen in seinen Anzug, läuft wie in Zeit-
nach Hause. überhaupt keine Rolle spielen«, sagt Ga- lupe, schließlich bleibt er ganz stehen. Auf
»Jeder muss an der Stelle, wo er ist, was briel. der anderen Seite des Tors warten die Fo-
machen«, sagt Pfarrer Müller. Maas’ Satz ist in Israel jedenfalls gut tografen und Kameramänner. Maas beugt
Maas erwähnt weder Fritz Lieser noch angekommen. Vor allem nach den Verstim- sich zum Lagerinsassen und hat die Foto-
Johannes Schulz, wenn er über seine Prä- mungen, die es gab, weil sich Sigmar Ga- grafen im Auge.
gungen redet. Er erwähnt auch nicht Hans- briel bei einem Besuch mit regierungs- Nach den Rundgängen stellt sich Heiko
Georg Müller und Reimund Franz. kritischen israelischen Organisationen ge- Maas auf ein markiertes Rasenstück. Die
Er hat ein neues Leben. Einen neuen troffen hatte. Ministerpräsident Benjamin Sonne brennt auf Birkenau. Die Kameras
Beruf, eine neue Frau, neue Perspektiven. Netanyahu weigerte sich daraufhin, Ga- und Diktiergeräte rangeln.
Im Saarland hat er nur noch die Einlieger- briel zu empfangen. Maas dagegen begrüß- Der Minister sagt: »Ich stand jetzt in
wohnung im Haus seiner Eltern. Seine te er bei dessen Antrittsbesuch im Frühjahr der Gaskammer von Auschwitz. Ich habe
politische Vergangenheit hält Maas im Un- wie einen alten Freund. Tausende Kinderschuhe gesehen, die ih-
gefähren, vielleicht verblasst sie auch hin- Manche Kritiker sagen, es habe daran nen auf dem Weg in die Gaskammer ab-
ter dem Riesenzitat, das nun am Anfang gelegen, dass Maas im Gespräch mit genommen worden sind. Tonnen von
seiner Karriere steht. Maas spricht nicht Netanyahu die Meinungsverschiedenhei- menschlichem Haar, das den Menschen ge-
von Werner Kühn, dem Chef beim Fuß- ten nicht erwähnt habe. Maas sagt, dass nommen wurde, bevor sie in die Gaskam-
ballverein FC Elm 08. Kühn war auch Vor- stimme so nicht. Er habe sehr wohl das Nu- mer geschickt worden sind. Das ist in Wor-
sitzender der Elmer SPD und brachte klearabkommen mit Iran und die Zweistaa- ten schwer zu fassen. Das ist der schreck-
Maas in die Partei. Maas holte am frühen tenlösung angesprochen, wo es ja Differen- lichste Ort der Welt. Hier muss man sich
Sonntagmorgen immer die Zeitung für die zen mit der israelischen Regierung gibt. entscheiden: Entweder verliert man den

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Jahren eine bewegende Rede


vor der Knesset gehalten. Sie
hat die deutsche Verantwor-
tung umrissen. Sie will sich
aber nicht verbiegen. Auf der
Pressekonferenz steht sie auf-
recht neben Netanyahu, im
vergangenen Jahr hat sie die
Regierungskonsultationen aus-
fallen lassen, aus Protest gegen
die israelische Siedlungspolitik
im Westjordanland. Sie setzt
sich für eine Zweistaatenlö-
sung ein, auch wenn sie ahnt,
dass Netanyahu daran nicht
mehr glaubt.
Israel ist für sie ein Freund.
Und Netanyahu?
Den kenne sie schon sehr
lange, sagt sie. Sie schenkt ihm
das Lächeln, das sie für die Ma-
chos dieser Welt übrig hat.
In diesem Moment schlüpft
Heiko Maas durch den Hinter-
eingang. Er trägt einen hell-
grauen Anzug und wirkt, als
sei er nach langer Reise endlich
angekommen. Er trifft sich mit
der israelischen Justizministe-
rin Ayelet Shaked, als Merkel
und ihr Ministertross schon
auf dem Weg zum Flughafen

XANDER HEINL / PHOTOTHEK


sind. Shaked ist die populärste
Politikerin Israels. Sie ist
42 Jahre alt, intelligent, sie
sieht blendend aus und steht
noch weiter rechts als Netanya-
hu. Sie wolle, dass »der Zionis-
Auschwitz-Besucher Maas: »Vielleicht wollte ich nie wahrhaben, dass so was passieren kann« mus nicht mehr seinen Kopf
vor liberalen universalen Wer-
ten beugt«, sagte sie mal.
Glauben an die Menschlichkeit, oder man der Minister, die Angela Merkel nach Isra- Shaked sei eine Freundin, so Maas. Man
gewinnt die Hoffnung und die Kraft, dafür el begleiten. In diesem Moment ist Heiko müsse ja nicht immer über Politik reden.
einzutreten, dass die Menschenwürde ge- Maas ein Mann, der an mehreren Orten Maas hat Shaked erstmals während
wahrt wird. Und tut etwas dafür.« gleichzeitig sein kann. Ein Mann, der einer Reise nach Israel im Jahr 2015 ge-
Am Nachmittag trifft Maas seinen pol- schneller ist als sein Schatten. Der Lucky troffen und dann später immer wieder. Er
nischen Amtskollegen in einem nahe gele- Luke der deutschen Politik. Während die war beeindruckt von ihrer Klarheit. Sie
genen Franziskanerkloster. Der polnische Kanzlerin sich zweimal mit Ministerpräsi- flogen zusammen im Helikopter über die
Außenminister wäre nach den Diskussio- dent Benjamin Netanyahu und einmal mit besetzten Gebiete, was in Deutschland für
nen in seinem Land über die Beteiligung Staatspräsident Reuven Rivlin trifft, die Verwirrung sorgte. Sie wollte Maas zeigen,
Polens am Holocaust niemals an der Seite Ehrendoktorwürde der Universität Haifa wie klein Israel ist, wie nah der Feind. Es
eines Deutschen durch die Vernichtungs- entgegennimmt und bei einem Messerund- sah aber auch gut aus. Der deutsche So-
lager gelaufen, will aber wissen, was der gang deutsch-israelische Start-up-Unter- zialdemokrat über dem besetzten Land
mächtige europäische Nachbar im Westen nehmen kennenlernt, fliegt Heiko Maas neben einer Politikerin, deren Partei sich
über russische Erdgasleitungen denkt. Des- über den Atlantik. In Köln wechselt er die für die israelischen Siedler einsetzt. Ihr
halb wurde das Treffen um den Termin he- Flugzeuge. Maas kommt im Hotel King Mann flog den Hubschrauber.
rum gestrickt. David an, als Angela Merkel und Benja- »Wir liegen politisch sicher weit aus-
»Ich will darauf hinweisen, dass ich der min Netanyahu gerade die Abschlusspres- einander, haben auf persönlicher Ebene
erste Außenminister bin seit Klaus Kinkel, sekonferenz geben. aber gleich einen Draht gefunden«, sagt
der Auschwitz besucht«, sagt Maas, bevor Für Angela Merkel ist auch Israelpolitik Maas. »Wir haben uns gesagt: Wir sind
er zurück nach Berlin fliegt. zuallererst Politik. Sie hat früh am Morgen mehr als zwei gewöhnliche Justizminister.
Anfang Oktober, am Tag der Deutschen die Gedenkstätte Yad Vashem besucht. Bei unseren Ländern geht es um mehr.«
Einheit, als in Jerusalem die Regierungs- Einen Ort, der einen in die Knie zwingt. Um was aber geht es ihm eigentlich?
konsultationen zwischen Israel und Einen Ort, an dem man versteht, was das Dem Mann, der auf leisen Sohlen in die
Deutschland beginnen, eröffnet Heiko deutsche Volk getan hat, wie schnell alles Spitzenpolitik kam, der mal Staatssekretär
Maas in Washington das Deutschlandjahr. ging und welches Wunder die Beziehun- im saarländischen Umweltministerium
Sein Name steht aber auch auf der Liste gen zu Israel sind. Merkel hat vor zehn war, später dann Bundesminister für Justiz

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Deutschland

und schließlich Außenminister. Wofür Gabriel weiß noch, wie die Frau des Man muss an einen der Sätze denken,
steht er? Als Ministrant, als Mittelfeldspie- Chefs der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel mit denen Maas sein Auschwitz-Zitat be-
ler beim FC 08 Elm, als Saarländer, Sohn mit Vornamen hieß, Maas kennt nicht mal gründet hat. Er wolle die Geschichte seiner
eines Bundeswehroffiziers. Was ist sein den Nachnamen des Chefs. Familie glatt ziehen. Wenn man Familie
Thema? Als Maas im Jahr 2013 Justizmi- Seine beste politische Freundin in Israel durch Deutschland ersetzt, ahnt man, was
nister wurde, schien er zum Kämpfer für ist eine radikale Konservative. Wenn man sich Heiko Maas vorgenommen hat.
Bürgerrechte zu werden, aber dann setzte sie fragt, ob sie weiß, dass Maas Sozialde- Die Deutschen sind keine tumben
Parteichef Gabriel mit Angela Merkel die mokrat ist, lacht sie und sagt: Ich habe vie- Schnurrbartträger mehr. Sie spielen guten
Vorratsdatenspeicherung durch. Maas le Freunde bei den Linken. Fußball, sie haben eine angesagte Haupt-
fand ein neues Thema, den Kampf gegen Als Angela Merkel das Flugzeug nach stadt und mittlerweile auch vorzeigbare
rechts. Er versuchte den Mordparagrafen Berlin besteigt, reden Shaked und Maas Fernsehserien. Sie haben sich neu erfun-
im deutschen Strafrecht, der noch aus der eine halbe Stunde lang miteinander. Sie den, aber die Geschichte klebt. Wenn man
Nazizeit stammte, zu reformieren. Er en- erzählen sich, was im vergangenen halben unser deutsches Gewissen für einen mo-
gagierte sich für eine Aufarbeitung der Jahr passiert ist, sagt Shaked später. Sie dernen Spielfilm besetzen müsste, könnte
Nachkriegsjahre in der deutschen Justiz, gibt ihm ein paar Tipps für das Wochen- man Heiko Maas nehmen.
wo viele frühere Nazis weiterbeschäftigt ende, das er mit seiner Freundin Natalia In der Woche nach dem Besuch sitzt
worden waren. Als einer der Ersten fand Wörner privat in Israel verbringen will. Ayalet Shaked in ihrem Tel Aviver Minis-
er deutliche Worte gegen Pegida. Ein Tag Jerusalem, an dem sie Yad Vashem terbüro und zeigt Bilder von sich mit Hei-
ko Maas. Das erste zeigt sie in der Villa
am Wannsee, wo 1942 der Holocaust ge-
plant wurde. Sie sieht schmal aus und
blass. Das zweite zeigt die beiden in Yad
Vashem. Heiko Maas sieht blass aus und
schmal. Auf einem Bild stützt sie ihn, auf
dem anderen er sie.
Ayalet Shaked sagt: »Ich bin erzogen
worden, nie das Land der Täter zu besu-
chen und auch keine deutschen Produkte
zu kaufen. Der Holocaust ist etwas, was
ich nicht vergebe und nicht vergesse. Es
war nicht einfach, nach Berlin zu reisen.
Aber an Heikos Seite ging es. Ich habe so-
fort gespürt, dass er ein sehr tiefes Ver-
ständnis der Bedeutung des Holocausts
hat. Heiko Maas ist ein gutes Beispiel. Ein
THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK / IMAGO

wirklich gutes Beispiel für deutsch-israeli-


sche Beziehungen. Er will ein besseres
Deutschland.«
Sie beschreibt ihre Erwartungen an
Deutschland. Grundsätzliche, bedingungs-
lose Unterstützung Israels. Wenn Shaked
über das Nationalstaatsgesetz spricht, die
israelische Siedlungspolitik, die Zukunft
der Palästinenser, dann fragt man sich,
Ministerin Shaked, Besucher Maas in Yad Vashem 2017: Ein besseres Deutschland über was sie und ihr Freund Heiko eigent-
lich reden. Abgesehen von den tollen Res-
taurants in Tel Aviv.
Nun also, als Außenminister, die Freund- besuchen werden, ein Tag Entspannen in Maas sagt: »Sie wollen wissen, ob sie
schaft mit Israel. Israel war das erste Land Tel Aviv. Am Sonntagmorgen fliegen sie sich, wenn es ernst wird, auf uns verlassen
außerhalb Europas, das er besuchte. Das mit der Linienmaschine zurück nach können. Und das können sie.«
vierte überhaupt, nach Frankreich, Polen Deutschland. Abends tritt Maas beim Sie fragt: »Ist Heiko beliebt in Deutsch-
und Italien. Hamburger Theaterfestival auf, wo Schau- land?«
Sigmar Gabriel kann aus dem Stand eine spieler Hassmails vorlesen, die Politiker Ja. Die Deutschen mögen ihre Außen-
halbe Stunde über die traditionelle Freund- bekommen. Auch die Bedrohung und Be- minister. Maas sieht gut aus. Er ist fleißig.
schaft von deutscher Sozialdemokratie und schimpfung durch den rechten Mob ist Teil Er ist nicht laut. Shaked erzählt, wie der
israelischer Arbeiterpartei reden. David der neuen Erzählung von Heiko Maas. deutsche Botschafter in Israel ihr nach der
Ben-Gurion und Erich Ollenhauer. Er hat Maas wird gern als kleiner dünner Bundestagswahl bedauernd mitteilte, dass
mal eine Ausstellung über die jüdischen Mann beschrieben. In Wirklichkeit ist er sie in den falschen Mann investiert habe.
Wurzeln der deutschen Sozialdemokratie durchtrainiert und mittelgroß. Er fährt Damals sah es so aus, als gehe die SPD in
organisiert, Bernstein, Luxemburg, Las- Fahrrad und läuft. Er trägt taillierte Hem- die Opposition.
salle. Er hat auch kurz darüber nachge- den. Er ist, verglichen mit Sigmar Gabriel, Ein paar Monate später traf sie den Bot-
dacht, in die Filiale der Friedrich-Ebert-Stif- auch körperlich ein Neuanfang in der so- schafter wieder. Sie sagte: Ich habe doch in
tung nach Ost-Jerusalem zu wechseln, als zialdemokratischen Außenpolitik. Er hat den richtigen Mann investiert. Heiko Maas
er die Wahlen in Niedersachsen verlor. Der Triathlons bewältigt. Er lässt sich auch war gerade Außenminister geworden.
letzte Vertreter der Sozialdemokratischen schon mal mit einem Strauß langstieliger Er hielt seine Antrittsrede. Er zahlte
Partei sei Rudolf Dreßler gewesen, der fünf Rosen fotografieren. Er arbeitet an einer zurück.
Jahre lang Botschafter in Tel Aviv war. universellen Selbstoptimierung.

32 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Deutschland

I mog nimma
Wutrede Könnte ich aus dem engstirnigen Bayerntum der CSU austreten, täte ich es sofort – es reicht jetzt.
Von Bartholomäus Grill

M
itten in diesem in Bayern dient, ist Seehofer
Dürresommer er- offenbar jedes Mittel recht.
hielt ich eine alar- Das Motto der CSU klingt
mierende Mail aus wie der Wahlspruch des Mil-
meiner Heimatgemeinde in lionärsklubs Bayern München:
Oberbayern: »Der Käfer ist in »Mia san mia.« Die Ergänzung
deinem Holz.« Der Borken- ist nicht schwer zu erraten:
käfer, Schrecken aller Waldbau- »Und ihr gehört’s ned dazua!«
ern! Er hatte eine verdorrte Ihr, das sind zunächst
Fichte auf meinem kleinen einmal Fremde, Asylsuchende,
Waldgrundstück befallen, sie Flüchtlinge, »Neger«, Muslime
musste sofort gefällt werden, und Ostische, aber auch
damit sich das Ungeziefer nicht Preußen, Sozis, Protestanten,
weiter ausbreitet. Der Nach- Emanzen, Schwule, überhaupt
barbauer setzte umgehend die das ganze Gschwerl, das das
Kettensäge an, Problem erle- bajuwarische »Volkswesen«
digt. zersetzt. Edmund Stoiber, der
Die Säuberungsaktion war übrigens auch aus Oberaudorf
forstwirtschaftlich geboten, stammt, hat ja schon lange vor
aber irgendwie kam sie mir Thilo Sarrazin vor einer
doch unheimlich vor – sie erin- »durchrassten Gesellschaft« ge-
nerte mich an den radikalen warnt.
CSU-Kurs in Migrations- und In diesem Kampfbegriff
Asylfragen: Was weg muss, schlummert ein tief sitzender
muss weg. Die Fremden, Abwehrreflex, der sich bis
die Flüchtlinge, die Afrikaner, zum Dreißigjährigen Krieg zu-
sie haben nichts im schönen rückverfolgen lässt. In der
Bayernland verloren, sie pas- Nähe des oberbayerischen
sen einfach nicht in »unsere« Dorfs Beyharting wurde 1561
alpenländische Leitkultur. eine Wegkapelle gebaut, um
Manchmal habe ich den dem Herrgott dafür zu danken,
MANUELA DÖRR / PLAINPICTURE

Eindruck, als redeten See- dass er das Volk vor dem


hofer, Söder & Co. von Schäd- falschen Lutherglauben be-
lingen, nicht von Menschen, schützt habe.
die vor Krieg und Gewalt ge- Selbst der neue Minister-
flohen sind oder ein besseres präsident Markus Söder, ein
Leben suchen. Im Kampf Protestant aus Franken, ver-
um Wählerstimmen überneh- traut auf dieses Ritual: Wenn
men die CSU-Granden sogar er mit scheinheiliger Miene
rechtsradikale Parolen und Kreuze in allen Amtsstuben
geißeln den »Asyltourismus« aufhängen lässt, wirkt er wie
oder die »Anti-Abschiebeindustrie« – und Volksmusik. Ein guter Freund aus meinem ein Exorzist, der alles Nichtbayerische aus-
geben das bisschen christlich-humanisti- Geburtsort ist Kapellmeister der Inntaler treiben will.
schen Anstand auf, mit dem sich ihre Par- Blasmusik. Vor Jahren waren wir mit sei- Früher hieß die Strategie, dass es rechts
tei gern brüstet. nen Musikanten in Südafrika unterwegs; von der CSU keine Partei geben dürfe. Es
Wenn es möglich wäre, aus dem engstir- sie lieferten ein wunderbares Beispiel baye- war die Ära des legendären Minister-
nigen Bayerntum der CSU auszutreten, rischer Weltoffenheit. präsidenten Franz Josef Strauß, der sein
dann würde ich es sofort tun. Es reicht Die Partei aber, die Bayern seit einer ge- Bundesland wie ein absolutistischer Herr-
jetzt. Oder, auf gut Bairisch: I mog nimma. fühlten Ewigkeit regiert, denkt schon lange scher regierte. Seinerzeit war es nicht un-
Damit kein Missverständnis entsteht: nicht mehr über dessen Grenzen hinaus. gefährlich, mit einer »Stoppt Strauß«-Pla-
Ich kam in Oberaudorf am Inn zur Welt Horst Seehofer, der Mann an ihrer Spitze, kette in ein Bierzelt zu gehen, um gegen
und bin Bayer mit Leib und Seele, ich liebe wirkt mittlerweile unzurechnungsfähig. seine Machenschaften zu protestieren.
den kernigen Dialekt, den derben Humor, Mit seinem wirren »Masterplan Migra- Wir wurden vom »Landesvater« als »kom-
die barocke Lebensart, die Traditionen. tion« hat er nicht nur die fragile Re- munistische Terrorbanden« beschimpft,
Die Hirschlederne ist mir zu klein gewor- gierungskoalition in Berlin gefährdet, und seine fanatischen Anhänger brüllten,
den, aber ich trage gern Lodenjanker. Ich sondern sogar die Einheit der EU aufs »Geht’s doch ’nüber in die DDR« oder
mag auch die echte, nicht verkitschte Spiel gesetzt. Wenn es dem Machterhalt »Aufhängen!«.

34 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Man war also einiges gewohnt in jenen Aber der Fortschritt hat bekanntlich manchem stramm konservativen und
Jahren, als die CSU noch mit absoluten zwei Seiten: Er brachte auch einen tief christlich gesinnten Mitglied geht der
Mehrheiten herrschte und in manchen greifenden sozialen Wandel, wachsende Rechtsruck zu weit. Plötzlich gehen Zehn-
Gemeinden fast hundertprozentige Wahl- Mobilität und die Individualisierung der tausende Bayern gegen die CSU auf die
ergebnisse erzielte – wie Honeckers Ein- Lebensstile mit sich; die Bayern haben sich Straße, das gab es noch nie.
heitspartei in der Sowjetzone. verändert, sie sind liberaler, glaubens- Sie ist also noch lebendig, die Libera-
Die CSU ist Bayern, und Bayern ist die ferner und unberechenbarer geworden, litas Bavariae, diese tolerante, freisinnige,
CSU. Schon in der Volksschule lernten wir, vielleicht auch deutscher, normaler. Die widerständige Geisteshaltung, selbst die
dass unser Freistaat, der 1949 als einziges üblichen Klischees – Weißwurst, Gams- CSU kriegte sie nicht kaputt. Ich kenne
Bundesland das Grundgesetz abgelehnt bart, Oktoberfest, Bierseligkeit – passen in meiner Heimatregion Unternehmer,
hatte, etwas ganz Besonderes sei, erfolg- eigentlich immer weniger. die mit viel Engagement Migranten an-
reicher als der Rest der Republik, schöner Und weil nicht mehr jeder Besen ge- lernen, Asylbeauftragte, die in kleinen
und gescheiter sowieso. Und weil es so war, wählt wurde, den die CSU aufgestellt hat- Gemeinden vorbildliche Integrations-
durfte die CSU auf dem Trittbrett der gro- te, begann deren Übermacht allmählich arbeit leisten, katholische Kirchenräte,
ßen Schwester CDU in Bonn und Berlin zu bröckeln. Dann, bei der Landtagswahl die nichts auf ihren kongolesischen Pfar-
mehr Macht ausüben, als einer bundesweit 2008, geschah das Undenkbare: Unter rer kommen lassen, ganz abgesehen da-
bedeutungslosen Regionalpartei zusteht. dem ersten fränkisch-protestantischen von, dass er besser Deutsch spricht als
Kein Zweifel, die CSU hat die rückstän- Ministerpräsidenten Günther Beckstein er- die Eingeborenen.
dige Agrarprovinz Bayern in ein wohl- hielt die CSU nur noch 43,4 Prozent der Natürlich müssen Lösungen für das
habendes Industrieland verwandelt. Doch Stimmen. Karl Valentin, der größte Volks- Flüchtlingsproblem gefunden werden, um
die flächendeckende Modernisierung hatte philosoph, den Bayern hervorgebracht hat, den sozialen Frieden zu wahren, auch
einen hohen Preis. Bäuerliche Familien- hätte von einem »Katastrophal« gespro- Obergrenzen dürfen kein Tabu sein. Aber
betriebe wurden vernichtet, die Land- chen, einer »Art Energie, und wenn die immer mehr Bayern wehren sich gegen
schaft versiegelt und zugebaut, die Dörfer exeplidiert, dann geht’s los, dann is dö gan- die dumpfe Abschottungs- und Ausgren-
verschandelt, Staatseigentum verscherbelt. ze Welt hi«. zungspolitik ihrer Regierung. Sie wissen,
Und irgendwann herrschte landauf, landab Bei der kommenden Wahl wären der dass ihr Wohlstand im Zeitalter der Glo-
der Eventirrsinn, das Dauergejodel, politische SUV Söder und seine Partei balisierung von guten Beziehungen zur
die Trachtenschickeria, die krachlederne schon froh, auf 40 Prozent zu kommen. Ge- Außenwelt abhängt. Andernfalls müssten
Landlust. nau deswegen wendet die CSU das altbe- die Bayern ihre feschen BMW ausschließ-
Dennoch tat die weise Regierung in währte Rezept an: Sie versucht, die bedroh- lich selbst fahren.
München so, als würde sie die gute alte lich anwachsende AfD rechts zu überholen Die vielen Landsleute, die nicht in einer
Zeit bewahren. Dabei war gerade sie mit – und vergiftet das öffentliche Klima. Alpenfestung leben wollen, stehen für das
ihrer Laptop-und-Lederhosen-Strategie Doch das Rezept wirkt nicht mehr. Seit andere Bayern, für ein Land, auf das ich
der größte Traditionszerstörer. Jahren schrumpft die Partei, und selbst so stolz bin.

Fad wird’s werden


Widerrede Warum ich so gern in Bayern lebe – und die CSU bei der Wahl nicht kleingehäckselt werden darf
Von Jan Fleischhauer

W
ie viele Migranten neige ich Lederhose, die ich gleich nach meinem entfallen ist, wenn sie nach ihm gefragt
zur Überassimilation. Als ich Umzug erstanden habe. werden.
in den USA war, dauerte es Die meisten Menschen, die nichts mit In Berlin wird Niedersachsen nicht son-
vier Wochen, bis eine Ameri- der CSU am Hut haben, regt es auf, wenn derlich ernst genommen, wenn es mal die
kaflagge an der Veranda hing. Nach einem man Bayern und die CSU in eins setzt. Stimme erhebt, warum auch? Schleswig-
Jahr fand ich George W. Bush toll, der In Wahrheit aber verdankt Bayern die Holstein und Nordrhein-Westfalen sind
damals regierte, und erklärte meine Sym- Ausnahmestellung, die es unter den Bun- ebenfalls sehr schöne Bundesländer, auf
pathie für die Republikaner. desländern einnimmt, der Stärke seiner die hört auch keiner. Das wäre die Zukunft,
Jetzt lebe ich in Bayern. Der Freistaat Regierung. wenn die CSU unter 40 Prozent fiele, kein
ist, aus Hamburger Sicht, die USA Deutsch- Wäre es an mir gewesen, für die Vertun. Da können sie dann noch so viele
lands: seltsame Menschen, wilde Sitten CSU Wahlkampf zu machen, hätte ich Trachtenkapellen den Bayerischen Defi-
und eine Regierung, deren Wirken man auf die Plakate nur eine Frage schreiben liermarsch spielen lassen.
mit Kopfschütteln verfolgt. Ich hingegen lassen: »Liebe Bayern, wollt ihr wirklich Die CSU weiß, dass ihr die Gefahr nicht
habe mich angepasst. Ich sage »Grüß so werden wie die Niedersachsen?« von links droht. Was die Grünen hinzu-
Gott«, wenn ich die Bäckerei betrete, und Nichts gegen Niedersachsen. Es ist ein gewinnen, das verliert die SPD. Das Pro-
ich verabschiede mich mit einem herz- liebenswertes Land mit einem sehr net- blem der CSU ist der Aufstieg der AfD. Alle
lichen »Pfiat di«, wenn ich das Geschäft ten Ministerpräsidenten, dessen Name schimpfen über die AfD, aber insgeheim
verlasse. Irgendwo habe ich auch eine den meisten Menschen leider gerade haben sich die anderen Parteien mit der

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IN DER SPIEGEL-APP Deutschland

neuen Konkurrenz abgefunden. Niemand Merkel. Vielleicht findet sie insgeheim,


denkt ernsthaft daran, seine Politik zu dass es sein Gutes hat, wenn die CSU auf
ändern, oder überlegt, was er tun kann, Mittelmaß schrumpft. Wer selbst bei Wah-
um verloren gegangene Wähler zurückzu- len nur 30 Prozent holt, den muss es mit
gewinnen. Schon die schlechten Umfrage- Neid erfüllen, wenn andere zeigen, dass
werte galten als Beweis, dass es sich nicht auch 45 Prozent drin wären.
lohnt, die AfD dort zu attackieren, wo sie Anderswo mögen sie jubeln, wenn die
sich wohlfühlt. Das kommt davon, wenn CSU am Wahltag kleingehäckselt wird.
man die Themen der Rechten bedient, Ich sähe es mit Bedauern. So viele Insti-
heißt es. Wer nicht über die wirklich wich- tutionen haben wir ja nicht mehr, die das
tigen Themen rede, sondern darüber, was Ende der alten Bundesrepublik überlebt
alles in der Asylpolitik schieflaufe, dürfe haben.
sich nicht wundern, wenn die AfD zulege. Für mich ist die CSU wie die katholische
Ich glaube, dass hier ein Denkfehler vor- Kirche – ein Anachronismus, sicher, aber
liegt. Die Anhänger der Besser-über-etwas- eben einer, dessen Erhalt man sich, wenn
anderes-reden-Fraktion gehen
offenbar davon aus, dass die
Wähler ihre Sorgen und Fra-
gen vergessen, wenn man als
Politiker nicht darüber spricht.
Sie halten die Probleme der
Flüchtlingspolitik für ein
künstlich aufgebauschtes The-
FOTOS: CLEMENS HÖGES / DER SPIEGEL

ma, das niemanden kümmern


würde, wenn man es den Leu-
ten nicht ständig in Erinnerung
riefe. Da kann ich nur sagen:
lange nicht mehr im Bierzelt
gewesen. Die Ängste sind real,
nicht herbeigeredet.
Die CSU verdankt ihre
Alleinherrschaft der Fähigkeit,
die Gemütslage des Volks zu
erahnen und in Politik um-
zusetzen. Sind die Bayern aus-
länderfeindlich? Mit Sicher-
heit nicht. Anderswo mögen
Einmal um die sie sich den Mund zerreden
über ein Burka-Verbot: Wenn
Welt und zurück hier eine Familie vollverschlei-
ert durch den Englischen Gar-
Als erster Deutscher wird Boris ten spaziert, nimmt nicht mal
das Zamperl an der Leine

PETER NITSCH / PLAINPICTURE


Herrmann bei der gefährlichsten
Notiz.
Soloregatta um den Globus starten, Was die Leute nicht leiden
der Vendée Globe: von Frankreich können: wenn sie das Gefühl
aus einmal um die Antarktis und haben, für dumm verkauft zu
zurück, durch das Reich der Monster- werden. Dann werden sie
wellen, der Stürme und Eisberge. fuchsig. Die meisten hätten
Der SPIEGEL konnte Boris Herrmann es halt ganz gern, dass sich
und dessen Freund Pierre Casiraghi, jemand, der nach Deutsch-
den Fürstenneffen und Abenteurer land kommt, ausweisen muss. Oder dass schon nicht aus Traditionsbewusstsein,
aus Monaco, bei einer Regatta auf einer, der unter falschem Namen lebt, dann doch immerhin aus Sentimentalität
dem Atlantik begleiten. abgeschoben wird, wenn er auffliegt. wünschen muss.
Umgekehrt haben die Menschen ein Und, Hand aufs Herz, wer soll denn in
großes Herz, sobald einer zeigt, dass er Zukunft für das bajuwarische Element in
Sehen Sie die Visual Story im dazugehören will. Als in Neuenmarkt ein der Politik sorgen? Der nette Herr Weil
digitalen SPIEGEL, oder scannen junger Afghane, den sie alle mochten, aus Hannover oder der noch nettere Herr
Sie den QR-Code. abgeschoben werden sollte, fand sich der Günther aus Kiel? Schrecklich fad wird es
Ort zusammen, um zu protestieren. werden, wenn auch die Bayern endlich
Wenn es bei der Landtagswahl am klein beigeben.
14. Oktober schiefgeht, dann liegt das
zur Hälfte am Kanzleramt. Das Verhältnis ‣ Lesen Sie auch auf Seite 56
der beiden Unionsparteien war nie ein- Den schlechten Umfragen zum
fach, aber noch nie hat ein CDU-Bundes- Trotz – der Kampf eines jungen CSU-
kanzler so wenig Verständnis für die Nöte Funktionärs um jede Stimme
JETZT DIGITAL LESEN der Schwesterpartei gezeigt wie Angela

36 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Deutschland

»Ein Rest von Rache«


Fischer, 65, ist ehemaliger Vorsitzender des
Zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs
in Karlsruhe sowie Verfasser des führenden
Kommentars zum Strafgesetzbuch. Er ist
als streitbar bekannt und seit diesem Som-
mer auch Kolumnist bei SPIEGEL ONLINE.
SPIEGEL-Gespräch Was ist der Sinn von Strafe?
SPIEGEL: Herr Fischer, den größten Teil
Der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer Ihres Lebens haben Sie sich mit Strafrecht
erklärt, wie sie wirken soll und warum befasst. Nun schreiben Sie in Ihrem neuen
Buch, dass der Staat gar nicht unbedingt
manche Richter sich an ihren Urteilen ergötzen. strafen muss*. Was meinen Sie damit?
Fischer: Freiheits- und Geldstrafen sind
jedenfalls nicht zwingend. Es gibt daneben
noch viele andere Sanktionen. Sogenannte
Maßregeln der Besserung und Sicherung,
etwa eine Unterbringung in der Psychia-
trie, bis hin zum berüchtigten »Wegsper-
ren für immer«. Es gibt soziale Sanktio-
nen wie Kritik und Ächtung. Es gibt die
Möglichkeit privater Rechtsverfolgung, die
mit staatlicher Hilfe durchgesetzt werden
kann, wie Schadensersatzklagen. Aber na-
türlich kann man Strafen nicht einfach ab-
schaffen.
SPIEGEL: Über wie viele Angeklagte ha-
ben Sie selbst Strafen verhängt?
Fischer: Keine Ahnung. Ich habe mehr als
sechs Jahre lang als Tatrichter gearbeitet
und 17 Jahre als Revisionsrichter. Da kom-
men Tausende Verfahren zusammen. Es
gibt Kollegen, die Buch führen über die
Summe der Freiheitsstrafen, die sie ver-
hängt haben. Manche sehen es als schönes
Ergebnis ihres Berufslebens an, eine mög-
lichst hohe Zahl zu erreichen – nach dem
Motto, ich gehe jetzt in Pension und habe
40 000 Jahre Freiheitsstrafe verhängt.
SPIEGEL: Wie sehen Sie das?
Fischer: Ich finde, wenn man Strafe ge-
genüber nicht skeptisch ist, sollte man eher
die Finger vom Strafen lassen.
SPIEGEL: Warum?
Fischer: Wer Strafen verhängt, entschei-
det immer über einen anderen Menschen.
Für die Opfer einer Tat mag Strafe eine
Wohltat sein. Aber im Wesentlichen ist sie
ein hartes Übel für den Betroffenen, das
die Straftat auch nicht ungeschehen ma-
chen kann.
SPIEGEL: Strafen sind so alt wie die
Menschheit. Trotzdem wird fortwährend
darüber debattiert.
Fischer: Sogar Primaten strafen ihre Art-
genossen, wenn der eine dem anderen das
Futter wegschnappt. In menschlichen Ge-
sellschaften wird Strafe erzwungen, als
Ausgleich für Schuld, zur Abschreckung,
um Normen zu verdeutlichen und noch
aus vielen anderen Gründen. Für die
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

Schwere der Strafe gibt es keine festen


Maßstäbe. Unter dem Dach des Verfas-
sungsrechts gelten hier Prinzipien wie das

* Thomas Fischer: Ȇber das Strafen. Recht und Sicher-


heit in der demokratischen Gesellschaft«. Droemer;
Jurist Fischer: »Wer nicht skeptisch ist, sollte die Finger davonlassen« 384 Seiten; 22,99 Euro.

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РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Grund-


recht der Freiheit der Person, das Schuld-
prinzip. Die geben einen Rahmen für das
Strafmaß vor.
SPIEGEL: Waren Sie als Strafrichter von
Ihren Urteilen immer restlos überzeugt?
Fischer: Nein, es werden ja nicht alle Ur-
teile einstimmig gefällt. Und es gibt Fälle,
wo man hinterher denkt: Ich habe mich
in der Beratung zu sehr mitreißen lassen.
Wenn ein Richter sagt, das gibt acht Jahre,
traut sich kaum noch ein anderer zu sagen,
es reichen drei. Und auch Emotionen spie-
len eine Rolle.
SPIEGEL: Dass Gefühle die Höhe einer
Strafe beeinflussen, weisen viele Ihrer Kol-
legen von sich.

BETTINA THEUERKAUF
Fischer: Dann lügen sie sich selbst in die
Tasche. Andernfalls könnte man die Rich-
ter durch einen Algorithmus ersetzen, der
das Ausmaß des Schadens berechnet, die
Vorstrafen einspeist und wie oft sich der
Angeklagte entschuldigt hat und unten das Justizvollzugsanstalt Kiel: »Ein weiteres Übel wird hinzugefügt«
Urteil ausspuckt. Die Richterpersönlich-
keit besteht zu einem erheblichen Teil aus
Emotion. Und die fließt in die Verhand- sich der Staat aneignet und an der persön- trem bösen Willen, aber es ist nur ein klei-
lungsführung, in die Beweiswürdigung und lichen Schuld des Täters misst. ner Schaden eingetreten. Oder er hatte
auch in die Urteile ein. Das ist nicht SPIEGEL: Auge um Auge? keinen bösen Willen, aber er hat einen
schlecht, sondern Sinn der Sache und über- Fischer: Ja, wobei diese alttestamentari- folgenschweren Fehler gemacht.
dies unvermeidlich. Deshalb entscheiden sche Regel schon begrenzt. Es heißt ja SPIEGEL: Wie der Fahrdienstleiter aus Bad
verschiedene Richter unterschiedlich. nicht: Kopf um Auge. Es ist keine blinde Aibling, der bei der Arbeit abgelenkt war,
SPIEGEL: Hatten Sie bei einem Schuld- Rache. Die persönliche Rache neigt zum ein Signal falsch gestellt hat, woraufhin
spruch auch mal ein schlechtes Gewissen? Übermaß: Wer meine Tochter vergewal- zwei Züge ineinanderrasten und zwölf
Fischer: Am ehesten bei Schuldsprüchen tigt, den bringe ich um. Und im allgemei- Menschen starben.
in Tatbeständen, die ich selbst rechtspoli- nen Bewusstsein wird Rache als durchaus Fischer: Genau. Deshalb muss man das
tisch falsch finde. sympathisches menschliches Grundbedürf- Opfer, seine Angehörigen und die Gesell-
SPIEGEL: Zum Beispiel? nis angesehen. schaft insgesamt sehen. Die müssen, wenn
Fischer: Ich halte das Betäubungsmittel- SPIEGEL: Wie bei Marianne Bachmeier, das Verfahren abgeschlossen ist, alle mit
strafrecht für einen vollkommenen Irrweg die 1981 in einem Gerichtssaal den Mörder dem Ergebnis leben können. Beim Strafen
im Umgang mit Drogensüchtigen. Es führt ihrer Tochter erschoss? geht es aber nicht nur darum, dass der
zu keinerlei sinnvollen Ergebnissen. Ziem- Fischer: Genau. Da heißt es dann: Die Staat stellvertretend für die Privaten deren
lich sinnlos kommt mir das Bestrafen auch arme Mutter, da kann man mal sehen, wie Rachebedürfnis ausübt. Sondern der Staat
bei vielen Exhibitionisten vor. fertig die war. Aber es gibt auch weniger verfolgt mit Strafe einen bestimmten
SPIEGEL: Warum? dramatische Fälle, wo einer das Recht in Zweck: Diebstahl wird bestraft, damit we-
Fischer: Die meisten sind arme Würst- die eigene Hand nimmt, anstatt jahrelang niger Diebstahl begangen wird.
chen, die sich gegen den Wiederholungs- auf einen Prozess und ein Urteil zu warten. SPIEGEL: Sie selbst kritisieren aber, das
zwang, der diese sexuelle Störung kenn- Das widerspricht dem staatlichen Straf- Strafrecht tauge zur Bekämpfung von Kri-
zeichnet, kaum wehren können. Weil man anspruch. Darauf reagiert die Justiz mit minalität nur bedingt.
das weiß, kriegt so jemand eine Bewäh- Nachdruck und verhängt hohe Strafen mit Fischer: Wahrscheinlich taugt es in man-
rungsstrafe nach der anderen. Aber nach der Begründung: Der Betroffene hat sich chen Bereichen mehr, in manchen weniger.
dem x-ten Mal schickt man ihn eben doch selbst zum Richter erhoben. Und in manchen überhaupt nicht.
für einen Monat ins Gefängnis. Obwohl SPIEGEL: Ist staatliche Strafe moralisch SPIEGEL: In welchen Bereichen funktio-
klar ist, dass er danach wieder vergisst, sei- wertvoller? niert die Abschreckung?
ne Hose zu schließen. Fischer: Staatliche Strafe abstrahiert. Die Fischer: Vor allem bei der klassischen
SPIEGEL: Was wäre denn ein besserer Richter sind nicht Betroffene, sie sollen Wirtschaftskriminalität. Wo Strafe zu wei-
Weg, damit umzugehen? Schließlich ist es sich nicht als stellvertretende Rächer auf- tergehender Ausgrenzung führt. Dort be-
auch nicht schön für die Bürger, mit Exhi- führen, sondern unbefangen sein. Nur so droht Strafe die Existenz und die gesell-
bitionisten konfrontiert zu sein. können sie eine Position einnehmen, die schaftliche Position.
Fischer: Das Einzige, was hilft, sind The- allen Interessen halbwegs gerecht wird. SPIEGEL: Strafrecht, schreiben Sie, sei das
rapien. Das, was der Täter verletzt oder zerstört Ergebnis von Kommunikation. Wer kom-
SPIEGEL: Opfer und Angehörige von Op- hat, wird durch die Strafe ja nicht wieder- muniziert da?
fern verlangen oft, der Täter solle seine gutgemacht. Es wird kein Übel aus der Fischer: Alle gleichzeitig, aber in unter-
»gerechte Strafe« bekommen. Dahinter Welt geschafft, sondern es wird ein weite- schiedlichen Rollen. Die Rechtspolitiker,
steckt der Gedanke der Vergeltung – ist res Übel hinzugefügt. Diese beiden Übel die Verwaltung, die Gerichte. Die Presse
das der wichtigste Strafzweck? müssen in einem Verhältnis stehen. Man berichtet darüber. Die Menschen nehmen
Fischer: Es ist sicher der populärste. Ver- muss dem Täter als Individuum gerecht es zur Kenntnis. Es werden Stimmungen
geltung ist der Rest von der Rache, den werden. Vielleicht hatte einer einen ex- erzeugt. Und die tanken sich von unten

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 39


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Deutschland

WAS nach oben durch. In Zeiten von Unsicher-


heit steigt das Strafbedürfnis stark an.
SPIEGEL: Und in einer solchen Phase le-

PASSIERT, WENN EIN ben wir jetzt?


Fischer: Auf jeden Fall. Das fing schon
vor der Wiedervereinigung an mit der The-

GANZES LAND se, dass die angeblich blauäugige Krimi-


nalpolitik der Siebzigerjahre gescheitert
sei. Damals setzte man stark auf sozialthe-
rapeutische Konzepte. Der Grundgedanke

IN RENTE GEHT war, dass Strafe Menschen nicht besser,


sondern eher schlechter macht. Dass Straf-
vollzug eine Erziehung zur Asozialität und
zur Kriminalität ist. Natürlich hört Krimi-
nalität nicht auf, wenn man nur genügend
Sozialpädagogen ausbildet. Aber dass wir
noch immer Raubüberfälle haben, beweist
keineswegs, dass die liberale Kriminal-
politik gescheitert ist.
SPIEGEL: Sie würden sagen, die liberale
Kriminalpolitik ist die bessere?
Fischer: Für eine freiheitliche Demokratie
auf jeden Fall.
SPIEGEL: Durch kriminologische Forschung
wissen wir, dass sich Kriminalität im Ge-
fängnis oft verfestigt.
Fischer: Das ist sicher in vielen Fällen so.
Ganz kurze Freiheitsstrafen werden des-
wegen immer seltener verhängt. Wenn
man heute eine Freiheitsstrafe ohne Be-
währung bekommt, hat man in der Regel
schon gravierende Taten im Kreuz oder
ist mehrfach vorbestraft. Das heißt auch,
dass wir in den Gefängnissen viele Lang-
zeitgefangene haben, die einen verfestig-
ten dissozialen Lebensstil haben und auf
die man nur schwer einwirken kann. Das
führt dazu, dass sich dort informelle Struk-
turen bilden, gegen die man fast nichts ma-
chen kann.
SPIEGEL: In Hamburg gab es kürzlich den
Fall, dass ein abgelehnter Asylbewerber
aus Afghanistan einer Straftat verdächtigt
wurde. Der Mann war wegen verschiede-
ner Delikte vorbestraft, die Ausländer-
behörde wollte ihn abschieben, aber die
Staatsanwaltschaft bestand auf der Straf-
256 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 ( D ) verfolgung. Sofort folgte eine Debatte, ob
Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich man den Mann besser abgeschoben hätte.
Fischer: Nein, da ist Vollstreckung gebo-
ten, und das ist auch richtig so. Es be-
schwert sich ja auch niemand darüber, dass
ein deutscher Räuber etwas kostet, wenn
Japans Wirtschaft ist seit Jahrzehnten in einer Abstiegsspirale er abgeurteilt wird. Im Rechtsstaat erhe-
ben wir den Anspruch, alle Menschen
gefangen, auch weil Japans Bevölkerung so schnell altert wie kaum gleich zu behandeln. Das bedeutet: Wenn
eine andere. Wieland Wagner, langjähriger Asien- Korrespondent man in Deutschland einen Tankstellen-
des SPIEGEL, beschreibt eindrucksvoll, wie sich in der raub oder eine Vergewaltigung begeht,
wird man bestraft. Man wird mit gleichem
vergreisenden Wohlstandsnation Leben und Arbeiten verändern – Maß gemessen, egal ob man Franzose, Af-
und was andere Länder am Beispiel Japans lernen können. ghane oder Deutscher ist.
SPIEGEL: Warum ist das so wichtig?
Fischer: Man kann nicht sagen: Afghanen,
die hier eine Straftat begehen, die bestra-
fen wir nicht. Die schicken wir nach Hause,
dann sind wir sie los. Weil es dem Staat
darum geht zu zeigen, dass unsere Nor-

40 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


www.dva.de
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mung, wie sexuelle Nötigung oder Verge-


waltigung. Nun sagt das Gesetz aber: Wir SPIEGEL TV
wollen, dass auch Beeinträchtigungen aus- MONTAG, 15. 10., 23.25 – 0.00 UHR | RTL
geschlossen werden, die unterhalb dieses
Nötigungsniveaus liegen. Das Ausnutzen Gefühlte Angst – Wie die AfD im
von Schwäche. Das nennen wir dann se- bayerischen Deggendorf den Frem-
xuellen Missbrauch. denhass schürt; Großes Krabbeln –
SPIEGEL: Das ist doch eine richtige Idee. Die Eichenprozessionsspinner
Fischer: Ja, aber teilweise auch mit pro- verwüsten ganze Landstriche.
blematischen Auswirkungen, denn man
hindert zum Beispiel geistig Behinderte
daran, Sex zu haben. ARTE RE:
SPIEGEL: Wieso denn das? DIENSTAG, 16. 10., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE
Fischer: Jemand, der mit solchen Perso-
nen Sex hat, wird auch dann bestraft, Jenseits der Hecke – Clash der
wenn diese Person den Sex will. Auch ein Kulturen im Kleingarten
Mensch, der schwer geistig behindert ist, Jahrzehntelang galt der Schreber-
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

hat sexuelle Bedürfnisse. Aber aus Sicht garten als Symbol deutscher Spießig-
des Strafrechts ist er nur noch ein schutz- keit. Auch heute noch führen schon
bedürftiges Opfer.
SPIEGEL: Sie haben sich immer wieder
gegen die »Nein heißt Nein«-Gesetzes-
änderung gesträubt, die unter anderem
Fischer, SPIEGEL-Redakteure* Grapschen auch als Sexualdelikt strafbar
»Soziale Verachtung tut es auch« macht. Bleiben Sie dabei, dass die falsch
war?
men, unser Recht etwas gelten. Auch für Fischer: Es hat eine deutliche Ausweitung
Afghanen. der Strafbarkeit in den Bereich ganz uner-
SPIEGEL: Das kann abstruse Formen an- heblicher und kaum beweisbarer Übergrif-

SPIEGEL TV
nehmen: Somalische Piraten, die im Indi- fe stattgefunden. Das halte ich für nicht
schen Ozean ein deutsches Schiff gekapert überzeugend. Aber man kann immer noch
hatten, wurden 2010 dort festgenommen weitergehen. Gerade weisen zwei Profes- Vereinsvorsitzender Baumann
und nach Deutschland gebracht. Das Ver- soren darauf hin, dass die sexuelle Selbst-
fahren dauerte mehr als zwei Jahre, kos- bestimmung noch gar nicht gegen Täu- Petitessen zum Krieg am Gartenzaun.
tete Millionen, alle wurden eingesperrt. schung geschützt ist! Und schon ist wieder Doch es zeichnet sich ein Kulturwan-
Mittlerweile sind sie wieder frei. Aber nun eine neue Strafbarkeitslücke entdeckt. del ab: kinderfreundlich statt klein-
sind einige hiergeblieben und können SPIEGEL: Was ist damit gemeint? kariert, tolerant statt paragrafentreu.
nicht nach Somalia abgeschoben werden. Fischer: Die Einwilligung zum Sex ist nur
Was hat der Staat davon? dann frei, wenn sie auf der Grundlage
Fischer: Es geht auch hier vor allem um zutreffender Informationen erteilt wird. ARTE RE:
symbolische Normbestätigung. Alle sollen Wenn einer verspricht: Mach es mit mir, MITTWOCH, 17. 10., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE
wissen: Wer deutsche Schiffe überfällt, dann werde ich dir einen Porsche schen-
muss damit rechnen, dass er dafür be- ken, und es stellt sich heraus, er ist arbeits- Leben vom Müll der
straft wird. los und hat keinen Porsche zu verschen- anderen – Die Abfallsammler
SPIEGEL: Um Verbrechen vorzubeugen, ken, dann wäre das eine Täuschung. von Rumänien
straft man härter und versucht, alle denk- SPIEGEL: Kann Strafrecht nicht auch Be- Bis 2017 sollte Rumänien EU-kon-
baren Strafbarkeitslücken zu schließen. wusstsein schaffen? Wenn die »Nein heißt forme Mülldeponien errichten. Doch
Wird das Land dadurch sicherer? Oder Nein«-Reform dazu führt, dass Grapscher noch heute landen die meisten Ab-
neigt Prävention zum Übermaß? sich zusammenreißen, ist doch viel ge- fälle auf wilden oder veralteten
Fischer: Die Tendenz zum Übermaß ist wonnen. Halden. Sie sind für Tausende die
immer da. Das ist ja ein Teil der kontro- Fischer: Natürlich, dagegen habe ich einzige Lebensgrundlage.
versen Kommunikation über das Straf- nichts. Aber nicht jedes Grapschen ist eine
recht. Sicherheit und Prävention sind ten- schwere Straftat. Auf die Straße spucken
denziell totalitäre Begriffe. Sicherheit ist ist in Singapur eine Straftat, bei uns nicht. SPIEGEL GESCHICHTE
nie am Ende. Man kann immer sagen, Man muss nicht allem mit Strafrecht be- DONNERSTAG, 18. 10., 21.55 – 22.40 UHR | RTL
noch mehr Sicherheit wäre noch besser. gegnen. Soziale Verachtung tut es manch-
SPIEGEL: An welchen Rechtsbereich den- mal auch. Es gibt jede Menge soziale Sank- Nach dem Endsieg – Hitlers
ken Sie? tionen unterhalb der Strafrechtsebene. Zukunftspläne
Fischer: Das Sexualstrafrecht ist in den SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen
vergangenen 20 Jahren immer weiter ver- für dieses Gespräch. Während des Zweiten Weltkriegs
schärft worden. Es schützt die sexuelle konnte die Wehrmacht Großbritan-
Selbstbestimmung, die Freiheit, über se- nien nie erobern. Doch in Berlin
xuelles Verhalten zu entscheiden. Ob, Video war man der Überzeugung, dass der
Raser = Mörder?
wann, mit wem und wie. Es gibt unmittel- Sieg über die Briten nur eine Frage
bare Verletzungen dieser Selbstbestim- spiegel.de/sp422018fischer
der Zeit sei – und entwarf Pläne, wo
oder in der App DER SPIEGEL das britische Hauptquartier Adolf
* Dietmar Hipp und Beate Lakotta in Baden-Baden. Hitlers entstehen sollte.

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Deutschland

Die Akte Knabe


#MeToo Hubertus Knabe hat als Stasijäger und streitbarer Historiker viele politische Konflikte
überstanden. Nun ist er gestolpert, weil seinem Stellvertreter sexuelle Belästigung
von Mitarbeiterinnen vorgeworfen wird. Knabe fand nicht den passenden Umgang damit.

CHRISTIAN DITSCH /EPD-BILD / IMAGO

Gedenkstättenleiter Knabe, Innenminister Thomas de Maizière 2017: Immer eine Reizfigur

42 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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S
ie zeigen den Besuchern noch im- Kein anderer beharrte so vehement darauf, mütigten zu tun hatte, fehlte ihm erstaun-
mer diesen Film, in der Stasi-Ge- dass man auch unter die zweite Diktatur licherweise das Gespür, mit den Proble-
denkstätte Berlin-Hohenschön- in der deutschen Geschichte keinen men in seinem Haus sensibel umzugehen.
hausen. 30 Minuten düstere Dik- Schlussstrich ziehen dürfe. Keiner hielt Die Akte zum Umgang Knabes mit Vor-
tatur, mit Behauptungen, die wie Gewiss- den Mitgliedern der Linkspartei so pene- würfen sexueller Belästigung beginnt am
heiten anmuten. Ein jahrzehntealtes Ge- trant den historischen Spiegel vor. Dass er 29. Februar 2016. Der damalige Kultur-
rücht wird in dem Film kolportiert, die Sta- dafür auch Applaus von der AfD erhielt, staatssekretär in Berlin, Tim Renner, ein
si könnte bei Gefangenen Blutkrebs mit dass der Förderverein der Gedenkstätte in Sozialdemokrat, berichtete Knabe an die-
Röntgengeräten erzeugt haben, aufge- Teilen der AfD nahestand, befeuerte die sem Tag, dass es Vorwürfe gegen seinen
bracht von ehemaligen Häftlingen, bis heu- Konflikte weiter. Stellvertreter Helmuth Frauendorfer gebe.
te unbelegt. Vielleicht ist es bei jemandem, der so Der ehemalige Redakteur des Mitteldeut-
Ein Vergleich wird gezogen, 91 000 sehr in Freund-Feind-Kategorien denkt, schen Rundfunks soll junge Mitarbeiterin-
hauptamtliche Mitarbeiter habe das Mi- der so sehr im Mittelpunkt von politischen nen belästigt haben. Einer Volontärin soll
nisterium für Staatssicherheit der DDR Konflikten steht, kein Wunder, dass auch er nachts aufdringliche SMS geschrieben,
zum Schluss gehabt, die Gestapo im »Drit- seine Absetzung politisch interpretiert eine Absolventin des Freiwilligen Sozialen
ten Reich« lediglich 7000. Nicht nur, dass wird. Die Gedenkstätte wird vom Bund Jahres unaufgefordert in den Arm genom-
die Zahl an Gestapo-Leuten am Ende hö- ebenso finanziert wie vom Land Berlin, men haben. Man verweigere der Gedenk-
her war – was soll dieser Vergleich sagen? daraus ergibt sich eine interessante Kon- stätte deshalb bis auf Weiteres Volontärs-
Der Film sei »etwas demagogisch«, ent- stellation: Auf der einen Seite steht Staats- stellen, teilte Renner mit.
schuldigt sich die Frau, die durch die Ge- ministerin Monika Grütters von der CDU, Knabe reagierte zunächst schnell und
denkstätte führt. Als Jugendliche war sie die Beauftragte der Bundesregierung für so, wie er es für richtig hielt. Am 1. März
»wegen Asozialität« ein Jahr lang in einer Kultur und Medien. Und auf der anderen 2016, einen Tag nachdem er von den Vor-
Jugendhaftanstalt der DDR eingesperrt, Seite Klaus Lederer, der Berliner Kultur- würfen erfahren hatte, lud er seinen Stell-
jetzt schleust sie die Besuchergruppe ein- senator von der Linken. vertreter zu einem Personalgespräch ein.
einhalb Stunden lang durch fensterlose Manche vermuten, Knabe sei Opfer ei- Die beiden Männer sind befreundet. Laut
Kellergefängnisse, Gummizellen und kar- ner politischen Intrige von links. Ange- einem zweiseitigen Vermerk, den Knabe
ge Vernehmungszimmer. Sie erzählt von führt von Lederer, der eine Gelegenheit am selben Tag schrieb, bestritt Frauendor-
»psychischer Zersetzung« und nächtelan- gesehen habe, den unliebsamen Erinnerer fer die Übergriffe. Er könne sich die Be-
gem Schlafentzug. »Ohne Ergänzungen«, endlich loszuwerden. Die CDU, die sonst schwerden nur dadurch erklären, dass er
sagt die Frau, könne man die Aussagen Knabe verteidigte, habe sich übertölpeln aus Rumänien stamme und »warmherzi-
des Films so nicht stehen lassen. lassen. Oder, noch schlimmer, sie wolle ger reagiere« als andere.
Einer der Autoren des Werks ist der bis- den Weg für eine Zusammenarbeit mit den
herige Chef der Gedenkstätte, Hubertus Linken bereiten. Knabe wies den Vizedirektor an, sein
Knabe. Dass sein Film, trotz Kritik, seit 14 Alles spricht dafür, dass etliche in der Verhalten zu ändern. Körperliche Be-
Jahren gezeigt wird, zeugt vom Selbstbe- Linkspartei froh sind, Knabe los zu sein. rührungen oder private SMS seien zu un-
wusstsein des Historikers. Er ist nicht nur Doch die Rekonstruktion der Ereignisse, terlassen. Andernfalls könnte das Verhal-
Wissenschaftler, er ist auch Aktivist. Von die zu Knabes Rausschmiss führten, passt ten »zu einer fristlosen Kündigung füh-
seinen Gegnern wird er als Stasijäger und nicht recht zur Intrigentheorie. Eher zu ren«. Der Vermerk landete offenbar nicht
Kommunistenfresser geschmäht. Sie wer- einem Mann, der sich für Mitarbeiterfüh- in Frauendorfers Personalakte, allerdings
fen ihm vor, er vergleiche Stasi- mit NS-Un- rung und das Arbeitsumfeld in seiner Ge- erhielt die Kulturbehörde eine Kopie da-
recht und relativiere damit die Geschichte. denkstätte nicht großartig interessierte. von, verbunden mit der Bitte, doch wieder
Knabe, Sohn von DDR-Flüchtlingen, im Andererseits ist Knabe wohl der erste Volontäre zu schicken.
Westen aufgewachsen, hat sich nie davor #MeToo-Fall in Deutschland, in dem nicht Im Stiftungsrat, der die grundsätzliche
gefürchtet anzuecken. Er machte, was er nur der mutmaßliche Belästiger gehen Arbeit der Gedenkstätte bestimmt, und in
für richtig hielt, und kam damit durch. Er musste, sondern auch der Vorgesetzte, der der Senatsverwaltung wirft man Hubertus
stritt sich vor Gericht mit Arbeitgebern es versäumt haben soll, ein solches Verhal- Knabe heute vor, nicht den Ernst der Lage
und seinen Kritikern. Übertriebene Selbst- ten zu verhindern. erkannt zu haben, damals, vor Beginn der
zweifel scheinen ihm fremd. Vielleicht Knabe selbst äußert sich bislang nur per #MeToo-Debatte. Es sei ihm um die
muss das so sein, wenn man sich auf einer Twitter. Er bedauere die jüngste Bericht- schnelle Beseitigung des Problems gegan-
Mission wähnt. Am Ende machte er sich erstattung. Sie werde der engagierten Ar- gen, nicht um dessen Lösung. Er habe das
mehr Feinde als Freunde. Und das wurde beit dieser wichtigen Einrichtung nicht ge- Thema im Mitarbeiterkreis nicht angespro-
ihm nun zum Verhängnis. recht und beschädige damit »auch das An- chen und sich nicht überlegt, wie er seine
Seit dem 25. September ist der Missio- liegen der Aufarbeitung der SED-Diktatur Mitarbeiterinnen schützen könne. »Der
nar von seinem Amt als Leiter der Gedenk- insgesamt«. Stiftungsrat hat einmütig den Eindruck ge-
stätte freigestellt, zum 31. März 2019 soll Vielleicht hat sich Knabe auch deshalb wonnen, dass Herr Dr. Knabe über Jahre
ihm gekündigt werden. Bald 18 Jahre war so schwergetan, weil es beim Thema sexu- Missstände in seinem Haus geduldet und
Knabe der Chef, nun wird ihm unterstellt, elle Belästigung um menschliche Demüti- durch seinen Führungsstil und eigenes Ver-
schlüpfrige Bemerkungen und Textnach- gung geht, nicht um ideologischen Streit. halten sogar befördert hat«, heißt es in ei-
richten seines Stellvertreters gegenüber Für einen, der beruflich so viel mit Gede- nem Brief, den Monika Grütters nach Kna-
Mitarbeiterinnen zu lange geduldet zu bes Absetzung an CDU-Abgeordnete im
haben. Bundestag schickte.
Der Mann mit den blonden Haaren und
dem Blick, der manchmal starr und kalt Es sei ihm um die Tatsächlich war das Verhalten des Vize-
direktors seit Jahren Gesprächsthema. Das
wirken kann, war immer eine Reizfigur. schnelle Beseitigung des berichten übereinstimmend auch vier
Zugleich gab er den Opfern der Stasi, den
unschuldig Eingesperrten, den Misshan-
Problems gegangen, männliche Mitarbeiter, mit denen der
SPIEGEL geredet hat. Der Osteuropawis-
delten und Gequälten eine laute Stimme. nicht um dessen Lösung. senschaftler David Feest koordinierte ab

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Deutschland

2013 für mehrere Monate ein Projekt in tärin ohne Rücksprache ab-
Hohenschönhausen. Schon damals, er- gezogen worden sei. Längst
zählt Feest, sei das unangemessene Ver- geplante Projekttage müss-
halten Frauendorfers »ein offenes Geheim- ten nun abgesagt werden.
nis« gewesen. Dass Knabe davon nichts Der Ton zwischen beiden
gewusst haben soll, hält Feest für »voll- Parteien ist rau.
kommen undenkbar«. Knabe sei »Teil des Der Gedenkstättenleiter
Systems« gewesen, und Feest sagt, ihm sei- fordert Informationen, eine
en damals Zweifel gekommen, dass Knabe »rasche und ausreichend de-

CLEMENS BILAN / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


»der richtige Mann ist, eine Gedenkstätte taillierte Darlegung« der Be-
zu leiten«. schwerden. Die Senatsver-
Feest steht nicht im Verdacht, alte Rech- waltung verweist auf die
nungen begleichen zu wollen. Sein Projekt strikte Vertraulichkeit, die sie
war von vornherein befristet, er war un- der Betroffenen zugesichert
abhängig und kam mit Knabe wie Frauen- hat. Sie empfiehlt Knabe,
dorfer gut zurecht. Zwei junge Kolleginnen »geeignete Maßnahmen zur
allerdings hätten ihm unabhängig von- Prävention« zu ergreifen.
einander erzählt, wie unangenehm sie das Der Schriftverkehr aus die-
Verhalten Frauendorfers fänden. Drei an- sen Tagen zeigt, dass Senats-
dere Frauen, die schon nicht mehr dort ar- verwaltung und Gedenkstät-
beiteten, hätten den Kollegen Ähnliches Kulturstaatsministerin Grütters tenleiter grundverschiedene
erzählt. Sie hätten Angst vor den Folgen, Der Eindruck, Knabe habe nicht erkannt, wie ernst es ist Vorstellungen haben, wie das
wenn sie Frauendorfers Verhalten anpran- Problem zu lösen ist. Die Ver-
gern würden. Sie gingen davon aus, dass beitsvertrag beendete er vorzeitig. Mix waltung erwartet mehr Engagement von
sich Knabe vor seinen Freund Frauendor- sagt, in der Gedenkstätte habe ein Klima Knabe zum Schutz der Frauen. Knabe for-
fer stellen würde. »Viele hatten Angst, der Angst und des Misstrauens geherrscht, dert Belege.
wenn sie persönlich nicht gut zu Knabe was durch Knabes Führungsverhalten ge- Am 26. April 2018 stellt er Strafanzeige
stehen, in der Gedenkstättenszene nicht prägt worden sei. Dazu gehörten »bewusst gegen unbekannt bei der Staatsanwalt-
erfolgreich sein zu können«, sagt Feest. geschürte Intrigen, Misstrauen und geziel- schaft, sie soll nun ermitteln, was vorge-
Feests Schilderungen werfen die Frage te Demütigungen von Mitarbeiterinnen fallen ist. Vertraute Knabes sagen, so habe
auf, ob die Kulturbehörde nicht früher und Mitarbeitern«. Knabe bestreitet dies. er klären wollen, was passiert ist, angeb-
hätte eingreifen können. Aktenkundig ist, Mehrfach hat er in der Vergangenheit auf lich fürchtete er eine Intrige. Drei Monate
dass sich bereits im Oktober 2014 eine jun- das gute Betriebsklima hingewiesen, das später stellt die Staatsanwaltschaft die Er-
ge Frau bei der Verwaltung gemeldet und in seinem Haus geherrscht habe. mittlungen ein. Die geschilderten Übergrif-
von angeblichen Belästigungen Frauendor- Die Kulturbehörde vertraut 2017 so weit fe seien strafrechtlich nicht relevant. Dass
fers berichtet hatte. Unter dem Siegel der darauf, dass sie wieder eine Volontärin das Strafrecht womöglich nicht das rechte
Vertraulichkeit allerdings, weshalb die nach Hohenschönhausen schickt, mit der und auch nicht das einzige Mittel ist, um
Frauenvertreterin der Behörde die Infor- Auflage, sie nicht der direkten Aufsicht mögliche Belästigungen am Arbeitsplatz
mationen zunächst nicht weitergab. Frauendorfers zu unterstellen. Die Behör- zu ahnden, scheint Knabe nicht in den
de hat nach der Wahl des rot-rot-grünen Sinn zu kommen.
Aber hätte es nicht Wege gegeben, in Senats einen neuen Chef: Klaus Lederer. Am 11. Juni berichtet Klaus Lederer im
der Gedenkstätte genauer hinzuschauen? Im Dezember offenbart sich die Volon- Stiftungsrat der Gedenkstätte über die neu-
Zu dieser Zeit verließen immer wieder Mit- tärin bei der Frauenvertreterin der Senats- en Belästigungsvorwürfe. Das Gremium
arbeiter die Gedenkstätte. Ein langjähriger verwaltung. Auch sie berichtet von An- beschließt, Knabe mit einem Präventions-
Referent dort sagt: »Im Nachhinein kann näherungsversuchen des Vizedirektors. Die konzept zu beauftragen. Noch also soll es
ich mir die hohe Fluktuation gerade von Behörde zieht die Frau aus der Gedenk- mit ihm gehen. Zu diesem Zeitpunkt wis-
Mitarbeiterinnen erklären. Wir Referenten stätte ab. Es gebe Anhaltspunkte, dass es sen die Stiftungsräte nicht, dass sie am
haben durchaus unsere Witzchen darüber um »analoge« Vorfälle wie vor zwei Jah- nächsten Morgen vor einem weitaus grö-
gemacht, und dafür schäme ich mich heute ren gehe, teilt die Senatsverwaltung am ßeren Problem stehen werden.
sehr. Wir hätten Gerüchten mehr Aufmerk- 29. Januar dem Gedenkstättenleiter mit. Die Kulturbehörde erhält am 12. Juni
samkeit schenken sollen.« Knabe schreibt der Behörde ausführlich einen vertraulichen Brief. Sechs Frauen
Ein anderer männlicher Mitarbeiter, und zeigt sich verwundert über deren beschweren sich über »sexuelle Belästi-
der jahrelang als studentische Hilfskraft in Brief, in dem plötzlich von Volontärinnen gung«, »fast intime körperliche Nähe«,
Hohenschönhausen arbeitete und anonym die Rede sei, die sich 2016 beschwert hät- »Berichte über private Aktivitäten wie Puff
bleiben möchte, erinnert sich daran, dass ten, obwohl es doch nur eine gewesen sei. und Swinger-Club«. Sie nennen keine ein-
er und andere junge Mitarbeiter die neuen Auch sei ihm gegenüber nie nachgewiesen zelnen Namen, sondern sprechen von ei-
Praktikantinnen und Volontärinnen vor worden, dass damals tatsächlich eine se- nem »strukturellen Sexismus aus der Füh-
Frauendorfer gewarnt hätten. Hubertus xuelle Belästigung stattgefunden habe. Er rungsetage« der Gedenkstätte.
Knabe hingegen habe nicht den Eindruck zeigt sich befremdet, dass die neue Volon- Das ist der #MeToo-Teil der Anklage,
gemacht, dass man ihn mit solchen Anlie- über den die Medien viel berichten. Die
gen behelligen sollte. »Er war an Proble- Kritik der Frauen geht tiefer: Sie prangern
men und Details nicht sonderlich interes- »gering strukturierte Arbeitsorganisation«
siert. Er wollte nur, dass der Laden läuft.« Das Gremium beschließt, und »maximale Arbeitsbelastung« an.
Andreas Mix war vom 1. Januar bis 30. Knabe mit einem Die Kulturbehörde lädt die Frauen zwei
September 2015 bei der Stiftung als Leiter
der Abteilung Forschung und Ausstellun-
Präventionsprogramm Tage später zu einem Gespräch. Einige tun
sich schwer, von ihren Erlebnissen zu be-
gen beschäftigt. Seinen zweijährigen Ar- zu beauftragen. richten. Alle beharren darauf, in der Öf-

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Deutschland

fentlichkeit nicht namentlich genannt zu hat: »Belästigung am Arbeits-


werden. Die Sitzung dauert lange. Noch platz ist ein absolutes No-
in der Nacht ruft Lederer Grütters an und Go«, heißt es. Die Gedenk-
informiert sie. stätte prüfe Sexismusvorwür-
Später melden sich zwei weitere Frauen fe. Er sei entsetzt darüber,
in der Behörde und erheben ähnliche Vor- dass sich Mitarbeiterinnen
würfe gegen Frauendorfer. von seinem Stellvertreter
Die Erfahrungen der acht Betroffenen bedrängt gefühlt hätten,
sind auf 18 Seiten festgehalten, die in den schreibt Knabe.
Wochen darauf eine Anwältin zusammen- Inzwischen kursieren E-

KAI-UWE HEINRICH / TAGESSPIEGEL / IMAGO


stellt. »Er machte ferner Bemerkungen wie Mails, wonach Frauen be-
die Betonung seiner Vorliebe für das ›Rei- haupten, Knabe selbst habe
ten ohne Sattel‹.« – »Im Büroalltag stän- Grenzen verletzt. Die Vor-
dige unerwünschte körperliche Berührun- würfe sind reichlich diffus, ei-
gen wie Tippen und Tätscheln auf den nige Mitarbeiter sind darüber
Oberschenkel.« – »... drückte Herr Frau- verwundert. Die Anschuldi-
endorfer ihr Gesicht an seinen Bauch ober- gungen passen nicht zu dem
halb seines Gürtels.« – Nächtliche SMS: Chef, den sie bislang als eher
»Ich hätte Sie gern umarmt.« – »So erzähl- distanziert erlebt haben.
te er wiederholt zwei Geschichten: Bei der Es wird von einer Lauf-
einen badete er nackt im Orankesee und Berliner Kultursenator Lederer gruppe von Mitarbeitern der
wurde von der Polizei aufgegriffen. Bei Vertraulicher Brief von sechs Frauen Gedenkstätte berichtet. Dort
der anderen hatte er sich nackt aus der soll sich Knabe Frauen mit
Wohnung ausgesperrt.« – »So gut ich Es war auch bekannt, dass Knabe von nacktem Oberkörper gezeigt haben. Wo-
kann, werde ich Ihre Wünsche erfüllen. sich aus Journalisten auf die Stasivergan- möglich gibt es dafür einen banalen Grund:
Selbst wenn es mich schmerzen wird, genheit linker Politiker hinwies und ihnen Zum Joggen musste der Direktor sein
wenn Sie nicht in meiner Nähe sind.« Material zukommen ließ. Auf diese Weise Hemd aus- und ein T-Shirt anziehen. Kna-
Die meisten der Vorfälle betreffen die holte den linken Berliner Bau-Staatssekre- be soll außerdem zu einer Frau sinngemäß
Zeit vor März 2016, also bevor Gedenk- tär Andrej Holm die Vergangenheit als gesagt haben, er würde sie gern am Zopf
stättenleiter Knabe seinen Vize ermahnte. hauptamtlicher Stasimitarbeiter ein. Holm ziehen. Kolportiert werden auch Zitate
Mindestens zwei Frauen berichten aber musste nach wenigen Wochen im Amt zu- wie: »Wie war Ihre Nacht?« oder »Sie se-
auch von angeblichen Belästigungen nach rücktreten. Knabes Agieren wurde kriti- hen aus wie ein Rennpferd, das lange nicht
diesem Zeitpunkt. siert, blieb für ihn jedoch folgenlos. geritten worden ist«.
Nun aber hat es ihn getroffen. Und er Die Kulturbehörde sagt, diese Vorwürfe
Am 6. August besucht Klaus Lederer den muss erleben, dass ihm wenige politische habe sie noch nicht aufklären können. Sie
Gedenkstättenleiter und informiert ihn Freunde zu Hilfe kommen. Selbst auf die seien nicht der Grund für die Kündigung.
über die neuen Vorwürfe. Knabes Vize CDU, die ihn jahrzehntelang unterstützte, Knabe selbst hat bis Redaktionsschluss
Frauendorfer wird zweimal angehört, kann er nur noch bedingt hoffen: Zu Hel- nicht auf die Fragen geantwortet, die ihm
zunächst mündlich am 9. August, einen mut Kohls Zeiten gehörten Herrenwitze der SPIEGEL zu den Vorwürfen gestellt hat.
Monat später schriftlich. Als kurze Zeit zum guten Ton in der Union. Monika Grüt- Monika Grütters will nun eine unabhän-
danach der Sender RBB über die Affäre ters hingegen gehört zur Generation Mer- gige Findungskommission für seine Nach-
berichtet, teilt Frauendorfers Rechtsanwalt kel. Die #MeToo-Bewegung, so heißt es, folge einrichten, in der weder das Kanz-
in ungewöhnlicher Offenheit mit, die Vor- finde sie wichtig. leramt noch die Berliner Kulturbehörde
würfe seien »zum Teil wirklich berechtigt«. Manche meinen, Knabe sei schlicht zu vertreten sind. So will sie Kritik entkräften,
Sein Mandant habe es an der erforder- arrogant aufgetreten. Schwerer wiegt ein linker Kultursenator könne jemanden,
lichen »Sensibilität im Umgang mit Kolle- wohl, dass er offenbar bis zum Schluss der das DDR-Unrecht verharmlost, zum
ginnen« fehlen lassen. Er widerspricht al- nicht den Eindruck vermittelte, im Hause Leiter der Gedenkstätte berufen. Die
lerdings mehreren Schilderungen, etwa etwas grundsätzlich ändern zu wollen. Staatsministerin will damit, pünktlich zum
dass Frauendorfer eine Mitarbeiterin ge- Am 14. September, einem Freitag, trifft Berliner CDU-Parteitag am Wochenende,
drängt habe, bei ihm zu übernachten. Am Knabe am Rande des 18. Potsdamer Ge- ein »Vertrauenssignal an die Opfer der
24. September wird Frauendorfer von sprächs zur Kulturpolitik der Konrad- SED-Diktatur und an die Gruppe der Ex-
Knabe beurlaubt. Adenauer-Stiftung zufällig Monika Grüt- perten senden, die an der Aufarbeitung
Vielleicht denkt Knabe da, dass die ters. Sie sprechen auch über die Vorwürfe der SED-Diktatur beteiligt sind«. Bis die
Sache damit geklärt ist. Er hat schon mehr gegen Frauendorfer. Grütters verlässt die Nachfolge geregelt ist, betreut Marianne
Krisen durchgestanden. Die rot-grüne Re- Veranstaltung mit dem Eindruck, Knabe Birthler, die ehemalige Leiterin der Stasi-
gierung unter Gerhard Schröder ließ einst habe den Ernst der Situation nicht erkannt. Unterlagenbehörde, die Gedenkstätte als
ein Gedenkstättenkonzept zur SED-Dik- Am 20. September gibt die Gedenkstät- Beraterin.
tatur erarbeiten, in dem Knabe wohl keine te eine Pressemitteilung heraus, die Knabe Wie lange er es in der Gedenkstätte
führende Rolle mehr gespielt hätte. Dann nicht mit der Kulturbehörde abgestimmt noch aushalte, wurde Knabe vor vielen
wurde Rot-Grün abgewählt, und die Pläne Jahren einmal gefragt. »Ich kann da erst
gingen ins Archiv. Ständige Kritik an sei- weggehen, wenn ein anderer kommt«, hat
nem Museumskonzept, dass er zu sehr auf er damals geantwortet. »Aber den sehe
Schockmomente setze, die DDR zu ein- Frauen behaupten, ich nicht.« Hubertus Knabe hat rechtliche
dimensional darstelle, saß er aus. Er argu- Knabe habe Grenzen Schritte gegen seine Entlassung eingeleitet.
mentierte mit steigenden Besucherzahlen.
Mehr als 400 000 kommen jedes Jahr
verletzt. Die Vorwürfe Martin Knobbe, Ann-Katrin Müller,
Sven Röbel, Klaus Wiegrefe
nach Hohenschönhausen. sind reichlich diffus.
46 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018
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16 TAUSEND
ZIELEINFAHRTEN.
TÄGLICH.
WERDE EINER VON UNS!
Wir alle machen uns auf den Weg. Wir
fahren, wir fliegen, wir laufen. Wir brechen
die Rekorde, die wir selbst aufgestellt haben.
Wir alle tragen das Gelbe Trikot. Gemeinsam
bestreiten wir die größte Tour der Welt.
Jeden Tag.

werde-einer-von-uns.de
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Deutschland

Beten für Babys


Familie Die Bewegung selbst ernannter Lebensschützer gewinnt in Deutschland immer
mehr Anhänger. Viele Ärzte wollen keine Abtreibungen mehr vornehmen.

BJÖRN KIEZMANN / ACTION PRESS


Aktivisten bei »Marsch für das Leben« in Berlin: Die radikale Rechte nimmt sich des Themas an

A
uf einem schmalen Bürgersteig in Stimmung gegen Beratungsstellen für internationalen »Pro Life«-Bewegung, die
Pforzheim stehen vier Frauen Schwangere und gegen Gynäkologen, die sich von den USA aus zunehmend auch
und beten. Sie tragen Schilder um Abbrüche vornehmen. in Europa ausbreitet.
den Hals. Auf einem schwimmt In München stellte sich der Verein »Hel- Für sie wird bei einem Schwanger-
ein Fötus in Fruchtwasser. »Ich will leben«, fer für Gottes kostbare Kinder« in den ver- schaftsabbruch ein Kind getötet, denn das
steht auf einem anderen. Auf der anderen gangenen Jahren immer wieder zur »Geh- Leben beginne mit der Verschmelzung
Seite der Straße befindet sich eine Bera- steigberatung« vor eine Abtreibungsklinik, von Ei- und Samenzelle. Laut Statisti-
tungsstelle des Vereins Pro Familia. Hier um Frauen vor dem Eingriff noch in letzter schem Bundesamt ist die Zahl der Schwan-
suchen Schwangere Rat, die eine Abtrei- Minute umzustimmen. In Köln rollten Ab- gerschaftsabbrüche von 2010 bis 2016 ste-
bung erwägen. treibungsgegner kürzlich im Schaufenster tig gesunken, nur im vergangenen Jahr
»40 Tage für das Leben« nennt sich die einer Buchhandlung ein Plakat aus. »Ab- wurden mit 101 000 Abbrüchen wieder et-
Initiative von Abtreibungsgegnern, die fast treiben macht frei« stand darauf, gestaltet was mehr gemeldet als im Jahr zuvor.
sechs Wochen lang täglich vor der Einrich- wie der Schriftzug »Arbeit macht frei« am Trotzdem zieht das radikale Postulat der
tung betet, um die Frauen von dem Eingriff Konzentrationslager Auschwitz. Lebensschützer zunehmend auch Men-
abzuhalten. Eine »emotionale Zumutung« Ein Kind abtreiben zu lassen sei »wie schen aus der Mitte der Gesellschaft an.
sei das für Betroffene, findet Britta Gott- einen Auftragsmörder zu mieten«, erklärte Neben Mönchen in dunklen Kutten mar-
wald, Leiterin der Beratungsstelle. »Die der Papst diese Woche. In Deutschland schieren einmal im Jahr junge Familien
Frauen befinden sich ohnehin in einem widmen sich aber nicht nur radikale Chris- mit Kinderwagen, Jugendliche und etliche
Ausnahmezustand, der häufig von Angst- ten dem, was sie »Lebensschutz« nennen. Rentner bei einem »Marsch für das Leben«
und Schamgefühlen begleitet wird.« Auch Juristen- und Ärztevereine oder die durch Berlin. Über einen Verein namens
Gottwalds Arbeit ist schwieriger gewor- überkonfessionelle Aktion Lebensrecht Christdemokraten für das Leben haben
den. Abtreibungsgegner machen verstärkt für Alle (ALfA) sehen sich als Teil einer die Lebensschützer zudem beste Bezie-

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hungen in die Unionsparteien hinein, Bun- darüber zu streiten, ob das 1933 eingeführ- Sie könne niemandem, »auch nieman-
destags- und Europaabgeordnete sind Mit- te Werbeverbot noch zeitgemäß ist. Die dem aus der AfD«, verbieten, bei dem
glieder. Auch die radikale Rechte nimmt SPD will die Regelung kippen, die Union überparteilichen Marsch mitzugehen, sagt
sich des Themas an. nicht daran rühren. Die Debatte wurde bis die BVL-Vorsitzende Linder. »Aber wenn
Frauenrechtler sehen eine zentrale Er- auf die Zeit nach den anstehenden Land- uns jemand als rechts bezeichnet, kann ich
rungenschaft der Emanzipation in Gefahr: tagswahlen vertagt, sie hat das Potenzial, nur sagen: Wohin gehen denn zum Bei-
das Recht der Frau, selbst über ihren Kör- die Große Koalition zu sprengen. spiel die schwangeren Afghaninnen, wenn
per zu bestimmen. Denn in Deutschland Und sie hat der Lebensschutzbewegung sie nicht mehr weiterwissen? Die kommen
gilt seit fast einem Vierteljahrhundert ein neuen Zulauf beschert. Das versichert zu- auch zu uns, und natürlich helfen wir ih-
mühsam errungener Kompromiss: Laut mindest Alexandra Linder. Die 52-jährige nen genauso wie allen anderen.«
Paragraf 218 Strafgesetzbuch sind Schwan- Übersetzerin ist eine Schlüsselfigur in der Lebensschützer würden mental »in die
gerschaftsabbrüche zwar verboten, sie blei- Szene: Sie ist Vorsitzende der ALfA sowie Ecke der Gewalt geschoben«, wettert der
ben aber in den ersten zwölf Wochen straf- des Bundesverbands Lebensrecht (BVL), Publizist Jürgen Liminski, zehnfacher Va-
frei, wenn die Frau zu einer Beratung geht. zu dem 13 Vereine und Initiativen mit rund ter und regelmäßiger Autor der rechtskon-
Nach langer Debatte hatte der Bundestag 20 000 Mitgliedern gehören. servativen »Jungen Freiheit«. Frauen, die
die Regelung 1995 mit fraktionsübergrei- Linder, Mutter von drei Kindern, hat abtrieben, würden »als Opfer, als Heldin-
fender Mehrheit beschlossen. eine 24-Stunden-Hotline für Schwangere nen des Alltags dargestellt«, sagt er. Wer
Die Zahl der Praxen und Kliniken, die gegründet und Material mitgestaltet, mit sich für das Leben und »für die Lebens-
einen Schwangerschaftsabbruch vorneh- dem Referenten der ALfA in Schulen ge- form Familie als Vater, Mutter, Kind« ein-
men, ist aber seit 2003 um 40 Prozent hen. Um »vollständige Aufklärung« zu be- setze, gelte als »ultrakonservativ und
zurückgegangen. Mancherorts müssen treiben, wie sie sagt. demokratiefeindlich«. Eine »willkürliche
Frauen 150 Kilometer fahren, um einen Eine Frau, die die Hotline der Lebens- Behauptung«, wie er findet.
Mediziner für den Eingriff zu finden. Mit schützer anruft, landet bei einer sanften, Holm Schneider ist stellvertretender
verantwortlich dafür sei die Lebensschutz- hellen Stimme. Sie hat etliche Hilfsange- Vorsitzender der ALfA und Professor an
bewegung, sagen Ärztevertreter. Vieler- bote für ein Leben mit Kind parat. Nach der Uniklinik in Erlangen. Der Facharzt
orts seien Mediziner, die Abtreibungen einer Abtreibung gefragt, schildert sie die für Kinderheilkunde leitet dort die Abtei-
durchführen, »intensiven Belästigungen« möglichen Folgen eines solchen Eingriffs lung für »Molekulare Pädiatrie«, in der
ausgesetzt, sagt Christian Albring, Präsi- in den düstersten Farben. Entzündungen, Erbkrankheiten erforscht werden. Er gilt
dent des Berufsverbands der Frauenärzte. als Koryphäe auf seinem Fachgebiet. Kürz-
Auch in Frankfurt beten Lebensschützer lich fand sein Team als erstes weltweit
derzeit täglich vor einer Beratungsstelle. Nach einer Abtreibung einen Therapieansatz für eine verhängnis-
»In unserer Gesellschaft zählt nur eins: ich,
ich, ich«, sagt einer. »Wenn ich mich nicht
könne eine Folge- volle Krankheit, bei der Betroffene kaum
kleine Schweißdrüsen ausbilden. Hitze ist
um das Baby kümmern kann, weg damit. erscheinung »lesbische für sie lebensgefährlich.
Wenn es behindert sein wird, weg damit.« Tendenzen« sein. Dass Schwangerschaften mit behinder-
Ein anderer erklärt, wer abtreibe, brin- ten Kindern immer häufiger abgebrochen
ge einen Menschen um. »In Deutschland werden, findet Schneider »unerträglich«.
passiert das zu leichtfertig, hier wird der Unfruchtbarkeit, spätere Fehlgeburten, Am Anfang seiner Karriere sei er einmal
Babycaust betrieben.« »und wenn man das Kind aus sich heraus- dabei gewesen, als ein Kollege eine Ultra-
Den Vergleich mit dem Holocaust be- kommen sieht, bereuen viele den Schritt«. schalluntersuchung bei einer Schwangeren
mühen militante Lebensschützer oft. Die Lebensschützer sind fest davon durchführte. »Der wurde auf einmal still.
Babykaust.de nennt auch ein gelernter überzeugt, dass kaum eine Frau freiwillig Das Schweigen wurde eisig.« Als die Frau
Industriekaufmann eine Website. Fotos abtreibt. Viele Frauen litten danach schwer, fragte, was er sehe, habe er geantwortet:
von zerstückelten Embryonen sind dort heißt es auch auf der Website einer Initia- »Eine Katastrophe.«
zu sehen. Auf einer anderen Seite listet er tive namens Rahel e.V. In so einer Situation könne »ein einziges
Ärzte und Kliniken auf, die Schwanger- Völlig ernsthaft werden dort neben einem Wort schon ein Todesurteil bedeuten«.
schaftsabbrüche vornehmen. Die meisten Sammelsurium an körperlichen Beschwer- Bei den Lebensschützern sieht Schnei-
mit vollständiger Adresse. Es ist ein digi- den »Frigidität«, »sexuelle Verweigerung« der »Leute, die Schwangere in einer Not-
taler Pranger. und »lesbische Tendenzen« als mögliche lage nicht allein lassen«. Auch ihm hätten
Der Mann, der dafür verantwortlich ist, Folgeerscheinungen genannt. manche Vorträge beim Marsch für das Le-
heißt Klaus Günter Annen und stellt regel- Eike Sanders vom antifaschistischen ben nicht gefallen. »Aber das gibt es, denke
mäßig Strafanzeigen gegen Gynäkologen, Pressearchiv apabiz in Berlin hat mit zwei ich, in jeder emotional aufgeladenen De-
die auf ihrer Website über Schwanger- Kollegen Dokumente und Reden von Le- batte, da sollte man manche Formulierun-
schaftsabbrüche informieren. Denn laut bensschützern gesammelt. »Die Bewe- gen einfach nicht auf die Goldwaage legen.«
Paragraf 219a Strafgesetzbuch ist Werbung gung eint ein weit über das Abtreibungs- Markus Dröge, Bischof der evangeli-
für Abtreibungen verboten. Für die Le- thema hinausgehendes, konservatives bis schen Kirche in Berlin und Brandenburg,
bensschützer fällt schon der Halbsatz auf extrem rechtes Weltbild«, lautet ihr Fazit. sind die Lebensschützer dagegen zu radi-
einer Website darunter, dass ein solcher Mehrere Jahre marschierte die AfD- kal geworden. Vor einigen Jahren ent-
Eingriff in einer Arztpraxis möglich ist. In Frontfrau Beatrix von Storch ganz vorn schied er, keine Grußworte mehr für den
Kassel stehen deshalb zwei Gynäkologin- beim Marsch für das Leben mit. Dieses Marsch für das Leben zu schreiben. »Dort
nen demnächst vor Gericht. Jahr machten die »Christen in der AfD« werden zwar die richtigen Fragen gestellt«,
In Gießen wurde eine Ärztin vergange- für den Marsch mobil. »Wir grüßen alle sagt er. Die Probleme würden aber »mora-
nes Jahr erstinstanzlich zu 6000 Euro Teilnehmer«, schrieben sie auf ihrer Face- lisch extrem zugespitzt«, das helfe »in
Geldstrafe verurteilt, weil sie Downloads book-Seite. »Bleibt standhaft!« Genau wie dieser komplizierten ethischen Debatte
zum Ablauf einer Abtreibung bereitstellte. der BVL forderte auch die AfD 2017 in ih- niemandem weiter«.
Der Fall wirkte wie ein Fanal: Wenig spä- rem Wahlprogramm eine »Willkommens- Elisa von Hof, Anne Seith
ter fing die Regierung in Berlin an, erbittert kultur« für Kinder.

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 49


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DAVID KLAMMER / LAIF


Gedenkstätte für verunglückten Journalisten: »Wir schützen hier doch nur Bäume«

Spitze Schreie
schule für Medien in Köln. Er begleitete
die Aktivisten seit Längerem mit seiner
Kamera, veröffentlichte davon Videos auf
YouTube und Twitter. Einen Tag vor sei-
Hambacher Forst Während der Räumung des Waldes stürzte ein nem Unfall nahm er ein Video von sich
auf, er stand rund 25 Meter über dem
Mann zu Tode – bei der Aufarbeitung des Falls verbreitet Waldboden vor einem Baumhaus. Es habe
der Innenminister in Düsseldorf offenbar Halbwahrheiten. sich herausgestellt, sagte Meyn, dass es
»für die Presse schwierig war, die Räu-
mungsarbeiten vernünftig zu begleiten«,

E s gibt im Hambacher Wald einen Ort,


der trotz der Räumaktion bleiben
durfte, wie er ist. Es ist die Gedenk-
stätte für Steffen Meyn, der in der Baum-
Jahren im Wald, in selbst gezimmerten
Baumhäusern.
Anfang September entschied die nord-
rhein-westfälische Landesregierung, den
die Polizei habe alles abgesperrt. Jetzt sei
er »auf den Bäumen, um das Ganze von
oben zu begleiten«.
Am Nachmittag des 19. September stürz-
haussiedlung namens Beechtown zu Tode Wald räumen zu lassen. Tausende Polizis- te Meyn von einer rund 15 Meter hohen
stürzte. An der Buche, neben der er starb, ten waren im Einsatz, sie zerstörten 86 Holzbrücke, die zwischen zwei Baumhäu-
hängt ein Foto von ihm, auf dem Boden Baumhäuser, nahmen 144 Personen vor- sern gebaut worden war. Sanitäter versuch-
liegen Blumen, es brennen Kerzen. läufig fest. Es gab üble Szenen, verletzte ten, ihn zu reanimieren, doch Meyn starb
Dazwischen findet man Briefe und Bot- Polizisten und Aktivisten und den tödli- noch im Wald.
schaften auf Schildern. Sie wurden vermut- chen Sturz von Steffen Meyn. Ende September berichtete Innenminis-
lich von den Aktivisten geschrieben, mit Vorige Woche war der Großeinsatz ab- ter Herbert Reul (CDU) dem Landtag von
denen sich Meyn in den vergangenen Wo- geschlossen. RWE hätte jetzt mit der Ro- dem Vorfall. Meyn habe zwar einen Klet-
chen angefreundet hatte. dung beginnen können. Dann, am Freitag, tergurt getragen, sagte Reul, sei aber nicht
»Wir werden weiter kämpfen«, steht da. beschloss das Oberverwaltungsgericht in gesichert gewesen. Teile der Brücke seien
Und »Mit dir in unserem Herzen halten Münster: Bis geklärt ist, ob der Hamba- unter ihm ausgebrochen. »Den Sturz«,
wir durch«. In einem Brief ist von den cher Forst nach EU-Recht ein schützens- sagte Reul, »verantwortet der, der diese
»drei Lügen (mindestens)« der Polizei und werter Wald ist, müssen die Bäume stehen Brücke gebaut hat.« Polizisten seien nicht
der Politik die Rede. Die Gedenkstätte für bleiben. Ein Sieg für die Umweltschützer. beteiligt gewesen.
Steffen Meyn ist für manche auch ein Ort Jetzt stellt sich die Frage, ob der auf- Dann zitierte Reul aus einem Vermerk
der Abrechnung. wendige Polizeieinsatz nötig war und wer der Polizei, der ihm vorliege. Demnach
Im Hambacher Forst wurde zuletzt ein dafür die Verantwortung trägt. Schließlich hätten einige Aktivisten nach dem Sturz
Grundsatzstreit ausgetragen: um die Be- hätte die Landesregierung den Gerichts- Schmähgesänge angestimmt.
kämpfung des Klimawandels und die Zu- beschluss auch noch abwarten können. »Sie müssen sich vorstellen«, berichtete
kunft der Kohle. Der Energiekonzern RWE, Und es geht darum, wie Meyn ums Leben Reul den Parlamentariern, »unten wird
dem das Wäldchen zwischen Aachen und kam. Der Umgang mit seinem Tod zeigt, der Verunfallte reanimiert, oben auf dem
Köln gehört, wollte es für seinen angren- mit welch zweifelhaften Methoden der Baumhaus stehen Menschen und skandie-
zenden Braunkohletagebau roden. Knapp Streit um den Wald ausgefochten wird. ren: ›Scheiß drauf, Räumung ist nur einmal
200 Umweltaktivisten versuchten, das zu Meyn, 27, war ein freier Journalist aus im Jahr!‹ Dies wiederholten sie mehrfach.
verhindern. Manche von ihnen lebten seit Leverkusen, er studierte an der Kunsthoch- Da die dort eingesetzten Polizeibeamten

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Deutschland

sicher waren, dass diese Personen um das tivisten, sie fragten, ob sie an diesem Tag Kurz vor der Räumung lud Reul ausge-
Geschehen und die lebensbedrohliche Si- noch geräumt werden. Wir antworteten wählte Medien ins Ministerium ein, er prä-
tuation des Verunfallten wussten, spra- ihnen nicht, also sangen sie: ›Scheiß drauf, sentierte Waffen, die im Hambacher Forst
chen sie die Personen an, dass ihr Verhal- Räumung ist nur einmal im Jahr!‹ Das be- sichergestellt worden waren: Macheten,
ten unfassbar sei. Hierauf reagierten diese zog sich auf ihre Situation, keinesfalls auf Säbel, Rauchgranaten. Wann welche Waf-
jedoch nicht.« den abgestürzten Journalisten, sie wollten fe beschlagnahmt wurde, teilte man wohl
Der Innenminister erweckte den Ein- ihn nicht verhöhnen. Wir haben sie wegen bewusst nicht mit. Dem SPIEGEL liegt da-
druck, die Aktivisten hätten einen Men- des Gesangs auch nicht zur Rede gestellt, zu die Antwort der Landesregierung auf
schen verhöhnt, der im Sterben liegt. Da- wir haben nicht darauf reagiert.« eine Anfrage der Grünenfraktion vor:
ran gibt es aber Zweifel. Demnach standen die Gesänge in einem Demnach wurden 25 der 28 gezeigten Waf-
Dem SPIEGEL liegt ein Video vor, das anderen Zusammenhang, als von Reul be- fen schon im April 2016 gefunden.
den Sturz Meyns zeigt und die Minuten hauptet. Und sie fanden an einem anderen Reul präsentierte also zweieinhalb Jah-
davor und danach. Man sieht zu Beginn Ort statt. Zwischen Cozytown und Beech- re alte Funde. Um Gewaltbereitschaft der
drei Polizisten auf einem Hubsteiger in der town liegen rund 150 Meter, Laub ver- Aktivisten nahezulegen? Er behauptete
Baumhaussiedlung Beechtown. Sie ver- deckt die Sicht zwischen den Siedlungen. auch, dass der Wald linksextreme Ge-
suchen, einen Aktivisten festzunehmen, Gut möglich, dass die skandierenden Ak- walttäter aus Frankreich, Großbritannien,
der durch einen Baum klettert, als plötz- tivisten gar nicht mitbekamen, dass Meyn Polen, Dänemark, den Niederlanden und
lich ein lautes Krachen zu hören ist. Die um sein Leben rang. der Schweiz anziehe. Man erwarte Sze-
Kamera schwenkt nach links, man sieht, War die Darstellung des Innenministers nen wie beim G-20-Gipfel 2017 in Ham-
wie Meyn stürzt. ein Versehen? Oder Absicht, um Stimmung burg, hieß es.
Mehrere Höhenretter, die nicht an der zu machen gegen die Aktivisten? Laut Aachener Polizei sei man im Ver-
Räumung beteiligt waren, haben das Vi- Das Innenministerium räumt auf An- lauf der Räumung durchaus auf Aktivisten
deo analysiert. Der Abstand zwischen frage ein, dass die Worte »Scheiß drauf ...« aus dem Ausland gestoßen, man habe Per-
Polizeieinsatz und Unglücksort habe rund nicht von Personen aus einem Baumhaus sonalien von Belgiern, Spaniern und US-
15 Meter betragen, sagen sie übereinstim- Amerikanern festgestellt. Schwere Straf-
mend. Die Polizei und das Innenministe- taten hätten diese Leute aber nicht began-
rium bestätigen, dass vor dem Absturz Ein- gen. Ein Polizist, der sich bestens im Wald
satzkräfte an einem benachbarten Baum auskennt, sagt: »Die Geschehnisse haben
agiert haben. sich in keiner Weise so entwickelt, wie es
Aktivisten berichteten nach dem Unfall, die politische Führung vorausgesehen hat.
dass Meyn den Einsatz habe filmen wollen Es hat keinen militanten Widerstand à la
und auf dem Weg dorthin gewesen sei, als G 20 gegeben.«
er durch die Brücke gebrochen sei. Dann Innenminister Reul rühmt sich gern für
wäre sein Sturz womöglich doch nicht völ- seine Null-Toleranz-Politik – durchgreifen,
lig losgelöst vom Handeln der Polizei. Die Regeln durchsetzen, so definiert er sein
KLAUS W. SCHMIDT / IMAGO

Staatsanwaltschaft Aachen ermittelt, gibt Amt. Man kann sich vorstellen, was er von
aber bislang keine Auskunft darüber, was Leuten hält, die in Baumhäusern leben
Meyn im Moment des Absturzes vermut- und protestieren.
lich vorgehabt habe. Die Untersuchung Das Innenministerium teilt mit, man
dauere an, teilt man mit. habe »aktuelle Erkenntnisse«, wonach
In den Minuten nach dem Unglück hört »weiterhin gewaltbereite extremistische
man im Video spitze Schreie. Sie kommen NRW-Minister Reul Akteure« die Waldbesetzung unterstützen.
wohl aus den Baumhäusern. »Ihr seid »Nicht so klug« Hinweise darauf, dass Aktivisten aus dem
Mörder«, brüllt eine Frau. Gemeint sind Ausland jüngst Straftaten verübten, liefert
die Polizisten. Jemand anderes ruft: »Wir die Behörde jedoch nicht.
schützen hier doch nur Bäume.« unmittelbar über der Unglücksstelle skan- Am vergangenen Wochenende demons-
Das Video endet nach acht Minuten. In diert worden seien. Reul sei während sei- trierten Zehntausende am Hambacher
dieser Zeit hat niemand »Scheiß drauf …« nes Berichts im Landtag »spontan von Forst gegen die Abholzung und den Braun-
gerufen. Die Bundestagsabgeordnete Ka- seinem Sprechzettel abgewichen«, teilt ein kohletagebau. Familien, Rentner, Studen-
thrin Vogler von der Linken war an jenem Ministeriumssprecher mit. Es handle sich ten aus ganz Deutschland kamen in das
Tag als parlamentarische Beobachterin »offenbar um ein Missverständnis«, das Wäldchen. Aus dem Anliegen weniger
im Wald. 30 Sekunden nach dem Sturz sei der Minister bedauere. »Es lag ihm jedoch Aktivisten ist eine Bürgerbewegung gewor-
sie am Unfallort gewesen, sagt sie. Vogler fern, das Geschehen zusätzlich zu drama- den. Was im Wald passierte, hat die Men-
habe weinende, betende Aktivisten be- tisieren.« schen im Protest zusammengeschweißt
obachtet. Schmähgesänge, wie von Reul Steffen Meyn ist vor allem deswegen und aufgebracht gegen die Politik.
beschrieben, habe sie nicht gehört. gestorben, weil er ungesichert über eine Der Rechtsstreit um die Rodung könnte
Der Vermerk, auf den sich der Innen- Holzbrücke ging, die unter ihm wegbrach. Jahre dauern. Zwischen den Eichen und
minister bezog, stammt von Beamten ei- Er musste wissen, dass es riskant ist, eine Buchen wird derweil schon wieder gehäm-
ner Hundertschaft aus Essen. Ein Polizist solche Brücke zu betreten. Aber einiges mert, Aktivisten bauen neue Baumhäuser,
der Einheit bestätigt zwar, dass Aktivisten deutet darauf hin, dass die Landesregie- es geht von vorn los.
an jenem Nachmittag den Gesang »Scheiß rung nach dem Unglück Halbwahrheiten Herbert Reul sagte kürzlich, dass er in
drauf« angestimmt hätten. Allerdings in in die Welt setzte, um die Frage nach der den Tagen der Räumung nicht im Hamba-
der Baumhaussiedlung Cozytown, nicht Schuld so weit wie möglich von sich zu cher Wald gewesen sei. Er könne dort »ver-
in Beechtown. schieben. Und es war wohl nicht das erste ständlicherweise nicht hingehen«, das
»Wir waren in Cozytown im Einsatz, als Mal, dass man es in Düsseldorf mit dem wäre »nicht so klug«. Zumindest damit hat
der Absturz passierte«, erzählt der Polizist. Geschehen im Hambacher Wald nicht so der Minister wohl recht. Lukas Eberle
»Im Baumhaus über uns waren gut 15 Ak- genau nahm.

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Deutschland

Zum
Erschüttert, weil er ihr nicht habe helfen
können, sei er nach Deutschland geflohen,
wo schon seit einiger Zeit sein Vater lebte.

Verzweifeln
Zwischendurch habe er zwei Jahre in der
Türkei arbeiten müssen, um sich die wei-
tere Flucht leisten zu können; er nahm den
Weg über Griechenland und Ungarn.
Behörden Fatale Fehlerkette: Da er in Ungarn Asyl beantragt hatte,
wurde im Sommer 2016 seine Abschie-
Ein Mann wird verwechselt und bung dorthin angeordnet. Vertrauten er-
kommt ins Gefängnis. Er stirbt zählte er, er sei im November abgeholt und
durch einen Brand in seiner Zelle. nach Ungarn gebracht worden. Das Bun- Asylbewerber Amad A., Amedy G.
desinnenministerium bestreitet die Ab- Keinerlei Ähnlichkeit
Wie konnte das passieren? schiebung zwar, doch Fakt ist, dass A. in
Ungarn war, womöglich im Gefängnis. mal in einer geschlossenen psychiatrischen

A mad A.s Weg in den Tod begann da-


mit, dass er an einem Badesee im
nordrhein-westfälischen Geldern
vier Frauen auf die Brüste schaute. Die
Erst im Februar 2017 wurde er wieder
nach Deutschland überstellt.
Jene Menschen, die ihn in den Monaten
darauf erlebten, beschreiben ihn als
Anstalt. Sein Körper, so beschreiben es
Ärzte, habe viele Spuren von Selbstver-
letzungen gezeigt. Freunde sagen, er habe
sich Zigarettenstummel auf den Armen
vier, so erzählten sie es der Polizei, hätten freundlich und hilfsbereit. Er sei aber auch ausgedrückt, Verbrennungsmale an den
sich durch seine Blicke regelrecht ausge- traumatisiert gewesen und beim Anblick Armen gehabt. Entlang der Bauchdecke
zogen gefühlt. A. habe Gesten gemacht, von Liebespaaren zutiefst deprimiert. Er habe er Narben einer Schnittwunde ge-
die Masturbationsbewegungen ähnelten. kiffte, trank bisweilen zu viel und hatte habt, dazu eine senkrechte Narbe im Brust-
Sie hätten den Mann angeschrien, aber er sich dann nicht mehr unter Kontrolle. Der bereich.
sei nicht verschwunden. Polizei fiel er wegen des Verdachts der Kör- Als die Polizisten Amad A. im Juli in
An diesem Julitag nahmen ihn Polizis- perverletzung und des Raubes auf. Geldern aufgriffen, hatte er keine Aus-
ten mit auf die Wache, später brachten sie Gegenüber Ärzten berichtete er von weisdokumente dabei. Auf der Wache
ihn ins Gefängnis. Er sollte nie wieder Selbstmordgedanken. Mediziner sprachen nahmen sie seine Fingerabdrücke und
einen Tag in Freiheit erleben. Am 29. Sep- von einer emotional instabilen Persönlich- stellten fest, dass ein Mann namens Amed
tember starb Amad A. im Bergmannsheil- keitsstörung. Er landete mindestens ein- A. gesucht wurde.
Klinikum in Bochum an Ihnen fiel nicht auf, dass
Brandverletzungen, die er der Name der beiden Perso-
bei einem Feuer in seiner Zel- nen nicht identisch, sondern
le in der Justizvollzugsanstalt nur ähnlich war. Und dass der
Kleve erlitten hatte. Es ist eine in Aleppo geboren war,
schlimm genug, dass in einer der andere in Timbuktu in
Zelle eines deutschen Ge- Mali. Auch der Rest passte
fängnisses ein Feuer aus- nicht zusammen: Der Name
bricht und einen Menschen von Amad A. war ursprüng-
tötet. Schon das darf nicht lich beim Bamf anders aus
passieren. dem Arabischen transkribiert
Doch im Fall Amad A. worden, sein Geburtsdatum
liegt noch viel mehr im Ar- in Wahrheit und in seinen Pa-
gen. Er saß unschuldig im Ge- pieren ein anderes als das des
fängnis. A. war nicht wegen gesuchten Täters. Das zeigen
des Vorfalls am See dort, son- Akten der beiden Männer,
dern weil ihn die Polizei in die dem SPIEGEL vorliegen.
Geldern mit einem anderen Vor allem aber waren die
Mann verwechselt hatte. Die- Personalien des eigentlich
ser hätte wegen eines Dieb- Gesuchten sogenannte Alias-
stahls ins Gefängnis gemusst. personalien. Laut Vorschrift
Von dem Tag am Badesee bis hätten die Polizisten nun ge-
zu seinem Tod ist der Um- nauer prüfen müssen, wen sie
gang der Behörden mit Amad wirklich vor sich haben, das
A. eine Kette von Ungereimt- unterließen sie aber, so viel
heiten, Versäumnissen und steht schon fest.
Verfehlungen. Der Mann, der gesucht
2016 war Amad A. in wurde, heißt in Wahrheit
MARKUS VAN OFERN / IMAGO

Deutschland angekommen. Amedy G. Ein Blick auf Fo-


In seinem Asylverfahren gab tos, die in den Akten liegen,
er an, er sei 2013 aus Angst hätte eine Verwechslung aus-
vor dem Krieg aus seiner sy- geschlossen: Amedy G. ist
rischen Heimatstadt Aleppo schwarz, hat ein breites, run-
geflohen. Vertrauten aber er- des Gesicht. Amad A. ist hell-
zählte er: Drei Islamisten hät- häutig und hat ein schmales
ten seine Verlobte vergewal- Brandschäden am Zellenfenster in Kleve Gesicht. Es gibt keinerlei
tigt, sie sei danach gestorben. Keinen Richter, keinen Anwalt Ähnlichkeit.

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Wenn es stimmt, was in den Datenban-


Flexibel bleiben: Lesen Sie den
ken der Behörden über Amedy G. ver-
zeichnet ist, reiste der schon vor einigen
Jahren nach Europa ein und wurde 2016
SPIEGEL, solange Sie möchten!
nach Italien abgeschoben. Dennoch hatte
die Staatsanwaltschaft Hamburg ihn zur
Fahndung ausgeschrieben, weil er eine
Restfreiheitsstrafe wegen Diebstahls absit-
zen musste.
Die Polizisten in Geldern nahmen also
einen Mann in Haft, der weder das gleiche
Geburtsdatum hatte noch den gleichen Ge-
burtsort und der nicht den gleichen Namen
trug wie der eigentlich Gesuchte. Er sah
dem anderen auch nicht ähnlich. Der tat-
sächlich Gesuchte hielt sich offiziell nicht
mehr in Deutschland auf und hatte die bei
der Polizei über ihn vermerkten Straftaten
begangen, bevor Amad A. in Deutschland
angekommen war.
Die Staatsanwaltschaft Hamburg ver-
fügte am 20. August, dass eine Anfrage zu
den Personalien gestellt werden solle. Die- Keine
se hätte die Verwechslung womöglich auf-
geklärt. Angeblich kam so etwas nie in Mindest-
Nordrhein-Westfalen an. Es ist unklar, ob
die Anfrage abgeschickt wurde.
laufzeit
Amad A. war inzwischen in die Justiz-
vollzugsanstalt Kleve verlegt worden, dort
versuchte er Anfang September im Ge-
spräch mit der Anstaltspsychologin, die
Verwechslung aufzuklären. Er sei nicht der
gesuchte Amedy G., er kenne ihn auch
nicht. Er wies sogar darauf hin, dass die
Straftaten, um die es gehe, begangen wur-
den, bevor er nach Deutschland kam. In
Hamburg sei er nie gewesen.
Die Psychologin vermerkte nach dem
Gespräch: A. habe »eine Menge kaum
nachvollziehbarer Angaben zur Person«
gemacht. Ansonsten schätze sie den Häft-
ling als nicht suizidgefährdet ein.
Amad A. blieb im Gefängnis, immerhin
mehr als zwei Monate lang, er sah keinen
Richter und keinen Anwalt. Bei seinem An-
walt Daniel Nierenz, der ihn im Asylverfah- Der SPIEGEL jede Woche frei Haus:
ren vertreten hatte, meldete er sich nie. Er
tat das sonst oft, auch wegen Kleinigkeiten. œıōğZĴťĴłœĿğĚğš
ğĴŭłŸōĚĒćš ŋĴŭĚğŋ>0eZekZ^V0(>
Am 17. September brach Feuer in der ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴō
ğŅıćōĚğŅ žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ
Zelle von A. aus. Die Brandursache ist bis SPIEGEL-Veranstaltungen
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
heute unklar. Wahrscheinlich hat er sein ſſſťŝĴğĬğŅŅĴžğĚğ
Bett aus Verzweiflung angezündet, so wie
er sich die vielen Verletzungen vorher
selbst zugefügt hat.
Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft
Kleve gegen mehrere Polizisten wegen des
Verdachts der Freiheitsberaubung. Es ist
gut möglich, dass weitere Beschuldigte hin-
Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen!
zukommen. Ich lese den SPIEGEL für nur € 4,80 pro Ausgabe statt € 5,10 im Einzelkauf
Die Verwechslung wurde aufgeklärt, als
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte.
die Staatsanwaltschaft Hamburg die An-
frage, die sie schon im August schicken
wollte, Ende September noch einmal sand-
te. Sie kam fünf Tage vor dem Tod von Einfach jetzt anfordern:
Amad A. in Kleve an. Er lag bereits im
Koma. Jörg Diehl, Fidelius Schmid abo.spiegel.de/flexibel
53
040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP18-215)
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Gesellschaft
Wäre Markus Söder ein Wal, dann wäre Valentin Walk Plankton. ‣ S. 56

Früher war alles schlechter


Nº 146: Haltbarkeit von Lebensmitteln

Am Anfang war das Steak. Die anderen Tiere haben es ja nicht zu jedes Lebensmittel in irgendeiner Weise prozessiert. Produ-
so mit dem Kochen. Ameisen züchten angeblich Pilze in ihren zenten und Industrie gelingt es damit immer besser, die Mikro-
Hügeln, Pumas hängen manchmal Fleischstücke in Bäume zum organismen, die Nahrungsmittel verderben, zu töten, die Vita-
Trocknen. Homo sapiens aber ist ein Ernährungskünstler. Er mine und andere erwünschte Stoffe aber zu erhalten. In der
züchtet, pflanzt, erntet, brät, backt und würzt dann mit Salz reichen Welt stehen heute also alle möglichen Nahrungsmittel
und Pfeffer. »Die Verarbeitung, Haltbarmachung und Lagerung unabhängig von Jahreszeit und Klima jederzeit zur Verfügung.
von Lebensmitteln«, sagt der Ernährungswissenschaftler Sascha Neue Technologien wie die Behandlung mit Ultraschall, Hoch-
Rohn, gehöre zu den »wichtigsten Entwicklungsleistungen der druck oder gepulsten elektrischen Feldern versprechen weitere
Menschheit«. Braten, Räuchern, Trocknen oder Pökeln waren Fortschritte. Unser Essen ist in den vergangenen Jahrzehnten
frühe Verfahren, um die Nahrung am Verfallen zu hindern, eine nicht nur nährstoffreicher, vielfältiger, ausgewogener, schmack-
entscheidende Kulturtechnik. Später kamen die Konservendose, hafter und länger haltbar geworden, es beansprucht auch immer
der Kühlschrank und andere Wunderdinge hinzu, schließlich weniger Arbeit in der Küche. Die Deutschen wenden pro Haus-
die Einhaltung einer Kühlkette bei Transport und Lagerung. In halt täglich 50 Minuten für die Zubereitung von Mahlzeiten auf,
der Gegenwart kann Essen manchen Leuten zwar nicht natür- sagt das Statistische Bundesamt. Das ist weniger, als sie pro Tag
lich und bio genug sein, doch in Wahrheit ist mittlerweile nahe- auf ihr Smartphone starren (75 Minuten). guido.mingels@spiegel.de

Genussmittel SPIEGEL: Heute pflanzen nur noch von zehn Tabakpflanzern haben aufge-
Rettet der Orient etwa hundert Bauern Tabak in Deutsch-
land an.
geben. Wir waren kurz davor, uns auf
Geflügel und Feldsalat zu konzentrieren.
den deutschen Tabak, Adam: Wir sind Exoten geworden. Die SPIEGEL: Was hat Sie gerettet?
Herr Adam? Subventionen der EU hörten auf. Zigarren
rauchten nur noch wenige, die »leichte
Adam: Die Wasserpfeife, die Shisha. Seit
fünf Jahren steigt die Nachfrage. Mehr als
Jochen Adam, 44, aus Neuried-Altenheim ist Zigarette« kam in Mode und der günstige 8o Prozent des deutschen Tabaks gehen
einer der größten Tabakbauern Deutschlands. Tabak aus Südamerika und China. Neun an Tabakverarbeiter für Wasserpfeifen.
Der Markt boomt. Wir liefern nach Ägyp-
SPIEGEL: Herr Adam, Sie gehören zu ten und Jordanien. Seitdem haben wir
einer seltenen Zunft. wieder eine Zukunft.
Adam: Ja, früher gab es mal 6000 von uns SPIEGEL: Der Orient hat die deutschen
in Deutschland, wir hatten Tabakkönige, Bauern gerettet?
an jedem Hof standen die hohen Tabak- Adam: Könnte man so sagen. Aber auch
scheunen. Als ich klein war, pflanzte jeder unsere vielen Erntehelfer. Erst waren es
»Badischen Geudertheimer«, so hieß Türken und Griechen, später Kosovo-
PATRICK SEEGER / DPA

die Tabaksorte für den Stumpen, also die Albaner, Slowaken, Polen, dann Rumänen
Zigarre. Eine wunderschöne Kultur- und Bulgaren, neuerdings auch Ukrainer.
pflanze ist das. Die stellt was dar im Feld, Nur Deutsche wollen die Arbeit nicht
sage ich Ihnen, blüht rot und weiß mit mehr machen, sie ist denen zu anstren-
ganz ausladenden Blättern. gend und zu gering bezahlt. JST

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nicht ihre Geburtstage feiern dürfen, weil es Gott nicht gefalle.


Eine Meldung und ihre Geschichte
Er las, dass die Zeugen Jehovas glauben, dass sie aus der

Endzeit
Endzeitschlacht Harmagedon als einzige Überlebende her-
vorgehen werden. Resch glaubt nicht an das Harmagedon,
er glaubt an das deutsche Patent- und Markenamt.
Im Internet prüfte er, ob die Zeugen Jehovas die Wortmarken
Wie sich ein katholischer Geschäftsmann an ihrer Magazine hatten schützen lassen. Er las, dass der »Wacht-
den Zeugen Jehovas rächte turm« eine Auflage von 70 Millionen Stück hat, mehr als jedes
andere Magazin der Welt. Aber Resch fand keine Markenein-
träge. Nichts. Vielleicht hatten sie es einfach vergessen?

T homas Resch saß auf seiner Terrasse und trank einen


Schluck kühlen Apfelsaft, als es an seiner Haustür
läutete. Resch, 47, ein dünner Mann mit gepflegter
Haut, hatte gerade seinen Rasen gemäht, 900 Quadratmeter
Zwei Stunden später hatte er zwei Anträge für den Schutz
der Namen »Erwachet« und »Wachtturm« ausgefüllt, auf ihn,
Thomas Resch. Er schickte die Anträge ans Markenamt.
Resch sagt, er habe dabei Genugtuung empfunden. Rache
rund um sein Haus aus Glas und Beton in Hauzenberg bei ist so alt wie die Menschheit selbst. Vielleicht ist sie noch
Passau. Er erwartete keinen Besuch. Er schritt durch die älter. Im Römerbrief heißt es: »Die Rache ist mein, ich will
Küche und prüfte auf dem Bildschirm für die Türkameras, vergelten, spricht der Herr.«
wer draußen stand. Er sah, so erinnert er sich, einen Mann Thomas Resch ist Katholik, aber er geht nur selten in die
und eine Frau, beide Ende vierzig. Der Mann trug einen Kirche. Vor vielen Jahren starb sein Bruder bei einem Auto-
Anzug, die Frau ein langes Kleid. Er kannte keinen der unfall. Das habe ihm gezeigt, dass alles ganz schnell vorbei sein
beiden. Resch öffnete die Tür. könne, sagt er. Resch glaubt, dass er selbst verantwortlich sei
»Ja?«, fragte er. für sein Leben. Manchmal, sagt
»Guten Tag, Herr Resch, wir er, arbeite er 14 Stunden am
wollen mit Ihnen über Gott Tag. Er hat Metallbauer gelernt.
sprechen.« Die Urkunde seiner Meister-
»Ah mei, ihr scho wieder«, prüfung hängt gerahmt in sei-
antwortete Resch. nem Arbeitszimmer. Er raucht
»Wir sind von den Zeugen nicht, und er trinkt nur selten.
Jehovas«, sagte die Frau. Sie In seinem Haus hängen die Bil-
streckte ihm zwei Hefte entge- der gerade, und es ist sauber.
gen. Auf dem einen stand »Der Monate vergingen, es lag
Wachtturm«, auf dem anderen nun Schnee in Hauzenberg,
»Erwachet!«. da brachte der Postbote eine
»Ich habe Ihnen schon oft ge- Sendung. Darin steckten zwei
sagt, dass ich nicht will, dass Sie Urkunden. »Bundesrepublik
STEPHAN KÜRTHY / BILD
bei mir klingeln«, sagte Resch Deutschland« steht darauf,
und schob die Tür zu. »Streichts und sie sind gestempelt in der
mi von eurer To-do-Liste.« Form des Bundesadlers: Eintra-
»Ja, ja, und wenn wir jetzt gung Nummer 302017214240,
einer von Ihren Kunden wären »Wachtturm«, und Eintragung
und Geld dabeihätten, dann Resch Nummer 30 2017 214 246, »Er-
dürften wir reinkommen, was?«, wachet!«, waren nun für Druck-
sagte der Mann schnell durch erzeugnisse, auch in elektroni-
den Türspalt. Resch gab der Tür scher Form, Lizenzierung von
einen Schubs, sodass sie noch Druckerzeugnissen, Werbung,
ein bisschen krachender ins Von der Website Pnp.de Marketing und PR auf Thomas
Schloss fiel. Er setzte sich zu- Resch registriert.
rück auf seine Terrasse und dachte darüber nach, was der Mann Er könnte damit vor ein Gericht ziehen und den Zeugen
gesagt hatte. Er nahm noch einen Schluck von dem Apfelsaft. Jehovas ihre Magazine verbieten, dachte er. Vielleicht wären
Er schmeckte ihm nicht mehr. Er ließ seinen Blick schweifen sie dann nicht mehr so unverschämt zu ihm.
über den Bayerischen Wald zu Füßen seines Hauses. Er sah den Wenig später erhielt Resch Post von einer Anwaltskanzlei,
Staffelberg, eine prächtige, bewaldete Pyramide von 793 Meter die die Zeugen Jehovas vertrat. Er öffnete den Brief und las,
Höhe. Der Anblick beruhigte ihn eigentlich immer, aber nicht dass er eine beigelegte Unterlassungserklärung unterschrei-
heute. Der Mann war unverschämt gewesen, dachte er. ben solle. Dort stand auch, dass die Begriffe »Wachtturm«
Reschs Firma veranstaltet Messen und organisiert Patent- und »Erwachet!« den Zeugen Jehovas gehörten, weil viele
einträge, das hat ihm Wohlstand gebracht. Er ist stolz darauf Menschen sie mit der Glaubensgemeinschaft verbänden.
und zeigt ihn gern. Er hat eine weite Einfahrt pflastern lassen, Die Kanzlei drohte, dass sie ihn verklagen würde.
einen dichten Rasen angelegt und Überwachungskameras Resch legte den Brief weg. Er ging hinunter in sein Ar-
rund um den Kubus installiert, in dem er mit seiner Frau und beitszimmer und setzte sich wieder an seinen Computer. Er
seinem Sohn lebt. Der Mann an seiner Haustür hatte ihm dachte über Rache nach und ihren Preis. Es kann befreiend
Raffgier unterstellt, und das, dachte Resch, hatte diesem sein, jemandem etwas heimzuzahlen. Aber es kann einen
Mann nicht zugestanden. Resch fühlte Wut. auch blind machen und ins Unglück führen. Er sah sich
Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an seinen die Urkunden an. Er lächelte.
Computer. »Dann wollen wir doch mal sehen«, sagte er. Jetzt bietet Thomas Resch die geschützten Namen »Er-
Resch googelte. Er erfuhr, dass die Zeugen Jehovas Bluttrans- wachet!« und »Wachtturm« auf Ebay-Kleinanzeigen an.
fusionen aus religiösen Gründen ablehnen. Dass ihre Kinder Preis: Verhandlungssache. Max Polonyi

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 55


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Gesellschaft

Grüß Gott, hier ist die CSU


Gesinnung Valentin Walk ist 21 Jahre alt und Ortsvorsitzender der Jungen Union Dingolfing.
Während die CSU in Umfragen abstürzte, machte er Wahlkampf und klingelte an Haustüren.
Woran glaubt ein junger Mensch, der heute an diese Partei glaubt? Von Timofey Neshitov

A
n einem klaren Septemberabend Mann. Er sagt oft und gern »bitte«, »dan- Polizeiaufgabengesetz? Oder der soge-
kurven in Vilsbiburg, Niederbay- ke« und »cool«. nannte Masterplan, Flüchtlinge an der
ern, drei Autos auf einen leeren Nun steht er mit Frau Dr. Loibl und den deutschen Grenze zurückzuweisen?
Parkplatz. Aus dem ersten steigt anderen vor dem offenen Kofferraum. Die Altstadt von Vilsbiburg ist bekannt
eine Dame mit weißen Ohrringen, die vor- »Ich weiß nicht, wie das hier abläuft«, für seine katholische Wallfahrtskirche Ma-
züglich zu ihrer Bluse passen. Aus dem sagt Frau Loibl. ria Hilf; die Wohnsiedlung, in der die
zweiten eine jüngere Frau mit Pferde- »Ich auch nicht«, sagt Valentin Walk. Wahlkämpfer nun unterwegs sind, besteht
schwanz. Natürlich weiß er, wie es abläuft, er hat aus menschenleeren Straßen und zwei- bis
Aus dem dritten steigt Valentin Walk. schon bei der Bundestagswahl »door to dreistöckigen Häusern, die streckenweise
Er hat ein breites Kreuz und trägt einen door« gemacht. Aber die Landtagsdirekt- vor lauter Hecken nicht zu sehen sind.
Kapuzenpulli mit dem Aufdruck »Das Bes- kandidatin soll sich nicht allein fühlen in »Siehst du mich mal ohne Leine, brauchst
te für Bayern«, Wahlslogan des bayeri- ihrem Nichtwissen. du Glück und schnelle Beine«, warnt ein
schen Ministerpräsidenten Markus Söder, Im Kofferraum liegen CSU-Stifte, Zaunschild.
einmal vorn aufgedruckt, einmal auf dem CSU-Feuerzeuge, CSU-Blumensamen, Sie klingeln, trotzdem.
Rücken und zur Sicherheit auch auf den das CSU-Regierungsprogramm. CSU- In einem dunklen Haus geht oben das
Oberarmen rechts und links. Walk trägt Wähler können dieses Jahr an einem CSU- Fenster auf, eine Frau mit Steckfrisur be-
eine Harry-Potter-Brille. Fotowettbewerb teilnehmen, man möge, fiehlt: »Legen Sie Ihr Zeug doch bittschön
Er ist unterwegs, um für die Christlich- heißt es im CSU-Flyer, Fotos einreichen vor die Tür!«
Soziale Union zu werben. Ihm folgt ein mit einem beliebigen CSU-Werbemittel: Lässt sich doch jemand auf ein Ge-
gut gelaunter Herr mit Bauch, ein Ortsvor- »Das CSU-Logo muss auf dem Bild erkenn- spräch ein, sagt Valentin Walk: »Hallo,
sitzender der CSU, der sagt, er sei der bar sein, Sie selbst dagegen nicht un- grüß Gott, wir sind von der CSU, das ist
Sepp. Die Frau mit den Ohrringen ist Dr. bedingt.« unsere Landtagsdirektkandidatin, dürfen
Petra Loibl, Tierärztin und Landwirtin aus Die Wahlkämpfer teilen sich in Teams wir Ihnen was mitgeben?«
Eichendorf. Sie züchtet Kühe. Ihre starken auf: Vale geht mit Dr. Loibl, Nicole mit Er sagt das auf Bayerisch: »Mir san von
Hände haben sich schon um viele Lebe- Sepp. Das eine Team biegt an der Kreu- der Cä-Äs-Uh, därfen mir Eahna wos mit-
wesen gekümmert, nun will sie, mit 52 Jah- zung rechts ab, das andere links. Sie wol- gebn?« Hilfsbereit, als brächte er den Leu-
ren, in den Landtag für die CSU. Die Kol- len vor allem AfD-Wähler zurückgewin- ten einen Regenschirm vorbei, den sie
legin mit Pferdeschwanz, Nicole, koor- nen. Bei der Bundestagswahl kam die AfD beim Bäcker vergessen haben.
diniert hier den Haustürwahlkampf, sie in dieser Gegend auf 14,6 Prozent der Bleibt die Tür auch dann noch offen,
öffnet ihren Kofferraum. Stimmen. klinkt sich Frau Loibl ein: »Sie haben mich
Haustürwahlkampf ist ein amerikani- Die CSU dümpelt bei 33 bis 35 Prozent, bestimmt schon auf dem einen oder ande-
scher Import, man läuft von Haus zu Haus, ihrem Selbstverständnis entsprechen eher ren Plakat gesehen, ich wäre dann die
»door to door«, und wirbt für seine Partei, 60 plus. Die Partei macht es Valentin Walk Nachfolgerin vom Huber Erwin.«
weil man befürchtet, es könnte knapp wer- in letzter Zeit nicht leicht. Nirgendwo in Der Niederbayer Erwin Huber war mal
den. In Bayern braucht die einst unschlag- Deutschland gibt es weniger Arbeitslose CSU-Chef, fleißig und quirlig, er musste
bare CSU jede Stimme. als in Bayern, nirgendwo weniger Krimi- 2008 zurücktreten, weil die CSU die ab-
Wer setzt sich noch in seiner Freizeit nalität, nirgendwo bessere Bildung – und solute Mehrheit verlor. Für bayerische Ver-
für diese Partei ein, welche jungen Men- dann beruft CSU-Chef Horst Seehofer hältnisse war das ein Erdrutsch.
schen finden sie cool? Die Landeszentrale eine Pressekonferenz ein und amüsiert Unter den Wählern, die in Vilsbiburg
der Jungen Union (JU) empfiehlt einem sich darüber, dass an seinem 69. Geburts- mit sich reden lassen, sind auch solche, die
als Gesprächspartner Valentin Walk, er sei, tag ausgerechnet 69 Afghanen abgescho- der CSU weiter die Treue halten, sie sagen
heißt es, engagiert und reflektiert: an- ben wurden. »Pfiat eich«, behüte euch Gott. Für diese
gehender Finanzbeamter, 21, seit fünf Jah- Zweifelt Valentin Walk ab und zu an sei- Klientel hat Frau Loibl Waldhonig dabei,
ren bei der JU, mittlerweile JU-Chef von ner Partei? Erschüttert ihn irgendwas? Sö- 50-Gramm-Gläschen mit CSU-Logo, min-
Dingolfing. ders Kreuzerlass vielleicht oder das neue destens haltbar bis 1. August 2020.
Dingolfing liegt an der Isar, nördlich von Für CSU-Enttäuschte gibt es keinen
Vilsbiburg, anderthalb Autostunden von Waldhonig.
München entfernt. Die JU zählt dort Enttäuschte wollen selten reden. Sie ha-
24 Mitglieder, die JU Bayern hat insgesamt Enttäuschte wollen ben Kopfweh oder Besuch, ihr Essen wird
etwas mehr als 23 000, dreimal so viele
wie die Jusos, aber es werden weniger. Va-
selten reden. Sie haben kalt, ihre Möpse bellen, ihre Kinder pol-
tern im Hinterhaus. Ein Herr in Krokodil-
lentin Walk spielt Trompete in einer Blas- Besuch oder Kopfweh, lederschuhen stürmt aus der Tür, als müsse
musikkapelle, macht Kraftsport, spielt ihr Essen wird kalt. er die Welt retten, womöglich vor der CSU,
Theater mit der Kolpingjugend. Vale nen- die Wahlkämpfer stehen im Weg, er
nen sie ihn. Er ist ein höflicher junger schwingt sich in seinen Maybach. Im Grun-

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DIETER MAYR / DER SPIEGEL

Junge-Union-Funktionär Walk beim Haustürwahlkampf in Vilsbiburg


Menschen für die CSU begeistern, die CSU wählten, als er noch in den Windeln lag

Fotos: Dieter Mayr / DER SPIEGEL 57


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Gesellschaft

de muss Valentin Walk Menschen für die der FDP ist ein Spektakel, ein Must-have, dem Bayerischen Wald, aus München, die
CSU begeistern, die CSU wählten, als er wie das Fest der Freiwilligen Feuerwehr Gewerbesteuer bleibt in der Gemeinde.
noch in den Windeln lag. auf dem Dorf. Hier bekommt man mal Von Geldsorgen sind die wenigsten der
Die Sonne sinkt schon in Vilsbiburg, als einen Vizekanzler zu sehen, der, format- 20 000 Einwohner geplagt.
er an einem verputzten Haus klingelt. Vor bedingt, auf die Kacke zu hauen hat. Die niederbayerische Hip-Hop-Band
der Tür ein VW Polo, eine zarte Vogelbee- Vizekanzler Rösler ruft: »Deutschland dicht & ergreifend, die Valentin Walk sehr
re. Nichts rührt sich. Noch einmal klin- geht es gut! Aber Bayern geht es besser, mag, hat der Heimat folgende Zeilen ge-
geln? Walk zupft schon am Stapel mit den dank dieser Regierungskoalition unter der widmet:
CSU-Türanhängern, die ein Wahlkämpfer Beteiligung der Freien Demokratischen
immer parat hat, sie sehen wie Türschilder Partei!« Ein Hauch bajuwarischer Einzig- Af dera heiln, heiln Weid
im Hotel aus – »Bitte nicht stören«, »Bitte artigkeit weht durch die Stadthalle von marschier i durch de Derfa,
Zimmer säubern« –, nur lächelt auf diesen Dingolfing. Mir san mir. Wir sind wir, wir und schau ma moi mei Heimat o,
Dr. Markus Söder, im Halbprofil, er bittet sind wer. Im Jahr darauf fliegt die bayeri- des werd ma ja no derfa.
um beide Stimmen. sche FDP aus Regierung und Landtag. Auf der heilen, heilen Welt
Aber nein, Schritte im verputzten Haus. In der »Tagesschau« kommt der Ascher- marschiere ich durch die Dörfer,
Langsame, schwere Schritte. mittwoch der CSU in Passau ausführlicher und schau mir mal meine Heimat an,
Ein kräftiger Mann baut sich vor ihnen vor, als Starredner tritt dort Edmund Stoi- das wird man ja noch dürfen.
auf. Er trägt einen Schnauzer und ein ber auf, erstmals seit seinem Ausscheiden
schwarz-rotes T-Shirt, seine Augen sind aus der aktiven Politik. Ein CSU-Heiliger. Die Familie Walk ist eine Beamtenfami-
braun, seine Füße nackt. Hallo, grüß Gott, Vale lauscht auf der Couch, eine Brotzeit lie. Die Eltern arbeiten im Landratsamt,
setzt Walk an – aber der Mann wirft beide auf den Knien. die Mutter ist für Jagd- und Fischerei zu-
Hände in die Luft, seine angenehme, dia- »Die klügsten Menschen kommen aus ständig, der Vater leitet die Ausländerbe-
lektweiche Stimme überschlägt sich: »Wie Bayern«, sagt Stoiber. Er bringt damit et- hörde. Valentin hat zwei Schwestern, sonn-
schön, dass ihr vorbeikommt’s, ich sage was auf den Punkt, was die Zuhörer schon tags geht man zusammen in die Kirche.
euch gleich, ich bin 60 und habe immer geahnt haben. Stoiber lobt die JU, erfreut Politik, in Gestalt der CSU, kommt
CSU gewählt! Aber nun bin ich AfD-Wäh- sich an den jungen Gesichtern im Publi- schleichend in sein Leben.
ler, wir sehen uns, wenn die erste Hoch- kum: »Wir haben eine tolle Gegenwart, Nach dem Aschermittwoch 2012 blät-
rechnung kommt!« aber wir haben auch eine tolle Zukunft!« tert er öfter im »Dingolfinger Anzeiger«,
Er lehnt sich an den Türrahmen und lä- Die tolle Gegenwart der CSU von da- guckt Parteitagsreden auf YouTube, in den
chelt. So lächelt man Verwandte an, die mals unterscheidet sich von der heutigen Sommerferien postet er zum ersten Mal
Weihnachten ohne Geschenke auftauchen. vor allem dadurch, dass die Flüchtlingskri- Politisches auf Facebook: ein Archivfoto
Valentin Walk und Dr. Loibl tauschen Bli- se noch in der tollen Zukunft liegt. Horst aus dem Bundestag, Gerhard Schröder
cke aus, Walk tritt einen Schritt nach vorn, Seehofer darf sogar kommissarisch das und Joschka Fischer lächeln sich auf der
holt Luft. Amt des Bundespräsidenten ausfüllen, als Regierungsbank an, darunter eine ausge-
Wegen solcher Bürger ist er unterwegs. Christian Wulff abhandengekommen ist. dachte Sprechblase: »Und dann haben wir
Man kann sein bisheriges Leben auch als Aber die Kernbotschaft der CSU ist ihnen einfach erzählt, dass Griechenland
eine Art Vorbereitung auf eine Begegnung die gleiche wie heute, die gleiche wie vor alle Beitrittskriterien erfüllt.«
wie diese sehen. 50 Jahren: Es gibt uns, und es gibt, irgend- Griechenlandpleite, Eurokrise? Dieser
Der 60. Parteitag der CSU liegt wenige wie, den Rest. Der »Rest« ist austauschbar, Post fällt auf in Walks Facebook-Chronik,
Tage zurück, als Valentin Walk im Novem- je nach Lage sind es die Sozis, die Gastar- zwischen den Ski- und Partyfotos. Darun-
ber 1996 zur Welt kommt. Der Minister- beiter, die da in Berlin. ter ist kein einziger Like. Der Post spiegelt
präsident heißt Edmund Stoiber, Landes- Wächst man in der bayerischen Provinz nicht den Alltag eines Teenagers wider,
chef der Jungen Union ist Markus Söder. auf, zumal in einem Ort wie Dingolfing, sondern die damalige CSU-Agenda.
Im Herbst 2008, als in Bayern erstmals muss es schwer sein, sich dem Gefühl der Muss man wirklich Griechenland mit
die Erde wackelt, kommt Walk in die Pu- eigenen Auserwähltheit zu entziehen. deutschem Geld retten? Wieso zahlt Bay-
bertät, er zeltet mit der Kolpingjugend, Man hat es einfach gut hier. Von den Hü- ern mehr als alle anderen in den Länder-
nimmt Trompetenunterricht, hüpft auf geln am rechten Ufer der Isar, wo die Din- finanzausgleich ein? Das sind Fragen, die
einem BMX-Rad durch die Gegend. Bun- golfinger ihre Schwammerl suchen, sieht Walk plötzlich beschäftigen. Er ist gut mit
despolitisch gehört Valentin Walk zur Ge- man die Stadt wie auf einem Teller: Den Zahlen, die Schröder-Fischer-Sprechblase
neration Angela Merkel, jedenfalls erlebt gotischen Turm von St. Johannes, die un- hat er auf der Facebook-Seite der CSU ent-
er nach der Grundschule keine anderen aufdringlichen Produktionshallen von deckt, und auf einmal, wie cool, lädt ihn
Kanzlerinnen oder Kanzler. BMW, die Maisfelder. der Ortsvorsitzende der Jungen Union zu
Die erste politische Rede, die ihn beein- Dingolfing ist alt und blitzsauber, am einem Mitgliedertreff ein. Café Central,
druckt, ist die von Philipp Rösler auf dem Stadtrand unterhalten die Bayerischen Mo- komm vorbei, Vale, stell dich mal vor.
politischen Aschermittwoch der FDP in torenwerke ihr weltweit größtes Werk. Jugendarbeit ist eine große Stärke der
Dingolfing, im Februar 2012. Rösler ist da- 1600 Autos rollen hier vom Band, täglich, CSU auf dem Land, in Dingolfing geht keine
mals Parteichef und Vizekanzler, die FDP die Arbeiter kommen aus Dingolfing, aus andere Partei auf die Schüler zu, jedenfalls
regiert in Bayern ausnahmsweise mit. merkt Walk nichts davon. Im März 2013
»Wer sich selbst zum Weißwürstchen tritt er der Jungen Union bei, Mitgliedsnum-
macht, darf sich nicht wundern, dass er als mer 10113518, der Ausweis kommt per Post.
solches verspeist wird!«, ruft Rösler. Der Post spiegelt nicht den Es ist der erste Brief, den er in seinem Leben
Da ist Valentin Walk 15 Jahre alt und Alltag eines Teenagers bekommt. »Gemeinsam. Politik. Leben.«
noch nicht wirklich politisch interessiert, steht auf dem blauen Kärtchen.
aber trotzdem live dabei. Dingolfing bietet wider, sondern die Es gibt, je nach Sichtweise, Spannende-
Teenagern einiges an Unterhaltung, es gibt damalige CSU-Agenda. res als eine Ortsversammlung der CSU-
einen Skateparcours, die Stadtbibliothek, Jugend. Oder eine Kreisversammlung der
das Freizeitbad, aber der Aschermittwoch CSU-Jugend. Oder eine Landesversamm-

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lung der CSU-Jugend. Spannenderes als


Stimmzettel, Gruppenfotos mit Ministern,
Hashtags wie #miasanbayern, #tolletruppe
oder #loewenstark. Aber Walk fühlt sich
von Anfang an wohl in dieser Welt.
Ihm macht es Spaß, an der Seite eines
Europaabgeordneten vor dem BMW-
Werk Flyer zu verteilen. Er diskutiert gern
mit Stadträten über die Öffnungszeiten öf-
fentlicher Toiletten, über die Aussicht, in
Dingolfing vielleicht doch eine Disco zu
eröffnen, damit die Jungs und Mädels
nicht mehr nach Rimbach, Ruhstorf und
Simbach tingeln müssen.
Es ist, als füge sich alles in seinem Leben.
Als Kind wollte er Goaßlschnalzer
werden, das sind Folklorekünstler, die mit
einer Fuhrmannspeitsche ganze Melodien
nachklatschen. Er trägt gern Lederhosen,
bei Kreuzwegen der Kolpingjugend trägt
er das Kruzifix, mit der Pfarrjugend St. Jo-
hannes grillt er Bio-Gickerl, also Hähn-
chen. Er wollte nie eine Revolution, Poli-
zisten sind für ihn keine Bullen, er hat kei-
ne Freunde, die Ahmet oder Ayse heißen.
Ohne sich anzustrengen, verkörpert Valen-
tin Walk das, was CSU-Chefs seit Edmund
Stoiber »Leitkultur« nennen, oder »christ-
lich-abendländische Prägung Bayerns«.
Seine Pubertät hinterlässt keine Narben,
keine Zweifel, einmal wird Vale von seinen
Eltern beim Rauchen erwischt, einmal am
Gymnasium abgemahnt, weil er gegen
eine Wand gesprungen ist. Er fühlt sich
auf der richtigen Seite. Bei der richtigen
Mehrheit.
Was ihn dauerhaft prägt, ist ein Ge-
spräch mit seiner Großmutter, die während
Wahlkämpfer Walk, Landtagskandidatin Loibl bei Hausbesuch der NS-Zeit in Dingolfing zur Schule ge-
»Dann werden die Abschiebungen gar nimmer gemacht!« gangen ist. Oma erzählt, wie sie sich wei-
gerte, dem Bund Deutscher Mädel beizu-
treten, Gott sei Dank ohne Folgen für die
Familie. Der Großvater, der verwundet
von der Ostfront zurückkam, erzählt nie
vom Krieg, bis zu seinem Tod nicht.
Nie wieder. Diesen Satz verinnerlicht
Valentin Walk von klein auf. Im August
2017, während des Bundestagswahl-
kampfs, postet er auf Facebook einen Aus-
schnitt aus »Don’t Be a Sucker«, »Sei kein
Trottel«, einem antifaschistischen Propa-
gandafilm der U. S. Army von 1943. Darin
hetzt ein Mann, der sich »amerikanischer
Amerikaner« nennt, gegen Minderheiten.
Walk will damit vor der AfD warnen.
Und nun, im Haustürwahlkampf in Vils-
biburg, während die Schatten länger wer-
den und die Luft kühler, lächelt ihn dieser
barfüßige AfD-Wähler an und erkundigt
sich, ohne wirklich eine Antwort zu erwar-
ten: »Ganz ehrlich, findet ihr es richtig,
was wir mit Deutschland machen? Wir bei
der AfD sind keine Rechtsradikalen, wir
Kofferraum mit Werbeartikeln der CSU sind Patrioten …«
Wir sind wir, wir sind wer Walk unterbricht ihn: »Wir in der CSU
haben genauso Patrioten. Der Unterschied
ist: Bei uns steht Söder und wirbt für

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Europa und für Bayern und für Im Wahlkampf stellt er sich


Deutschland!« trotzdem auch mal im Regen
Es entwickelt sich so etwas wie an den CSU-Stand am Wochen-
ein Dialog, eine zarte Blume der markt. Es ist wohl so: Die
Demokratie. CSU braucht Menschen wie
AfD-Wähler: »Gut, bei der ihn, in diesem Herbst mehr
AfD gibt es auch den Höcke, denn je, sie braucht ihre uneitle
mit dem kann ich gar nichts an- Energie. Wäre Markus Söder ein
fangen.« Wal, dann wäre Valentin Walk
Walk: »Aber den wählt man Plankton.
dadurch doch auch!« Noch während des Wahlkamp-
AfD-Wähler: »Wenn ich SPD fes zieht Walk nach München, er
wähle, wähle ich auch die Merkel, hat hier eine Stelle beim Finanz-
und die mag ich absolut nicht!« amt gekriegt. An einem heißen
Wieso jetzt SPD? Man redet Donnerstag spielt er mit seiner
eine Weile aneinander vorbei, Blasmusikkapelle Gauditrupp auf
dann sagt der Mann, er sei eigent- der Oidn Wiesn, kurz nach Mit-
lich auf Seehofer sauer, der könne ternacht kommt er heim, in eine
sich in Berlin nicht durchsetzen, noch nicht möblierte WG im
nun liefen in Chemnitz und über- Münchner Westen, streckt sich
all kriminelle Flüchtlinge herum. auf einer Matratze aus.
»Der Horstl, der lauft wieder Er ist irritiert. An eine Wand
mit«, sagt der Mann. »Ich möch- unweit des Hauseingangs hat je-
te, dass er es einmal richtig durch- mand mit roter Farbe gekritzelt:
zieht, dass er sagt: Sonst trennen »Horst abschieben.« Wird in
wir uns von der CDU. Es muss München gegen die CSU demons-
richtig scheppern! Ich bin viel- triert, gehen neuerdings Zehntau-
leicht Protestwähler, aber die sende auf die Straße, Hashtag
AfD ist die einzige Partei, wo #ausgehetzt.
man Frust ablassen kann.« Valentin Walk findet, Horst
Valentin Walk schüttelt den Seehofer drücke sich manchmal
Kopf, er redet nun schnell und unglücklich aus. Manfred Weber
laut, als könne der Mann jeden zum Beispiel, der CSU-Mann in
Augenblick die Tür zuknallen: Brüssel, ein ausgeglichener Nie-
»Aber was passiert denn, wenn derbayer, käme nie auf die Idee,
man jetzt Protest wählt, unter an- Trompeter Walk mit Blasmusikern auf dem Oktoberfest über abgeschobene Afghanen zu
derem Leute, die mit NPD und »Zeigt mal euren Mittelfinger« witzeln oder zu behaupten, Mi-
Hooligans marschieren? Dann gration sei die Mutter aller Pro-
passiert Folgendes: Die CSU hat bleme. Aber ansonsten, so sieht
keine Mehrheit mehr und muss in Koaliti- fen, weil das Bier nicht schmeckt.« Aber das Walk, verteidige Horst Seehofer christ-
on gehen mit … den Grünen! Dann wer- so etwas kann er im Haustürwahlkampf lich-soziale Werte.
den die Abschiebungen nach Afghanistan nicht bringen. Darum geht es Walk, um Werte, langfris-
gar nimmer gemacht!« Ein paar Tage später, im Bayerischen tig, die jeweilige Parteiführung könne dabei
Der Mann wird nachdenklich. Dann Fernsehen, macht sich Kabarettist Chris- auch Fehler machen. An der CSU als Partei
grinst er: »Ich rufe dann den Österreicher toph Süß über Söders Wahlkampagne lus- hat er noch nie gezweifelt, er findet den
Kurz an und frage, ob er mich aufnimmt!« tig. CSU-Anhänger besuchten nun also Tü- Kreuzerlass richtig, das neue Polizeiauf-
Was macht dieser AfD-Wähler beruf- ren, Donnerwetter, müsse dann das CSU- gabengesetz, den Masterplan. Aber ihm ist
lich? Hört er Blasmusik? Hat er Enkelkin- Motto, »Näher am Menschen«, nicht lau- bewusst, dass sich da etwas zusammenbraut
der? Wie viel von dem, was er gern sagen ten: »Näher an der Tür«? gegen seine Partei, wohl auch langfristig.
würde, traut er sich nicht zu sagen, wie Ministerpräsident Söder bedankt sich Im Sommer, bei einem Konzert von
viel würde er gern sagen dürfen? auf dem Parteitag in München bei seinen dicht & ergreifend am Marienplatz in Din-
Haustürwahlkampf ist wie Blind Dating, Haustürwahlkämpfern, ein Dutzend von golfing, rief einer der Sänger: »Zeigt mal
nur immer ohne Anschluss-Date, der erste ihnen kommen auf die Bühne. Valentin euren Mittelfinger.« Viele im Publikum
Eindruck ist der letzte. Walk erfährt selten, Walk ist nicht dabei. Ein Freund von ihm reckten ihre Mittelfinger in die Luft. Va-
wer die Menschen sind, die er für seine hat Geburtstag. lentin Walk stand ganz hinten, seine Hand
Partei gewinnen will. Im Gegensatz zu einigen JUlern hat zuckte reflexartig, aber dicht & ergreifend
Dr. Loibl, die Direktkandidatin, emp- Walk keine politischen Ambitionen. Mar- ist seine Lieblingsband, er kannte diesen
fiehlt dem Mann zum Abschied, das AfD- kus Söder ließ sich in seinem Alter auf je- Trick schon.
Wahlprogramm zu lesen, zu überlegen, ob dem Grillfest blicken, auf jedem Parteitag, Der Sänger rief: »Der geht an die CSU!«
der Anti-Euro-Kurs dieser Partei gut für man nannte ihn Der-immer-da-Söder. Sö- Vales Hände blieben unten.
die deutsche Automobilindustrie wäre. der schwänzte seine Abifeier zugunsten ei-
Der Mann schnauft: »Jetzt kriege ich wie- ner Tagung des JU-Arbeitskreises Entwick-
der Blutdruck, ich muss aufhören!« lungspolitik. Walk will weder JU-Landes- Video
Von Tür
Auf Facebook hat Valentin Walk einen chef werden noch Minister, zumindest jetzt zu Tür
Sinnspruch gelikt: »Aus Protest AfD wäh- noch nicht, er will freitagabends keinem spiegel.de/sp422018ju
len, weil die aktuelle Politik nicht gefällt, Feuerwehrmann zum runden Geburtstag oder in der App DER SPIEGEL
ist wie im Wirtshaus aus dem Klo zu sau- gratulieren müssen. Er hat eine Freundin.

60 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Gesellschaft

Ding Dong gelesen, ich kenne seine Songs, einmal bin ich sogar zusam-
men mit ihm aufgetreten, hatte aber nie das Gefühl, dadurch
den Westen besser zu verstehen.
»Gundermann« ist ein schöner Film, und sein Hauptdar-
Leitkultur Alexander Osang fühlt die steller ist sensationell gut, aber wer wirklich etwas über den
deutsche Einheit kommen. Osten lernen will – selbst als Ostler – sollte sich den Film
»Familie Brasch« ansehen. Die Gespräche mit Bettina Wegner
und Katharina Thalbach zeigen, dass es im Osten Sehnsüchte

A m Tag der Deutschen Einheit saß ich mit Angela Merkel


in einem Hotelzimmer in Jerusalem. Es war kurz vor
elf, außer uns waren noch zwei Dutzend deutsche Jour-
nalisten im Raum, ein Barkeeper und Olaf Scholz. Angela
gab, die der Westen nicht stillen konnte. Wenn am ersten
Einheitstag auf einer Leinwand vorm Deutschen Reichstag
die Rede aufgeführt worden wäre, die Thomas Brasch 1981
bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises gehalten hat,
Merkel kam direkt von einem Abendessen mit Benjamin Ne- hätten alle gewusst, was sie erwartet. Brasch, der aus der
tanyahu. Sie betrat den Raum schwungvoll. Als sie an mir DDR ausreisen musste, hatte sich vor pfeifenden Bayern bei
vorbeilief, fragte sie: »Wat mach’n Sie denn hier?« der DDR-Filmhochschule für seine Ausbildung bedankt. Ne-
Ich dachte einen Moment nach und sagte: »Ich lebe jetzt ben ihm stand Franz Josef Strauß.
hier.« »Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche«, sagte
Aber das war nicht die Antwort auf ihre Frage. Sie wusste Brasch.
es, und ich wusste es auch. Die Kanzlerin wackelte mit dem Ich auch.
Kopf und lief zu ihrem Stuhl. Ihr folgte Olaf Scholz wie ein So gesehen war die hellste Rakete an meinem Feiertags-
Schatten. himmel der deutschen Einheit die Entlassung von Hubertus
Es heißt, Angela Merkel sei in Hintergrundgesprächen ent- Knabe. Knabe ist Leiter der Stasigedenkstätte von Hohen-
spannter und offener als im Vordergrund. Ich kann das bestä- schönhausen gewesen. In Talkshows über Schuld und Osten
tigen. Wochenlang hatte ich Abgesänge auf die Kanzlerin ge- wurde er als Historiker vorgestellt, agierte aber oft wie ein
hört, hier aber, spätabends Staatsanwalt. Ich dachte an-
in Israel, am Tag der Deut- fangs, Knabe habe Ende der
schen Einheit, erlebte ich 80er in der Ostberliner Um-
eine muntere, kompetente weltbibliothek Flugblätter
Frau voller Energie und gedruckt. Aber er kommt
ohne erkennbare Selbst- aus Unna in Westfalen.
zweifel. Olaf Scholz saß ne- Ich habe nur einmal kurz
ben ihr, als müsste er Salz- mit ihm telefoniert, als die
gebäck bringen, wenn sie Stasiakte eines Freundes
ihm ein Zeichen gibt. Ich auftauchte, kurz nachdem
dachte weiter darüber nach, der Freund in seiner Zei-
was ich hier eigentlich ma- tung ein kritisches Porträt
che. Angela Merkel bekam von Knabe veröffentlicht
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

ein Glas Wein. Scholz trank hatte. Ich wollte über den
Wasser und saß sehr gerade Freund und seine späte Ent-
auf seinem Stuhl. Man sah tarnung schreiben, recher-
ihm an, dass das alles noch chierte ein bisschen herum
neu für ihn war, der Nahe und rief irgendwann bei
Osten und so weiter. Vor Knabe an. Er wiederholte
zwei Jahren war ich mal bei dreimal, dass er nicht mit
einem deutsch-russischen Tischgedeck für Angela Merkel in Jerusalem
mir reden würde. Wort-
Treffen in St. Petersburg, gleich. Ich hätte mich nicht
wo einer der Veranstalter gewundert, wenn sich Kna-
Scholz immer Schulz nannte. Scholz hatte geblinzelt, das aber be eine Knoblauchkette um den Hals gehängt hätte, um das
nicht korrigiert. Böse, das ihm aus dem Telefon entgegenschlug, abzuwehren.
Ich fragte mich, an wen er mich erinnerte, und dann fiel es Ein Kollege vom SPIEGEL hat mir damals gesagt, dass
mir ein. Er sah aus wie der Ostbesuch. Angela Merkel hatte man diese Eigenschaften haben müsse, um die Arbeit zu tun,
ihn mitgebracht. die Knabe tat. Ich glaube, Knabe hatte weniger Interesse an
Die Rollen waren vertauscht. Geschichte, mehr an Vergeltung. Man muss auch bestimmte
Seit Wochen habe ich das Gefühl, der Osten kommt in Eigenschaften haben, um ein Kaninchen abziehen zu können.
Deutschland an. Überall gibt es Psychogramme und Tabellen Knabe wurde entlassen, weil unter seiner Leitung Frauen
sowie zärtliche und besorgte Versicherungen, dass man den schlecht behandelt wurden. Das ist ein guter Grund. Es hätte,
Osten endlich ernst nehmen muss. Westkollegen erklären, glaube ich, auch andere Gründe gegeben.
sie hätten den Osten jetzt verstanden, weil sie »Gundermann« Ein Freund schickte mir die Nachricht von Knabes Abtritt
im Kino gesehen haben. Einen Film über einen singenden mit der Kopfzeile: »Ding Dong, The Witch Is Dead«. Das ist
Baggerfahrer, der sich vor Auftritten ein Fleischerhemd anzog, ein Lied aus »The Wizard of Oz«. Ich summte es, als ich kurz
der Igel rettete und eine Zeit lang für die Stasi gearbeitet hat. vor Mitternacht durch die stillen, dunklen Straßen von Jeru-
Wahrscheinlich ist das ein Ostbild, mit dem man als Westler salem lief. Was also machte ich hier? Ich bin jetzt genauso
leben kann. Ich war auf vielen Gundermann-Konzerten, ich lange Bürger der Bundesrepublik Deutschland, wie ich Bürger
hatte alle seine Platten, ich kannte seine Stasiakte, sein Rei- der Deutschen Demokratischen Republik gewesen bin. Ich
henhäuschen und seine Stullenbüchse. Er hat wunderbare glaube, ich brauche Abstand. Das wäre die Antwort gewesen.
Songs geschrieben, war aber, selbst für einen Ostler, ein ziem- Es war noch der Tag der Deutschen Einheit. Aber es war,
lich einzigartiger Mann. Ich habe Rio Reisers Autobiografie wie immer, zu spät.

62 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Sport
Wo bleibt die »Rote Karte für sexualisierte Gewalt«? ‣ S. 68

Torwarttore* in der 1. und 2. Bundesliga *ohne Elfmeter

27. April 1985 5. August 1995 9. Dezember 1995 19. Dezember 1997 31. März 2002
Wilhelm Huxhorn Stephan Kuhnert Stefan Brasas Jens Lehmann Frank Rost
Darmstadt 98 Mainz 05 Meppen Schalke 04 Werder Bremen

Tor per Abschlag Kopfball zum Kopfball zum Kopfball zum Rechtsschuss zum
zum 1:0 in der 2:2-Ausgleich in 2:2-Ausgleich in 2:2-Ausgleich in 3:3-Ausgleich in
20. Minute der 90. Minute der 90. Minute der 90. Minute gegen der 90. Minute
gegen Fortuna Köln gegen Hannover 96 gegen Carl Zeiss Jena Borussia Dortmund gegen Hansa Rostock

JAN-PHILIPP BURMANN / GET T Y IMAGES


1. April 2013 21. Februar 2015 24. April 2015 24. Mai 2015 7. Oktober 2018
Philipp Tschauner Marwin Hitz Fabio Coltorti Martin Männel Rafal Gikiewicz
St. Pauli FC Augsburg RB Leipzig Erzgebirge Aue Union Berlin

Kopfball zum Rechtsschuss zum Rechtsschuss zum Kopfball zum Kopfball zum
2:2-Ausgleich in der 2:2-Ausgleich in 2:1-Sieg in 2:2-Ausgleich in 1:1-Ausgleich in der
der 91. Minute gegen der 94. Minute gegen der 93. Minute der 88. Minute gegen 93. Minute gegen
den SC Paderborn Bayer Leverkusen gegen Darmstadt 98 den 1. FC Heidenheim den 1. FC Heidenheim Kopfballtor durch Rafal Gikiewicz im
Spiel Union Berlin gegen Heidenheim

Wenn die Angst des Verlierens immer größer wird, drängt es Zudem war 1987 Hans Wulf erfolgreich, eigentlich ein Schluss-
die Keeper zum Toreschießen schon mal nach vorn. In 55 Jahren mann, der Hannovers 5:3 gegen Salmrohr köpfte, nachdem er zu-
Fußballbundesliga und 37 Jahren zweiter Liga erzielten die Tor- vor als Feldspieler eingewechselt worden war. In der Champions
hüter aus dem laufenden Spiel zehn Tore, zuletzt am vergange- League gab es bisher ein solches Torhütertor: Sinan Bolat für
nen Sonntag Union Berlins Rafal Gikiewicz gegen Heidenheim. Lüttich gegen Alkmaar. Im Uefa-Cup trafen die Keeper dreimal.

Magische Momente SPIEGEL: War das der schwierigste

»Das war auf jeden Fall ein Kampf«


Moment?
Belz: Ja, mit Abstand, vielleicht der
schwierigste meines Lebens. Oben lag
Der beinamputierte Tom Belz, 31, über seinen Kilimandscharo-Aufstieg Schnee, der tagsüber geschmolzen ist und
sich nachts in Eis verwandelte. Das war
SPIEGEL: Der Kilima- Belz: Oh Gott, ist das kalt! Wir hatten mal dick, mal dünn. Also bin ich unsicher
ndscharo ist 5895 Meter minus zehn Grad Celsius und einen mit den Krücken herumgestapft. Teilweise
hoch. Wie ist der Blick Sturm mit einer Geschwindigkeit von bin ich eingebrochen, knapp einen Meter.
vom Gipfel? 70 Kilometer pro Stunde. Der Anstieg Ich musste mich immer wieder aufraffen,
Belz: Weit – wenn man vom letzten Camp auf fast 5000 Meter das hat meine Schultern extrem belastet.
da oben steht, geht es steil bis zum Gipfel, das war auf jeden Fall SPIEGEL: Sind Sie dort mit normalen Krü-
bergab, und zwar in jeder ein Kampf. Man durfte nicht stehen blei- cken übers Eis gelaufen, oder hatten Sie
Himmelsrichtung. Deshalb ist der Anstieg ben, sonst wären die Gliedmaßen viel zu Spezialanfertigungen?
NILS HECK

sehr hart. Es gibt auch eine Kletterpassa- kalt geworden. Belz: Ich habe ganz normale Orthopädie-
ge, die sogenannte Breakfast Wall. krücken für 19,90 Euro, sozusagen das
SPIEGEL: Als Kind wurde Ihnen wegen Otto-Normalverbraucher-Modell. Ich
einer Knochenkrebserkrankung ein Bein habe nur die Teile ineinander gebohrt und
amputiert. Sie haben den Berg auf Krü- mit Mutter und Schraube verstärkt, damit
cken erklommen. Wie haben Sie solche sie nicht auseinanderrutschen können.
Passagen gemeistert? SPIEGEL: Sie haben den Trip gemeinsam
Belz: Ich habe die Krücken auf den mit Klaus Siegler unternommen, dem
Vorsprung geschmissen oder sie einem Arzt, der Sie auf der Kinderkrebsstation
Guide gegeben und bin dann hoch- betreut hat. Welche Bedeutung hat er für
geklettert. Ihr Leben?
SPIEGEL: Ansonsten haben Sie das kom- Belz: Gezeugt haben mich meine Eltern,
CLAUDIO VON PLANTA

plett allein geschafft? geboren hat mich meine Mama, und er


Belz: Ja, ich habe mich vorher nicht viel ist die Person, die mir das Leben gerettet
informiert – es sollte ja ein Abenteuer hat. Dadurch wurde ich quasi noch
sein. Umso spaßiger war es dann letztlich. mal geboren. Ohne ihn würde ich hier
SPIEGEL: Was waren Ihre ersten Gedan- nicht sprechen, wäre nie auf dem Kili-
ken, als Sie oben ankamen? Belz im August auf dem Kilimandscharo mandscharo gewesen. LEK

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Sport

Die Parodie Gottes


Idole Diego Maradona ist als Trainer in der zweiten Liga Mexikos gelandet. Was will er dort?
Und was will der Verein von ihm? Von Juan Moreno
PEDRO PARDO / AFP

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M
an muss diesen Sport schon Maradona sitzt auf der Trainerbank und kamen ins Gefängnis wegen Mordes an ei-
sehr lieben, um das hier zu er- hat einen guten Blick auf das Fiasko vor nem Journalisten, der sich mit den Hanks
tragen. Zweite mexikanische ihm. Er hat die Arme vor dem Bauch ver- angelegt hatte. Seitdem verkneifen sich
Liga, Atlético Zacatepec ge- schränkt. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Es Reporter in der Stadt unangenehme Fra-
gen Dorados de Sinaloa, Maradonas neu- ist schwer zu sagen, was ihm gerade durch gen über die Familie.
en Verein. Es ist später Samstagnachmit- den Kopf gehen mag. Vielleicht zählt er Das ist Maradonas neue Welt. Ein wenig
tag, 30 Grad im Schatten, 50. Spielminute, die epische Zahl der Fehlpässe. Vielleicht skurril, sicher, aber vermutlich auch nicht
null Torchancen und die Gewissheit, dass wundert er sich, wie er hier gelandet ist. schräger als das, was ihn in Weißrussland
auch Lateinamerika Rumpelfußball kennt. In Mexiko, in einem 35 000-Einwohner- erwartet hätte. Eigentlich sollte er nach
Kaff namens Zacatepec, anderthalb Stun- seinen Jahren in den Vereinigten Arabi-
den südlich von Mexiko-Stadt. schen Emiraten nach Osteuropa.
Maradona beschließt, von der Trainer- Dinamo Brest, ein mittelmäßig erfolg-
bank aufzustehen. Das geht nicht so reicher Verein aus Weißrussland, hatte ihm
schnell. Er hat schon länger Probleme mit Mitte Juli einen Dreijahresvertrag als Ver-
den Knien, seinem unteren Rücken geht einspräsident angeboten. Einen Vertrag,
es auch nicht gut. An manchen Tagen wat- wie ihn Maradona liebt. Sehr unkonkret
schelt er wie ein dicker Zirkusclown im in der Aufgabenbeschreibung und offen-
Stützkorsett. bar sehr gut dotiert. Er war nach Brest ge-
»Vamos, muchachos«, schreit Marado- reist, in einen Monstertruck gestiegen und
na. Einer seiner Muchachos verliert den wurde im Stadion den entzückten Fans
Ball. Maradona greift sich an den Kopf. vorgestellt. Dann tat er, was er schon so
Dann stolpert ein Spieler von Zacatepec. oft getan hatte: Er schwor ewige Liebe und
Ein Gegenspieler ist nicht in der Nähe. Ma- verschwand kurz darauf.
radona dreht sich zu Luis Islas um, seinem Bei seiner Vorstellung in Mexiko sagte
Assistenten, mit dem er schon in den Ver- er, dass er Weißrussland »sehr weit nach
einigten Arabischen Emiraten gearbeitet hinten verschoben habe«, dann schwor er
hat. Der zuckt mit den Schultern. den Mexikanern ewige Liebe: »Ich nehme
Auf der Tribüne hinter den Trainerbän- diese Verantwortung an, wie jemand, der
ken werden die Fans unruhig. Sie scheinen einen Sohn im Arm hält.« Viele Jahre wol-
sich nicht entscheiden zu können, ob sie le er bleiben. Das war bevor er kurz darauf
den vor ihnen stehenden Maradona mit einem argentinischen Journalisten erzähl-
ihrem Handy fotografieren sollen oder te, dass er 2019 womöglich bei den Wahlen
doch lieber den Stinkefinger entgegen- an der Seite der ehemaligen Staatspräsi-
recken. Die meisten tun beides. dentin Cristina Fernández de Kirchner an-
Gut vier Wochen ist es her, dass der treten werde. »Fidel Castro hat mir gesagt,
größte Fußballer aller Zeiten, Diego Ar- ich solle in die Politik gehen.«
mando Maradona, 57, in der Telenovela, Endlich ertönt der Schlusspfiff. Der
die sein Leben ist, das neue Kapitel »Trai- Schiedsrichter hat ein Einsehen. Irgend-
ner in Mexiko« gestartet hat. Die Nach- wann in der zweiten Halbzeit hat Mara-
richt klang wie ein Witz. Maradona, der donas Team tatsächlich ein Tor geschossen.
Mann, der schon als Spieler kokainsüchtig Maradona ist in Feierlaune. »Muy bien,
war, der sich an Kindergeburtstage seiner muchachos, muy bien«, sagt er in der Ka-
beiden Töchter nicht erinnern kann, weil bine und klatscht in die Hände. Kamera-
er zu vollgedröhnt war, wird Trainer von teams drängen sich durch die Tür. Die
Dorados de Sinaloa. Größter Klub im Bun- Mannschaft fängt an zu singen, Maradona
desstaat Sinaloa, Mexikos Drogenhoch- stimmt ein, fängt an zu tanzen. Er wedelt
burg, Namensgeber für das gleichnamige mit seinen Armen, wackelt mit den Hüften.
Drogenkartell, Heimat des Drogenbosses Die Party kann beginnen.
Joaquín Guzmán, »El Chapo«. In der Ecke, etwas abseits, steht ein
Die »Dorados«, die »Goldmakrelen«, Mann mittleren Alters in einem gelben
wie sie sich nennen, sind für zwei Dinge Trainingsanzug. José Antonio Nuñez ist
berühmt. Pep Guardiola hat hier 2006 für Präsident von Dorados. Ein freundlicher
ein halbes Jahr gespielt, was die meisten Mann, der seit Jahren den Verein führt.
im Verein bis heute weder vergessen noch »Wir haben uns angeschaut, was er bisher
verstanden haben. als Trainer geleistet hat, und finden, dass
Außerdem gehört der Klub der schwer- er eine Chance verdient hat«, sagt Nuñez,
reichen Unternehmerfamilie Hank aus Ti- den alle Toño nennen, »seine Zahlen sind
juana. Jorge Hank Rhon, der Patriarch, immer besser geworden.«
ehemaliger Bürgermeister von Tijuana, ist Dorados ist Maradonas sechste Trainer-
Besitzer des größten Sportwettenanbieters station, und was die Ergebnisse angeht,
des Landes. Er besitzt Hotels, Kasinos, ging es tatsächlich bergauf. Die ersten bei-
eine Hunderennbahn. Er gilt als Exzentri- den Vereine, Deportivo Mandiyú und Ra-
ker, der wilde Tiere in seinem Privatzoo cing Club de Avellaneda in Argentinien,
hält und sich mit Riesenschlangen um den waren eine Katastrophe. Als Nationaltrai-
Hals fotografieren lässt. Den Hanks wer- ner von Argentinien gewann er 18 Spiele,
den Verbindungen zur organisierten Kri- verlor 6. Die letzte Niederlage war das 0:4
minalität nachgesagt. Zwei Bodyguards gegen die Deutschen bei der WM 2010 in

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 65


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Sport

Südafrika. In den Emiraten trainierte er über koreanische Fans lustig, beleidigte ler Widersprüche. Sein berühmtestes Tor
zwei Vereine, den Erstligaklub Al Wasl die Nigerianer, drehte nach Toren völlig machte er mit der Hand, damals bei der
und den Zweitligisten Al Fujairah. Zuletzt durch. Zwischenzeitlich nickte er ein. Es WM 1986 gegen England. Es sei die »Hand
holte er in 22 Spielen 11 Siege, 11 Unent- war der Auftritt eines kranken, verlorenen Gottes« gewesen, sagte er später.
schieden, keine Niederlage. Die Mann- Mannes. Ob es wirklich »nur der Weiß- Toño, der Dorados-Präsident, weiß das
schaft schaffte nach seinem Abgang den wein« war, wie er später behauptete, war alles. Es hat ihn einige Tage schlecht schla-
Aufstieg. letztlich gleichgültig. Ärzte hatten Mara- fen lassen. Er hat die spontane Siegesfeier
Toño gibt zu, dass er skeptisch war, als dona aufgrund seines Drogenkonsums seiner Mannschaft verlassen und geht lang-
ihn ein Spielerberater aus Argentinien an- schon vor Jahren irreparable Hirnschäden sam zum Mannschaftsbus. »Ich glaube,
rief und Maradona anbot. Diego wolle trai- attestiert, und spätestens seit der WM in dass dieses Jahr nicht das beste Jahr für
nieren und sei nicht wirklich von dem Ge- Russland gibt es niemanden, der die Diag- ihn war. Die Ruhe hier wird ihm guttun«,
danken begeistert, den Winter in Weiß- nose anzweifeln würde. sagt Toño, der wie ein Therapeut klingt
russland zu verbringen, habe der Mann Es ist die immer gleiche Geschichte. Auf und weniger wie ein Vereinspräsident.
gesagt. Toño dachte an die Publicity, an dem Platz war Maradona ein Genie. Der 2018 war furchtbar für Maradona. Im
die Tickets, die er mehr verkaufen würde, beste linke Fuß, der jemals einen Fußball- Juli hatte er offenbar volltrunken in einem
an die jungen Spieler in der Mannschaft, rasen betreten hat. Seine Zeit in Barcelona, Auto gesessen und argentinischen Repor-
die sagen könnten, dass Maradona ihr Trai- später in Neapel, vor allem der WM-Sieg tern Statements in die Mikrofone diktiert,
ner sei. Dann habe er mit den Hanks ge- 1986, diese Jahre machten ihn unsterblich. die beim besten Willen kaum zu verstehen
sprochen, und die mochten den Gedanken. Eine Ikone Argentiniens, auf gleicher Ebe- waren. Neben ihm saß seine künftige Ehe-
Maradona bekommt rund 50 000 Euro im ne wie Evita Perón und Carlos Gardel. Das frau Rocío Oliva, die 30 Jahre jünger ist.
Monat plus Beteiligung an den Trikotver- wird für immer so sein, auch wenn Mara- Seine Freunde sagen, dass Maradona
gern in Dubai geblieben wäre. Maradona
liebe Dubai. Er konnte in seiner Villa auf
der Couch sitzen und Fußball gucken.
Nichts auf der Welt macht er lieber. Nichts.
Schon gar nicht, wenn jemand auch noch
haufenweise Geld überweist, sodass vor
der Tür ein himmelblauer Rolls-Royce und
ein weißer 150 000-Euro-BMW stehen.
Maradona will vor allem seine Ruhe.
Das ist das Wichtigste überhaupt. Eine
Couch, Boca Juniors, seine alte Vereins-
mannschaft, im Fernsehen, etwas Matetee,
argentinisches Fleisch auf dem Grill und
morgens ausschlafen, dazu ein Job, den
man nicht ernst nehmen kann: Trainer in
der Liga der Vereinigten Arabischen Emi-
rate. Sportbotschafter für die Scheichs. So
etwas in der Art.
Maradona hatte in Dubai sein Paradies
ITAR-TASS / IMAGO SPORT

gefunden. Im Grunde ein recht bescheide-


ner Arme-Leute-Traum. Leider hatten die
Araber irgendwann keine Lust mehr, den
Traum zu finanzieren. Maradona war ge-
zwungen, sich Arbeit zu suchen. Womög-
lich richtige Arbeit.
Funktionär Maradona im Juli im weißrussischen Brest: Ewige Liebe
»Ich kann nur sagen, dass wir sehr zu-
frieden sind«, sagt Toño. Maradona habe
bei seiner Vorstellung »harte Arbeit« ver-
käufen, die seit seiner Ankunft deutlich dona seit Jahrzehnten außerhalb des Plat- sprochen, und bisher sei das genau so ein-
gestiegen sind. Der Vertrag läuft über ein zes alles einzureißen versucht, was er sich getreten. Toño scheint aufrichtig erstaunt
Jahr. Ziel ist der Aufstieg in die erste Liga. auf dem Platz aufgebaut hat. Es gibt kaum zu sein, dass er die ersten vier Wochen
»Ich weiß, was alle dachten«, sagt Toño, jemanden, der so zielsicher falsche Ent- ohne Katastrophe überlebt hat.
»ich habe die WM in Russland schließlich scheidungen trifft wie er. Er umgibt sich Maradona steht motiviert auf dem Trai-
auch gesehen.« Die Fifa hielt es für eine mit Freunden, die keine sind, hat lange ge- ningsplatz, die Spieler hängen an seinen
gute Idee, Maradona einen Vertrag als Bot- kokst, Steuern hinterzogen, auf Journalis- Lippen. Als er die Mannschaft übernahm,
schafter anzubieten. Maradona fuhr auf ten geschossen, seine Freundin geschlagen, hatte sie drei Punkte in sechs Spielen ge-
Einladung des Weltverbands im Sommer Kinder gezeugt, die er verleugnet. Mehr- holt. Seitdem er da ist, hat sie drei von vier
nach Russland. Wenn es der Fifa darum mals war er kurz davor zu sterben. Ligapartien gewonnen. Maradona lässt
ging, möglichst viel Aufmerksamkeit zu Maradona hat viel getan, sein Leben zu genau so spielen, wie er es früher gehasst
generieren, ging der Plan auf. Maradona zerstören. Doch für seine Fans wurde sein hätte. Seine Männer sollen sich in erster
war häufiger in den Schlagzeilen als Messi. Legendenstatus immer größer. Er war Linie um das Toreverhindern kümmern.
Der argentinische Superstar enttäuschte. nicht nur das Symbol für alles, was schön Bei Ballverlust des Gegners wird schnell
Maradona übertraf alle Erwartungen. am Fußball ist, er wurde es auch für das umgeschaltet. Langer Ball und ab. Malo-
Seine bizarren Auftritte auf der Haupt- genaue Gegenteil, für alles, was diesen cherfußball, hinten sicher, vorn wird schon.
tribüne wurden fester Bestandteil der Ar- Sport hässlich macht. Maradona ist Vor- Bisher scheint das zu funktionieren.
gentinien-Spiele. Maradona machte sich bild und Warnung zugleich, ein Mann vol-

66 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Die Preview-Aktion wird am
Oktober
Preview am 21. . Oktober
Sonntag, dem 21.10.2018

Kinostart am 25
stattfinden. Für zwei kostenlose
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Ab Donnerstag, dem 18.10.2018
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MIT GERDA LIE KAAS SONJA RICHTER MAY SIMÓN LIFSCHITZ VERA MI FERNÁNDEZ BACHMANN ALBERT WERNER SIGNE EGHOLM OLSEN HENRIK MESTAD KIRSTEN OLESEN PEDER HOLM JOHANSEN
CASTING JANNE HAGEN ERIKSEN RIE HEDEGAARD & KARIN JAGD KOSTÜME LOUIZE NISSEN MASKE BETTINA LERVIG & FANNEY ANTONSDÓTTIR AUSSTATTUNG SABINE HVIID MUSIK FLEMMING NORDKROG
TON PETER ALBRECHTSEN & INGER ELISE HOLM SCHNITT ANDERS ALBJERG KRISTIANSEN & LARS THERKELSEN KAMERA ADAM WALLENSTEN, DFF
Hannover
„Dein SPIEGEL“ ist das Magazin für neugierige Kinder
VFX UND POSTPRODUKTION MIKAEL WINDELIN VFX SUPERVISORS SIMON SANDIN & CHRISTIAN SJÖSTEDT HERSTELLUNGSLEITER MALTE FORSSELL
KOPRODUZENTEN BERNA LEVIN SILJE HOPLAND EIK ESZTER GYÁRFÁS & DYVEKE BJØRKLY GRAVER
AUSFÜHRENDE PRODUZENTEN VIBEKE WINDELØV OLE SØNDBERG & JAMES CABOURN PRODUKTION STINNA LASSEN & ANNI FAURBYE FERNANDEZ
DREHBUCH BO HR. HANSEN POUL BERG & KASPAR MUNK NACH DEM BUCH VON LENE KAABERBØL „WILDHEXE“ EIN FILM VON KASPAR MUNK
COPYRIGHT © GOOD COMPANY FILMS, 2018

/WildhexeFilm /wildhexe_film CinemaxX


Raschplatz 6
Beginn: 15.00 Uhr

Köln
Cineplex
Hohenzollernring 22
Beginn: 15.00 Uhr

Leipzig
WILDHEXE Passage Kinos
Hainstraße 19a
Die 12-jährige Clara ist wie jedes andere Mädchen. Aber alles ändert sich, als sie Beginn: 15.00 Uhr
eines Tages von einer schwarzen Katze angefallen und gekratzt wird. Clara entdeckt,
dass sie eine besondere Begabung hat: Sie kann mit den Tieren sprechen. Sie ist eine München
Leopold Kinos
Wildhexe und dazu noch eine ganz besondere, denn sie ist die neue Wächterin der
Leopoldstraße 78
wilden Welt. Zusammen mit ihren Unterstützern, ihrer Tante Isa, die sie lehrt mit
Beginn: 15.00 Uhr
ihrer Begabung umzugehen, und ihren Wildhexen-Freunden Kahla und Oscar stellt
sich Clara ihrem Schicksal: die Natur und sich selbst retten. Ein gefahrvoller Weg Nürnberg
wartet auf die junge Wildhexe, denn um das Ziel zu erreichen, muss sie gegen die Cinecittà
mysteriöse Chimäre kämpfen … Gewerbemuseumsplatz 3
Mitreißend und magisch erzählt der Film, basierend auf der Jugendbuchreihe der Beginn: 15.00 Uhr
Erfolgsautorin Lene KaarberbØl, von den Abenteuern der jungen Clara, die mit
Tieren sprechen kann und die wilde Welt vor Gefahren beschützen muss. Stuttgart
Metropol
Bolzstraße 10
@wildhexe_film /WildhexeFilm Beginn: 15.00 Uhr
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Sport

Anstoß
Das aber bedeutet nicht, dass der Sport bis zu einem
Gerichtsverfahren keine Debatte führen kann. Im Gegen-
teil, er muss. Alles andere wäre ein fatales Signal. An
all jene, für die Ronaldo ein Idol ist. Für Jungen und
Mädchen, die ihrem Helden nacheifern und die nun das
Standpunkt Die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Gefühl bekommen, sie könnten sich alles erlauben,
Cristiano Ronaldo haben vorerst keine Konsequenzen solange sie nur gut genug Fußball spielen. Und für all jene,
die sexualisierte Gewalt erlebt haben oder sie fürchten.
für den Fußballer. Das verstört. Warum der Denn: Selten sind Vergewaltigungsvorwürfe so gut
Sport begreifen sollte, dass sich etwas ändern muss. untermauert wie in diesem Fall. Es gibt das Polizeiproto-
Von Ann-Katrin Müller koll vom selben Tag, als Kathryn Mayorga dort anrief.
Es gibt den Bericht des Krankenhauses, in dem Mayorga
damals war, inklusive Fotos der Verletzungen. Es gibt

V
den Brief von Mayorga an Ronaldo, in dem sie ihn ver-
ergangenen Samstag hat Cristiano Ronaldo ein zweifelt anklagt.
Tor geschossen. Ein schönes Tor. Ein Linksschuss Und es gibt die Dokumente, in denen Ronaldo zitiert
ins lange Eck, präzise, kraftvoll. Ronaldo jubelte, wird, dass Mayorga »mehrfach Nein und Stopp gesagt«
wie er immer jubelt: Er sprang in die Luft, drehte habe. Dass er »auf die brutale Tour« in sie eingedrungen
sich um die halbe Achse, landete breitbeinig. Sein Verein, sei. Dass sie ihm gesagt habe, dass sie »nicht will, aber
Juventus Turin, gewann das Spiel. sich bereitgestellt« habe. Dass sie sich beklagt habe,
»Ronaldo-Hammer« schrieb Sport1 auf seiner Inter- »dass ich sie gezwungen habe«. Dass er sich hinterher
netseite. »Was für ein Tor«, sagte der DAZN-Kommenta- entschuldigt habe. Und es gibt den Vergleich, den die
tor, hörbar beeindruckt. Und Sport.de titelte: »Ronaldo Anwälte aushandelten: Mayorga unterschrieb zu schwei-
ballert die Negativschlagzeilen weg«. gen und bekam 375 000 Dollar. Das verdiente Ronaldo
Negativschlagzeilen? War da was? damals bei Real Madrid in einer Woche.
Eine Woche zuvor hatten meine Kollegen berichtet, Trotzdem: kein Boykott, keine Debatte. Obwohl in
dass eine Frau Ronaldo der Vergewaltigung bezichtigt Deutschland eigentlich gern über Fußball debattiert wird.
(SPIEGEL 40/2018). Die Frau, Kathryn Mayorga, sprach Manchmal auch wochenlang, obwohl die Antworten nicht
das erste Mal öffentlich über jene Nacht 2009, in der es wirklich kompliziert sind. Etwa darüber, ob die National-
passiert sein soll, dazu wurde aus etlichen Dokumenten spieler alle bei der Hymne mitsingen müssen. Oder ob
zitiert, die ihre Version stützen. Mesut Özil hauptverantwortlich für das frühe Ausscheiden
Trotzdem gab es kaum Konsequenzen für Ronaldo. bei der WM gewesen sei. Und ob nur Männer und nicht
Der Nationaltrainer Fernando Santos nominierte Frauen wie Claudia Neumann WM-Spiele kommentieren
ihn zwar nicht für die nächsten beiden Spiele, begründete sollten. Nein, nein und nein.
dies aber nicht mit den Vorwürfen. Stattdessen stellte Bei Ronaldo aber Schweigen.
er seinem Starspieler eine Art Blankoscheck aus: »Ich

D
kenne Ronaldo gut, und ich glaube voll und ganz, was
er sagt. Er würde das Verbrechen, dessen er beschuldigt as Schweigen stört mich übrigens nicht, weil es
wird, nicht begehen.« Aha. eine Recherche aus unserem Hause ist. Oder
Sein Verein Juventus ließ Ronaldo spielen, als wäre weil es mal wieder zeigt, wie männerdominiert
nichts gewesen. Trainer Massimiliano Allegri sagte, dass dieser Sport und weite Teile der Berichterstattung
Juventus ihm »Schutz bieten« könne. Und der Verein sind. Sondern weil es zeigt, wie wenig der Sport – und
twitterte, dass Ronaldo ein »großer Champion« sei und in gerade der Fußball – verstanden hat, obwohl er etwas
den vergangenen Monaten seine »Professionalität und anderes verspricht. Und dass sich das ändern muss. Nicht
Hingabe« gezeigt habe. nur, wenn es um Ronaldo geht, sondern grundsätzlich.
Portugals Premierminister wünschte sich nur eines: Es braucht endlich einen Anstoß.
dass das Ansehen Ronaldos von »nichts« beschädigt wer- Denn der Sport hat eine besondere Verantwortung.
de, schließlich sei er ein »außergewöhnlicher Fußballer, Das sagen seine Funktionäre gern selbst. Der Sport soll
der Portugal Ruhm und Ehre gebracht« habe. Werte wie Respekt, Disziplin, Chancengleichheit, Team-
Nicht mal die Unternehmen, die mit Ronaldo werben, geist, das Einhalten von Regeln vermitteln. Deswegen
zogen Konsequenzen. EA Sports entfernte kurzzeitig sein gebe es Kampagnen wie »Fair Play« und »Kein Platz für
Foto von der Firmenwebsite, mittlerweile ist es aber wie- Rassismus«.
der da – Ronaldo ist weiterhin das Gesicht des weltweit Klingt gut. Aber wo bleibt die Kampagne »Rote Karte
erfolgreichen Spiels »Fifa 19«. Der Sportartikelhersteller für sexualisierte Gewalt«?
Nike und DAZN, ein Sport-Streamingdienst, der Ronaldo Nicht in Sicht. Und das, obwohl der Sport besonders
zum globalen Markenbotschafter ernannt hat, gaben anfällig ist, aus mehreren Gründen: die Körperlichkeit.
lediglich bekannt, die Situation »genau zu beobachten«. Die Kumpeligkeit. Die Hierarchien, die Machtmissbrauch
Ansonsten? Nichts. Obwohl, doch, Ronaldo wurde leichter machen.
gerade für den Ballon d’Or nominiert, eine der prestige- Das betrifft alle, die Sport treiben, Leistungssportler
trächtigsten Auszeichnungen, die es für Fußballer gibt. genauso wie Freizeitsportler. Und damit mindestens 27 Mil-
Nicht falsch verstehen, Ronaldo hat die Vorwürfe lionen Menschen in Deutschland, das sind allein die,
bestritten. Und natürlich gilt die Unschuldsvermutung, die Mitglied in einem Sportverein sind. Darunter mehr als
nur ein Gericht kann und soll Ronaldo schuldig sprechen. 7 Millionen Kinder, bei denen man am besten anfängt,
Wozu es tatsächlich kommen könnte, die Polizei in damit sexualisierte Gewalt langfristig seltener vorkommt.
Nevada hat den Fall nach der Berichterstattung wieder Zuständig ist der Deutsche Olympische Sportbund
geöffnet und ermittelt, will auch Ronaldo befragen. (DOSB), der sich dann auch recht selbstbewusst »größte

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STEFANO RELLANDINI / REUTERS


Cristiano Ronaldo

Bürgerbewegung Deutschlands« nennt. Doch wer deswe- der gab es dieselben Mechanismen bei den Verantwortli-
gen besonders viel Engagement erwartet, wird enttäuscht. chen: wegschauen, vertuschen, nur zugeben, was ihnen
Der DOSB kündigte 2016 zwar vollmundig eine konfrontativ vorgehalten wurde. Der Ruf des Sports zähl-
Kooperation mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bun- te mehr als der Schutz vor Übergriffen. Hilferufe verhall-
desregierung an, wollte aber nicht mal eine Kampagne ten. Nach einem unserer Berichte starteten Boxerinnen
finanzieren, die einen niedrigen fünfstelligen Betrag eine Kampagne unter dem Hashtag #CoachDontTouchMe
gekostet hätte. (»Trainer, fass mich nicht an«), doch auch die versandete.
Das ist absurd. Der DOSB bekommt jährlich 170 Millio- Das Resultat: Die Beschuldigten und die Vertuscher
nen Euro vom Bund. bleiben zu häufig auf ihren Posten, trainieren weiter. Die
Betroffenen aber gaben ihren Sport auf, selbst Kader-

D
sportler, die ihre Kindheit dem Sport gewidmet hatten.
och es kommt noch schlimmer. Der Abteilungs- Das ist ein Armutszeugnis. Und erklärt, warum viele
leiter Sport im Bundesinnenministerium wollte Betroffene immer noch schweigen – und sich erst Jahre
diese Fördergelder für den Spitzensport an Min- später melden, wenn überhaupt.
deststandards knüpfen. Wer nicht in Prävention Dabei wäre es gar nicht so kompliziert, etwas zu tun.
gegen Missbrauch investiert, sollte kein Geld bekommen. Es gibt Mindeststandards, die Fachleute entwickelt haben.
Auch sonst nervte er den DOSB mit seiner kritischen Hal- Sportlern müsste gesagt werden, dass sie sich melden
tung. Dann übernahm Horst Seehofer das Ministerium – sollen, wenn etwas passiert. Und an wen sie sich wenden
und brachte den parlamentarischen Staatssekretär Stephan können. Trainer müssten geschult werden. Vereine müss-
Mayer mit. Der hat ein enges Verhältnis zu DOSB-Chef ten Ehrenkodizes einführen und polizeiliche Führungs-
Alfons Hörmann. Im Mai wurde der Abteilungsleiter zeugnisse einfordern, auch von Ehrenamtlichen.
unerwartet in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Und was, wenn es plausible Vorwürfe gibt? Die Vor-
Auch auf der Ebene darunter tut sich kaum etwas. Der würfe klären, auch dafür gibt es Experten, die man zurate
Deutsche Fußball-Bund (DFB) sagt zwar öffentlich: »Das ziehen kann, falls man nicht zur Polizei gehen möchte.
Wohl und die Sicherheit der Kinder im Verein sind unser Und die Beschuldigten so lange vom Sport ausschließen.
höchstes Gut.« Doch er kümmerte sich nicht mal darum, Das mag erst mal naiv und hart klingen. Aber hat die
einen Spieler der Nationalelf zu finden, der bei einer Kam- US-Filmindustrie nicht genauso rigoros reagiert, als ver-
pagne des Missbrauchsbeauftragten mitmachen würde. gangenes Jahr Vorwürfe gegen Harvey Weinstein oder
Als ich vergangenes Jahr beim DFB anrief, um zu fragen, Kevin Spacey hochkamen? Ein Sportler, egal wie erfolg-
was der Grund für die Zurückhaltung sei, schrie mich der reich, hat kein Anrecht darauf, in einem bestimmten
Pressesprecher an. Und sagte, das Engagement in dem Verein zu trainieren, für ein bestimmtes Team zu starten.
Bereich sei doch groß. Man habe beispielsweise Informa- Ronaldo zu suspendieren wäre der richtige Schritt
tionsbroschüren gedruckt und verschickt. 9000, um genau gewesen. Das würde ein Signal senden. Und dafür sorgen,
zu sein. In Deutschland gibt es 25 000 Fußballvereine. dass die Aufklärung solcher Fälle schneller vorangeht.
In anderen Sportarten ist es nicht besser. Ich habe mit Nun wartet der Sport nur ab, bis die Justiz in Las Vegas
Kollegen zu sexualisierter Gewalt beim Fußball, Skifahren, ihre Arbeit abgeschlossen hat. Und redet lieber über
Fechten, Boxen und Reiten recherchiert. Und immer wie- Ronaldos Tore. I

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Wirtschaft
So wie Vestager will die EU eigentlich gern sein: mächtig, relevant und auf Augenhöhe mit den USA. ‣ S. 86

Benner

PR
Unternehmen

IG-Metall-Vizechefin fordert Frauenquote


Die Gewerkschafterin wirft den Firmen vor, das Thema auszusitzen – und verlangt ein Gesetz.
 Die IG Metall schaltet sich in die Diskussion um das Frau- eigene Zielgrößen zu geben, begründet Benner ihren Vor-
endefizit an der Spitze deutscher Unternehmen ein. Ende stoß. Trotzdem hätten sie »viel zu wenig getan«.
September hatte das Statistische Bundesamt mitgeteilt, dass Als Konsequenz verlangt sie deshalb eine verbindliche
der Anteil weiblicher Führungskräfte in der Wirtschaft im Frauenquote nicht nur für den Aufsichtsrat, sondern auch
vergangenen Jahr leicht gesunken sei – auf 29,2 Prozent. für die obersten Leitungsebenen der Unternehmen. »Es ist
Die Zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, längst erwiesen«, so Benner, »dass gemischte Führungs-
will sich damit nicht länger abfinden. »Wir brauchen ver- teams erfolgreicher sind.« Bundesjustizministerin Katarina
bindliche Frauenquoten für Vorstände und die Manage- Barley will zumindest bei staatlichen Leitungsfunktionen
mentebenen darunter«, fordert die Spitzengewerkschafte- eine Quote durchsetzen. Sie plant ein Gesetz, wonach der-
rin. Sie sitzt im Aufsichtsrat von BMW und bei dem Autozu- artige Positionen im öffentlichen Dienst bis 2025 je zur
lieferer Continental, wo sie als stellvertretende Vorsitzende Hälfte mit Männern und Frauen zu besetzen sind. Es könn-
fungiert. Die Firmen hätten lange genug Zeit gehabt, sich te als Blaupause für die Privatwirtschaft dienen. DID

Arbeitswelt Bahn-Kunden auf eigens dafür eingerich- Berliner Hauptbahnhof sei im Sommer
Bahn bietet Co-Working für teten Büroflächen arbeiten können. Das
Angebot richtet sich vor allem an Pendler
auf große Resonanz gestoßen. Co-
Working-Spaces sind meist offen gestal-
Geschäftsreisende an und Geschäftsreisende. Gegen Geld tete Büros, in denen sich Freiberufler
sollen aber auch Kunden ohne Zugticket ohne festen Arbeitsplatz, aber auch
 Die Deutsche Bahn wird zum Büro- Zugang erhalten. Bahnhöfe seien »ideale ganze Firmen tageweise oder dauerhaft
anbieter. Ab 2019 will das Unternehmen Standorte für mobiles und agiles Ar- einmieten. Der Co-Working-Markt wächst
an mehreren Bahnhöfen sogenannte Co- beiten«, heißt es bei der Deutschen Bahn. rasant. 2017 gab es weltweit fast 14-mal
Working-Spaces eröffnen. Dort sollen Ein zeitlich begrenztes Pilotprojekt am so viele Flächen wie noch 2011. AKN

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Währungsunion Frankreich sympathisiert mit dieser aber dafür aus, den ESM mit der Analyse
Zank um europäischen Haltung. Beim Treffen der Eurogruppe
Anfang Oktober in Luxemburg sprach
der Schuldentragfähigkeit zu betrauen.
Der Rettungsschirm müsse in seiner Rolle
Rettungsschirm sich der Europastaatssekretär im Bundes- als Kreditgeber gestärkt werden, sagte
finanzministerium, Jörg Kukies, in Vertre- Kukies. Dazu müsse er die Verschuldung
 In der Eurogruppe, der Versammlung tung von Ressortchef Olaf Scholz (SPD) der Länder in der Eurozone und deren
der Finanzminister aus der Währungs- wirtschaftliche Entwicklung beobachten.
union, ist Streit über die künftigen Zustän- Ähnlicher Ansicht sind die Vertreter nörd-
digkeiten des europäischen Rettungs- licher Mitgliedstaaten, etwa der Nieder-
schirms ESM entbrannt. Damit droht der lande und Finnlands. Die Bundesregie-
Umbau des ESM zu einem europäischen rung findet, dass die EU-Kommission
Währungsfonds ins Stocken zu geraten. während der Eurokrise häufig zu nach-

JANINE SCHMITZ / PHOTOTHEK


Die EU-Kommission will verhindern, sichtig war. In einem Gutachten räumt der
dass der ESM in Zukunft prüfen darf, ob Juristische Dienst des Rates der EU dem
die Verschuldung der Mitgliedsländer auf ESM weitreichende Möglichkeiten ein,
Dauer tragfähig ist. Sie reklamiert diese die Schuldentragfähigkeit zu analysieren.
Kompetenz für sich. Unterstützung für Das kollidiere nicht mit Unionsrecht,
ihre Position erhält sie von einigen süd- obwohl der ESM keine Institution der EU,
lichen Mitgliedsländern der Eurozone, sondern eine der Mitgliedstaaten der
darunter Griechenland und Italien. Auch Kukies, Scholz Eurozone sei. REI

Handel nachdem US-Präsident Donald Trump Insolvenzen


Regierung will keine Strafzölle auf europäische Autoimporte
angedroht hatte. Um solche Zölle zu
P&R-Pleite brockt der
neuen TTIP-Gespräche verhindern, strebt Berlin eine schnelle Finanzaufsicht Klage ein
Einigung an. Die Gespräche mit den USA
 Nach dem Willen der Bundesregierung sollen einen »eng begrenzten Ansatz«  Die Pleite der Unternehmensgruppe
soll es zwischen der EU und den USA verfolgen und »lediglich für den Bereich P&R aus Grünwald bei München hat
vorerst keine neuen Verhandlungen über der Industriezölle« geführt werden, ein juristisches Nachspiel für die
Investitionsschutz, Schiedsgerichte und erklärt das Bundeswirtschaftsministerium Finanzaufsicht BaFin. Ein geschädigter
regulatorische Kooperation geben. Solch auf eine Anfrage der Grünen-Parlamenta- Kunde hat beim Frankfurter Land-
weitreichende Vereinbarungen waren im rierin Katharina Dröge. Diese vermutet, gericht Klage gegen die Behörde wegen
Rahmen der gescheiterten Transatlanti- dass die Regierung neue Proteste fürchtet, fehlerhafter Genehmigung von Ver-
schen Handels- und Investitionspartner- falls im Rahmen dieses Abkommens über kaufsprospekten der P&R-Gruppe ein-
schaft (TTIP) geplant. Derzeit laufen vereinfachte Zulassungen etwa für Che- gereicht. P&R hatte Kleinanlegern jahr-
neue Sondierungsgespräche zu einem mikalien gesprochen wird. EU-Schutz- zehntelang Schiffscontainer verkauft,
Zollabkommen zwischen Europa und standards sollen »nicht beeinträchtigt die Transportbehälter zu garantierten
den USA. Sie waren vereinbart worden, werden«, so das Ministerium. GT Preisen vermietet und sie nach einem
bestimmten Zeitraum zurückgekauft.
Die Klage sei die erste gegen die Ban-
kenaufsicht seit dem Kollaps der Köl-
Greser & Lenz ner Herstatt-Bank 1974, sagt Kläger-
anwalt Wolfgang Schirp. Viele weitere
Anleger könnten folgen. Die BaFin
argumentiert, sie prüfe Prospekte nicht
auf deren wirtschaftliche Tragfähigkeit,
sondern nur auf Vollständigkeit,
Verständlichkeit und Kohärenz. Schirp
dagegen glaubt, die Aufsicht habe
versagt, weil die P&R-Prospekte eine
Nachschusspflicht für die Anleger bein-
haltet hätten und dies gegen gesetzliche
Vorgaben verstoße. Das Geschäft
schien sicher, bis P&R Anfang 2018
erstmals Mietzahlungen stunden muss-
te und mitteilte, dass sich der Rückkauf
von Containern verzögere. Heute ist
klar: P&R verkaufte Container, die teils
gar nicht existierten. Inzwischen hat
die Gruppe Insolvenz angemeldet,
betroffen sind rund 50 000 Kunden, die
3,5 Milliarden Euro angelegt hatten.
Kommende Woche findet in der
Münchner Olympiahalle die erste
Gläubigerversammlung statt. BAZ

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Wirtschaft

Die Reifeprüfung
Digitalisierung In der Wirtschaftswelt von morgen entscheidet nicht die Hardware,
sondern die Software über den Erfolg, die Ingenieurskunst verliert an Bedeutung. Deutschland
ist für diese Zukunft schlecht gerüstet, Politiker und Unternehmer müssen umsteuern.

JONAS HOLTHAUS / LAIF

Digitalexperte Bornschein: »Auf allen Indizes sieht’s einfach scheiße aus«

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C
hristoph Bornschein muss nicht
lange überlegen. »Drei minus.«
So bewertet er den Stand der Di-
gitalisierung in Deutschland. »Mit
diesem Schnitt macht man sein Abi«, sagt
er. »Aber man spielt nicht mehr in den
›Top sieben‹ der wichtigsten Industrie-
nationen mit.«
Dann denkt er doch noch einmal kurz
nach. »Auf allen Indizes, die man sich an-
gucken kann, sieht’s einfach scheiße aus«,
sagt er schließlich. Eine Drei minus im
Schnitt wäre deshalb vielleicht zu positiv,
»weil man damit noch bestehen würde.
Vielleicht ist es eher eine Vier minus«.

HEINER MÜLLER-ELSNER
Somit wäre Deutschland durchgefallen
in der digitalen Reifeprüfung.
Ein hartes Urteil. Es kommt von einem
Mann, der mit seinem roten Wuschelkopf
aussieht wie ein Bruder des Popmusikers
Ed Sheeran und führende Vertreter von Illustration der Digitalstrategie bei Viessmann: Alle Mitarbeiter mitnehmen
Konzernen schon mal in Shorts empfängt.
Die suchen seinen Rat, denn Bornschein,
35, Chef und Gründer der Berliner Digi- cken, denn es mangele nicht an Forschungs- Mittelständler, die großen Familienunter-
talberatung TLGG (Torben, Lucie und die ergebnissen, sondern an deren Umsetzung nehmen, deren Produkte weltweit begehrt
gelbe Gefahr) gilt als einer der digitalen in Produkte und Geschäftsmodelle. sind. Aber können sie in der neuen Wirt-
Vordenker des Landes. Eine Erneuerung der deutschen Wirt- schaftswelt bestehen, die nicht mehr von
Digitalberater – das ist ein gutes Ge- schaft von unten durch junge Unterneh- Tüftlern und Metall geprägt wird, sondern
schäftsmodell in Zeiten wie diesen, jeden- men mit frischen Ideen – nach dem Vor- von Programmierern und Daten?
falls dann, wenn man so eloquent und bild des kalifornischen Silicon Valley – er- Es gibt ermutigende Beispiele, Unter-
thesenstark wie Bornschein auftritt. Und scheint derzeit ebenfalls wenig realistisch. nehmen, die sich dieser Herausforderung
weil alle Unternehmen des analogen Zeit- Noch immer mangelt es an Gründern, die stellen. Und es gibt den großen Rest.
alters nach einem Geschäftsmodell su- wirklich groß denken, und an Geld: Nicht Allendorf in der hessischen Pampa, hü-
chen, das auch noch in Zukunft sichere einmal zwei Prozent des weltweiten Risi- gelige Landschaft, verschlafene Dörfer, die
Gewinne verspricht. kokapitals, auf das Start-ups angewiesen nächste größere Stadt ist Marburg. Hier,
Für Deutschlands Unternehmen ist das sind, fließt nach Deutschland. fernab der Metropolen, ist Viessmann zu
eine besondere Herausforderung. Sie ma- Wie veraltet die Struktur der deutschen Hause, ein Spezialist für Heizungstechnik,
chen glänzende Geschäfte, stellen in vielen Wirtschaft ist, zeigt ein Blick auf den Deut- der dank der Digitalisierung zum globalen
Branchen die Weltmarktführer. Aber was schen Aktienindex Dax, der die wertvolls- Energiemanager werden will.
zählt das alles noch in einer Welt, in der ten Konzerne des Landes repräsentiert: Den Mann, der diese Entwicklung voran-
nicht mehr die beste Hardware, sondern Dort war bislang mit SAP nur ein Unter- treibt, nennen sie hier Max. Nicht weil er
die Software über den Erfolg entscheidet? nehmen der Digitalwirtschaft vertreten, erst 29 ist, sondern weil er das so will. Ma-
Und in der neue Herausforderer in ihre am 24. September kam mit dem Zahlungs- ximilian Viessmann verkörpert die vierte
angestammten Märkte einbrechen? abwickler Wirecard erstmals ein junges Generation einer Unternehmerfamilie, die
Auf Hilfe der Politik können die Unter- Tech-Unternehmen dazu. Die wichtigste es bisher immer geschafft hat, den An-
nehmen kaum hoffen, die Große Koalition Branche ist nach wie vor die Autoindus- schluss an die Moderne zu finden. Sein Ur-
hat sich zwar einiges vorgenommen, ist trie – doch Volkswagen, BMW und Daim- großvater hatte das Unternehmen 1917 ge-
aber weitgehend mit sich selbst beschäftigt. ler stehen vor existenziellen Problemen. gründet, sein Großvater baute es nach dem
Viele Vertreter der Wirtschaft hatten sich »Die Autohersteller werden das Wett- Krieg wieder auf, sein Vater Martin hat es
einen Minister für Digitales gewünscht, rennen um die neue Mobilität nur mit ei- in den Neunzigerjahren internationalisiert.
der die zersplitterten Zuständigkeiten bün- ner Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent Nun, am Anfang des zweiten Jahrhun-
delt. Stattdessen kümmern sich nun Kanz- gewinnen«, bekannte Volkswagen-Chef derts seiner Firmengeschichte, steht es wie-
leramtsminister Helge Braun und die Herbert Diess kürzlich erstaunlich offen in der vor einem epochalen Wandel – unter
Staatsministerin Dorothee Bär um das Zu- einem Gespräch mit dem »Handelsblatt«. Führung von Max, der den Umbau zuvor
kunftsthema. Für den einen ist es eine Auf- Künftig definiere Software maßgeblich den schon als sogenannter CDO (Chief Digital
gabe von vielen, die andere fiel bisher vor Charakter eines Autos. Und da haben Di- Officer) eingeleitet hat, und einem fami-
allem durch ihre Selbstinszenierung in den gitalkonzerne wie Google oder Apple weit lienfremden Manager. Martin Viessmann
sozialen Netzwerken auf. mehr Know-how. Gleichzeitig wird die zog sich Anfang des Jahres in den Verwal-
Immerhin gibt es seit Kurzem eine Bun- Hardware zunehmend austauschbar, denn tungsrat zurück.
desagentur für Sprunginnovation und ei- Elektrofahrzeuge sind technisch weniger Die Produkte zu digitalisieren und zu
nen Digitalrat mit Experten aus Wissen- komplex und viel einfacher zu bauen. vernetzen war nur der erste Schritt der
schaft und Wirtschaft. Aber viel mehr »als Was aber bleibt von der deutschen Wirt- neuen Strategie: Die Daten wandern in
eine lose Sammlung von Willenserklärun- schaft, wenn die Autohersteller an Bedeu- die Cloud, die Heizung kann per App ge-
gen« sei bisher bei all diesen Aktivitäten tung verlieren, es an neuen Champions steuert, die gesamte Anlage online über-
nicht herausgekommen, kritisiert Born- aber mangelt? Ihre Stärke ist die industriel- wacht und gewartet werden.
schein. Es sei auch nicht damit geholfen, le Produktion, die klassische Ingenieurs- Schwieriger ist der zweite Schritt: das
einfach mehr Geld in die Forschung zu ste- kunst, ihr Rückgrat sind die zahlreichen Geschäftsmodell zu erweitern, durch Zu-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 75


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ist »eine Jahrhundertchance«,


sagt Max, der Chef.
Mehr Chancen als Risiken
sieht auch Mathias Kammüller,
60, der beim Maschinenbauer
Trumpf den digitalen Wandel vo-
rantreibt. Geführt wird Trumpf
von seiner Ehefrau Nicola Lei-
binger-Kammüller, sein Schwa-
ger Peter Leibinger kümmert
sich um neue Technologien und
die Zusammenarbeit mit Start-
ups. »Wir sind ein ganz beson-
ders intensives Familienunter-
nehmen«, sagt Kammüller über
diese ungewöhnliche Konstel-
lation.
Es war Kammüllers Schwie-
gervater Berthold Leibinger, der
den Maschinenbauer aus Ditzin-
gen bei Stuttgart zu einem Welt-
unternehmen formte. Er entdeck-

TRUMPF
te in Amerika die Lasertechnik
und baute sie erstmals in Blech-
Vernetzte Fabrik von Trumpf in Chicago: Neue Entwicklungen von Anfang an mitmachen schneidemaschinen ein. Heute
beschäftigt das Unternehmen
weltweit 13 500 Mitarbeiter.
käufe oder die Gründung interner Start- gefällt werden, wo sie anfallen. Die Mit- Der Umsatz, zuletzt 3,6 Milliarden Eu-
ups. So entstand etwa ein Abo-Modell arbeiter müssen sich an einen neuen, team- ro, steigt durchschnittlich um rund zehn
für Wärme: Der Kunde kauft nicht mehr orientierten Arbeitsstil gewöhnen – und Prozent pro Jahr, in diesem Tempo soll
die Heizung, sondern die Serviceleistung daran, mehr Verantwortung zu tragen. es weitergehen. »Bei Blechbearbeitungs-
Heizen. Und wenn ein Kunde schon ein- Anfangs zog die Geschäftsführung in ei- maschinen haben wir einen Marktanteil
mal gewonnen ist, sollen ihm in Zukunft ner kleinen Roadshow durchs Unterneh- von 25 Prozent, da ist noch Luft nach
weitere Dienstleistungen rund um die men, um den Mitarbeitern zu erklären, oben«, sagt Kammüller. Wachstumspoten-
Wohnung angeboten werden, Putzen in- wie sich ihre Arbeit ändert. Eine App in- zial habe auch das Geschäft mit Metall-
klusive. formiert laufend über neue Entwicklungen, 3-D-Druckern. Sie fertigen Teile, die mit
»Unser Geschäft wird ein Lösungsge- einmal im Monat können die Beschäftig- herkömmlichen Methoden nicht herstell-
schäft sein«, sagt Max Viessmann, »es be- ten im sogenannten State-of-the-Nation- bar sind. Laser schmelzen Metallpulver,
ruht auf individuellen Bedürfnissen.« Meeting Fragen an die Geschäftsführung das Schicht für Schicht aufgetragen wird,
Wichtig sei, ergänzt sein Digitalchef Mar- stellen, alle Standorte sind per Livestrea- bis die gewünschte Form vollendet ist.
kus Pfuhl, die »Kundenschnittstelle wei- ming zugeschaltet. In Chicago hat Trumpf eine Smartfacto-
terhin zu besetzen, sonst wird man aus- ry aufgebaut, hier können die Kunden des
tauschbar«. Unternehmens sehen, wie eine ideal ver-
Denn das ist die große Gefahr der Digi- »Die deutschen netzte Produktion im Zeitalter der Digi-
talisierung: dass die eigentlichen Produ-
zenten nur noch Zulieferer sind für die
Unternehmen hinken talisierung aussieht. Die 15 Maschinen
werden von zwei Personen an einem Leit-
großen Digitalkonzerne aus den USA, die hinterher, vor stand gesteuert.
in immer mehr Branchen eindringen. allem die kleinen.« Die neuen Geräte liefern Daten, die wie-
Amazon bietet in den USA bereits die derum helfen, sie besser zu machen; sie
Installation von Thermostaten an. Google zeigen an, wann eine Maschine gut läuft
übernahm schon 2014 für mehr als drei Pfuhl verhehlt nicht, dass es anspruchs- und wann sie Störungen hat. Künftig sollen
Milliarden Dollar das Start-up Nest, das voll ist, alle Mitarbeiter auf diesem Weg zusätzliche Services über Software ange-
vernetzte Thermostate entwickelt. Die mitzunehmen. Deshalb habe man sich boten werden, die bei Bedarf freigeschaltet
beiden US-Konzerne sehen im Smart- auch entschieden, nicht »alles Coole« nach werden können.
home, dem vernetzten und digital gesteu- Berlin oder München auszulagern, wo Kammüller glaubt vor Konkurrenz weit-
erten Heim, einen lukrativen Markt. Viessmann unter anderem die Ideen- und gehend geschützt zu sein, weil »das Kern-
Neue Konkurrenten, verschwimmende Firmenschmiede WATTx betreibt und Know-how bei Maschinen so wichtig ist,
Branchengrenzen: Die künftige Entwick- zwei Venture-Fonds aufgebaut hat, die in dass wesentliche Teile unseres Geschäfts
lung ist kaum noch vorherzusehen. »In junge Tech-Gründungen investieren. Es nicht von anderen gemacht werden kön-
diesem dynamischen Umfeld stoßen tradi- soll einen ständigen Austausch geben zwi- nen«. Und bei neuen Geschäften, die über
tionelle Managementprinzipien an ihre schen den jungen Start-up-Leuten und Softwarelösungen funktionierten, habe
Grenzen«, sagt Viessmann. »Die Reak- etablierten Mitarbeitern, auch am Stand- Trumpf »die bessere Basis, weil wir die
tionsgeschwindigkeit ist zu gering, wenn ort Allendorf. Beide Gruppen sollen von- Maschinen und unsere Kunden wirklich
der Unternehmer alle wichtigen Entschei- einander lernen. kennen und verstehen«.
dungen treffen muss.« »Das ist kein Projekt, das irgendwann Für solche neuen Geschäfte hat Trumpf
Schnell und wendig soll das Unterneh- endet«, sagt Pfuhl über den Kulturwandel in Karlsruhe ein eigenes Start-up gegrün-
men werden, Entscheidungen sollen dort im Unternehmen. »Das wird bleiben.« Es det, inzwischen beschäftigt es 100 Leute.

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Wirtschaft

Sie haben Axoom entwickelt, eine Platt- ne könnten auf diese Weise virtuelle Fa-
form, die Maschinen und Prozesse ver- briken schaffen, ohne selbst zu produzie-
netzt und offen für Maschinen und Apps ren. Wer langfristig überleben will, warnt
anderer Anbieter ist. »Wir versuchen Bornschein, darf sich deshalb nicht damit
immer, neue Entwicklungen zu sehen begnügen, den eigenen Produktionspro-
und von Anfang an mitzumachen«, sagt zess zu digitalisieren – »er muss selbst eine
Kammüller. Plattform bauen, Partner finden, Beteili-
Doch Unternehmen wie Trumpf und gungen ermöglichen«.
Viessmann sind Ausnahmen. Bornschein, Peter F. Schmid, 48, hat sich genau das
der Digitalexperte, warnt: Die meisten vorgenommen. Er hat Unternehmen wie
deutschen Unternehmen beschränkten Autoscout24, mobile.de und Parship mit
sich noch darauf, sich selbst zu opti- aufgebaut und miterlebt, wie sich Märkte
mieren – die Produktion effizienter zu komplett veränderten. Das alles, glaubt er,

NIKLAS GRAPATIN / DER SPIEGEL


machen, die Maschinen miteinander zu werde auch im Industriegeschäft passieren.
vernetzen. »Die einzige Frage ist: Wer werden die
Die deutsche Wirtschaft hat dafür das Spieler sein?«, sagt er. »Das hat mich
inzwischen weltweit bekannte Schlagwort wahnsinnig gereizt.«
»Industrie 4.0« erfunden, ein Marketing- Schmid griff zu, als ihm angeboten wur-
erfolg, für Bornschein aber auch »ein rie- de, beim Unternehmen »Wer liefert was?«
siges Missverständnis«: »Nichts davon (Wlw) einzusteigen, als Chef mit einer klei-
bringt neue Wertschöpfung.« Wlw-Chef Schmid nen Beteiligung. Wlw gab seit 1932 ein
Er ist fest davon überzeugt, dass sich »Wer werden die Spieler sein?« Nachschlagewerk heraus, das weltweit in
wie im Konsumgüterbereich auch im In- jeder deutschen Botschaft zu finden war:
dustriegeschäft Plattformen wie Amazon In kleinerem Maßstab gibt es diese Ent- Wer auch immer ein deutsches Erzeugnis
oder Alibaba zwischen die Produzenten wicklung schon. Wer etwas drucken lassen erwerben wollte, konnte dort nach einem
und die Endkunden schieben und einen will, kann bei einer Plattform bestellen, Hersteller suchen.
Teil der Gewinne abgreifen werden. Die und die gibt den Auftrag an eine Druckerei Schmids Ziel: aus dem angestaubten Un-
deutschen Maschinenbauer würden dann weiter – so wie etwa Airbnb zwischen Bet- ternehmen eine digitale Firma und aus dem
zwar immer noch einzigartige Maschinen tenanbietern und Urlaubern vermittelt. Nachschlagewerk eine Suchmaschine zu
verkaufen, aber nicht mehr die entspre- Dieses Modell lässt sich auf viele Bereiche machen, eine Plattform für kleine Unter-
chenden Renditen erzielen. der Produktion übertragen. Digitalkonzer- nehmen. Und einen europäischen Cham-

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Wirtschaft

pion zu schaffen, bevor die Internetriesen mal eine Website, nur wenige eine profes- Wie so vieles andere auch nicht. Har-
Amazon aus den USA oder Alibaba aus sionell gestaltete und gepflegte. hoff fordert nichts weniger als eine »In-
China diesen Markt entdecken. Mit dem Der Innovationsforscher Dietmar Har- dustriepolitik für den Digitalbereich« und
Kauf des französischen Unternehmens hoff lässt sechsmal im Jahr 90 000 Web- damit eine »Korrektur der bisherigen
Europages ist Schmid dieser Vision einen sites in neun Ländern von einer Software Überspezialisierung zugunsten der tra-
Schritt näher gekommen. durchforsten. Fast tausend Merkmale kann ditionellen Industrien« an den Hochschu-
Inzwischen ist das Unternehmen in das Forschungsteam so scannen und im len und in der Forschungsförderung, die
die Hamburger Innenstadt umgezogen, Zeitablauf vergleichen. Sein Fazit: »Die die weltweit steigende Bedeutung des
die Atmosphäre erinnert eher an ein deutschen Unternehmen hinken hinterher, Bereichs IT, Software und Digitales ver-
Start-up als an ein Traditionsunterneh- vor allem die kleinen.« nachlässigt habe.
men. »Wenn Sie Talente gewinnen wollen, »Wir sind letztlich davon kalt erwischt
müssen Sie anders arbeiten«, sagt Schmid. worden, dass Software und Daten strate-
Nicht alle alten Mitarbeiter wollten diesen »Wir brauchen einen gische Bedeutung erlangt haben«, sagt
Weg mitgehen.
Wer ein Produkt, zum Beispiel einen
stringenten Plan, Harhoff.
Im Gegensatz zu anderen Ländern fehle
neuen Gabelstapler, braucht, findet bei wie wir die Digitalisierung Deutschland zudem der Korrekturmecha-
Wlw Informationen über verschiedene voranbringen.« nismus, der die wirtschaftliche Entwick-
Modelle und deren Hersteller, die sich – lung automatisch in Richtung Digitalisie-
wie schon in der analogen Version – dort rung laufen lässt: Start-ups. Gründern sei
gegen eine Gebühr listen lassen können. Harhoff, der die Expertenkommission das Leben in Deutschland relativ schwer
Das Geschäft selbst aber wird nicht über Forschung und Innovation (EFI) leitet, hält gemacht worden. Harhoffs Fazit: »Wir
die Plattform, sondern direkt zwischen es für das drängendste Problem, den Mit- brauchen ein besseres Umfeld für Start-
Käufer und Verkäufer abgewickelt. In Zu- telstand, der mit etablierter Technik groß ups und einen stringenten Plan, wie wir
kunft sollen weitere Services angeboten geworden sei, an die neue Technik heran- die Digitalisierung der deutschen Wirt-
werden, Logistikdienste etwa oder Finan- zuführen. Vor allem im Bereich künstliche schaft voranbringen.«
zierungen. Noch ist Wlw sehr klein, aber Intelligenz (KI): Die Firmen hätten eine Damit nicht nur einzelne Unternehmen
»der Markt ist riesengroß«, sagt Schmid. Menge Maschinendaten, wüssten damit die digitale Reifeprüfung bestehen, son-
Er fürchtet, dass der deutsche Mittel- aber nichts anzufangen. »KI ist nicht nur dern die gesamte deutsche Wirtschaft.
stand seine Vorreiterrolle verliert, wenn ein Forschungsproblem, es ist längst ein Armin Mahler
er die Chancen der Digitalisierung nicht Umsetzungsproblem«, sagt Harhoff. »Das Mail: armin.mahler@spiegel.de
nutzt. Viele Firmen haben noch nicht ein- hat die Politik noch nicht verstanden.«

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Kommentar

Anschluss verpasst
Deutschland war einst Vorreiter für eine moderne Verwaltung. Heute hinkt das Land
hinterher – ein schweres Versäumnis der Ära Merkel.

E
in Sitz im Normenkontrollrat ist nicht der heißeste
Job im Regierungsviertel. Das Beratergremium ist
beim Kanzleramt angesiedelt, sitzt aber in einem Ge-
bäude jenseits der Spree. Einmal im Jahr gibt es einen
Fototermin mit der Kanzlerin, wenn der Vorsitzende den
Jahresbericht übergibt. Am Donnerstag bekam Angela Mer-
kel den jüngsten Report; er belegt den desolaten Zustand der
digitalen Verwaltung.
Deutschland ist hinteres Mittelmaß in Europa, und das
schon seit Jahren. Angela Merkel, die bereits an ihren Nach-
ruhm denkt, sollte den Bericht genau studieren. Während ih-
rer Regentschaft sind Länder wie Dänemark, Österreich oder
Spanien weit vorausgeeilt. Für die Kanzlerin gab es immer
Wichtigeres zu tun: den Euro, Griechenland, Horst Seehofer.
Digitalisierung betrachtete Merkel zu lange als Gedöns, und
möglicherweise wird das einmal als größtes Versäumnis ihrer
Amtszeit gelten.
Dabei geht es nicht einmal um die etlichen Milliarden, die
eine vernünftige digitale Verwaltung jährlich sparen würde.
Der Reformstau berührt das Verhältnis von Bürger und Staat
in seinem Kern – und er gefährdet die Zukunft des Landes
insgesamt. Heute kann jeder das Leben über sein Smart-
phone organisieren, vom Urlaub bis zum nächsten Arzt-
termin. Nur der Kontakt mit der Verwaltung läuft zu oft
noch wie vor Jahrzehnten: Ordner, Stempel, Wartezeiten –
immer wieder dieselben Angaben auf jedem neuen Antrags-

WOLFGANG KUMM / DPA


formular. Insbesondere Jüngere haben dafür kein Verständ-
nis. »Wo bleibt der Digitale Staat?«, fragt auch der neue Re-
port. Gute Frage.
Aus Sicht der Wirtschaft ist der Rückstand ebenfalls ärger-
lich. Die Regierung drängt die Unternehmen, sich besser auf
das Digitalzeitalter einzustellen, und fordert höhere Investi-
tionen in den Breitbandausbau und die Industrie 4.0, um in- Kanzlerin Merkel: »Wo bleibt der Digitale Staat?«
ternational nicht den Anschluss zu verlieren. Sie selbst indes
kommt damit seit mehr als einem Jahrzehnt kaum voran –
und das in einem der wenigen Politikbereiche, den sie selbst Der Normenkontrollrat hat erhebliche Zweifel, dass es künf-
maßgeblich steuern könnte. Wie glaubwürdig kann da ihre tig besser läuft. Nach wie vor fehle das notwendige qualifizierte
Digitalpolitik insgesamt ausfallen? Personal, und wichtige Bundesländer wie Bayern, Nordrhein-
Man kann dieses Versagen durchaus als historisch bezeich- Westfalen und Baden-Württemberg brächten sich bei den ak-
nen. Die preußischen Verwaltungsreformen waren einst die tuellen Vorbereitungen für das geplante Bürgerportal nicht
Blaupause für ein modernes Staatswesen, Elemente daraus ausreichend ein. Das Thema müsse endlich auf allen Ebenen
wurden in alle Welt exportiert. Die Zuverlässigkeit der hiesi- Chefsache werden, mahnt der Vorsitzende des Normenkon-
gen Bürokratie zog und zieht Firmen aus aller Welt an. Doch trollrats, Johannes Ludewig. Damit hat er recht, vor allem gilt
inzwischen gilt der Ministaat Estland als Modell für eine zeit- das für die Kanzlerin. In Österreich war es Anfang der Nuller-
gemäße, smarte Staatsführung – und nicht Deutschland. jahre der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der alle
Die Bundesregierung beteuert, sie habe das Problem er- an einen Tisch rief und die Modernisierung vorantrieb.
kannt: Bis 2022 sollen Bürgern und Unternehmen 575 Ver- Die Bundeskanzlerin hat einen Digitalrat berufen, eine
waltungsleistungen digital zur Verfügung stehen, der Bund neue Digitalisierungsabteilung im Kanzleramt eingerichtet
allein lässt sich das sogenannte Bürgerportal 500 Millionen und auch einen Kabinettsausschuss zum Thema. Doch hier
Euro kosten. Das Versprechen einer smarten Verwaltung muss Angela Merkel selbst Führung zeigen. Sie sollte Bund,
fehlt in keiner Digitalisierungsrede Merkels. Länder und die Kommunen, die den Großteil der Verwal-
Das Problem ist nur: Solche Versprechen gab es häufig. tungsleistungen erbringen, endlich auf das gemeinsame Ziel
Schon im Jahr 2001 erklärte Gerhard Schröder, bald müssten verpflichten. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Wenn sie sich
die Bürger nicht mehr zu den Ämtern laufen, die Daten kä- nicht aufrafft, werden ihre Regierungsjahre als diejenigen in
men vielmehr zu den Bürgern. Das ist 17 Jahre her, und pas- die Geschichte eingehen, in denen Deutschland digital den
siert ist nicht viel. Anschluss verpasste. Marcel Rosenbach

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 79


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Wirtschaft

»Italienische Weine werden


getrunken, nicht gesammelt«
SPIEGEL-Gespräch Albiera Antinori, 51, Chefin des italienischen Traditionsweinhauses Antinori, über
Billigwein im Supermarkt, die Konsumlaunen der Chinesen und die populistische Regierung in Rom

SPIEGEL: Frau Antinori, Sie wurden ein- größere Problem war für mich, dass ich den Markt zu werfen. Heute bringt das
mal der »Prinz Charles der Weinwelt« ge- sehr jung in die Firma eingestiegen bin, nichts mehr. Es wird in Italien immer teu-
nannt, weil Sie erst 50 Jahre alt werden ohne Uni-Abschluss. Mädchen brauchen rer sein, Weine herzustellen, als in Chile
mussten, um die Führung des Weinhauses so etwas nicht, hieß es damals. Ich musste oder Südafrika. Deshalb müssen unsere
von Ihrem Vater übernehmen zu dürfen. mir vieles erst mühsam erarbeiten. Heute Weine einzigartig sein, müssen herausste-
Antinori: Das war eine Spitze, die sich ein ginge das nicht mehr, dazu ist das Wein- chen. Und die Geschichte hinter dem Wein
deutsches Wirtschaftsmagazin ausgedacht geschäft viel zu komplex. zu erzählen wird immer wichtiger.
hat, und eigentlich war es auch falsch. In SPIEGEL: Sie leiten eines der ältesten SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Familienunternehmen wie unserem gleicht Familienunternehmen der Welt und mit Antinori: Die Leute wissen heute unge-
die Nachfolge eher einem Staffellauf: Sie 200 Millionen Euro Umsatz einen der heuer viel über Wein. Sie schauen auf ih-
laufen eine Zeit gemeinsam, bis der Stab großen Produzenten in Europa. Doch der rem Smartphone nach, wie viel Regen hier
übergeben wird. Bei uns gab es keinen ab- Wettbewerb im Weingeschäft wird globa- am 3. April auf welcher Parzelle niederge-
rupten Übergang, kein »Ab heute bin ich ler und härter. Was bringt Ihnen da noch gangen ist. Aber dieses Wissen bleibt äthe-
hier der Boss«. Ihre 633-jährige Geschichte? risch. Wein ist ein sinnliches Produkt, und
SPIEGEL: Sie sind die erste Frau an der Antinori: Der Markt nimmt erst mal keine es gibt eine wachsende Zahl von Men-
Spitze – in 633 Jahren Firmengeschichte. Rücksicht auf Tradition, das stimmt. Gute schen, die spüren wollen, wie wir Wein
Fühlt sich das für Sie besonders an? Weine werden heute fast überall auf machen. Als Familie haben wir deshalb
Antinori: Für mich war das kein Thema, der Welt produziert und viel aggressiver 2012, nach 628 Jahren, beschlossen, uns
weil ich in einer komfortablen Lage bin – vermarktet als früher, vor allem in der so- für Besucher zu öffnen. Wir haben dafür
ich habe keine Brüder. Mein Vater hatte genannten Neuen Welt, in Übersee. Vor eigens dieses Haus hier gebaut.
nur die Auswahl zwischen: Es wird eine 20 Jahren reichte es noch, einfach einen SPIEGEL: Die Italiener selbst trinken im-
Frau oder niemand aus der Familie. Das weiteren Cabernet oder Chardonnay auf mer weniger Wein. Ihr Pro-Kopf-Verbrauch

82 Fotos: Gianmarco Maraviglia / DER SPIEGEL


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Winzerin Antinori, Weinberg in der Toskana


»Als Familie politisch immer zurückhaltend«

Sache. Sonst wandern die immer selben


Flaschen um die ganze Welt, und niemand
genießt sie.
SPIEGEL: Vor allem die chinesische Ober-
schicht hatte es lange auf extrem teure
Bordeauxweine abgesehen. Was trinkt die
wachsende chinesische Mittelschicht?
Antinori: In China ist es wie in jeder Kul-
tur, die ein neues Produkt für sich entdeckt:
Am Anfang sind es Statussymbole, für die
Einzelne sehr viel Geld ausgeben. Dann
wird es interessant, eine Auswahl zu ha-
ben, und die Lust wächst, Neues auszu-
probieren. Das war in den USA so, und
ich bin optimistisch, dass das auch in China
geschehen wird.
SPIEGEL: Noch ist es nicht so weit?
Antinori: Nein. Das liegt daran, dass Chi-
na eine starke, eigene kulinarische Tradi-
tion hat. In den USA gab es die nie, die
italienische Küche war dort deshalb sehr
schnell populär, und mit ihr wurden es die
italienischen Weine, das war einfach. In
China wird das länger dauern.
SPIEGEL: Vor zweieinhalb Jahren lud der
damalige Regierungschef Matteo Renzi
den Gründer der chinesischen Internet-
ist seit 1990 um ein Drittel gesunken. Was Lebensmittelhändler bei 2,92 Euro. Schau- plattform Alibaba, Jack Ma, zu einer Wein-
ist da passiert? dert es Sie da nicht? messe nach Verona ein. Ma versuchte Pro-
Antinori: Wein ist kein Nahrungsmittel Antinori: In Deutschland spielt der Preis duzenten davon zu überzeugen, ihre Wei-
mehr, er ist zum Genussmittel geworden. eine große Rolle, in Großbritannien auch. ne über Alibaba nach China zu verkaufen.
Früher hatten die Bauern auf dem Feld im- Aber ich finde das nicht schändlich. Ich Das Echo war verhalten. Warum?
mer eine Flasche Wein dabei, das spendete gehe regelmäßig in den Supermarkt und Antinori: Diese Plattformen sind wie ein
Kraft. Noch vor 50 Jahren gehörte Wein in kaufe, was im Regal steht. Und ich bin ehr- riesiges Supermarktregal, nur noch un-
Italien einfach zum Essen dazu. Doch wer licherweise oft überrascht von der Quali- übersichtlicher, weil Sie die Flaschen nicht
trinkt heute noch Wein zum Mittagessen? tät. Das ist für uns auch ein Ansporn, uns einmal physisch sehen. Es bringt nichts,
Heute sind wir doch alle kalorienbewusst. anzustrengen. dort präsent zu sein, solange Sie als Marke
SPIEGEL: Den weltweit höchsten Pro-Kopf- SPIEGEL: Doch auch für Sie scheint es eine in China nicht bekannt und Italien als Her-
Konsum hat der Vatikan. Kauft der Papst Grenze nach unten zu geben. Sie sind bei kunftsland für guten Wein nicht anerkannt
auch bei Ihnen ein? den Discountern nicht vertreten – obwohl ist. Letzteres liegt übrigens auch an Italien
Antinori: Ja, wir beliefern den Vatikan, etwa in Deutschland knapp die Hälfte al- selbst. Wir sind unglaublich kompliziert.
schon seit ein paar Jahrhunderten. Dort ler Flaschen dort verkauft wird, auch mal SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
hat man eben viel Freude an gutem Essen teurere Weine. Antinori: Wir streiten uns 20 Jahre lang
und an gutem Wein. Antinori: Ein Discounter sollte nicht der mit Inbrunst darum, wo die Grenze einer
SPIEGEL: Sie verkaufen Weine, die im Su- Ort sein, wo eine Flasche Antinori steht. Appellation liegt, ob ein paar Kilometer
permarkt zwischen 7 und 20 Euro kosten, Nur muss letztlich jeder Produzent für sich weiter hier oder dort. Und dann fahre ich
und gleichzeitig einen Tignanello oder So- selbst entscheiden, wo er seine Weine se- nach China, um unsere Weine vorzustel-
laia für 100 bis 300 Euro pro Flasche. Ist hen möchte, es ist ja Platz genug für alle. len, und sage Italien. Da nicken die Leute
Klasse rentabler als Masse? SPIEGEL: Gemessen an den Spitzenge- noch, okay. Dann sage ich Toskana, und
Antinori: Die teuren Weine sind natürlich wächsen aus dem Bordelais sind sogar Ihre da wird es schon schwierig. Und wenn ich
profitabler, wenn man es isoliert betrach- teuersten Weine noch Schnäppchen. Dort dann mit der Appellation komme, also
tet. Aber die Wahrheit ist: Um Topweine kosten ältere Jahrgänge schon mal weit etwa Chianti Classico, dann hört es ganz
herzustellen, braucht man auch solche, die mehr als tausend Euro. Sind die Weine bes- auf. Das versteht kein Mensch. Es ist also
sich schneller auf den Markt bringen las- ser, oder liegt das bloß am Marketing? komplett unsinnig, sich um ein paar Kilo-
sen. Wir können dafür die Trauben ver- Antinori: Die Franzosen machen hervor- meter so zu streiten. Aber so sind wir halt.
wenden, die sich nicht für Spitzenmarken ragende Weine, aber sie waren eben auch SPIEGEL: 2017 war ein schlechtes Jahr für
eignen und trotzdem tolle Weine abgeben. schon immer herausragend im Marketing. Weinbauern. Weltweit sank die Produk-
Natürlich würde ich lieber noch mehr gro- Hier bei uns in Italien werden die Weine tion, wegen starker Hitze, extremem Frost,
ße Weine herstellen, man muss sich jedoch zwar jedes Jahr etwas teurer, es gibt aller- sintflutartigem Regen. Wird der Klimawan-
für einen Santa Cristina für 7 Euro auch dings bei den Preisen keine solch enormen del das Geschäft auf lange Sicht verändern?
nicht schämen. Ausschläge nach oben. Und das ist unser Antinori: Jeder, der von der Landwirt-
SPIEGEL: In Deutschland liegt der Durch- Glück: Italienische Weine werden getrun- schaft lebt, weiß, dass es gute und schlech-
schnittspreis für einen Liter Wein beim ken, nicht gesammelt, das ist eine gesunde te Jahre gibt. Das war immer so und ist

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 83


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Wirtschaft

Was hat Günter Grass Teil des Spaßes. Doch das Klima verändert
sich tatsächlich. Nicht so sehr im Durch-
schnitt, aber in den Extremen. Wenn es
regnet, spült es heute gleich den ganzen

nicht gemacht? Hang weg. Wenn es heiß ist, brennt die


Sonne über Wochen. Noch ist das zu be-
wältigen, und weil die Temperaturen ins-
a Komponiert gesamt etwas ansteigen, können wir Re-
ben auch in Lagen anbauen, die früher
b Getanzt nicht perfekt waren, also etwa Richtung
Nordosten und in größerer Höhe. Unsere
Freunde in Österreich, Deutschland und
c Gemalt Großbritannien sind darüber glücklich.
SPIEGEL: Wie stellen Sie sich auf die zu-
d Geschrieben nehmend extremen Wetterlagen ein?
Antinori: Das alles entscheidende Thema
ist Wasser. Wenn es regnet, müssen Sie
Wasser sammeln. Sie müssen Reben ver-
setzt anbauen, damit das Wasser nicht ein-
fach durchrauscht und die Erde mitreißt.
Sie müssen Abflüsse und Seen anlegen,
um Wasser für die heißen Wochen zu stau-
en. Wasser ist wieder Gold wert, das ha-
ben wir in den vergangenen 40 Jahren aus
den Augen verloren.
SPIEGEL: Die Familie Antinori ist nicht nur
in der Weinwelt eine Institution, sie ist auch
eine der alten Dynastien Italiens und gehört
zweifellos zum Establishment. Die neue Re-
gierung in Rom, vor allem Innenminister
Matteo Salvini, hat mit aggressiver Anti-
Taschenbuch Establishment-Rhetorik Stimmen geholt.
€ (D) 6,– Fühlen Sie sich persönlich angegriffen?
Verfügbar auch
als E-Book
Antinori: Ach, wissen Sie, die Toskana ist
traditionell politisch eher links, wir sind
diesen Ansatz also schon gewohnt.
SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die aktuelle
Regierung?
Antinori: Das ist eine heikle Frage. Lassen
Sie es mich so formulieren: Nach nicht ein-
mal sechs Monaten ist es schwer, diese Re-
gierung zu bewerten, weil ja außer einer
Menge Lärm und Schreierei bisher nichts
umgesetzt wurde. Das vorausgeschickt:
Dieser Lärm ist durchaus beunruhigend,
vor allem besorgt mich, dass es eine regel-
rechte Hexenjagd gibt.
SPIEGEL: Sie spielen auf die Schuldzuwei-
sungen nach dem Einsturz der Autobahn-
brücke in Genua vor acht Wochen an.
Antinori: Wenn etwas passiert, ist es aus
Wer gilt als Erfinder der Kriminalliteratur? Sicht der Regierung immer die Schuld an-
derer, der EU, der Familie Benetton. Das
Wogegen hat Michael Endes Romanfigur Momo führt zu nichts. Italien braucht endlich eine
zu kämpfen? Und wie viele Verse hat ein Sonett? Regierung, die sagt, wo es in Zukunft hin-
geht. Die Leute haben die Nase voll von
Testen Sie Ihr Wissen mit dem großen SPIEGEL- einer lähmenden Bürokratie, von sinnlos
Wissenstest Literatur:150 Fragen aus allen Genres ausgegebenem Geld. Diese Wut mit Ben-
zin anzufeuern ist gefährlich. Aber das
und quer durch die Geschichte – knifflig, überra- passiert ja derzeit nicht nur in Italien.
SPIEGEL: Die Regierung liegt mit der EU
schend, lehrreich und immer unterhaltsam. im Streit, weil sie zu viele Schulden ma-
chen will. Insgesamt könnten ihre Verspre-
chungen bis zu hundert Milliarden Euro
kosten. Italien leidet jetzt schon an der rie-
sigen Staatsverschuldung, die sich seit den
Achtzigerjahren auftürmt.
www.spiegel.de www.kiwi-verlag.de
84 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018
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dass es mit der EU einen großen Bruder


hat, der sagt: Du gibst zu viel Geld aus.
Natürlich sind einige Vorgaben schwierig,
und über notwendige Investitionen muss
man debattieren, doch dazu muss Italien
erst mal seine Staatskosten senken, die
außer Kontrolle geraten sind. In den Äm-
tern und Behörden sitzen immer weniger
Leute, alles geht langsam, ich weiß wirk-
lich nicht, wo das Geld hinfließt.
Antinori (M.), SPIEGEL-Redakteurinnen* SPIEGEL: Mischen Sie sich als Unterneh-
»Diese Wut anzufeuern ist gefährlich« merin politisch ein, damit Ihre Stimme in
Rom gehört wird?
Antinori: Ich halte es für unmöglich, dass Antinori: Als Weinbranche haben wir hier-
die Regierung bei ihren Plänen bleibt. Ich für unsere Interessenverbände.
hoffe es auch nicht, denn sie wird sich das SPIEGEL: Und Sie persönlich?
Geld bei den Unternehmen holen, über Antinori: Nicht wirklich. Als Familie wa-
Steuern. Wo soll es sonst herkommen? ren wir politisch immer zurückhaltend. Es
SPIEGEL: Kurzfristig könnten Sie jedoch hieß immer: Mach dein eigenes Ding, küm-
von der versprochenen Einheitssteuer mere dich um deinen Boden, alles andere
von 15 oder 20 Prozent profitieren – das ist bloß gefährlich.
wäre vermutlich weit weniger, als Sie der- SPIEGEL: War das ein Rat Ihres Vaters?
zeit zahlen. Antinori: Meines Vaters, Großvaters, Ur-
Antinori: Bei diesen Plänen wird es nicht großvaters. Die Regierungen wechseln so
bleiben, kann es auch nicht bleiben. Was schnell in Italien, dass es nichts bringt, sich vom Bestseller-Duo
als Segen für alle angekündigt wurde, wird politisch einzumischen.
nur sehr wenigen zugutekommen. Das gilt SPIEGEL: Wie oft fragen Sie Ihren Vater
Greiner & Padtberg
umgekehrt auch für das Versprechen, die heute um Rat?
»goldenen« Pensionen der Parlamentarier Antinori: Es geht gar nicht darum, um Rat
zu kürzen. Das geht gar nicht so einfach zu fragen. Wir entscheiden vieles zusam-
und wird nur bei ein paar funktionieren. men. Er ist 80 Jahre alt, und der einzige
Die entscheidende Frage aber ist das Unterschied zu früher ist, dass er etwas
Grundeinkommen … seltener im Büro ist.
SPIEGEL: … das vergleichbar wäre mit SPIEGEL: Werden auch Ihre Kinder in den
Hartz IV in Deutschland. Betrieb einsteigen?
Antinori: Damit hat die Fünf-Sterne-Be- Antinori: Meine Tochter hat Landwirt-
wegung ihre Stimmen in Süditalien geholt. schaft in Mailand studiert, sie macht jetzt
In einem normalen Land macht es Sinn, ihren Master und hat ein Jahr lang auf
dass sich der Staat um Menschen kümmert, einem Weingut in Kalifornien gearbeitet.
die keine Arbeit finden können. Das funk- Mein Sohn hat Wirtschaft und Marketing
tioniert in der Schweiz und in Deutschland. studiert, er war drei Jahre lang für Pernod
Doch die italienische Verwaltung ist so de- Ricard in Australien. Es gibt also zumin-
solat, dass das kaum umzusetzen wäre. dest eine Chance, dass beide bei uns ar-
SPIEGEL: Wenn Sie ohnehin davon aus- beiten wollen. In einen Familienbetrieb
gehen, dass aus den meisten Plänen nichts einzusteigen ist eine wundervolle Option,
wird, könnten Sie doch ganz beruhigt sein. aber kein warmer Sessel. Es ist mehr als
Antinori: Mich besorgt, dass die politische nur Arbeit, es ist die Pflicht, etwas für die
Opposition praktisch verschwunden ist, nächste Generation zu erhalten und ihr in
abgetaucht. Es gibt weder bei den Konser- besserem Zustand zu übergeben.
vativen noch bei den Linken jemanden, SPIEGEL: Wann durften Sie zum ersten
der dagegenhält. Wo sind sie? Es mag Tak- Mal in Ihrem Leben Wein trinken?
tik sein zu sagen: Lasst sie mal schreien. Antinori: (lacht) Ach, das war bei uns kein
Aber wir brauchen Leute, die aufstehen Thema. Mit fünf, sechs Jahren bekamen ullstein.de/schueler
und sagen: Stopp mal, das geht so nicht. wir Kinder am Sonntag zum Essen ein klei- ISBN: 978-3-548-377
94-0
SPIEGEL: Die Regierung macht für die öko- nes Schnapsglas mit Wein und etwas Was-
nomischen Probleme vor allem die strikten ser darin. Wir sind mit Wein groß gewor-
Haushaltsvorgaben der EU verantwortlich: den. Später stand immer eine Flasche auf
Notwendige Investitionen, die für Wachs- dem Tisch, und jeder durfte davon trinken.
tum sorgen könnten, seien so nicht möglich. Noch mal: Wein ist zum Trinken da, um
Antinori: Italien wäre ohne die EU verlo- Vergnügen und Freude zu bereiten.
ren! Die EU zu verlassen ist also keine Op- SPIEGEL: Frau Antinori, wir danken Ihnen
tion, die Regierung spielt mit dem Feuer. für dieses Gespräch.
Es ist einfach zu sagen: Europa ist schuld.
Das wäre, als würden wir sagen: Es regnet, ‣ Lesen Sie auch auf Seite 92
die Regierung ist schuld. Es tut Italien gut, Italien im politischen Abseits – Chronik
eines Trauerspiels im Herzen Europas
* Isabell Hülsen und Susanne Amann in Bargino.

85
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EU-Kommissarin Vestager in Kopenhagen: Sicherstellen, dass Europas Verbraucher einen »fairen Deal« bekommen

Auf Augenhöhe
Wettbewerb Margrethe Vestager ist der Schrecken globaler Konzerne. Das nutzt den
Bürgern – dient aber auch der Karriere der europäischen Kartellwächterin.

E
s ist gerade mal acht Uhr morgens, Der kleine Saal ist bis auf den letzten Amazon und Apple, Facebook und
als es Mike Allen dämmert, wa- Platz gefüllt, Wettbewerbsanwälte, Tech- Google, im Stakkato feuert Gastgeber Al-
rum so viele mächtige Männer an leute und Mitarbeiter von Abgeordneten len seine Fragen an die Besucherin aus
Margrethe Vestager scheitern. Die und Senatoren sind gekommen. Neben Europa ab. Wie ihre Begegnungen mit den
EU-Wettbewerbskommissarin hat auf der Angela Merkel ist Margrethe Vestager Größen des Silicon Valley denn so verlau-
Bühne in einem loftartigen Raum Platz wahrscheinlich die einzige europäische fen seien, will der Pionier des Newsletter-
genommen, ihr Kleid im Yves-Klein-Blau Politikerin, mit deren Namen ein breiteres Journalismus aus Washington wissen. Man
passt zur amerikanischen Flagge, die auf Publikum in den USA etwas anfangen kennt den Trick: Der prominente Gast soll
den Bildschirmen im Hintergrund flackert. kann. einen Blick ermöglichen hinter die Kulis-

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Wirtschaft

lich ist Vestager Wettbewerbskommissarin »Totaler Mist«, schimpfte etwa Apple-


der EU – und damit Chefin einer der we- Chef Tim Cook, als er nach einer Diskussi-
nigen EU-Behörden, die wirklich etwas zu on über Apples irisches Steuersparmodell
sagen haben. wutschnaubend Vestagers Büro verließ.
Wenn eine E-Mail mit der Ankündigung Fragt man Brüsseler Anwälte, hat der
eines Pressestatements die Brüsseler Jour- Mann vielleicht sogar recht: Die Höhe ih-
nalisten erreicht, verspricht das regelmäßig rer Steuern dürfen die EU-Mitgliedstaaten
Drama. Denn Vestager schreckt nicht da- selbst bestimmen. Daher nutzen die Brüs-
vor zurück, sich mächtige Feinde zu ma- seler Wettbewerbshüter die Beihilferegeln,
chen, ihre Entscheidungen lesen sich wie um gegen die unzulässigen Steuervergüns-
Kampfansagen an die amerikanischen tigungen vorzugehen, die Irland Apple ge-
Techunternehmen: Zuletzt verdonnerte währte. Vestager ist sich sicher, dass der
sie Google zu einer Rekordbuße von 4,3 Europäische Gerichtshof ihre Entschei-
Milliarden Euro, Apple musste 13 Milliar- dung nicht kippen wird. »Das Geld der
den zu Unrecht eingesparter Steuern plus Steuerzahler sollte nicht dazu genutzt wer-
Zinsen an Irland nachzahlen. Und ob der den, um einem bestimmten Unternehmen
Internethändler Amazon mit den Daten einen Vorteil zu verschaffen«, sagt sie.
dritter Firmen immer korrekt umgeht, will Das Interessante an Vestagers Auftritt
Vestagers Behörde nun ebenfalls prüfen. ist, dass sie sich inhaltlich nicht so sehr von
Klar ist: Es geht dabei nicht immer nur ihren Vorgängern unterscheidet: Dass man
um die Sache. Mit jeder Entscheidung die Großkonzerne durch das Wettbewerbs-
steigt auch Vestagers Stern. Ihr Name fällt
nun immer öfter, wenn es um die Frage
geht, wer künftig das höchste Amt der EU Vestager zeigt, wie
ausüben und auf Jean-Claude Juncker als
Kommissionspräsident folgen wird. Vor al-
stark die EU sein
lem Frankreichs Präsident Emmanuel Ma- kann – wenn die Europäer
cron soll sich für die Liberale aus Däne- geeint auftreten.
mark einsetzen, für viele in Europa wäre
es das Traumteam schlechthin.
Auch dazu sagt Vestager, wenig überra- recht drankriegen könnte – an der Idee
schend, nicht viel. »Er hat mich noch nicht bastelte eine Arbeitsgruppe bereits, als die
gefragt«, sagt die 50-Jährige und lacht. Sie Dänin das Amt übernahm. Allerdings er-
sitzt am Tresen in ihrem Hotel, es ist ein kannte Vestager, anders als ihr Vorgänger,
BAX LINDHARDT / SCANPIX / PICTURE ALLIANCE / DPA

milder Herbsttag in Washington, doch die was sich daraus machen ließ.
Klimaanlage bläst unangenehme Kälte in Das gilt auch für ihre Entscheidungen
den Raum. Vestager legt sich eine graue zu Google. Der erste Fall war fertig recher-
Wollstola um die Schultern, sie passt gut chiert, als Vestager Kommissarin wurde.
zu ihren stahlgrauen Haaren. Doch während ihr Vorgänger Joaquín Al-
Es ist der Donnerstag vor zwei Wochen, munia zögerte und sich mit Google einigen
im Justizausschuss des US-Senats wird wollte, kassierte Vestager gleich nach ih-
gleich die Anhörung von Christine Ford rem Start alle Friedensangebote ein. Goo-
beginnen, jener Frau, die Trumps Kandi- gle habe sich nicht so kooperativ gezeigt,
daten für den Obersten Gerichtshof vor- dass es auch noch belohnt werden müsse,
wirft, er habe versucht, sie als Teenager so die Dänin. Aus einem Google-Fall wur-
zu vergewaltigen. Die ganze Stadt hängt den drei.
an den Fernsehschirmen, es tut fast kör- »Vestager hat das Rad nicht neu erfun-
perlich weh, die Befragung der Frau zu den«, sagt Dietmar Reich, Kartellrechts-
verfolgen. »Ich bewundere ihren Mut«, anwalt bei der Sozietät Beiten Burkhardt,
sen der ansonsten verschlossenen Vor- sagt Vestager, »sie hat mit ihrer Aussage die unter anderem mehrere Autozulieferer
standsetagen von Apple, Google und Face- nichts zu gewinnen, außer, dass die Wahr- gegenüber Vestagers Behörde vertritt. Die
book, ein bisschen jedenfalls. heit ans Licht kommt.« Dänin packe Kartellthemen aggressiver an,
Doch Vestager hat keine Lust, den Voy- Vestager wird währenddessen den stell- sagt Reich. »Sie verkauft die Themen deut-
eur auf seine Kosten kommen zu lassen. vertretenden Generalstaatsanwalt treffen, lich besser als ihre Vorgänger.«
Ihre Beziehung zu den Internetgrößen? der im Justizministerium für Kartellrecht Die Macht dazu hat sie, und zwar nicht
»Sie dauern schon lange an«, sagt sie nur zuständig ist. Es ist das erste Mal seit nur formal. Vestager zeigt, wie stark die
und lächelt. Sie lässt den harten Fragestel- Jahren, dass Amerikaner und Europäer EU sein kann, wenn zwei Dinge zusam-
ler abblitzen, charmant, aber bestimmt. ernsthaft versuchen, ihre Wettbewerbs- menkommen: Einigkeit der 28 Mitglieder
Auftritte von Margrethe Vestager sind politik aufeinander abzustimmen, ein biss- und eine starke Führungsfigur. Die EU
eine Verheißung. So wie sie will die EU chen jedenfalls. macht beim Wettbewerbsrecht, was sie in
eigentlich gern sein: mächtig, relevant und Vestager will den Vorwurf ausräumen, der Flüchtlingspolitik, beim Euro oder gar
auf Augenhöhe mit den USA. der ihr und der EU in den USA immer wie- bei der Verteidigung sträflich unterlässt:
Für das »Wall Street Journal« ist Ves- der begegnet, nämlich, dass es Europa nur Sie spricht mit einer Stimme.
tager »die Frau, die die US-Techgiganten darum gehe, mit Mitteln des Wettbewerbs- Nach dem Streit der vergangenen Jahre
zügelt«. Präsident Donald Trump be- rechts die eigene, schwachbrüstige Tech- ist der Binnenmarkt womöglich der letzte
schimpfte sie als »Tax Lady, die die Ver- branche vor unliebsamer Konkurrenz zu gemeinsame Nenner der EU-Mitglieder –
einigten Staaten wirklich hasst«. Tatsäch- schützen. immerhin garantiert er den gemeinsamen

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Wohlstand. Ohne eine schlagkräf- Vestager spricht über die anste-


tige Wettbewerbsaufsicht würde er henden Europawahlen. Mehr als
nicht funktionieren, daher verfügt sonst hätten die Wähler im Mai
die EU über scharfe Regeln. Ves- eine fundamentale Entscheidung
tager nutzt sie, um sicherzustellen, zu treffen, sagt sie. »Wollen sie eu-
dass Europas Verbraucher bei Ge- ropäische Werte stärken oder
schäften mit Riesenkonzernen schwächen?«
einen »fairen Deal« bekommen, Viele würden Vestager bei die-

CHUCK KENNEDY / AXIOS


wie sie sagt. Auch das macht es ih- sen Wahlen gern als Spitzenkandi-
ren Gegnern so schwer, sie zu atta- datin sehen, doch sie hat sich
ckieren. entschieden, nicht für das Europa-
Das bekommt auch die deut- parlament zu kandidieren. Wie
sche Autobranche zu spüren. Macron hält sie nichts vom Modell
Vestager spricht den Kartellfall Politikerin Vestager, Journalist Allen: Frage nach dem Job des Spitzenkandidaten, schon gar
(SPIEGEL 30/2017) in den USA im- nicht glaubt sie, dass Europa so de-
mer wieder an, auch um zu zeigen, mokratischer würde. »Die EU ist
dass sich ihre Behörde keineswegs nur mit Es ist ihre unprätentiöse, zupackende nicht einfach eine Kopie des deutschen
amerikanischen Firmen anlegt. Art, mit der Vestager die Menschen für sich oder amerikanischen Systems.«
Zwar habe die Kommission anders als einnimmt. Wie Angela Merkel stammt sie Über die Frage allerdings, ob sie zur
bei einem klassischen Kartell keine Hin- aus einer Pastorenfamilie, sie kommt aus Kommissionschefin aufsteigen könnte, ist
weise, dass die Autobauer durch ihre Ab- einem kleinen EU-Land und einer kleinen, damit nicht viel gesagt. Vestagers Stunde
sprachen die Kunden mit höheren Preisen sozialliberalen Partei. Zur Audienz bei der könnte nach der Wahl schlagen, dann,
geschädigt hätten, sagt sie den Studenten dänischen Königin fuhr sie mit dem Fahr- wenn es im Parlament keine Mehrheit für
an der Georgetown Law School. Der Ver- rad vor, und wenn es darum ging, dass Asyl- einen Kandidaten gibt oder die Staats- und
dacht sei vielmehr ein anderer: Haben bewerber aus dem Irak nicht abgeschoben Regierungschefs der Meinung sind, dass
Daimler, BMW und Volkswagen verab- werden, führte die damalige Parteichefin in Krisenzeiten jemand mit Regierungs-
redet, nicht miteinander zu konkurrieren, ihre Kampagne vor der Kopenhagener erfahrung die Kommission leiten sollte.
wenn es um neue Technologien geht, um Brorsons-Kirche schon mal persönlich an, Mit Macrons Unterstützung darf sie
die Schadstoffemissionen von Benzin- und vom Lastwagenanhänger herab. rechnen, als junger Wirtschaftsminister
Dieselautos zu verringern? Dieser Frage Ihr Aufstieg zur Wirtschaftsministerin umgarnte Macron die »Chère Margrethe«
gehen Vestagers Leute nach. und stellvertretenden Regierungschefin bei jeder Gelegenheit. Denn Vestager ver-
Sie könne heute auch noch nicht sagen, machte sie zum Vorbild für die Filmfigur körpert exakt, was Frankreichs Präsident
ob Volkswagen und Co. gegen Recht und Birgitte Nyborg, Ministerpräsidentin in meint, wenn er von einem Europa spricht,
Gesetz verstoßen haben, sagt Vestager. das seine Bürger schützt. Und Vestager
»Was ich aber schon sagen kann, ist, dass nutzt die Macht, die sie hat, weil sie für
ein Kartell, das Innovationen zurückhält, Kann Kopenhagen 500 Millionen Bürger spricht – und deren
in jedem Punkt so rechtswidrig ist wie
eines, das Preise festlegt.«
ernsthaft Nein sagen, Anliegen vertritt.
Vestager ist weit über die Zirkel der
Interessanterweise wird Vestager in den wenn es um den Wettbewerbshüter hinaus populär, sie ist
USA beinahe im Minutentakt mit der Fra- Topjob in der EU geht? zur Ikone der Puls-of-Europe-Freunde ge-
ge konfrontiert, wie soziale Medien und worden. Mit jedem ihrer Auftritte lässt sie
Internetplattformen die Gesellschaft spal- Europafreunde erahnen, wie es sein könn-
ten und die Demokratie gefährden. Fragen, der dänischen Politserie »Borgen«. In Sit- te, wenn die nationalstaatliche Eigenbröt-
die bei ihrer Arbeit als Wettbewerbshüte- zungen hoch oben in der zehnten Etage lerei auch sonst ein Ende hätte.
rin eher am Rande eine Rolle spielen. der gläsernen Kommissionszentrale greift Und trotzdem ist Vestagers Karriere al-
Was nicht heißt, dass sie dazu nichts sa- Vestager schon mal zur Stricknadel, wohl les andere als sicher. Ihre Partei in Däne-
gen könnte. Vestager findet, dass der ame- wissend, welche Irritation sie damit bei mark ist weit entfernt von der Macht, und
rikanische Alltag gute Argumente liefert, dem ein oder anderen Kollegen auslöst. der gegenwärtige, konservative Regie-
warum Internetfirmen reguliert werden Mitarbeitern, bei denen Nachwuchs ins rungschef denkt gar nicht daran, ihr den
müssen. »Wenn da draußen jemand Bilder Haus steht, schenkt die Chefin kleine Stri- dänischen Platz in der Kommission weiter
von Kindern verkaufen würde«, sagt sie ckelefanten. zu überlassen. Andererseits stehen in Dä-
und deutet auf die Hotelterrasse, »würde Am Mittwoch vergangener Woche nemark noch Wahlen an, bevor in Brüssel
er binnen 30 Sekunden verhaftet. Und steht Vestager nachmittags am Pult im Entscheidungen fallen. Und, vor allem:
jetzt ist es im Internet, und es soll uns egal Saal Victor Hugo, einem überraschend Kann Kopenhagen ernsthaft Nein sagen,
sein?« Verhaltensvorgaben und Gesetze, nüchternen Raum, drei Etagen unter der wenn es um den Topjob in der EU geht?
die für die reale Welt gelten, müssten ins ansonsten prachtvollen Assemblée na- Die Jobfrage verfolgt Vestager bis Wa-
Internet übersetzt werden. tionale in Paris, dem französischen Par- shington: Auch Mike Allen interessiert
Vestager kommt auf Cambridge Analytica lament. beim Frühstücksinterview, ob Vestager
zu sprechen. Das Unternehmen nutzte miss- Ausnahmsweise geht es nicht um Ama- Kommissionschefin werden will. Doch
bräuchlich die Accounts von bis zu 87 Mil- zon und Google, ein Thinktank feiert Ju- wieder bemüht er sich vergebens. »Wenn
lionen Facebook-Nutzern und versuchte mit biläum. Thema ist die Demokratie in der Ihr nächster Job etwas Interessantes sein
den erlangten Daten, die amerikanischen Krise. Michael Ignatieff – Rektor der Cen- könnte«, sagt Vestager auf seine Frage hin
Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen. tral European University, die von Ungarns nur, »dann sollten Sie alles dafür tun, in
»Wenn es mein Geschäft wäre, das gekid- Regierungschef Viktor Orbán mit seinen Ihrem jetzigen Job gut zu sein.«
nappt worden wäre, um Wahlen zu manipu- umstrittenen Gesetzen drangsaliert wird – Peter Müller
lieren, wäre ich am Boden zerstört«, sagt sie hört ihr zu, genauso wie Jean Pisani-Ferry, Mail: peter.mueller@spiegel.de
über Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Macrons Wirtschaftsberater.

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Wirtschaft

Willige Opfer
Analyse Cambridge Analytica, Facebook-Hack, Google Plus: Die Digitalkonzerne nehmen den
Schutz ihrer Kundendaten nicht ernst – weil die Nutzer es nicht von ihnen verlangen.

N
un also Google. Diese Woche musste das Unterneh- Genauso fragwürdig ist der Umgang mit den Problemen.
men einräumen, dass persönliche Daten von bis zu Ihr vorsätzliches Verschweigen offenbart einen eklatanten
einer halben Million seiner Google-Plus-Nutzer für Mangel an unternehmerischer und an sozialer Verantwortung.
Dritte einsehbar waren – und damit anfällig für Man fragt sich unwillkürlich, was dort noch im Argen liegt,
möglichen Missbrauch. Nicht für Stunden, Tage oder Wochen. welche weiteren Skandale in ihren Datenzentren schlummern.
Satte drei Jahre klaffte diese Sicherheitslücke bei dem sozia- Warum tun die Konzerne das? Warum machen sie nicht
len Netzwerk, das der Konzern 2011 als Antwort auf Face- reinen Tisch, warum riskieren sie, aufzufliegen und vorge-
book gestartet hatte. Erst im März wurde sie erkannt und führt zu werden? Ganz einfach: weil sie es können. Sie wägen
behoben. Allerdings hielt man es selbst dann nicht für not- die Risiken nüchtern ab, und ihre Erfahrung aus früheren
wendig, die Betroffenen oder die Behörden darüber zu in- Datenskandalen zeigt, dass sie um eines nicht fürchten müs-
formieren. Das geschah erst jetzt, ein gutes halbes Jahr später. sen: um die Loyalität ihrer Nutzer, ihre wichtigste Währung.
Aber nicht aus freien Stücken, sondern weil Medien der Pan- Facebook, Google & Co. können sich bislang vollkommen
ne auf die Schliche gekommen waren. auf die Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit ihrer Nutzer
Das »Wall Street Journal« zitierte aus einem internen Pa- verlassen. Und darauf, dass die nächste glamouröse Produkt-
pier, in dem die Konzernjuristen dringend davon abraten, vorstellung alle Vorbehalte wieder vergessen macht, dass der
die Datenpanne öffentlich einzugeste- nächste neue Service kurzfristige Be-
hen. Das würde »sofortiges Interesse« denken wieder zerstreut. So lief es auch
der Politik und Vergleiche mit dem diese Woche wieder: Die Datenaffäre
Datenskandal um Cambridge Analytica bei Google Plus und die im gleichen
auslösen, der Facebook in diesem Früh- Profildaten Atemzug angekündigte Einstellung des
Persönliche zugänglich
jahr erschüttert hatte. gefloppten Netzwerks für Normal-
Informationen von 500000

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Tatsächlich gibt es viele Parallelen, bis betroffene nutzer waren nur ein kurzer Aufreger.
hin zur Vertuschungsstrategie: Auch Nutzer Schon am nächsten Tag, was für ein Zu-
Facebook wollte den Skandal unter dem Millionen Nutzern fall, stellte der Konzern sein neues
Deckel halten, bei dem Daten von gelangen an die Politik- Smartphone vor – und prompt ging es
intern bekannt

intern bekannt

87 Millionen seiner Nutzer illegal weiter- beratungsfirma Cam- praktisch nur noch darum – tolle Kame-
bridge Analytica.
verkauft wurden. Hier war es ein Whist- ra, krasses Display!
öffentlich

öffentlich

leblower, der diesen Plan durchkreuzte. Facebook verkündete Anfang der


Man kann von den Skandalen bei Woche sogar, in die Wohnzimmer seiner
zwei der wertvollsten und mächtigsten Nutzer einziehen zu wollen, mit einem
Firmen der Welt eine Menge lernen. Die 2016 2017 2018 neuen Videotelefonie-Tablet namens
Lektionen sind alles andere als ange- »The Portal«, samt immer empfangs-
nehm – für die Konzerne nicht, vor allem aber nicht für deren bereitem Mikrofon. Cambridge Analytica? Jüngst noch der
Nutzer. Die augenscheinlichste und gleichzeitig beunruhi- zusätzliche Hack von 50 Millionen Nutzerkonten? Wer in
gendste Erkenntnis ist: Offenbar haben selbst die dominie- diesem Umfeld ein neues Überwachungsprodukt auf den
renden Anbieter der Digitalwirtschaft die Sicherheit ihrer Markt bringt, ist sich offenbar sehr sicher.
Kundendaten nicht im Griff. Facebook und Google, Innova- All das zeigt: Die Netzkonzerne nehmen ihre Nutzer nicht
tionstreiber von der künstlichen Intelligenz bis hin zum auto- ernst – und sie müssen es auch nicht. Denn es gibt kaum Ver-
nomen Fahren, bieten nicht nur eklatante Einfallstore für Da- änderungsdruck, ihre Mitglieder sind willige Opfer. Solange
tenräuber und Datenmissbrauch. Sie merken es nicht einmal. sie sich nicht wie mündige Verbraucher benehmen und mehr
Im Fall von Google Plus erklärte das Unternehmen sogar, Souveränität über die eigenen Daten einfordern, werden sie
man könne nicht einmal sagen, ob die Sicherheitslücke von auch nicht wie solche behandelt werden.
den 438 App-Entwicklerfirmen ausgenutzt und missbraucht Einen Restrespekt haben die Unternehmen allenfalls vor
worden sei, die fälschlicherweise Zugriff auf die persönlichen »dem Regulierer«, wie das Google-Memo zeigt. Immerhin
Daten hatten. Denn ausgerechnet die Log-Dateien, mit denen diese Seite übt Druck aus, selbst in den USA scheint einigen
sich das herausfinden ließe, löscht der sonst so datenhungrige Politikern der Geduldsfaden gerissen zu sein. Kalifornien hat
Konzern nach eigenen Angaben alle zwei Wochen. ein Datenschutzgesetz beschlossen, das mit Strafen von bis
Vorfälle wie dieser offenbaren einen gefährlichen Kontroll- zu 750 Dollar pro Einzelverstoß droht, in Washington wird
verlust: Zwar protokollieren die Leitsterne des Überwa- gerade über ein Bundesgesetz beraten. In Europa drohen
chungskapitalismus den Alltag von Milliarden Menschen und seit Ende Mai Geldbußen von bis zu vier Prozent des Welt-
vermarkten deren Vorlieben und wahrscheinliche Verhaltens- umsatzes – wenn Unternehmen bei der Sicherheit schlampen
weisen höchst erfolgreich an ihre Werbekunden. Die Sicher- und wenn sie Pannen nicht nach 72 Stunden melden.
heit dieser Daten aber haben sie auf der Jagd nach Markt- Google ist offenbar äußerst knapp daran vorbeige-
anteilen und im Rausch ihres atemberaubenden Wachstums schrammt, der erste große Testfall zu werden. Das Unterneh-
hintangestellt. Davon zeugt auch ihr lange unbemerkt geblie- men betont auf jeden Fall, den Fehler zwar erst im März ent-
bener Missbrauch durch fremde Geheimdienste im US-Wahl- deckt zu haben, dann sei er aber auch gleich behoben worden.
kampf und vor der Brexit-Abstimmung. Marcel Rosenbach

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 89


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Ausland
»Geht wählen, es ist die Wahl eures Lebens, heute ist die letzte Gelegenheit!« ‣ S. 98

STEPHANIE KEITH / AFP


Vor einem Jahr nahm die weltweite #MeToo-Bewegung mit den ersten Anschuldigungen gegen Harvey Wein-
stein Fahrt auf. Mittlerweile werfen mehr als 80 Frauen dem Filmmogul sexuelle Belästigung, Missbrauch
und Vergewaltigung vor, in sechs Fällen wurde Anklage gegen ihn erhoben. Am Donnerstag erzielte Wein-
stein in New York einen kleinen Erfolg: Die Staatsanwaltschaft ließ eine der Anklagen gegen ihn fallen.

Kommentar

Unheilig
Auf skandalöse Weise verschärft der Papst den Ton in der Abtreibungsdebatte.

Diese Woche sagte Papst Franziskus einen Satz, der ihn wohl zum Thema Verhütung zu erzählen. Selbst Kondome sind nur
noch lange verfolgen wird: Ungeborenes Leben zu töten, das sei, erlaubt, um die HIV-Übertragung zu verhindern. Die berüchtigte
»als würde man einen Killer beauftragen«. Ärzte als Auftragskiller, Pillen-Enzyklika »Humanae vitae« von Papst Paul VI. ist weiter-
bezahlt von werdenden Eltern? Mit diesem Vergleich verschärft hin gültig. Am Sonntag wird Paul VI. sogar heiliggesprochen,
der Papst den Ton auf skandalöse Weise. Der Mann, der sich gern und weil dazu eine Wundertat gehört, wird ihm die Heilung eines
als mitfühlender Pastor zeigt, müsste wissen, dass Abtreibungen Fötus im fünften Monat zugeschrieben. Man glaubt es nicht.
meistens erst nach schmerzlichen Überlegungen vorgenommen Vielleicht war es mehr als ein Scherz, dass Franziskus auch
werden, nach Gewissensqualen. noch sich selbst auf die »Warteliste« für eine Heiligsprechung
Trotzdem hält es der Kirchenführer für nötig, die Gläubigen gesetzt hat. Man wird nicht schlau aus diesem Mann. Das Rätsel-
mit drastischen Worten einzuschüchtern. Die Hoffnung auf grund- raten, ob er ein Reformer ist, der sich manchmal bei seinen konser-
legende Reformen im Vatikan dürfte dahin sein. Es bleibt, wie es vativen Gegnern anbiedert, oder ein erratischer Eigenbrötler,
war: Mit dem Sex und seinen unerwünschten Folgen haben die begleitet seine Amtszeit. Aber letztlich kommt es nur auf das an,
Katholiken ein großes Problem. Weder gelingt es ihren Anführern, was er sagt und entscheidet. »An ihren Früchten sollt ihr sie er-
die massenhaften Fälle von sexuellem Missbrauch angemessen kennen«, so steht es in der Bibel. Eine kluge Empfehlung. Die vati-
aufzuklären, noch schaffen sie es, den Menschen etwas Sinnvolles kanischen Früchte sind häufig verrottet. Dietmar Pieper

90 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Brasilien Südafrika
Der Zerstörer Endlich reich werden
 Auf Mensch und  Die »Ramaphoria« ebbt ab. So nen-
Natur im größten nen Südafrikaner jene Begeisterung,
Regenwald der Erde die das Land im Februar ergriffen hat,
dürften brutale Verän- als Cyril Ramaphosa den korrupten
derungen zukommen, Jacob Zuma aus dem Präsidentenamt
sollte der Rechtspopu- verdrängte. Der Neue, so die Hoffnung,
list Jair Bolsonaro werde aufräumen mit den Netzwerken,
die zweite Runde der die sein Vorgänger gesponnen hatte
Präsidentschaftswahl und die das Land lähmten. Tatsächlich
am 28. Oktober war der Kurs der Landeswährung
gewinnen. Bolsonaro Rand zunächst gestiegen.
will die Einrichtung Doch inzwischen ist die Euphorie
neuer indigener verflogen, denn das Land ist in die
Schutzgebiete stop- Rezession gerutscht. Zumas Misswirt-

NELSON ALMEIDA / AFP


pen und die beste- schaft hat Langzeitwirkungen, korrup-
henden für den Berg- te Seilschaften lassen sich nicht so
bau und andere schnell wie erhofft beseitigen. Erst
Industrien öffnen. unter erheblichem öffentlichen Druck
Die Ureinwohner trat diese Woche Ramaphosas Finanz-
bekämen »nicht Anti-Bolsonaro-Kundgebung in São Paulo minister zurück. Er hatte in der Ära
einen Zentimeter« Zuma, ebenfalls als Finanzminister, die
mehr Land, kündigte er im Wahlkampf praktisch die gesamte Umweltpolitik der Nähe einer Unternehmerfamilie
an. Bolsonaro will das brasilianische vergangenen Jahrzehnte rückgängig
Umweltministerium auflösen und mit machen. Bergbaukonzerne und Investo-
dem Landwirtschaftsministerium ver- ren aus aller Welt setzen auf den Sieg des
schmelzen; als Minister hat er ausgerech- Rechtsaußenpolitikers, der das Amazo-
net den bisherigen Präsidenten des Ver- nasgebiet »in Partnerschaft mit demokra-
bands der Großgrundbesitzer vorgesehen. tischen Ländern wie den USA« wirtschaft-
Das Pariser Klimaabkommen will Bolso- lich ausbeuten will. Die Geschäftsaus-
naro aufkündigen und internationale sichten brasilianischer Rohstoffkonzerne

RODGER BOSCH / AFP


Umwelt-NGOs aus Brasilien verbannen. wie Petrobras (Öl) und Vale (Eisenerz,
Der ehemalige Fallschirmjäger orien- Nickel) haben sich schlagartig verbessert,
tiert sich an den Wünschen der mäch- seitdem Bolsonaro die erste Runde der
tigen Agrar- und Unternehmerlobby, die Wahl am vergangenen Sonntag unerwar-
ihn im Wahlkampf unterstützt. Er will tet deutlich gewonnen hat. JGL
Ramaphosa

gesucht, die im Mittelpunkt der Polit-


Chappatte skandale des Landes steht. Aber noch
immer vergibt die regierende Partei
ANC Posten etwa im staatlichen Ener-
giekonzern Eskom lieber an alte
Kämpfer als an fähige Manager. Rama-
phosa steht unter Druck, denn in
seiner Partei radikalisiert sich eine ein-
flussreiche Fraktion von Mitgliedern,
die ein Vierteljahrhundert nach
dem Sieg über die Apartheid endlich
belohnt werden wollen.
Bislang ist nur eine ganz schmale
Schicht der schwarzen Bevölkerung zu
Wohlstand gekommen. Ramaphosa
hat deshalb schon früh angekündigt,
die Verfassung zu ändern, um künftig
weiße Bauern entschädigungslos enteig-
nen zu können. Noch immer befinden
sich rund 90 Prozent des Farmlands
in den Händen von nur 10 Prozent der
Bevölkerung. Aber diese Ankündigung
hat internationale Investoren zusätz-
lich verschreckt, sie fürchten um die
Rechtssicherheit in Südafrika. Auch
darum ist die »Ramaphoria« nun einer
»Ramareality« gewichen. JPU

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Ausland

Amoklauf
mit Ansage
Italien Matteo Salvini rückt sein Land ins politische Abseits.
Der rechte Innenminister hetzt mit Billigung seines
Koalitionspartners gegen die EU, gegen Ausländer, gegen die
Presse. Die Chronik eines Trauerspiels im Herzen Europas.

E
s ist 11.15 Uhr am Montagmorgen, Ausland ist seine Regierung unter Be-
als Matteo Salvini kurz auf sein schuss. Fremdenfeindlichkeit wird ihr
Smartphone blickt. Er sieht, dass genauso vorgeworfen wie der Versuch,
der Spread soeben die kritische Europa zu spalten. Erschwerend hinzu
Marke von 300 Punkten überschritten kommt der halsbrecherische Haushaltsent-
hat – erstmals seit 2013. Der Vizepremier wurf, mit dem Italiens Regierung dieser
aber lässt sich nichts anmerken. Tage die Finanzmärkte in Atem hält.
Der Spread auf zehnjährige Staatsanlei- Der Mann, der dafür Verantwortung
hen gilt in der Welt der Finanzen als Fieber- trägt, ist Salvini. Er treibt sie vor sich her,
thermometer, das den Zustand des Patien- diese Regierung, die nur dem Namen nach
ten abbildet. Die kränkelnde Republik Ita- von Premier Giuseppe Conte geführt wird;
lien ist mit mehr als 2300 Milliarden Euro und in der die bei den Wahlen siegreichen
verschuldet. Steigt der Spread, sinkt das Fünf Sterne zunehmend zum Juniorpart-
Vertrauen der Kreditgeber, der Schulden- ner schrumpfen. Salvini ist es, der die dritt-
dienst verteuert sich. Salvini scheint das größte Volkswirtschaft der Eurozone ins
nicht zu kümmern. Blaue steuert. Und der dabei wirkt wie
Seelenruhig hört er weiter der neben einer, der im Führerhaus eines Schwer-
ihm sitzenden Blonden zu: Marine Le Pen. transporters die Hände vom Lenkrad
Die beiden turteln an diesem Morgen nimmt, Gas gibt und in Kauf nimmt, seine
schon seit einer halben Stunde wie Frisch- Fracht gegen die Wand zu fahren.
verliebte. Er strahlt sie an und spricht von Italiens Häfen sind dicht, kein Flüchtling
gemeinsamen Zielen. Sie fügt hinzu: Was darf mehr an Land? Salvini hat das durch-
der Mann an ihrer Seite sage, könne sie gesetzt. Genauso ist er es, der dafür sorgen
beinahe blind unterschreiben. will, dass EU-Regeln für Italien nur noch
Der Italiener Salvini von der Lega und gelten, wenn sie dem Land nützen; und
die Französin Le Pen vom Rassemblement dass die Finanzmärkte wegen ein paar Mil-
National – als neues Traumpaar der euro- liarden Euro neuer Schulden nicht nervös
päischen Rechtspopulisten zeigen sie sich werden, sondern weiter auf den Wirt-
an diesem Morgen gemeinsam in Rom und schaftsaufschwung warten sollen.
kündigen der EU in ihrer jetzigen Form Der Mann hat Courage, und in seiner
den Kampf an. Sie habe prinzipiell nichts Entschlossenheit liegt etwas Gewalttäti-
»gegen Europa, nur gegen eine Union, die ges. Er ist begabt in Sachen Selbstver- Bürokratie geht oder um Vertreter der
sich zum totalitären System entwickelt marktung und in der Lage, sich je nach Hochfinanz, um linke »buonisti« – Gut-
hat«, sagt die Französin. Die wahren Fein- Konjunktur immer wieder neu zu erfin- menschen – oder um kriminelle Auslän-
de Europas, höhnt der Italiener, säßen den. Salvini war früher mal ziemlich links, der: Italiens Innenminister legt sich mit
»verschanzt in ihrem Brüsseler Bunker«. später ziemlich rechts, erst seit Kurzem allen an. »Viel Feind, viel Ehr«, zitiert er
Nach den EU-Parlamentswahlen im hat er auch die Mitte im Blick. Jene, die auf Twitter einen der Lieblingssprüche des
Mai wollen Salvini und Le Pen mit Gleich- ständig »mit dem Gespenst des Spread« faschistischen Diktators Benito Musso-
gesinnten aus anderen Mitgliedsländern hantierten, hätten eigennützige Motive, lini – pünktlich zu dessen Geburtstag.
ein »Europa der Nationen« schaffen. sie wollten die Lage schlechtreden, be- EU-Kommissionschef Jean-Claude Jun-
Einen Vorgeschmack auf das Kommende hauptet er. Eine Kampagne sei da im cker? Habe »Europa und Italien ruiniert«,
gebe es schon jetzt hier in Rom, sagt Sal- Gange, inszeniert von Spekulanten, »die behauptet Salvini, außerdem könne der
vini, seit Juni Innenminister und Vizepre- auf den Zusammenbruch eines Landes set- Luxemburger sich bisweilen kaum auf den
mier in einer Populistenkoalition mit der zen«, um sich dann ihre Beute zu Spott- Beinen halten: »Ich ziehe es vor, mit nüch-
Fünf-Sterne-Bewegung (M5S): »Unsere preisen sichern zu können. ternen Menschen zu sprechen.« Und die
Regierung des Wandels könnte ein Modell Salvini ist nonstop auf Kollisionskurs. Verbündeten in der EU? »Die Drohungen
für ganz Europa sein.« Er riskiert dabei, dass nicht nur sein Land, von Deutschen und Franzosen berühren
Mit dieser Meinung steht Salvini aller- sondern die gesamte kontinentale Archi- mich nicht.« Über Italiens Weg werde in
dings weitgehend allein da. Im In- wie im tektur Schaden nimmt. Ob es um die EU- Rom entschieden – »wir ziehen unseren

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ROBERTA BASILE / IPA / DDP IMAGES


Anti-Salvini-Demonstration in Neapel: Viel Feind, viel Ehr

Plan durch und fühlen uns nur gegenüber bank. Deren Chef, der Italiener Mario toschuldenlast ist in absoluten Zahlen die
den Italienern verantwortlich«. Draghi, verhinderte fast vier Jahre lang dritthöchste weltweit und beträgt, gemes-
Fast sieht es so aus, als liefe in einem ernsthaftere finanzielle Engpässe in Rom – sen an der Wirtschaftsleistung, mehr als
der Gründungs- und Kernstaaten der EU zulasten der europäischen Sparer. das Doppelte des Grenzwerts in der Euro-
derzeit ein Laborversuch, mit dem Ziel, Ob Salvini, Premier Conte und M5S- zone. Trotzdem sorgt der Plan von Salvini
entweder den Nationen Macht zurückzu- Chef Luigi Di Maio die Zeichen der Zeit und Di Maio, neue Wohltaten durch im-
geben oder den Staatenbund zu sprengen. zu deuten wissen? Es sieht nicht danach mer neue Schulden zu finanzieren, nach
Bis Montag muss Italien seinen Haus- aus: Das Regierungsprogramm beinhaltet Angaben des Forschungsinstituts Ipsos für
haltsentwurf für 2019 der EU-Kommission allein für 2019 Mehrausgaben von bis zu Hochstimmung beim Wahlvolk.
unterbreiten. Wenig später wollen sich die 37 Milliarden Euro. Die Neuverschuldung Das mag daran liegen, dass viele Italie-
Ratingagenturen Moody’s und Standard soll – anstatt wie geplant auf 0,8 Prozent ner keine oder zumindest keine auslän-
& Poor’s äußern. Momentan werden ita- der Wirtschaftsleistung zu sinken – auf das dischen Zeitungen mehr lesen. Romano
lienische Anleihen nur noch zwei Stufen Dreifache steigen. Am Dienstag warnten Prodi hingegen, ehemals Chef der italieni-
über Ramschniveau gehandelt. Würde die nacheinander Nationalbank, Rechnungs- schen Regierung wie auch der EU-Kom-
Kreditwürdigkeit weiter zurückgestuft, hof und Internationaler Währungsfonds mission, kennt die internationale Gefechts-
hätte das verheerende Folgen. Ende 2018 vor den Folgen dieser Ausgabenpolitik. lage. Prodi sagt, die Regierenden in Rom
soll Schluss sein mit dem Aufkauf von Was sich in Rom abzeichnet, gleicht führten sich auf, als wären sie »Besitzer
Staatstiteln durch die Europäische Zentral- einem Amoklauf mit Ansage. Italiens Net- eines ganzen Landes« geworden. Für den

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 93


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Ausland

passenden Umgang mit Brüssel empfehle sagt, wenn es eine Straftat sei, die Interes- »Ein hervorragender Mann« sei der
er ihnen ein neapolitanisches Sprichwort: sen der Italiener zu verteidigen, dann lasse Regierungschef, sagt Salvini, ohne zu er-
»Wer den Hintern knapp über dem Boden er sich gern verhaften. röten, »ich bin froh, dass er es ist, der das
hat, sollte nicht Ballett tanzen.« Und »Vorstadtbulle« wird der rastlose Innen- Schicksal dieses Landes in der Hand hat«.
Italien habe »den Hintern derzeit weit minister von Kritikern genannt, »Angst- In Wahrheit spielt Conte nur den Prell-
unten hängen«. verkäufer« auch. Der frühere sozialdemo- bock zwischen den beiden so ungleichen
Was in der Tat während der Chaostage kratische Parlamentarier Furio Colombo Koalitionspartnern, die ihre milliarden-
in Rom auffällt: Die Euphorie der eifrig verstieg sich gar zu der Behauptung, Sal- schweren Wahlversprechen entgegen allen
twitternden, postenden und talkenden Re- vini sei »der italienische Eichmann« – das Warnungen durchzudrücken versuchen:
gierenden unterscheidet sich erheblich von moderne Pendant zum Organisator der Ju- Das Augenmerk gilt einem möglichst
den düsteren Analysen derer, die mit Sym- denvernichtung also. Derlei Entgleisungen triumphalen Abschneiden bei der Wahl
pathie, aber kühlem Kopf auf das Land kommen Salvini eher zupass. »Von Gut- zum Europaparlament im Mai, von der
mit dem EU-weit schwächsten Wirtschafts- menschen beleidigt zu werden«, sagt er, sich Di Maio nichts weniger als ein »Erd-
wachstum blicken. Und die dabei zusehen betrachte er als Auszeichnung. beben« erhofft.
müssen, wie Vizepremier Di Maio die par- »Selfini«, wie er von Gegnern wegen Deshalb soll das neue Bürgergehalt in
lamentarische Einigung über den auf seiner Vorliebe für Schnappschüsse mit Höhe von 780 Euro für fünf Millionen so-
Pump finanzierten Haushalt so ausgelas- Wählern genannt wird, führt mit seiner zial Schwache noch rechtzeitig vor der
sen feiert, als wäre Italien soeben zum fünf- Lega mittlerweile sämtliche Umfragen an. Wahl ausgezahlt werden. Hinzu kommt
ten Mal Fußballweltmeister geworden. Binnen sieben Monaten hat sich der Stim- die geplante Verringerung des Renten-
Übertroffen werden die Tri- eintrittsalters, in deren Genuss
umphgesten und Tiraden (»Dieses 400 000 Italiener kämen – Men-
Europa ist am Ende«) des Fünf- schen, die bisher, wie der Polemi-
sternlers nur durch den Auftritt von ker Salvini es formuliert, »kaum
Salvini, nachdem dessen Dekret Zeit hatten, Großeltern zu sein,
über »Sicherheit und Immigration« weil sie vom Arbeitsplatz direkt ins
vom Präsidenten abgesegnet wur- Grab wanderten«. Darüber hinaus
de. Da spreizt sich Italiens Innen- ist eine Steuersenkung für kleine
minister auf Facebook und im Fern- und mittlere Betriebe geplant.
sehen, als wollte er all jenen recht Wie all das finanziert werden
geben, die ihn für größenwahnsin- soll? Indem nicht näher beschrie-
nig halten: spricht von sich selbst bene Einsparungen und schwindel-
in der dritten Person – »das Dekret erregende Wachstumsprognosen
dieses Bösewichts von Vizepre- der Berechnung zugrunde gelegt
mier« – und verschickt vor der Ka- werden. »Übertrieben optimisti-
mera Küsschen an seine Kritiker. sche« Ziele bemängelt der Bilanz-
»Geschlossene Häfen, offene Her- prüfungsausschuss im Parlament.
zen« – so beschreibt Salvini die Zu- Salvini aber ist mit solchen Ein-
MISTRULLI / FOTOGRAMMA / ROPI

wanderungspolitik unter seiner Re- wänden schwer zu stoppen. Er sei


gie. Auf 21 000 habe er die Zahl der zwar nicht Jesus, sagt er, »ich kann
2018 angelandeten Flüchtlinge re- weder Brote noch Fische vermeh-
duziert, ein Rückgang um vier Fünf- ren«, aber den Italienern Stolz und
tel. Den Männern wie Frauen von Optimismus zurückzugeben, das
den Hilfsorganisationen, die weiter traue er sich zu. Wer ihn sieht, wie
mit Rettungsschiffen in Richtung Li- er in Mussolinis Modellstadt Latina
byen aufbrechen, ruft er gönnerhaft Vizepremier Salvini
südlich von Rom auftritt, wie ihm
nach, sie dürften von ihm aus gern »Niemand wird uns stoppen können« die zu Tausenden versammelten
Seehecht angeln – aber Flüchtlinge Anhänger zujubeln, der begreift,
nach Italien bringen? »Zero«, null. welche Sehnsüchte Salvini bedient.
Salvini tickt im Dauerwahlkampf- menanteil der Partei auf 34 Prozent ver- Der Minister trägt an diesem Abend ein
modus: Die Ängste im Volk, die er zu be- doppelt. Vom äußersten rechten Rand aus Uniformshirt der italienischen Polizei und
kämpfen verspricht, schürt er zumindest ist es Salvini gelungen, in die Mitte der Ge- verspricht: »Wenn wir zusammenstehen,
in Teilen selbst – mit raffiniert aufbereite- sellschaft vorzurücken – wobei es so aus- können wir Großes schaffen.« Und: »Nichts
ten Twitter- und Facebook-Nachrichten. sieht, als wäre ihm das Wahlvolk auf sei- und niemand wird uns stoppen können.«
Der Webstratege Luca Morisi, ehemals nem Weg erheblich entgegengekommen. Später, hinter sich ein Kriegerdenkmal
Professor an der Universität Verona, ist Während die bis März regierenden Lin- aus Mussolinis Zeit mit dem faschistischen
das Gehirn hinter der Idee, den Rechts- ken so gut wie keine Rolle mehr spielen Adler, fügt Salvini noch hinzu: »Man sollte
außen als volksnahen Verteidiger des und sich weiter gegenseitig zerfleischen, den Mut haben zu sagen, dass Mussolini
Vaterlands anzupreisen. Mehr als 3,2 Mil- ködert Salvini die Wähler mit eingängigen nicht nur falsche Dinge wie die Rasse-
lionen Menschen folgen Salvini mittler- Botschaften. Ein neues Sicherheitsdekret gesetze auf den Weg gebracht hat.«
weile auf Facebook – ein einsamer Rekord sieht drastisch verschärfte Bestimmungen Haben jene recht, die wie der jüdische
unter Europas Politikern. für kriminell gewordene oder verdächtige Autor und TV-Moderator Gad Lerner da-
Dabei ist er der erste Innenminister in Asylbewerber vor. Als die Verordnung von sprechen, Italien gerate derzeit in
der Geschichte der Republik, gegen den vorgestellt wurde, stand Regierungschef »einen faschistoiden Sog«? Der Kult um
wegen Freiheitsberaubung und Amtsmiss- Conte wie ein Handlanger neben dem den erfolgreich flegelnden und polemisie-
brauch ermittelt wird, weil er 177 Flücht- Innenminister. Später, auf Salvinis Face- renden Minister berechtigt zur Sorge. Der
linge im Hafen von Catania tagelang nicht book-Seite, war Conte dann ganz aus dem Bestsellerautor Roberto Saviano geht so
an Land ließ. Salvini ist »stolz« darauf und Foto getilgt. weit, Salvini zu unterstellen, er sei gerade

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РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Italien Im kalabrischen Riace schuf ein Bürgermeister ein Modelldorf Vor Mimmos Haus gab es Sprechgesänge.
Und Mimmo stand am Fenster wie jetzt
für Migranten – und sieht es von Innenminister Salvini zerstört. und reckte stumm die rechte Faust in die
Luf. Unten sangen sie »Bella Ciao«,

Schwarze Welle das alte Partisanenlied, und wieder liefen


Mimmo Tränen übers Gesicht.
»Diesen Moment werde ich für immer
in meinem Herzen tragen«, sagt Mimmo.
Er gibt sich kämpferisch, aber in Wirklich-
 Der Bürgermeister von Riace, Domenico sen. Aber jetzt, unter Hausarrest, macht keit ist er erschöpft. Er weiß: Sein Modell
Lucano, von allen nur »Mimmo« ge- sich Mimmo ernsthafte Sorgen, er spricht könnte vor dem Aus stehen. 20 Jahre lang
nannt, steht am Fenster in seinem Wohn- von einer »schwarzen Welle, die den sei Italiens Einwanderungspolitik chao-
zimmer. Die Hände stecken in den Hosen- Himmel verdunkelt, nicht nur den über tisch gewesen, »ständig neue Gesetze,
taschen, die Schultern hängen, wehmütig Riace, sondern über ganz Italien«. aber keine Haltung«. Doch jetzt komme
blickt er auf sein Dorf. Auf Riace – ein Sein Feind, so viel wird klar, sei »die einer, der ziehe seine Idee durch: Salvini.
paar Hundert Häuser auf einem Berghang faschistische Rechte«, so sagt es Mimmo, »Ich weiß nicht mehr, was aus meinen
an Italiens Fußsohle; 1600 Einwohner, und er meint Innenminister Matteo Sal- Flüchtlingen wird«, sagt Mimmo. »Ich
davon 350 Migranten, drei kleine Kirchen, vini. Der eine will das aussterbende Land weiß nicht mal, was aus mir wird.«
Bars und Läden; gut in Schuss und ziem- Die Festnahme von Mimmo komme
lich belebt für so ein Kaff in Italiens nicht zufällig, das sagen auch viele Men-
Süden. Am liebsten würde Mimmo, klein, schen in Riace. Die Vorwürfe gegen ihn
Bäuchlein, 60 Jahre alt, selbst hinunter- würden sich in Luft auflösen, wie schon so
gehen in sein Dorf, aber er darf nicht. Seit oft, sagen sie, aber Mimmos Projekt
gut einer Woche steht er unter Hausarrest, könne scheitern. Schuld daran sei das
als Bürgermeister ist er suspendiert. Gesetzesdekret »Decreto Salvini«, das
Seit 20 Jahren ist Riace bekannt als höchstwahrscheinlich nächsten Monat in
Zufluchtsort für Migranten aus aller Welt. Kraft treten wird. Es soll das bisherige
Es lebten hier zeitweise schon Tausende Asylsystem »Sprar« umkrempeln.
Fremde. Sie wohnen in den verlassenen Sprar, ein Netzwerk von regionalen
Häusern der Kalabresen, kümmern sich Integrationsprojekten wie hier in Riace,
um Vieh, Oliven- und Orangenhaine, sam- bietet medizinische Versorgung der Asyl-
meln Müll, lernen ein Handwerk, schi- bewerber, Sprach- und Handwerkskurse,
cken ihre Kinder in die Schule, beginnen betrieben von kleinen Gemeinden
ein neues Leben im aussterbenden Dorf – und Privatinitiativen. Durch das Salvini-
sind gerettet und sind selbst die Rettung. Dekret werden nun finanzielle Mittel
Erdacht hatte sich die »Città Futura«, gekürzt und die Rechte der Flüchtlinge
Stadt der Zukunft, Mimmo, der Bürger- beschnitten. Vor allem wird der humani-
NICOLA ZOLIN / DER SPIEGEL

meister, nachdem er Ende der Neunziger- täre Schutz vor Abschiebung stark einge-
jahre mehr als 200 Kurden auf einem schränkt. Schon seit Monaten bekommen
Schiff an der Küste hatte stranden sehen. Riaces Migranten kein Geld mehr,
Als Utopist und Poet wurde Mimmo 35 Euro pro Tag stehen der Gemeinde
gepriesen von Wim Wenders, der einen eigentlich für jeden zu.
Film über Riace drehte, das US-Magazin Aber längst hat sich Mimmos Utopie in
»Fortune« wählte ihn zu den 50 einfluss- Rebell »Mimmo«
den umliegenden Dörfern verselbststän-
reichsten Persönlichkeiten. Utopist und Poet digt. Die Asylbewerber machen hier jene
Lange Zeit war das Leben einfach in Jobs, die Italiener nicht mehr machen wol-
Riace, einer Insel der Glückseligen in- len; sie pflegen Alte, sind Hilfsköche, Tel-
mitten des problematischen Südens mit mit Flüchtlingen füllen, der andere will lerwäscher, Müllmänner. Dafür wohnen
Organisierter Kriminalität und hoher ein Italien nur für Italiener. Der Konflikt sie umsonst, haben Familie und Zukunft.
Jugendarbeitslosigkeit, wo illegale Flücht- spaltet das Land in Mimmo-Fans und Plötzlich steht Aiwa, ein Flüchtling aus
linge für einen Hungerlohn Tomaten Mimmo-Gegner. Roberto Saviano, Togo, vor Mimmos Tür. Er ist in ganz Ita-
pflücken oder sich an Ausfallstraßen der berühmte Autor, der sich selbst seit lien bekannt, seit er 2010 von Rassisten
prostituieren. Jahren nicht frei bewegen kann, weil angeschossen und von Mimmo aufgenom-
Aber jetzt ist Mimmos Lebenswerk in er von der Mafia bedroht wird, verteidigt men wurde. Aiwa reckt ein Schild in die
Gefahr. Vor gut einer Woche, er lag noch den Bürgermeister mit der Leidenschaft Höhe, »Ohne Mimmo Lucano sind wir
im Bett, wurde er festgenommen, wegen eines Verfolgten. wie Schafe ohne Schäfer«, und weint ein
»Begünstigung der illegalen Einwande- In Riace bringt jetzt der Postbote in bisschen. Oben steht Mimmo am Fenster
rung«. Sein Telefon war abgehört worden, klebrigen Likör getunkten Kuchen von und weint auch. »Sie haben mich wie ein
angeblich habe er einer Nigerianerin den Nachbarn im Dorf und Postkarten Tier behandelt«, sagt Aiwa, »aber dieser
eine Scheinehe mit einem Mann aus Riace mit Durchhalteparolen aus aller Welt. Bürgermeister hat mir die Würde zurück-
vorgeschlagen. Am vergangenen Samstag zogen Tau- gegeben und ein Leben.« Ist Italien ein
Gewiss, gegen Mimmo wurde schon sende Menschen durch die Gassen von anderes Land, seit die Lega an der Regie-
mehrmals ermittelt, aber nie kam es Riace, ein Protestmarsch. Ex-Parlaments- rung ist? »Oh ja«, sagt Aiwa, »das sind
zu einer Verurteilung, und Feinde hat er präsidentin Laura Boldrini war aus Rom Rechtsradikale, sie sperren den Mann ein,
genug: Unbekannte vergifteten seine gekommen, Hunderte Flüchtlinge kamen der mich gerettet hat.« Fiona Ehlers
Hunde, es wurde sogar auf ihn geschos- dazu, ganz Riace war auf den Beinen. Mail: fiona.ehlers@spiegel.de

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Ausland

ENRICO MATTIA DEL PUNTA / NURPHOTO / DDP


Autor Saviano (mit Mikrofon, 3. v. l.), Bürgermeister Lucano (2. v. l.) in Riace: »Es gibt nur Komplizen oder Rebellen«

dabei, »die endgültige Umwandlung Ita- mit Migranten zu füllen, würde ich versu- um Wirtschaftsfragen kümmern sollte,
liens von einer Demokratie in einen auto- chen, Arbeit für kalabresische Jugendliche wird die Sache problematisch: Pierre
ritären Staat« zu betreiben. zu finden, damit die nicht mehr ins Aus- Moscovici und seine Attacken auf die
Saviano, der mit seinem mehr als zehn- land abhauen müssen.« Aber der Fall Regierung in Rom erschweren die nun an-
millionenfach verkauften Anti-Mafia- Riace taugt schlecht zum schlagenden Be- stehenden Verhandlungen mit der EU.
Buch »Gomorrha« berühmt wurde, gilt in weis für Fremdenfeinlichkeit. Der verän- Im Verhältnis zwischen Rom und Brüs-
Italien je nach Sichtweise als stimmkräf- derte Pulsschlag des Landes lässt sich nicht sel sieht es derzeit so aus, als rasten da
tigster Mahner oder fleißigster Nestbe- im Scheinwerferlicht von Fernsehkameras zwei Züge aufeinander zu. Fast täglich wer-
schmutzer. Er, der wegen wiederholter messen, nicht an Einzelfällen festmachen. den Beleidigungen ausgetauscht. Dabei
Morddrohungen seit 2006 mit Personen- Die Stimmung wandelt sich flächende- wissen beide Seiten: Italien ist auf die
schutz lebt, hat im Juli einen Appell an ckend und nicht erst seit Kurzem. Dinge, Gunst der EU angewiesen; und umgekehrt
Künstler und Intellektuelle Italiens gerich- die tabu waren, werden neuerdings häu- ist die EU als politisch wirkmächtiger Ver-
tet mit der Frage: »Warum versteckt ihr figer ausgesprochen – im Schutzraum des bund, ist vor allem der Euro ohne italieni-
euch?« Im Angesicht der Regierung Sal- weltweiten Netzes, aber auch öffentlich. sche Beteiligung nicht denkbar.
vini/Di Maio sei ein Bekenntnis gefragt: »Der Rassismus in Italien nimmt zu, Salvini glaubt, aus dieser Gemengelage
»Es gibt nur Komplizen oder Rebellen.« das ist gefährlich, beunruhigend, hat Verhandlungspotenzial gewinnen zu kön-
Gegen den Vorwurf Savianos, er sei der aber natürlich mit demografischen und nen. Und so zwingt er den Wirtschafts-
»Minister der Unterwelt«, hat Salvini Kla- sozialen Phänomenen zu tun«, sagt Luigi minister Giovanni Tria, in Brüssel wie im
ge eingereicht. Darüber hinaus drohte er, Manconi, linker Ex-Senator und Men- italienischen Parlament einen Haushalts-
dem Schriftsteller den Polizeischutz strei- schenrechtler: »Innerhalb von 25 Jahren plan zu verteidigen, der nach Ansicht des
chen zu lassen. Als schließlich am 2. Ok- sind aus 800 000 Ausländern in Italien »Corriere della Sera« einer Ermächtigung
tober Domenico Lucano, der als Vorbild fast sechs Millionen geworden, schwer zum »Postkutschenüberfall« gleicht – zur
für geglückte Integration gefeierte Bürger- vorstellbar, dass da sich nicht auch Rassis- gewaltsamen Bargeldbeschaffung.
meister von Riace (siehe Seite 95), festge- mus verbreitet.« Der bedauernswerte Minister Tria ist
nommen wurde, frohlockte der Innen- Dass die Italiener sich einer »entschie- die tragische Figur dieser Tage. Beim Emp-
minister: »Wer weiß, was Saviano und die den europaskeptischen und fremdenfeind- fang in der Deutschen Botschaft zu Rom
Gutmenschen, die Italien mit Einwande- lichen Regierung« anvertraut haben, ist am 3. Oktober verteidigt er »das ehrgei-
rern auffüllen wollen, nun sagen werden.« als Urteil schwer zu widerlegen. Stammt zige Projekt der Einheitswährung«. Aber
Beifallsstürme erntet der Innenminister, dieses Urteil allerdings von einem franzö- davor und danach wird er von seinen
wann immer er sagt: »Anstatt meinen Ort sischen EU-Kommissar, der sich eigentlich Kabinettskollegen Salvini und Di Maio ge-

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LACKENTWICKLER
demütigt wie kaum ein Wirtschaftsressort-
chef zuvor. Will er sich erklären, lässt man
ihn entweder eiskalt stehen oder dreht ihm
das Mikrofon ab.
Dass Tria nicht längst zurückgetreten
ist, hat mit der diskreten Regie des Präsi-
KLIMA-
denten zu tun: Der weißhaarige Grandsei-
gneur Sergio Mattarella versucht alles, um
Schaden von Italien abzuwenden. Er bittet
den renommierten Ökonomen Tria, Mit-
SCHÜTZER
glied des Kabinetts zu bleiben, um die
Finanzmärkte zu beruhigen. Er empfängt
den EZB-Chef Mario Draghi zum Krisen-
gespräch und berät sich mit Führungsfigu-
ren der Nationalbank.
Deren offenkundig verzweifelter Gene-
raldirektor schlug zuletzt bei einem Vor-
trag an der venezianischen Universität
Alarm: Italiens Problem, so Salvatore Ros-
si, »lässt sich nicht lösen, indem man dem
Staat weitere Verschuldung erlaubt«. Zu
den derzeit »tonnenweise verbreiteten Un-
wahrheiten« gehöre jene, die besage, dass
die italienische Wirtschaft blühen würde,
»wenn nicht Europa aufgrund der deut-
schen Sturheit« dem Land eine finanzielle
Zwangsjacke verpasst hätte.
Die Leidtragenden einer sich verschär-
fenden Krise wären zuallererst Salvinis
Landsleute. Sie halten zwei Drittel aller
italienischen Schuldtitel. Sie und ihre Er-
ben entwerten ihre erheblichen Privatver-
mögen, je stärker die Staatsverschuldung
steigt. Salvini weiß das, tut aber so, als gin-
ge ihn all das nichts an. Spricht er über
Staatsverschuldung, Bruttoinlandsprodukt
oder Spread, dann zieht er ein Gesicht, als
fasste er mit spitzen Fingern schmutzige
Wäsche an.
Noch folgen sie ihm mehrheitlich, die
Italiener – bekannt dafür, sich in Politiker ALTANA – global führend in reiner Spezialchemie. Für den Erfolg
so heftig wie kurzzeitig zu verlieben. Mus- unserer Kunden denken wir in alle Richtungen. Zum Beispiel wenn
solinis Leichnam wurde am Ende dem es um die Entwicklung innovativer Isolierstoffe für die Elektroindus-
Mailänder Pöbel kopfüber zur Schau ge- trie geht. Sie ermöglichen Produktentwicklern, immer kleinere und
stellt und bespuckt. Den Sozialisten Bet-
leistungsfähigere Geräte zu bauen. Damit können Sie nicht nur bei
tino Craxi, Lichtgestalt der Siebziger, be-
warfen sie nach seinem Sturz mit Münzen Ihren Kunden punkten, sondern auch Energie, Material und Kosten
auf dem Weg ins tunesische Exil. Der 2014 sparen.
als Heilsbringer angetretene Matteo Renzi
schließlich stürzte weniger als drei Jahre
später über eine Volksabstimmung und Entdecken Sie dieses Plus für Ihr Geschäft:
wurde mit Hohn überhäuft. www.altana.de/plus
Ein ähnlich trauriges Ende wie sein
»Vorgänger« Renzi wolle er persönlich
nicht nehmen, sagt Matteo Salvini beim
gemeinsamen Auftritt mit Marine Le Pen.
Renzi war Regierungschef, Salvini ist offi-
ziell bis auf Weiteres Innenminister. Nur
in Gedanken ist er bereits ganz oben an- DR. KLAUS LIENERT, FORSCHER IM GESCHÄFTSBEREICH ELANTAS ELECTRICAL INSULATION
gekommen. Walter Mayr

Video
Karriere eines
Populisten
spiegel.de/sp422018salvini
oder in der App DER SPIEGEL

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Ausland

Der weiße Obama


passt, ein Eindruck, an dem vielleicht sein
stark ausgeprägtes Philtrum die Schuld
trägt, diese hübsche Rinne zwischen Ober-
lippe und Nase. Oder sein Hundeblick.
Schwierig, den Mann nicht zu mögen.
USA In Texas zeigt sich, ob die Demokraten bei den Zwischenwahlen O’Rourke, Jeans, blaues Hemd, Base-
den Senat zurückerobern können. Ihr ballmütze, schreit in sein Mikro: »Hous-
Kandidat Beto O’Rourke gilt als neue Lichtfigur der Partei. ton, ich sage euch, es ist eine wunderbare
Erfahrung heute, in diesen Zeiten der na-
tionalen Spaltung, der Polarisierung, da

D rei junge, schwarze Studenten, Tay-


lor York, Mikol Kandle und Trey
Waddy, gehen die breite Treppe
hoch zu einem Saal an der Texas Southern
Kampf zwischen zwei Amerikas, die durch
einen Graben getrennt sind, der immer
breiter und tiefer zu werden scheint. Unten
im Graben steht Donald Trump und bud-
draußen überall auf alle möglichen Men-
schen zu treffen, egal, welcher Herkunft
und Hautfarbe, auf Amerikaner, die mit-
einander reden, die derselben Nation an-
University in Houston, wo Beto O’Rourke delt, so gut er kann. gehören.« Gekreisch, Applaus, Beto!-
auftreten wird. Es ist heiß und feucht an Dass ein weißer Südstaatler, der ein biss- Beto!-Gesänge.
diesem 9. Oktober, sie sind früh dran, sie chen aussieht wie Bobby Kennedy, als O’Rourke will alle Texaner ansprechen,
wollen gute Sitzplätze haben. Taylor, 22, Hoffnungsträger und Stimme von Schwar- sogar weiße Evangelikale, obwohl er weiß,
die Haare zum hochragenden Dutt gebun- zen und vor allem Latinos gilt, zeugt von dass er vor allem bei jungen urbanen
den, sagt, für sie sei O’Rourke »einer von O’Rourkes Fähigkeiten zum politischen Schichten sowie bei den Minderheiten
uns«, ein »Minderheitenvertreter«, sie sagt: Brückenbau. Es weist auch darauf hin, punkten kann. Er widersetzt sich damit
»Er erinnert mich irgendwie an Obama.« dass O’Rourke nur dann eine Chance hat dem üblichen Wahlkampfkalkül, das auf
Die drei waren zu jung, um Obama zu wäh- im traditionell republikanischen Texas, Mikrotargeting vertraut, auf die zielge-
len, aber jetzt, für Beto, sind sie bereit. wenn es ihm gelingt, Latinos und Schwar- naue Ansprache bestimmter Wählergrup-
pen und Wahlbezirke, und andere Stimm-
berechtigte, die schwieriger zu erreichen
sind, links oder rechts liegen lässt.
In einem politischen Klima, das von
Häme, Hass, Stillosigkeiten, Parteienge-
zänk und allgemeiner diskursiver Hässlich-
keit geprägt ist, wirkt O’Rourkes Good-
Guy-Strategie plötzlich radikal. Irgendwie
entwaffnend. Ach so, das gibt es auch noch
in Amerika? Sollte es möglich sein, mit
Unverbogenheit, Leidenschaft und simp-
len aufgeklärten Werten eine Wahl zu ge-
winnen? Im Trump-Zeitalter? In Texas?
Beto O’Rourke, Vater dreier Kinder und
seit 2013 demokratischer Abgeordneter
im US-Repräsentantenhaus, steht für:
Krankenversicherung für alle. Mehr Waf-
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

fenrestriktionen. 15-Dollar-Mindestlohn.
Marihuanalegalisierung. Er ist pro Migra-
tion, pro Umweltschutz, pro Recht auf Ab-
treibung. Das klingt in einem Bundesstaat,
der seit 25 Jahren keinen demokratischen
Senator mehr nach Washington geschickt
O’Rourke-Anhänger in Houston: »Er wirkt sehr glaubwürdig«
hat, wie eine Anleitung zum Verlieren.
Doch Umfragen sehen O’Rourke seit Mo-
naten nahe dran an Ted Cruz, dem Amts-
»Er meint, was er sagt.« Und: »Er wirkt ze, die bei Wahlen häufig zu Hause blei- inhaber, seinem Rivalen. Die Wahlanalys-
sehr glaubwürdig.« Man muss nicht lange ben, in großer Zahl an die Urne zu kriegen. ten vom Cook Political Report betrachten
warten, um auf einer Wahlkampfveranstal- Und dann steht er auf der Bühne, Beto das Rennen als: offen. Laut den Statisti-
tung von Beto O’Rourke solche Sätze zu O’Rourke, schon verschwitzt bevor er kern von Fivethirtyeight liegt er im Schnitt
hören, Sätze, die erklären, warum der 46- überhaupt losgelegt hat. Sofort ist es da, fünf Prozentpunkte zurück.
jährige Texaner zur Symbolfigur eines an- sein schlaksiges Charisma, wenn er mit ru- Während die Chancen der Demokraten
deren, aufrichtigeren, besseren Amerika dernden Armen und seltsam tänzelnden gut stehen, bei diesen Wahlen eine Mehr-
geworden ist. Ein Mann, den sich viele Schritten von seiner Kampagne erzählt, heit im Repräsentantenhaus zurückzu-
schon als demokratischen Präsidentschafts- von den langen »20 Monaten auf der Stra- gewinnen, sieht es im Senat, der anderen
kandidaten erträumen, obwohl es jetzt, ße«, während derer er sich fast täglich in Kongresskammer, nicht danach aus. Durch
bei den Zwischenwahlen am 6. November, Bürgerrunden setzte und sämtliche 254 den Streit um die Wahl des konservativen
für ihn erst einmal um einen texanischen texanische Countys besuchte. Sofort ist er Richters Brett Kavanaugh in den Obersten
Sitz im US-Senat geht, der seit 2013 dem da, der jungenhafte Charme eines Mannes, Gerichtshof sind die Chancen der Demo-
Republikaner Ted Cruz gehört. dessen ungelenke Körpersprache immer kraten im Senat sogar gesunken. Texas ist
Der Kampf zwischen O’Rourke und im Kontrast zu seiner eleganten Rhetorik einer von wenigen Bundesstaaten, deren
Cruz ist ein Kampf zweier Kandidaten, die steht, dessen kraftvoller Bariton nicht zu Senatssitz mit viel Glück kippen könnte,
unterschiedlicher kaum sein könnten, ein seinen seltsam kindlichen Gesichtszügen von rot auf blau. Es wäre eine Sensation.

98 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Ist Beto O’Rourke dieser Mann? Über


Anziehungskraft für urbane Millennials
verfügt er reichlich: Er ist ein Tech-Freak,
der seinen Wahlkampf live streamt, er hat
eine IT-Firma geführt, er hat in einer Punk-
band Bass gespielt, hat mit seinen Band-
Kumpels in einer WG in Brooklyn gelebt.
Er spricht Spanisch, ist in El Paso an der
mexikanischen Grenze aufgewachsen, wo
er seine politische Karriere begann.
Sein Gegner Ted Cruz hat zudem ein
Glaubwürdigkeitsproblem: Als republika-
nischer Präsidentschaftsaspirant bekämpf-
te er Trump erst mit allen Mitteln, dann,
kaum war dieser gewählt, warf er sich ihm
an den Hals. Wenn Trump demnächst sei-
nem Freundfeind Cruz mit einem gemein-
samen Wahlkampfauftritt zu Hilfe eilen
wird, »im größten Stadion in Texas, das
wir finden können«, wie er per Twitter
versprach, dann wird das ein Gipfeltreffen
zweier Profi-Opportunisten, die sich eigent-
lich nicht riechen können.
Der Beto-Ted-Antagonismus zeigt sich
schon in den Namen. Beto, wie der einer
irischen Familie entstammende O’Rourke
seit seiner Kindheit in El Paso gerufen
wird, ist eine spanische Kurzform seines
englischen Vornamens Robert. Ted Cruz
wirft seinem Gegner deshalb Anbiederung
an die Latinos vor. Er selbst allerdings, als
Rafael Edward Cruz und Sohn eines Exil-
kubaners geboren, hat seinen spanischen
Vornamen zugunsten eines uramerikani-
schen getilgt.
In Houston hat Beto O’Rourke seine
einstündige Ansprache beendet und steht
im Chaos hinter der Bühne für Fragen der
Lokalmedien zur Verfügung sowie für Sel-
fies mit Fans. Beto, was wird aus den von
ihren Eltern getrennten Migrantenkindern
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

an der Grenze? Beto, was tust du für


Kriegsveteranen? Die Redakteurin einer
Schülerzeitung fragt ihn, warum er besser
sei als Cruz. Wieder vermeidet der Kandi-
dat die Gelegenheit zur Attacke: »Ich sehe,
dass die Leute in Texas aufstehen, dass sie
Wahlkämpfer O’Rourke: Wiedervereinigung eines zerrissenen Landes überall ihre Stimme erheben, nicht gegen
irgendjemanden, sondern für etwas, da ist
diese große Energie für eine neue gemein-
»Registriert euch!«, ruft Janice Peterson 28 Prozent. Obwohl Schwarze und Lati- same Sache, und dafür bin ich dankbar.«
draußen vor dem Auditorium vorbeilau- nos eine Mehrheit der Bevölkerung bilden, Obama wurde durch Hoffnung gewählt,
fenden Studenten zu, »geht wählen, es ist sind diejenigen, die tatsächlich zur Urne Trump durch Hass und Angst, O’Rourke
die Wahl eures Lebens, heute ist die letzte gehen, tendenziell weiß, konservativ und setzt wiederum auf die Wiedervereinigung
Gelegenheit!« Der 9. Oktober, 28 Tage alt. Latinos stellen in Texas rund ein Drittel eines zerrissenen Landes, das vielleicht
vor der Wahl, ist hier offiziell der letzte der Stimmberechtigten, aber bei der Wahl tatsächlich irgendwann der Selbstzerflei-
Tag zur Einschreibung, wer das Datum 2016 nur 21 Prozent der Wähler. schung müde wird.
versäumt, wird seine Stimme nicht abge- Trump hat nur 52 Prozent der Stimmen Für Beto O’Rourke ist eine Niederlage
ben können. Peterson, 70 Jahre alt, trägt geholt, während der farblose Mitt Romney in Texas wahrscheinlicher als ein Sieg. Al-
einen »Beto for Senate«-Button und eine vier Jahre zuvor auf 57 Prozent kam. Te- lerdings: Wenn er verliert, steigen parado-
gelbe Weste, die sie als Wahlkampfhelferin xas, größer als Frankreich, mit mehr Ein- xerweise die Chancen, dass er, der Süd-
ausweist. »In Texas haben nicht die Repu- wohnern als Australien, hat ein gewaltiges staaten-Kennedy, der weiße Obama, sich
blikaner die Mehrheit«, sagt Peterson, progressives Potenzial, seine urbanen Re- höheren Zielen zuwendet und ins Rennen
»sondern die Nichtwähler.« gionen Austin, Houston, Dallas sind Tech- um die demokratische Präsidentschafts-
Bei der Präsidentschaftswahl 2016 Hubs und Studentenstädte. Es muss nur kandidatur 2020 einsteigt. Er kann also
betrug die Beteiligung 46 Prozent, bei den der richtige Kandidat kommen, um die eigentlich nur gewinnen. Guido Mingels
letzten Halbzeitwahlen 2014 sogar nur Wähler wach zu küssen.

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Ausland

Merkwürdige Patzer
Russland Wie der Militärgeheimdienst GRU für Wladimir Putin zum politischen Instrument
wurde – beim Giftanschlag in Salisbury, bei Hackerangriffen im Westen und sogar im
Umgang mit Dopingaffären. Und warum bei den Agenten in letzter Zeit so viel schiefgeht.

J
eden Herbst feiert Russlands Ge- agenten Sergej Skripal im britischen Salis- Haag, nur einen Monat nach Salisbury.
heimdienst GRU Geburtstag. Das bury geht oder um einen Cyberangriff in Gleich vier GRU-Mitarbeiter gingen dort
Fest heißt offiziell Tag des Militär- Den Haag, ob Putschpläne auf dem Bal- dem niederländischen Geheimdienst ins
kundschafters, fällt auf den 5. No- kan öffentlich werden oder Anti-Doping- Netz, als sie versuchten, von einem Park-
vember und soll an die Gründung des sow- Agenturen gehackt werden sollen, ob es platz aus in das Computernetz der Orga-
jetischen Militärnachrichtendienstes 1918 um den amerikanischen Wahlkampf geht, nisation für das Verbot von Chemiewaffen
erinnern. Im GRU-Hauptquartier, einem das Computernetz des Bundestags oder einzudringen. Die vier waren mit Diplo-
modernen Zweckbau im Nordwesten Mos- die malaysische Staatsanwaltschaft, die matenpass eingereist, hatten sich von
kaus, hält der Verteidigungsminister dann einen Flugzeugabschuss über der Ukraine einem Botschaftsmitarbeiter am Flughafen
eine aufmunternde Rede, anschließend untersucht – überall hat die GRU Spuren abholen lassen, ihr Computer trug noch
gibt es Orden für verdiente Mitarbeiter. hinterlassen. Soll man sich über die Schnit- Spuren eines Angriffs auf eine Anti-Do-
Aber ausgerechnet dieses Jahr, da die zer wundern? Oder darüber, dass dieser ping-Konferenz. »Einen Albtraum« nennt
GRU ihren 100. Geburtstag feiert, ist die Dienst so allgegenwärtig ist? Ist das über- Soldatow die Geschichte, sie sei weit bi-
Stimmung vergällt. Statt Feierlaune im haupt noch ein Militärgeheimdienst, oder zarrer als die Aktion in Salisbury. Er fragt
Hauptquartier gab es schon mal vorab etwas anderes, Größeres? Und wenn ja, sich: Wie kann ein Geheimdienst so dumm
eine Krisensitzung im Verteidigungsminis- wie ist die GRU dazu geworden? handeln? Und was geht eigentlich in Mili-
terium. Am vergangenen Wochenende Das ist eine Frage, die sich auch Andrej tärs vor, die statt militärischer Ziele Sport-
wurde da offenbar in engem Kreis die GRU Soldatow stellt. Der Moskauer Journalist organisationen angreifen?
mit Kritik überhäuft. Von hat über Jahre die Welt Man muss etwas ausholen, wenn man
»völliger Inkompetenz« der russischen Geheim- das beantworten will. Russland hat näm-
und »grenzenloser Schlam- dienste erforscht, jetzt ver- lich viele Geheimdienste, seit der sowje-
perei« sei die Rede gewe- steht er sie selbst nicht tische Allzweckdienst KGB zerschlagen
sen, hat ein Journalist er- mehr. Er klingt wie ein wurde. Aus der Ersten Hauptverwaltung
fahren, und ein Scherz- Konzertkritiker, der statt des KGB wurde der Auslandsgeheim-
bold soll gefragt haben, einem Streichquintett ei- dienst SWR; er gilt als chic und vornehm
warum GRU-Agenten im nem Presslufthammer zu- und residiert »im Wald«, so heißt im Agen-
Ausland »nicht gleich Bu- hören muss. tenjargon das abgeschirmte Hauptquartier
djonowki aufsetzen«. Bu- Die GRU galt bisher als im Grünen. Aus der Neunten Hauptver-
djonowki heißen die auffäl- professionell, wenn auch waltung wurde der Sicherheitsdienst FSO,
ligen spitzen Mützen mit Hauptverwaltung nicht zimperlich. Aber die der Putin und den Kreml bewacht; er wird
dem Sowjetstern, die die für Aufklärung (GRU) neuesten Nachrichten zei- gefürchtet, weil Nähe zu Putin gleichbe-
Rote Armee ab 1918 trug. gen sie in einem anderen deutend mit Macht ist. Der Rest des KGB
Russlands Militärge- Licht. Da ist der Anschlag aber wurde zum Inlandsgeheimdienst FSB.
heimdienst kommt derzeit Russlands Militärgeheim- vom 4. März, als der Ex- Er ist der bekannteste Dienst, hat den
nicht aus den Schlagzeilen, dienst ist wie zu Sowjetzeiten Agent Skripal in Salisbury KGB-Hauptsitz am Lubjanka-Platz über-
und das allein ist schon ein Teil des Generalstabs der mit einem Nervengift ge- nommen und leider auch manche Metho-
Anzeichen seiner Krise. Streitkräfte. Trotz tötet werden sollte. Zwei den der sowjetischen Geheimpolizei.
Umbenennung 2010 ist er
Spione halten sich lieber weiter unter dem alten von den Briten verdächtig- Es ist das Besondere an der GRU, dass
im Hintergrund. Noch vor Kürzel GRU bekannt. te Männer beteuerten im sie als einziger Geheimdienst mit dem al-
Kurzem wussten nur we- russischen Fernsehen, sie ten KGB und seinem Erbe nichts zu tun
nige Menschen im Aus- seien harmlose Touristen. hat. Sie war und ist dem Generalstab zu-
land, wofür das Kürzel Aufgaben Der Auftritt war lachhaft geordnet. Zugleich verfügt sie über eine
GRU überhaupt steht: • nachrichtendienstliche unglaubwürdig und bald regelrechte eigene Armee: Die Speznas-
Hauptverwaltung für Auf- Beschaffung aller militärisch widerlegt. Die Investiga- Brigaden der GRU sind Elitetruppen, die
klärung. Wer an russische relevanten Informationen tivplattform Bellingcat ent- für Aktionen in Feindesland ausgebildet
Geheimdienste dachte, und Spionageabwehr tarnte beide als hohe wurden. Sie dienen auch dazu, Nach-
hatte eher den Inlands- • Wirtschaftsspionage GRU-Offiziere und Träger wuchsagenten heranzuziehen. Wer sich
geheimdienst FSB vor des Ordens »Held Russ- beim Wehrdienst in der GRU-Speznas be-
Augen, dem Wladimir • Agentennetz im Ausland lands«. Ruslan Boschirow währte, konnte innerhalb des Apparats
Putin einst vorstand. und Alexander Petrow aufsteigen.
Aber das ist anders, seit • Elitetruppe für Kampfopera- sind in Wahrheit Anatolij Deshalb unterscheidet sich der typische
tionen und Sabotageakte GRU-Agent von seinen zivilen Kon-
jede Woche Neues über Tschepiga und Alexander
die GRU bekannt wird. Mischkin. kurrenten im Auslandsnachrichtendienst
Ob es um den Giftan- Hauptsitz Da ist aber auch die töl- SWR. Grob gesprochen: Er ist kein
schlag auf den Ex-Doppel- Moskau pelhafte Operation in Den scharfer Analytiker mit guten Umgangs-

100
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Einfluss im Vergleich zum FSB, der immer


mächtiger wurde. Eine radikale Militär-
reform traf sie ab 2008 im Kern: Der da-
malige Verteidigungsminister Anatolij Ser-
djukow nahm ihr zunächst genau das, was
sie vor anderen Geheimdiensten auszeich-

DMITRY ASTAKHOV / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


nete – die Speznas-Brigaden. »Die Idee
war, das sowjetische Erbe loszuwerden«,
sagt Militärexperte Alexander Golts. »Ser-
djukow sah damals nicht voraus, dass ein
neuer Kalter Krieg anbrechen würde.«
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die
GRU damals auch symbolisch beschnitten
wurde: Das traditionsreiche Kürzel wurde
zu GU komprimiert – von »Hauptverwal-
tung der Aufklärung« zu »Hauptverwal-
tung« des Generalstabs, auch wenn sich
im Alltag die alte Bezeichnung gehalten
hat. Und die Fledermaus im Wappen, die
sich manche GRU-Veteranen stolz ein-
tätowiert haben, wurde durch eine Nelke
ersetzt.
»In der GRU mögen sie Putin nicht«,
sagt Sergej Kanjew, ein prominenter Mos-
kauer Investigativjournalist. Kanjew ist
einer von denen, die Licht in die Aktivitä-
ten der GRU in Salisbury gebracht haben.
Er half, den angeblichen Touristen Ruslan
Boschirow als GRU-Oberst Anatolij Tsche-
piga zu enttarnen. Er ist es auch, der ge-
hört hat, dass im Verteidigungsministe-
rium gerade die Wut über die GRU hoch-
REUTERS

kocht. »Auf der Sitzung am Wochenende


gab es rote Köpfe«, sagt er, das habe ihm
ein zuverlässiger Kontaktmann gesagt.
Wenn es stimmt, was Kanjew gehört hat,
dann hat Präsident Putin schon Mitte Sep-
tember den Chef der GRU, Generaloberst
Igor Korobow, zu sich bestellt und abge-
kanzelt. Korobow soll anschließend zu
Hause zusammengebrochen sein.
Kanjew erzählt das über eine Videover-
bindung, er hat nämlich Moskau verlassen
müssen und sich ins Baltikum abgesetzt.
Ein Freund hatte Kanjew gewarnt, man
wolle ihn vor Gericht stellen. Kanjew ar-
beitet für ein Journalismusprojekt, das der
ITAR-TASS / IMAGO

im Exil lebende Geschäftsmann Michail


Chodorkowski finanziert. Er hat heikle
Themen nie gescheut. Zuletzt hat er sich
etwa mit der Söldnertruppe Wagner be-
Präsident Putin beim Nachrichtendienst GRU 2006, schäftigt, die von einem ehemaligen GRU-
Hauptquartier in Moskau, Agenten Tschepiga, Mischkin Offizier geführt und auf einem GRU-Stütz-
Die Fledermaus durch eine Nelke ersetzt punkt in Südrussland trainiert wird. Als
ihr Herr gilt ein Unternehmer aus Putins
Petersburger Umfeld.
formen, sondern ein sozialer Aufsteiger des russischen Reichs bis in die Offiziers- Für Kanjew sind die merkwürdigen
ohne Finesse, der weiß, wie man einen gesellschaft der Hauptstadt. Patzer des Geheimdienstes in den vergan-
Sprengsatz vergräbt, und sich unter feind- Während die KGB-Kollegen zusehen genen Jahren kein GRU-spezifisches Pro-
lichem Feuer wohler fühlt als in der engli- mussten, wie 1991 auf dem Lubjanka-Platz blem. »Das ganze staatliche System degra-
schen Provinz. Die beiden Verdächtigen das Denkmal ihres Idols Felix Dserschinski diert«, sagt er. Wenn Beamte in Russland
von Salisbury, die GRU-Offiziere Tschepi- abmontiert und später ihre Behörde auf- den Zugang zur Passdatenbank verkaufen
ga und Mischkin, scheinen auf den ersten geteilt wurde, musste sich die GRU damals – was die Recherchen im Fall Skripal ver-
Blick ganz gut zu diesem Typus zu passen. nicht reformieren. Sie hat bis heute nicht mutlich erleichterte –, warum soll der Mili-
Was immer man ihnen vorwerfen kann, einmal eine Pressestelle eingerichtet. Da- tärnachrichtendienst eine Ausnahme sein?
sie haben einen imposanten Weg zurück- für litt sie umso mehr, als Putin 2000 in Aber immerhin kann man den Schluss
gelegt aus abgelegenen Dörfern am Rand den Kreml einzog. Unter ihm verlor sie an ziehen, dass die GRU ihr Aufgabengebiet

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 101


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Ausland
KO N F E R E N Z E N

ausgeweitet haben muss, wenn sie der- Schrift die Namen von zwölf verantwort-
maßen häufig auffliegt. Diese Ausweitung lichen Offizieren.
wiederum hat mit dem seltsamen Auf- Daneben betrieb die GRU 2016 auch
schwung zu tun, den sie nach 2012 genom- spektakuläre Offlineoperationen. Im Ok-
men hat. Damals wurde Verteidigungs- tober 2016 flog ein geplanter Umsturzver-
minister Serdjukow durch Sergej Schoigu such prorussischer Kräfte in Montenegro
ersetzt, einen der mächtigsten und ehrgei- auf. Ein beteiligter GRU-Offizier wurde
zigsten Männer des Präsidenten – und zu- im Nachbarland Serbien festgenommen.
24. OKTOBER 2018 gleich jener, mit dem Putin am liebsten den Nikolaj Patruschew, Chef des russischen
Urlaub in der Natur verbringt. Schoigu hat Sicherheitsrats, musste ihn mit einer Blitz-
die Militärreform seines Vorgängers zum visite retten. Die Sache war peinlich, aber
Humboldt Carré Teil zurückgenommen, das Prestige der international schnell wieder vergessen.
Armee erhöht, neue Ressourcen und Re- Im selben Jahr war die GRU damit be-
Berlin krutierungsmöglichkeiten erschlossen. Un- schäftigt, in Rio de Janeiro und Lausanne
ter ihm verkündete die Armee 2013 eine Computer von Sportfunktionären zu ha-
»Jagd auf Programmierer«, warb um Stu- cken, um die Folgen von Russlands Doping-

ZUKUNFT
denten an den Universitäten und begann, skandal bei den Olympischen Spielen 2014
Hackingwettbewerbe zu finanzieren. zu begrenzen. Das war besonders merk-
Auch die GRU profitierte: Schoigu gab würdig. Schließlich geschah das systema-

AFRIKA
ihr die Speznas-Brigaden zurück. Mehr tische Doping unter der Ägide des FSB, so
noch aber profitierte sie vom radikalen hat es der Whistleblower Grigorij Rod-
Schwenk in Russlands Außenpolitik seit tschenkow gestanden. Warum sollte die
der Ukrainekrise. Es waren GRU-Truppen, GRU der Konkurrenz vom FSB aus dem
die 2014 in Uniform ohne Abzeichen die Schlamassel helfen? »Weil sie die Fähigkeit
Wie kann wirtschaftliche Krim-Annexion begleiteten und im Don- dazu hat«, sagt der britische Geheimdienst-
bass gegen die Truppen Kiews kämpften. experte Mark Galeotti. Jeder der konkur-
Zusammenarbeit künftig Damals erhielten auch die beiden Verdäch- rierenden Geheimdienste versuche, sich Pu-
funktionieren? tigen von Salisbury ihre Orden, von Putin tin als besonders nützlich anzudienen. »Das
selbst verliehen. 2015 bereitete die GRU ist ja überhaupt das Wichtigste für russische
die russische Militärintervention in Syrien Beamte: erraten, was Putin morgen will.«
vor. Im Kreml war man mit den Ergebnis- Der Journalist Soldatow sagt: »Spätes-
Im Gespräch mit der sen zufrieden. tens 2016 hat sich die GRU in ein politi-
SPIEGEL-Redaktion treffen Sie u.a.: »Mit der Krim begann die Begeisterung sches Instrument verwandelt. Dabei hat
für die ›kleinen grünen Männchen‹, für sich bei uns das Militär seit dem Dekabris-
Geheimoperationen von Speznas-Leuten tenaufstand 1825 nicht mehr in die Politik
ohne Abzeichen«, sagt Militärexperte eingemischt. Das ist sehr gefährlich, und
Alexander Golts. »Man hatte den Ein- die Folgen sind unvorhersehbar.«
druck, mit so was lasse sich die Welt be- Die Frage ist, wie Wladimir Putin das
herrschen.« Damit habe die GRU auch sieht – ob er die GRU weiter für unkon-
begonnen, sich in immer mehr Dinge ein- ventionelle Ziele einsetzen will, oder ob
zumischen, die sie vorher gar nicht inte- er diese Idee mittlerweile bereut. Gepatzt
ressierten. »Das ist die Logik der russi- hat der Dienst auch früher schon: 2004 tö-
schen Führung: Das einzige Instrument, teten russische Geheimdienstler – vermut-
Michael Gottschalk/photothek.net
das Russland international vorweisen lich von der GRU – in Katar den tsche-
kann, ist militärische Gewalt. Und solange tschenischen Separatistenführer Selim-
Dr. Gerd Müller Gerald Knaus es keine offenen Kampfhandlungen gibt, chan Jandarbijew. Die Agenten flogen auf
Bundesminister Vorsitzender ist die GRU das Werkzeug, mit dem man und wurden gefasst. Aber das schadete
für wirtschaftliche der Europäischen Geheimoperationen durchführt.« dem Dienst damals nicht.
Zusammenarbeit Stabilitätsinitiative Im Jahr 2016 etwa war die GRU gera- Soldatow sagt, alles hänge vom Vertei-
und Entwicklung dezu hektisch aktiv – so sehr, dass sie digungsminister ab. Anders als FSB und
und ihr Chef Korobow noch vor Jahres- SWR ist die GRU nicht unmittelbar dem
ende vom US-Finanzministerium mit Präsidenten unterstellt, sondern dem Ge-
Sanktionen belegt wurde. Im April 2016 neralstab und dem Verteidigungsminister.
hatte sie die Computer der US-Demokra- Und weil Putin mit dem ehrgeizigen Schoi-
ten und von Hillary Clintons Wahlkam- gu bisher sehr zufrieden ist, kann es gut
pagne gehackt. Das war zuvor schon sein, dass die Tölpeleien der GRU ihr auch
einem konkurrierenden russischen Ge- diesmal nicht schaden werden.
heimdienst gelungen. Aber die GRU Aber viele Moskauer sind über die stän-
hackte nicht nur, sie sorgte auch dafür, dig neuen GRU-Affären ebenso erstaunt
dass die E-Mails veröffentlicht wurden. wie der Westen. Es ist, als täte sich vor
Dass es sich dabei tatsächlich um die ihnen ein Abgrund auf. »Das Land hat sich
GRU handelt und nicht um andere Ha- seit 2014 von Grund auf verändert«, sagt
cker, geht aus einer Anklageschrift des Soldatow, »aber wir haben das noch gar
US-Sonderermittlers Robert Mueller her- nicht verstanden und leben, als wäre alles
vor. Nach einem Jahr Ermittlungsarbeit wie vorher.« Christian Esch
(und kurz vor dem Gipfeltreffen Trumps Twitter: @Moskwitsch
und Putins in Helsinki) nannte Muellers
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Ausland

Problemprinz
gilt, durch eine rasante, radikale Mo-
dernisierung von oben, begleitet durch
brutale Repression. Das ist Mohammed
bin Salmans Lehre aus dem Arabischen
Saudi-Arabien Thronfolger Mohammed bin Salman geht so rücksichts- Frühling.
Tatsächlich träumt der Kronprinz von
los vor, dass er seine westlichen Verbündeten schockiert. Nun hat einem radikal neuen Land, das er groß-
er offenbar einen Journalisten verschwinden lassen. Ein Wendepunkt? spurig das »vierte Saudi-Arabien« nennt.
Das »dritte« hatte 1932 sein Großvater Ibn
Saud mit einer Reihe von Feldzügen ge-

E s ist erst ein halbes Jahr her, da wur-


de Saudi-Arabiens Kronprinz Mo-
hammed bin Salman auf seiner fast
dreiwöchigen Reise in den USA überall ge-
und deutsche Unternehmen von Aufträ-
gen ausgeschlossen, weil der damalige
deutsche Außenminister Sigmar Gabriel
die Saudi-Araber in der Hariri-Affäre kri-
schaffen – und der Nation seinen Namen
gegeben. Saudi-Arabien gehört zu den
20 bedeutendsten Wirtschaftsmächten der
Welt. Doch Mohammed bin Salman will
feiert. Jede Tür schien ihm offen zu stehen. tisiert hatte. viel mehr: »Wir sind erst bei zehn Prozent
Er traf sich mit Ex-Präsidenten wie George Der Wahnsinn hat also Methode. Um unserer Kapazitäten«, sagte er jüngst.
W. Bush und Bill Clinton, unterhielt sich zu verstehen, wohin Mohammed bin Sal- Wirtschaftlich stärker, gesellschaftlich we-
mit der Talkshow-Ikone Oprah Winfrey man sein Land steuert und warum Jamal niger konservativ, politisch autoritärer –
und besuchte Bill Gates, Apple-Chef Tim Khashoggi verschwand, muss man einmal so soll Mohammed bin Salmans Saudi-
Cook und Tesla-Boss Elon Musk im Sili- kurz zurückgehen, zum Arabischen Früh- Arabien sein, geführt von einem starken
con Valley. Prominente Kommentatoren ling: zu den Massenprotesten, die 2011 in Mann, zusammengehalten durch einen
feierten ihn unter dem schneidigen Kürzel Tunesien einen korrupten Dauerherrscher Kitt aus Personenkult und einem neuen,
»MbS« als Reformer des erzkonservativen
Königreichs.
Nun steht der Kronprinz unter einem
grauenvollen Verdacht: Er soll die Ermor-
dung von Jamal Khashoggi angeordnet ha-
ben, Saudi-Arabiens bekanntestem Jour-
nalisten. Der im Exil lebende Khashoggi
soll bei einem Besuch des saudi-arabischen
Konsulats in Istanbul von einem eigens
eingeflogenen 15-köpfigen Team aus Sicher-
heitskräften und einem Gerichtsmediziner
ermordet und mit einer Knochensäge zer-
stückelt worden sein – so sehen es laut
Medienberichten die türkischen Ermittler.
Es wäre, wenn es sich bestätigt, ein unge-
heuerliches Vorgehen.
Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass

FAYEZ NURELDINE / AFP


der Kronprinz mit unberechenbaren
Aktionen für Fassungslosigkeit sorgt.
»Sollte nachgewiesen werden, dass die
saudische Führungsebene an der Aktion
gegen Khashoggi beteiligt war«, sagt Kris-
tian Ulrichsen, der am Baker Institute in Porträt des Kronprinzen am Nationalfeiertag in Riad: Personenkult und Populismus
den USA über die Golfstaaten forscht,
»würde dies zu einem Verhaltensmuster
passen, das sich nicht um internationale stürzten und in vielen anderen Ländern aggressiven Nationalismus. Kritiker wer-
Normen schert und versucht, die eigenen in blutiger Repression und Chaos endeten. den als Staatsfeinde gebrandmarkt. Der
Interessen durchzusetzen, ohne Rücksicht Auf Khashoggi und Prinz Mohammed hat Prinz ist ein Populist.
auf Verluste.« der Arabische Frühling einen tiefen Ein- Die neue internationale Dreistigkeit
Vor fast einem Jahr kidnappten die druck hinterlassen. Allerdings haben die schlachtet Riad zu Hause propagandistisch
Saudis den libanesischen Premierminister beiden völlig unterschiedliche Schlüsse aus. In den Staatsmedien feiert man sich
Saad Hariri in Riad, zwangen ihn quasi daraus gezogen, die sie Jahre später auf dafür, dem »unverschämten« Kanada die
zum Rücktritt und ließen ihn erst nach einen gefährlichen Kollisionskurs bringen Stirn zu bieten und einen diplomatischen
französischer Vermittlung wieder gehen. sollten. Sieg über Deutschland errungen zu haben
Im August reagierte das Königreich em- »Unsere Jugend ist unser wahrer Reich- – der deutsche Außenminister Heiko Maas
pört auf einen menschenrechtskritischen tum«, sagte der Kronprinz im Oktober bei bedauerte im September vorangegangene
Tweet der kanadischen Außenministerin, einer Konferenz mit internationalen Inves- »Missverständnisse«. Deutsche Waffen
warf den kanadischen Botschafter raus, toren. Die applaudierten. Mohammed bin werden weiter exportiert, obwohl der
stellte die Flüge der saudi-arabischen Salman hat diesen Satz schon öfter gesagt. Koalitionsvertrag Exporte an Länder aus-
Staatslinie nach Toronto ein und zwang Die Jugend steht im Mittelpunkt seiner schließt, die »unmittelbar« am Jemenkrieg
seine rund 8300 Studenten in Kanada, »Vision 2030«. 70 Prozent der Saudi-Ara- beteiligt sind.
in einem anderen Land weiterzustudieren. ber sind unter 30 Jahren. Sie brauchen Zu Hause kommt der Kurs des Kron-
Erst diese Woche kehrte der saudi-ara- Jobs, sonst werden sie zur Gefahr für das prinzen bisher ganz gut an. In der Mei-
bische Botschafter nach elf Monaten nach Königshaus. Massenproteste sind die dro- nungsumfrage Arab Youth Survey sagten
Berlin zurück: Riad hatte ihn abgezogen hende Katastrophe, die es abzuwenden dieses Jahr sensationelle 91 Prozent der

104 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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befragten 18- bis 24-jährigen Saudi-Araber, Jamal Khashoggi hielt die brutale Nie- »Washington Post« verteidigte er die Mus-
dass sie Mohammed bin Salman unter- derschlagung des Demokratieexperiments limbruderschaft: »Wenn man sie auslö-
stützten. 97 Prozent bezeichneten ihn als in Ägypten für eine Katastrophe. Er hatte schen würde, käme dies einem Ende der
»starken Führer«. eine andere Lehre als Mohammed bin Sal- Demokratie gleich.« Zudem sei der Kampf
Auch im Fall Khashoggi präsentiert man man aus dem Arabischen Frühling gezo- gegen die Muslimbrüder für die arabischen
in Saudi-Arabien die Dinge anders. Das gen: Für ihn war die derzeitige Repres- Autokraten nur ein Vorwand. In Wahrheit
Staatsfernsehen Al Arabiya zeigte am sionswelle, mit der sich Kairo und Riad verfolgten sie als vermeintliche Islamisten
Dienstag, eine Woche nach dem Ver- durch eine immer härtere Gangart zu ret- alle, die sich politisch engagierten, Freihei-
schwinden des Journalisten, eine 40-mi- ten versuchen, die größere Gefahr. Sie wür- ten und Rechenschaft einforderten und
nütige Sondersendung mit dem Titel: de weitere Radikalisierung, Terror und Rückhalt in der Bevölkerung hätten. Da-
»Was hat Katar mit dem Verschwinden Flucht hervorbringen. Mehr Rechte und mit stellte er sich öffentlich gegen den
Khashoggis zu tun?« Darin bemühten Freiheiten unter Einbeziehung der gemä- Kronprinzen, der zusammen mit Ägypten
sich der Moderator und seine zwei Gäste, ßigten Islamisten – dies erschien Khashog- und den Vereinigten Arabischen Emiraten
den Fall als katarische und türkische Hetz- gi als der einzig vernünftige Weg. in den USA und Europa dafür werben
kampagne gegen Saudi-Arabien darzu- Dabei war der Journalist kein Dissident, lässt, die Bewegung als Terrorgruppe ein-
stellen. Vor allem konzentrierte sich die sondern jahrzehntelang Teil des saudi-ara- zustufen. Nach einem Bericht der US-
Runde darauf, dass fast alle Ermittlungs- bischen Establishments gewesen. Zu Be- Nachrichtenseite The Daily Beast soll
details – bis auf die Tatsache, dass ginn seiner Karriere in den Achtzigerjah- Khashoggi auch geplant haben, eine Lobby-
Khashoggi das Konsulat betrat und seit- ren hatte er in Afghanistan den saudi-ara- gruppe zu gründen, um für Demokratie in
dem verschwunden ist – aus türkischen bischen Millionär und Kämpfer Osama der arabischen Welt einzutreten.
Quellen stammten, die den Fall politisch Bin Laden interviewt, der später al-Qaida Auch in der Türkei verfolgte er Pläne,
instrumentalisierten. gründete. So hatte Khashoggi wohl das die Riad, Kairo und Abu Dhabi verärgern
mussten. Er traf sich mit seinem Freund
Ayman Nour, einem bekannten ägypti-
schen Oppositionspolitiker. Nour gehören
Anteile am in der Türkei basierten Fern-
sehsender Al-Sharq, der den Muslimbrü-
dern nahesteht. Khashoggi soll vorgehabt
haben, bei Al-Sharq einzusteigen. Der
Journalist wollte sein Leben mehr in die
Türkei verlagern, wo seine Verlobte lebte.
Um sie zu heiraten, hatte er das saudi-ara-
bische Konsulat überhaupt erst betreten –
er benötigte offizielle Dokumente, um
nachzuweisen, dass er von seiner ersten
Frau geschieden war.
Mohammed bin Salman wusste Donald
Trump bisher stets an seiner Seite. Ins-
besondere Trumps Schwiegersohn Jared
Kushner knüpfte enge Bande zum Kron-
OZAN KOSE / AFP

prinzen. Doch das Verschwinden des in Wa-


shington gut vernetzten Khashoggi ist nun
womöglich zu viel. Mehr als 20 republika-
nische und demokratische US-Senatoren
Khashoggi-Unterstützer in Istanbul: »Eine unersetzliche Stimme« verlangen in einem Schreiben Aufklärung
über den Verbleib des Journalisten und
gegebenenfalls Sanktionen gegen Riad.
Tatsächlich sind die Beziehungen zwi- Interesse von Turki Bin Faisal geweckt, Trump ließ wissen, er habe »auf höchster
schen der Türkei und Saudi-Arabien durch- Mitglied der saudischen Königsfamilie und Ebene« um eine Erklärung gebeten. Doch
aus problematisch. Ankara steht in Saudi- jahrzehntelang Chef von Saudi-Arabiens dann sagte er: Ihm gefalle das zwar nicht –
Arabiens Konflikt mit Katar offen auf der wichtigstem Geheimdienst. Die beiden allerdings habe die Sache in der Türkei statt-
Seite des Emirats. Es geht dabei auch um blieben in Kontakt; als Turki Bin Faisal gefunden, Khashoggi sei kein US-Bürger
einen fundamentalen Richtungsstreit, der Botschafter Saudi-Arabiens wurde, folgte und er wolle nicht auf 110 Milliarden Dollar
das sunnitische Lager im Nahen Osten ihm Khashoggi als Medienberater nach in Waffenexporten an Riad verzichten.
spaltet: Die Herrscher Saudi-Arabiens, London und Washington. Kurz zuvor hat- »Mit Jamal Khashoggi verlieren wir eine
Ägyptens und der Vereinigten Arabischen te er seinen Job als Chefredakteur der unersetzliche Stimme«, sagt eine saudi-ara-
Emirate sehen derzeit für sich die größte Staatszeitung »Al-Watan« verloren, weil bische Menschenrechtlerin, die in den USA
Gefahr im politischen Islam der Muslim- er die erzkonservativen Klerikalen kriti- lebt und nicht namentlich genannt werden
bruderschaft. Katar und die Türkei dage- siert hatte. Als Mohammed bin Salman im will, weil sie Angst hat um ihre Familie in
gen unterstützen jene Muslimbrüder, eine Juni 2017 zum Kronprinzen wurde, verließ Saudi-Arabien. »Er, mit seiner Biografie
fast hundert Jahre alte politische Bewe- Khashoggi Saudi-Arabien und ging ins Exil und seinen Kontakten, hätte die Diskussion
gung, die in Ägypten 2012 in den ersten in die USA. »Heute ist keine Diskrepanz über Demokratie und politischen Islam im
und letzten freien Wahlen kurzzeitig an mehr erlaubt zwischen der offiziellen Re- Nahen Osten beeinflussen können«, glaubt
die Macht kam und 2013 vom ägyptischen gierungsposition und dem, was die Bürger sie. »Wenn jetzt niemand Saudi-Arabien
Militär gestürzt wurde – unterstützt von sagen«, schrieb er im SPIEGEL (46/2017). stoppt, was machen sie dann als Nächstes?«
Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabi- Im Exil tat Khashoggi vor gut einem Maximilian Popp, Raniah Salloum
schen Emiraten. Monat etwas Brandgefährliches. In der

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Wissenschaft+Technik Metall spuckende Vulkane oder Ozeane aus Alkohol? ‣ S. 108

JOE PEPLER / WWF


Wie ein Geist wirkt das Hologramm eines Afrikanischen Elefanten, das am vergangenen Montag in der Nähe
der St.-Pauls-Kathedrale in London auftauchte. Das spukhafte Kunstwerk aus Licht, von der Artenschutz-
organisation WWF initiiert, soll daran erinnern, wie sehr das größte Landtier der Erde in Gefahr ist. Durch-
schnittlich werden täglich etwa 50 Elefanten wegen ihres Elfenbeins von Wilderern getötet (SPIEGEL 41/2018).
Geht das so weiter, droht der Riese auszusterben – und für immer im Jenseits zu verschwinden.

Geschichte der Geschichtskundler in dieser Epoche Fußnote

1247
Tod einer Bestie eher den großen Ereignissen – beispiels-
weise Napoleons Russlandfeldzug.
 Am 20. September anno 1812 wendete Krauss erzählt die blutige Tat indes als
sich das Schicksal des despotischen Mikrogeschichte, die »Ausdruck eines
Grundherrn Leopold von Márffy. Gleich vieldeutigen ›Gemurmels‹« in dieser Zeit
14 seiner Untertanen, allesamt deutsche war. Die Täter bezeichnet der Forscher antike Münzen sind auf einem Acker
Siedler, lauerten ihm jählings auf. Erst als »Helden des Alltags«, die eine wahre bei Mönchengladbach entdeckt worden.
schossen sie fünf Kugeln auf ihn ab, und Bestie bezwangen: Márffy presste Dorf- Die ersten Funde machten zwei Sonden-
als Márffy nach dieser Attacke immer bewohner aus, missbrauchte etliche Frau- gänger, bei anschließenden offiziellen
noch lebte, hieben die Täter mit Keulen en, ließ sogar Schwangere verprügeln Grabungen kamen nun Hunderte weite-
und Hacken auf ihn ein, bis er starb. Der und vermeintlich ungehorsame Unter- re Geldstücke zum Vorschein. Der
Tübinger Historiker Karl-Peter Krauss tanen töten. Der Tyrann wütete selbst Schatz gehört zu den größten seiner Art
hat diesen Mord, der sich in der ungari- nach dem Maßstab dieser rauen Zeit der- in der Geschichte des Rheinlands und
schen Region Batschka zugetragen hat, art extrem, dass fast alle Täter für den stammt aus dem vierten bis fünften Jahr-
nun anhand alter Gerichtsakten, des Adligenmord nur mit einem untypisch hundert nach Christus, als die Römer
Autopsieberichts und weiterer Quellen milden Strafmaß belangt wurden und mit den Limes unter dem Druck germani-
rekonstruiert. Gemeinhin gilt der Blick dem Leben davonkamen. THA scher Stämme bereits aufgegeben hatten.

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Biologie Erziehung nen oder anderen durch riskantes Verhal-


Kampf dem Namenschaos »Jungen neigen dazu, auf ten imponieren zu wollen.
SPIEGEL: Ab wann kann ein Kind allein
 Die Kleine Strandschnecke hat die Straße zu rennen« zur Schule gehen oder radeln, wenn es
ein großes Problem: Sie taucht in der die Entfernung zulässt?
zoologischen Literatur unter rund Susann Richter, 53, Ver- Richter: Wenn es vorher genug geübt hat,
110 verschiedenen wissenschaftlichen kehrspsychologin an der sollte es einfache Wege zum Beispiel
Namen auf. Ähnlich verhält es sich Technischen Universität durch Wohngebiete ab dem Schulbeginn
beim Buckelwal, der es im Laufe der Dresden, über die Frage, selbst gehen können. Radfahren ist aller-
Forschungsgeschichte immerhin auf warum sich Jungen im dings etwas ganz anderes, weil die dafür
45 Synonyme gebracht hat, unter an- Straßenverkehr anders nötigen motorischen Fähigkeiten völlig
derem »Balaena novaeangliae«. Die verhalten als Mädchen automatisiert sein müssen, damit Risiken
verwirrende Flut veralteter Gattungs- in Sekundenschnelle bewertet werden
zuordnungen und Artnamen geht SPIEGEL: Die Zahl der im Straßenverkehr können. Deswegen rate ich davon ab, Kin-
unter anderem darauf zurück, dass die getöteten Kindern ist in den vergangenen der vor dem zehnten Lebensjahr allein los-
Tiere im Lauf der Jahrhunderte von Jahrzehnten drastisch gesunken, doch zuschicken – egal ob Mädchen oder Junge.
mehreren Gelehrten unabhängig von- eines hat sich nicht geändert: Es verunglü- SPIEGEL: Müsste die Verkehrserziehung
einander entdeckt oder neu beschrie- cken mehr Jungen als Mädchen. Warum? nicht darauf reagieren, dass Jungen öfter
ben wurden. Ein internationales For- Richter: Jungen werden viel stärker zur verunglücken als Mädchen?
scherteam will nun Ordnung in das Selbstständigkeit erzogen, sie bekommen Richter: Völlig falsch wäre es, Jungen
Chaos bringen und ein einfach zu nut- mehr Freiräume als Mädchen. grundsätzlich in ihrem Bewegungs- und
zendes Inventar zur Klassifizierung SPIEGEL: Das klingt nach 1950, nicht Eroberungsdrang zu stoppen; es ist wich-
aller Pflanzen- und Tierarten der Erde nach 2018. tig, dass man Kindern etwas zutraut.
schaffen, das alle Infos zentral zusam- Richter: Mag sein. Aber nach unseren Man sollte dabei aber auf gar keinen Fall
menführt und mit der Literatur ver- Erkenntnissen werden Mädchen viel Unterschiede zwischen den Geschlech-
knüpft. »So lassen sich Missverständ- öfter im »Elterntaxi« befördert – und tern machen. Mädchen sollten genauso
nisse zwischen Wissenschaftlern abbau- Jungen sind häufiger und auch früher auf motiviert und aktiviert werden – auch
en und Recherchen in alten Büchern den Straßen unterwegs. Da werden schon auf die Gefahr hin, dass sie, wie die Jun-
erleichtern«, sagt der Wiener Paläonto- Sechs- oder Siebenjährige allein mit dem gen, mal einen Fehler machen. GUI
loge Andreas Kroh, der gemeinsam mit Fahrrad losgeschickt, obwohl sie nicht
500 Experten aus vielen Ländern der bereit dazu sind. So ist es kein Wunder,
Erde bereits eine Datenbank für alle dass bereits in dieser Altersgruppe mehr
Arten im Meer aufgebaut hat. Im World als doppelt so viele Jungen wie Mädchen
Register of Marine Species sind rund verunglücken.
244 000 Arten erfasst, die etwa eine hal- SPIEGEL: Ist es denn nur die Erziehung,
be Million Namen tragen. So taucht die zu einer höheren Opferzahl führt?
auch der Schwertwal, der in der breiten Richter: Nein. Jungen sind hormonell

SHUTTERSTOCK
Öffentlichkeit als »Orca« bekannt ist, bedingt oft extrovertierter und impulsi-
mit 41 unterschiedlichen Namenskombi- ver, sie neigen also auch von Natur aus
nationen in der Literatur auf. GUI eher dazu, einfach auf die Straße zu ren-

Einwurf

Schöngeist aus der Steinzeit


Das Bild vom unkultivierten Neandertaler bekommt immer mehr Risse.

Rein äußerlich betrachtet hat der Neandertaler natürlich ein Pro- der Urmensch offenbar ein geschickter Werkzeugmacher war. Er
blem, könnte man denken. Seine durch Überaugenwülste und fla- habe nicht alles mit bloßer Kraft gelöst, sondern systematisch fei-
che Stirn geprägte Physiognomie dürfte bei vielen Menschen wohl ne »Präzisionsgriffe« mit Daumen und Zeigefinger angewendet,
eher Assoziationen an einen Kneipenschläger wecken als an einen wie sie zum Beispiel beim Halten eines Teetässchens vonnöten
Schöngeist. Der erste optische Eindruck täuscht aber, denn dem sind. So bekam das Bild vom unkultivierten Kraftprotz einen wei-
vor etwa 40 000 Jahren ausgestorbenen Steinzeitler wird schon teren Riss, und man fragt sich, was als Nächstes kommt: Finden
seit Jahren immer wieder eine erstaunliche Sensibilität attestiert. Forscher bald Beweise, dass der Neandertaler anrührende Gedich-
Gerade in den vergangenen Monaten reihte sich ein Forschungs- te auf Steinplatten ritzte?
ergebnis, das die Geistes- und Seelengröße des Neandertalers Sogar optisch scheint der Urmensch in der Gunst des Homo
belegt, an das andere. So wurden erst kürzlich Beweise dafür sapiens zu steigen, so lässt ein Bericht Harald Mellers vermuten,
erbracht, dass er sich um kranke Artgenossen kümmerte und spa- des Chefs vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Dort ist
nische Höhlenwände mit geometrischen Zeichen bemalte, die vie- die verstörend echt wirkende Nachbildung eines nackten Neander-
le moderne Künstler so schön nicht hinbekommen hätten. Ende talers zu sehen, der in Anlehnung an eine Skulptur Rodins in
September teilte die Paläoanthropologin Katerina Harvati von der Denkerpose verweilt. Immer mehr Frauen seien ganz angetan von
Universität Tübingen nach der Untersuchung mehrerer Hand- dem »kernigen Kerl«, ließ Meller kürzlich bei einer Museumsfüh-
skelette und deren »Muskelansatzmarken« auch noch mit, dass rung wissen. Auch das noch. Guido Kleinhubbert

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 107


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Fremde Welt
Künstlerische Darstellung
eines Exoplaneten

Wie die Transitmethode funktioniert


Das »Tess«-Teleskop ist wie auch der »Kepler«-Satellit darauf ausgelegt, Beim Transit verrät ein Planet nicht nur seine bloße Anwesenheit,
Planeten mittels der Transitmethode aufzuspüren. Zieht ein Planet sondern auch die Zusammensetzung seiner Atmosphäre.
vor seinem Muttergestirn vorbei, so verdunkelt er dieses aus Sicht Abhängig von der Beschaffenheit der Gashülle wird Licht mit
des Teleskops geringfügig. Zur Entdeckung eines Exoplaneten muss bestimmten Farben absorbiert, während das restliche
ein solcher Transit mehrmals und periodisch beobachtet werden. Spektrum ungehindert passieren kann.

Atmosphäre des Planeten


Stern

Bestimmte Farben des


Spektrums erscheinen
Umlaufbahn relativ schwächer.
Phase der
Bedeckung
Exoplanet
Das Absorbtionsspektrum liefert den Wissenschaftlern einen
chemischen Fingerabdruck der Atmosphäre des Planeten.
»Tess«-Teleskop
Von den über 3700 bislang bekannten Exoplaneten wurde der
Großteil mittels Transitmethode entdeckt.
beobachtete
Helligkeit Transitmethode Sonstige
des Sterns
Phase der durch das »Kepler«-Teleskop ohne »Kepler«
Zeit Bedeckung 60,8% 17,3 % 21,9 %

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Wissenschaft

Im Auge der Sonnenblume


Astronomie Mithilfe des Weltraumteleskops »Tess« fahnden Himmelsforscher
nach erdähnlichen Planeten, die um ferne Sterne kreisen. Schon bald könnte es sogar
möglich werden, dort Spuren von außerirdischem Leben zu finden.

Z
ur Begrüßung sagt Sara Seager: Leben beherbergen? »Hätte irgendjemand die meisten davon dürfte es eigentlich gar
»Jede nur zehn Zentimeter groß.« vor 20 Jahren behauptet, dass es zu unse- nicht geben.
Dabei zeigt sie auf vier Kameras, ren Lebzeiten möglich sein wird, solche Viele sind, ähnlich wie 51 Pegasi b, so-
deren Linsen aus einem kühl- Fragen zu beantworten, dann hätte ich ihn genannte Heiße Jupiter, die viel näher um
schrankgroßen, mit Goldfolie umwickelten für einen Fantasten gehalten«, sagt David ihre Muttersterne rasen, als es die Theorie
Kasten ragen. Dann fasst sie das Wichtigs- Latham, der wissenschaftliche Leiter der erlaubt. Aber auch die »Supererden« ge-
te zusammen, was es über dieses Objekt, »Tess«-Mission. Und es geht ja wahrlich ben den Forschern Rätsel auf. Denn sie
ein maßstabsgetreues Modell des Welt- um große Fragen: Sind wir allein im All? werfen die Vorstellung über den Haufen,
raumteleskops »Tess«, zu sagen gibt: »Es Oder könnte es auch auf anderen Welten dass es nur zwei Klassen von Planeten
ist erstaunlich klein.« Wesen wie uns geben? gebe: kleine steinerne wie Erde, Venus
Die Astrophysikerin vom Massachusetts Die Erforschung sogenannter Exoplane- oder Mars und riesige gasförmige wie Ju-
Institute of Technology (MIT) hält sich ten ist vom wissenschaftlichen Orchideen- piter, Saturn oder Neptun. Nun aber stellt
nicht gern mit Nebensächlichem auf. Sie fach zu einem der zentralen Anliegen der sich heraus: Ein großer Teil aller bisher
kommt gleich zur Sache. Und das heißt Astronomie aufgestiegen. Gerade haben entdeckten Exoplaneten sind Super-
für sie: zur Frage, ob es irgendwo da drau- die amerikanischen Akademien für Natur-, erden – zu groß für die eine, zu klein für
ßen im Weltall noch andere lebende We- Ingenieurs- und Medizinwissenschaften ei- die andere Klasse.
sen gibt. Der Start der »Tess«-Mission, der nen Report zum Thema angefertigt. Sie zi- Und dann sind da noch jene Giganten,
Seager als stellvertretende wissenschaftli- tieren darin eine Umfrage, der zufolge in- die fernab ihres Muttersterns ihre Kreise
che Leiterin vorsteht, stelle den nächsten zwischen 21 Prozent aller Astronomen ziehen. HR 8799 ist ein solches Planeten-
großen Schritt dar, um eine Antwort auf Exoplaneten zu ihren Hauptinteressen- system: Es beherbergt vier Riesen, jeder
diese Frage zu finden. gebieten zählen. In dieser Zahl spiegele davon mindestens fünfmal so schwer wie
Seager sucht nach Planeten, die um fer- Jupiter. Der äußere kreist fast doppelt so
ne Sonnen kreisen. Und sie weiß, dass ihr weit wie Pluto von seinem Stern entfernt.
Eifer dabei befremdlich wirken kann. Die In der Atmosphäre ferner Auch hier fragen sich die Astronomen:
»New York Times« hat sie einmal porträ-
tiert – als Frau, die sich in den Weiten des
Welten wollen Forscher Wie nur kann so etwas entstanden sein?
Eine Vielzahl von Teleskopen weltweit
Himmels besser zurechtfindet als im Alltag Gase aufspüren, die von sucht inzwischen dem Flackern oder Wa-
auf Erden. Seager sagt: »Der Artikel gefällt Lebendigen stammen. ckeln von Sternen zu entlocken, ob diese
mir nicht.« Aber auch: »Er ist sehr tref- von Planeten umkreist werden. Und eine
fend.« Manchmal, fügt sie erklärend hinzu, unerhörte Vielfalt von Phänomenen ha-
wünschten sich ihre Kinder, dass sie wie sich wider, »dass es auf diesem Feld in ra- ben sie dabei enthüllt:
die anderen Mütter wäre. scher Folge Bedeutendes zu entdecken gibt ‣ Mithilfe der beiden »SuperWasp«-Tele-
Lieber aber spricht Seager über »Tess« – und dass diese Entdeckungen das Zeug skope auf La Palma und in Südafrika
nicht über das Modell, das vorn im Ein- dazu haben, die Sicht auf den Platz der spürten Astronomen einen Gasplaneten
gang des »Tess«-Hauptquartiers am MIT Menschheit im Universum grundlegend zu auf, der von monströsen Ringen, rund
steht, sondern über das Original, das auf verändern«, konstatieren die Experten. 200-mal größer als diejenigen des Sa-
einer ausladend elliptischen Bahn um die Eine Überraschung eröffnete vor fast turn, umschlossen ist. Sogar einen etwa
Erde kreist. Seit gut zwei Monaten tastet einem Vierteljahrhundert die Ära der Exo- Mars-großen Mond wollen sie darin
die Sonde nun schon mit ihren vier kleinen planetenforschung. Astronomen hatten dingfest gemacht haben.
Weitwinkelteleskopen den Südhimmel ab. festgestellt, dass die Himmelsposition des ‣ Das »Spitzer«-Weltraumteleskop erlaub-
Der erste Datensatz, der Helligkeitskurven sonnenähnlichen Sterns 51 Pegasi ein we- te es, die Temperatur auf 55 Cancri e zu
von 15 900 Sternen enthält, ist bereits ein- nig wackelte. Sie schlossen daraus, dass vermessen. Auf der Sonnenseite dieser
getroffen und aufbereitet. Das nächste Ka- die Schwerkraft eines Planeten, halb so Supererde ist es demnach 2300 Grad
pitel der Planetensuche kann damit begin- stark wie Jupiter, an ihm rüttelte. Was die heiß. Wen es nach Abkühlung verlangt,
nen. Bei insgesamt 73 der erfassten Sterne Forscher verblüffte: Der Trabant wirbelte der sollte auf die Nachtseite flüchten,
hat das »Tess«-Team kurze Phasen von alle vier Tage einmal um seinen Mutter- dort herrschen nur 1300 Grad.
Verdunkelung registiert, die Hinweise da- stern herum. Keine Theorie konnte erklä- ‣ Das Röntgenteleskop »Chandra« hat be-
rauf sein könnten, dass ein Planet vor ih- ren, wie ein solcher Riese auf eine so enge obachtet, wie sich das Licht von RW
nen vorbeigezogen ist. Bahn geraten war. Aur A unvermittelt verdunkelt. Die For-
FOTO OBEN: SHUTTERSTOCK

Jetzt werden sich Astronomen weltweit Seither haben Forscher weitere raffinier- scher werten dies als Indiz dafür, dass
daranmachen, diese Objekte genauer zu te Methoden entwickelt, mit denen sie die sie diesen noch jungen Mutterstern da-
inspizieren: Handelt es sich wirklich um Existenz von Planeten nachweisen kön- bei ertappt haben, wie er seine planeta-
Sonnen mit Trabanten? Falls ja: Wie nen – und sie kamen aus dem Staunen re Brut verspeist.
schwer sind diese? Woraus bestehen sie? nicht heraus. Mehr als 3700 ferne Welten Mehr als alle anderen aber hat der »Kep-
Und vor allem: Könnten sie womöglich haben sie inzwischen katalogisiert, und ler«-Satellit das Wissen um Exoplaneten

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 109


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Wissenschaft

revolutioniert. Rund zwei Drittel aller bis- ein halbes Dutzend Monde tanzt? Metall len, noch gar nicht benennen können. Die
her bekannten Trabanten wurden mit die- spuckende Vulkane oder Ozeane aus Al- Zeit der ganz großen Entdeckungen aber
sem Weltraumteleskop entdeckt. Vier Jah- kohol? Der Fantasie sind kaum Grenzen wird erst anbrechen, wenn die nächste Ge-
re lang starrte es auf einen Fleck am Fir- gesetzt. Und das Erstaunlichste daran: All neration von Teleskopen ihren Dienst an-
mament, im Licht von 150 000 Sternen das untersuchen zu können rückt in Reich- tritt. Der »Hubble«-Nachfolger »James
suchte es nach dem verräterischen Fla- weite, wenn die Astronomen die nächste Webb« (geplanter Starttermin 2021), die
ckern, das vom Durchlauf (»Transit«) ei- Generation von Teleskopen auf den Him- neuen erdgestützten Riesenobservatorien
nes Trabanten herrührt, der eine Art Mini- mel richten. Und Tess wird ihnen vorge- in Chile und Hawaii (ab 2024) und das spe-
Sternenfinsternis verursacht. Mittlerweile ben, wohin sie gucken müssen. ziell für die Planetensuche ausgerüstete
weist die Liste der planetaren Entdeckun- »Alles Kühne muss irgendwo beginnen«, Weltraumteleskop »Wfirst« (vermutlich ab
gen 2327 Einträge aus, 30 davon in der so- sagt die Astrophysikerin Seager. Sie hat Mitte der 2020er) werden die nötige Auf-
genannten bewohnbaren Zone, in der die sich auf die Reise ins Reich der Möglich- lösung bieten, um die Atmosphären ferner
Temperaturen moderat genug sind, um keiten gemacht. Sie möchte wissen, nach Welten genau zu inspizieren.
flüssiges Wasser vorkommen zu lassen, welchen Spektrallinien im Licht ferner Eines allerdings wurmt Seager: »Tess«
das als wichtige Voraussetzung von Leben Welten sie am besten suchen sollte. Des- kann erdähnliche Planeten nur dann auf-
gilt, wie wir es kennen. halb hat sie eine möglichst vollständige spüren, wenn diese um sogenannte Rote
Auf diese Art von Himmelskörpern Liste aller Gase erstellt, die sich aus den Zwerge kreisen. Dabei handelt es sich um
richtet sich naturgemäß das besondere Au- rot glimmende Sterne, die wesentlich klei-
genmerk der Wissenschaftler. Denn sie ner als unsere Sonne sind, dafür aber weit-
könnten Heimstatt von Leben sein. Das aus langlebiger. Ob aber auf deren Traban-
Problem jedoch: Die meisten der »Kep- ten lebensfreundliche Bedingungen herr-
ler«-Funde sind Tausende Lichtjahre von schen, ist ungewiss. Insbesondere sorgen
der Erde entfernt. Ihr Licht ist so schwach, sich die Astronomen, heftige Protuberan-
dass genauere Studien kaum möglich sind. zen könnten der Geburt von Leben im
Diese Lücke soll nun »Tess« füllen: Es Wege stehen.
nimmt die innergalaktische Nachbarschaft Aussichtsreicher wäre die Suche nach
der Erde ins Visier. extraterrestrischen Lebensformen auf
Statt eines kleinen Himmelsfleckens einer Zwillingserde, deren Mutterstern der
durchmustert dieses Weitwinkelteleskop Sonne gleicht. Das Licht eines solchen
fast das ganze Firmament. Dabei be- Sterns jedoch ist so grell, dass es den fahlen
schränkt sich »Tess« nur auf die hellsten Widerschein seiner Planeten überstrahlt.
Gestirne, also jene, die der Erde am nächs- Aber auch für dieses Problem hat Sea-
ten sind. Insgesamt über 200 000 Sterne ger eine Lösung. Die hängt an der Wand
wird der Himmelsspäher erfassen. Seine ihres Büros. Stolz zeigt sie auf ein sechs
Mission ist es, die 50 interessantesten von Meter langes, auf ein Gerüst gespanntes
NOAH KALINA

ihnen zu identifizieren. »Mit »Tess« erstel- Stück schwarzes Tuch. Aus 16 solcher
len wir den Katalog«, sagt Seager. Das Ziel blütenblattförmigen Gebilde will Seager
sei eine Liste vielversprechender Kandi- einen Schirm formen, der sich in der Ge-
daten, auf die sich die Suche nach außerir- Astrophysikerin Seager
stalt einer gewaltigen Sonnenblume im All
dischem Leben in den kommenden Jahren »Der Artikel gefällt mir nicht« entfaltet. Die Idee dabei: Als Sternenschat-
konzentrieren soll. Doch falls wirklich auf ten soll dieser Schirm das Licht von Ster-
irgendeinem dieser fernen Planeten Leben nen abdecken und so einem Weltraum-
existiert: Wie mag es aussehen? Und wo- Elementen des Periodensystems syntheti- teleskop die ungehinderte Sicht auf deren
ran können wir Menschen es erkennen? sieren lassen. Rund 14 000 Einträge um- Planeten gewähren.
Astrobiologen haben es sich zum Ziel fasst dieses Kompendium denkbarer atmo- Gewiss, technisch ist das Projekt »Star-
gesetzt, das herauszufinden. Die Forscher sphärischer Inhaltsstoffe. shade« höchst gewagt. Denn um seine
wollen in der Atmosphäre ferner Welten Natürlich weiß auch Sara Seager nicht, Funktion erfüllen zu können, müssten die
Gase aufspüren, wie sie nur von Lebendi- welche dieser Substanzen extraterrestri- Astronomen diesen Schirm Zehntausende
gem produziert sein können. »Biosignatu- sche Kreaturen wohl ausdünsten mögen. Kilometer vom zugehörigen Teleskop ent-
ren« nennen sie das. Sie weiß nur, dass irdische Lebewesen fernt aufspannen.
Möglich ist ein solcher Nachweis, mehr als 600 von ihnen produzieren. Aber für Seager sind Herausforderun-
weil der Mutterstern beim Transit die Gas- Seagers besonderes Interesse gilt derzeit gen zum Anpacken da. Bei der Nasa hat
hülle seines Trabanten durchleuchtet. Die dem Isopren: »Das ist ein flüchtiger Koh- sie bereits erreicht, dass Starshade in den
Wissenschaftler können dabei feststellen, lenwasserstoff, den Pflanzen in großen Status einer »Technologie-Entwicklungs-
für welche Farben die Gashülle durch- Mengen ausgasen.« In der irdischen Luft Aktivität« erhoben wurde. Die Wahr-
sichtig ist, bei welchen hingegen Wolken wird Isopren rasch umgewandelt. »Aber scheinlichkeit, dass es realisiert werde, lie-
die Sicht versperren. Dieser subtile Effekt in einer Atmosphäre ohne Sauerstoff ge bei rund 80 Prozent, sagt Seager. Kurz
erlaubt Rückschlüsse auf die Zusammen- könnte sich diese Substanz anreichern scheint sie ein paar Zahlen im Kopf zu
setzung der Atmosphäre (siehe Grafik und dann auch als Biosignatur taugen«, überschlagen, dann korrigiert sie sich:
Seite 108). spekuliert sie. »Nein, bei 85 Prozent.« Johann Grolle
Noch steht das Feld am Anfang, doch Die Zuversicht, dass »Tess« lohnende
schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Viel- Untersuchungsobjekte liefern wird, ist
falt der Planeten unermesslich ist: Ozon- groß – so groß, dass das »Tess«-Team beim Video
stürme mit grün leuchtenden Gewitterwol- »Hubble«-Weltraumteleskop bereits blind »Tess« auf Planetenjagd
ken oder Gletscher aus Kohlenwasser- Beobachtungszeit gebucht hat, obwohl die spiegel.de/sp422018planeten
stoff? Eine rote Riesensonne, die niemals Astronomen die Sterne, die sie mit dem oder in der App DER SPIEGEL
untergeht, oder ein Nachthimmel, an dem berühmten Veteranen im All studieren wol-

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»Tückisches Reizgas«
gen und einen niedrigeren Grenzwert fest-
legen wird, wird man sehen. Gesetzliche
Grenzwerte sind ja immer auch das Ergeb-
nis eines gesellschaftlichen Abwägungs-
prozesses.
Gesundheit Umweltmedizinerin Barbara Hoffmann über den Sinn von
SPIEGEL: Stimmt es, dass die hohe NO -
Dieselfahrverboten, eine Verschärfung des Grenzwerts ²
Belastung jedes Jahr in Deutschland zu
für Stickstoffdioxid und die unterschätzte Gefahr durch Feinstaub 6000 vorzeitigen Todesfällen führt?
Hoffmann: So einfach ist es nicht. Es han-
delt sich dabei nicht um reale, schwarz auf
Hoffmann, 52, ist Um- auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkran- weiß gezählte Todesfälle wie bei Verkehrs-
weltepidemiologin am kungen und Diabetes erhöhen. toten. Die Zahl ist errechnet worden aus
Uni versitätsklinikum SPIEGEL: Wie kann es denn sein, dass der der NO -Exposition der Bevölkerung und
²
Düsseldorf und WHO- NO -Grenzwert gar nicht die Grenze für dem Gesundheitsrisiko, das Studien für
²
Expertin für Grenzwer- Gesundheitsschäden markiert? eine derartige NO -Exposition gezeigt ha-
²
te von Luftschadstoffen. Hoffmann: Der aktuelle Wert richtet sich ben. Solche Werte dienen vor allem dazu,
nach einer Empfehlung der Weltgesund- verschiedene Risiken miteinander zu ver-
SPIEGEL: In immer mehr deutschen Städ- heitsorganisation WHO aus dem Jahr gleichen – zum Beispiel das Risiko von
ten kommt es zu Fahrverboten, weil der 2005. Damals entsprachen 40 Mikro- NO mit dem Risiko von Feinstaub. Zu-
²
Grenzwert für Stickstoffdioxid überschrit- gramm pro Kubikmeter Luft dem Stand sätzlich gibt es andere aussagekräftige Zah-
ten wurde, zuletzt auch in Berlin. Ist das der Wissenschaft. Aber das hat sich geän- len, beispielsweise die verlorenen Lebens-
ein wirksamer Schutz für die Anwohner? dert. Ich selbst bin derzeit an der Ausar- jahre in der Bevölkerung.
Hoffmann: Für die Menschen, die an den beitung neuer WHO-Richtlinien beteiligt. SPIEGEL: Ist Feinstaub gefährlicher als NO ?
²
für ältere Diesel gesperrten Straßen woh- Ich bin sicher, dass die künftige Empfeh- Hoffmann: Ja, und vor allem kennen wir
nen, wird sich dadurch die Belastung lung für den NO -Grenzwert deutlich seine Risiken viel besser als die von NO .
² ²
durchaus verringern. Nur: Um die Luft niedriger liegen wird als damals, vielleicht Dennoch liegt der EU-Grenzwert für Fein-
einer Stadt insgesamt gesünder zu machen, sogar unter 20 Mikrogramm pro Kubik- staub zweieinhalbmal so hoch wie von der
reichen punktuelle Fahrverbote, die den meter Luft. Ob die EU dann allerdings tat- WHO empfohlen. Wenn wir in Europa
Verkehr ja nur auf andere Straßen verla- sächlich der neuen WHO-Empfehlung fol- Grenzwerte hätten wie in den USA, hätten
gern, ganz sicher nicht aus. Und wir längst ein riesiges Problem bei
auch eine Beschränkung auf den der Einhaltung dieser Werte. Au-
Schadstoff Stickstoffdioxid (NO )
² Stickstoffdioxid ßerdem erfassen die Feinstaubmess-
greift zu kurz. Gesundheitliche Auswirkungen geräte an den Straßen die Masse
SPIEGEL: Aber die ganze Diskus- der Partikel und nicht ihre Anzahl;
sion um Fahrverbote dreht sich Bindehaut- Kopfschmerz die möglicherweise besonders ge-
doch nur um Stickstoffdioxid. entzündung Das Gas führt zu fährlichen allerkleinsten Feinstaub-
Hoffmann: Derzeit schon. Aber gereizten Schleimhäuten partikel fallen also bei der Messung
NO ist nicht die gefährlichste mit Entzündungs- kaum ins Gewicht. All das muss
² reaktionen im gesamten
Substanz im Schadstoffmix eines sich dringend ändern.
Verbrennungsmotors. Wenn man Atemtrakt. SPIEGEL: Feinstaub entsteht in er-
die Bevölkerung nachhaltig schüt- heblichen Mengen in scheinbar so
zen will, sollte man unbedingt ökologischen Holzöfen, aber auch
auch andere Schadstoffe ins Auge in Kohlekraftwerken, der Industrie
fassen – vor allem den Feinstaub. und der Landwirtschaft. Wird der
SPIEGEL: Kritiker halten den Autoverkehr also zum alleinigen
Grenzwert für Stickstoffdioxid für Sündenbock für die schlechte Luft
zu niedrig. gemacht?
Hoffmann: Das Gegenteil ist rich- Hoffmann: Natürlich haben Sie
tig. Aktuelle Studien zeigen, dass recht – wir müssen unsere Emissio-
NO seine schädliche Wirkung be- nen umfassend reduzieren. Das Be-
²
reits deutlich unter dem derzeit sondere an Autoabgasen ist, dass
gültigen europäischen Grenzwert diese Gifte in unmittelbarer Nähe
von 40 Mikrogramm pro Kubik- zum Menschen freigesetzt werden,
meter Außenluft entfalten kann. direkt neben Fußgängern, Fahrrad-
Selbst wenn dieser Grenzwert ein- fahrern und geöffneten Fenstern, je-
gehalten wird, ist also keinesfalls den Tag, fast rund um die Uhr. Des-
alles gut. NO ist ein tückisches Bei Dauerbelastung kann sich eine chronische halb brauchen wir dringend eine
²
Reizgas, das tief in die Lunge ein- Bronchitis entwickeln. Durch die Reizwirkung und andere Art der Mobilität. Wir müs-
dringt und dort die Bronchial- Störung der Lungenfunktion können sich bestehende sen weg vom individuellen Verbren-
schleimhaut reizt. Weil dadurch Asthmasymptome verstärken. nungsmotor-Verkehr, vom Auto als
Entzündungsbotenstoffe ausge- Statussymbol. So wie inzwischen
schüttet werden, können Asthma- In Studien wurde ein möglicher Zusammenhang das Rauchen verpönt ist, muss es
patienten Atemnotanfälle bekom- zwischen einer zeitnahen Belastung mit Stickstoff- uncool werden, ein großes Auto zu
men. Das ist durch Inhalationsstu- dioxid und der Zunahme von Herz-Kreislauf- fahren, und cool, mit dem Fahrrad
dien experimentell nachgewiesen Erkrankungen sowie der Sterblichkeit beobachtet. oder dem Bus unterwegs zu sein.
worden. Außerdem kann die Ent- Interview: Veronika Hackenbroch
zündungsreaktion wahrscheinlich

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 111


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Wissenschaft

BILDAGENTUR-ONLINE / PICTURE ALLIANCE

MIKOLA PETICHENKO
Der Geisterzug
als es nach dem tatsächlichen Gesund-
heitszustand der Bäume angezeigt wäre,
legt auch eine kürzlich veröffentlichte
Studie der britischen Umweltorganisation
Earthsight nahe.
Umwelt Die Waldliebe der Deutschen ist legendär – doch in der Monatelang hat ein internationales Ex-
Ukraine führt unser Holzhunger dazu, dass Wälder abgeholzt pertenteam im Auftrag von Earthsight in
verschiedenen Regionen der Ukraine den
und die gefällten Bäume über die Grenze geschmuggelt werden.
Zustand von Bäumen und Stümpfen auf
Sanitärhieb-Rodungsplätzen untersucht.

I m Mokrjanske-Wald geht es offenbar


nicht mit rechten Dingen zu. Nach
dem Tipp eines Waldarbeiters bre-
chen der Umweltaktivist Dmytro Karab-
mehr als 600 Hektar einem solchen »Sa-
nitärhieb« zum Opfer, wie Gutachter des
Nachhaltigkeitssiegels Forest Stewardship
Council (FSC) bereits im vergangenen Jahr
In 14 von 18 Fällen bewerteten die Inspek-
toren die Rodungen als unangebracht
oder zumindest als fraglich.
Die Liebe der Deutschen zum Wald ist
tschuk und seine Mitstreiter in die abgele- kritisierten. Mancherorts werde mehr ge- legendär. Doch die Earthsight-Studie be-
genen ukrainischen Karpaten auf, um sich rodet, als nachwachsen könne, warnten legt: Der Holzhunger der Westeuropäer
ein Bild von der Abholzung zu machen. die FSC-Gutachter. hat in der Ukraine mafiaähnliche Struktu-
Über eine unbefestigte Huckelpiste er- Trotz der Ermahnung durch den FSC ren hervorgebracht, durch die die gelten-
reichen sie einst dichte Wälder, in denen ging der Kahlschlag offenbar weiter. Dass den Waldschutzauflagen auf vielfältige
sich nun kahle Flächen ausbreiten wie die langen Dürreperioden der vorigen Som- Weise ausgehebelt werden. Holz bekann-
Krebsgeschwülste. Als die Umweltaktivis- mer speziell die Nadelbäume geschwächt ter Baumarktketten, Kopierpapier und
ten eine Brücke über ein Flüsschen über- haben, bezweifelt auch WWF-Mann Ka- sogar Markenkleidung aus Viskosefasern –
queren wollen, tauchen plötzlich Wald- rabtschuk nicht. Doch aufgrund seiner ak- dafür könnten Bäume in der Ukraine ille-
arbeiter auf und blockieren die Zufahrt tuellen Vor-Ort-Recherche schätzt er, dass gal gefällt worden sein.
zur Rodungsstelle. Die muskelbepackten knapp die Hälfte der Bäume so gesund Sanitärhieb ist dabei ein verbreiteter
Männer sind außer sich vor Wut, sie fürch- war, dass sie hätten stehen bleiben müssen. Trick, um die Waldschutzauflagen zu um-
ten um ihren Job. Ob es jemals zu einer unabhängigen Un- gehen, die sicherstellen sollen, dass nicht
Erst in der Morgendämmerung gelingt tersuchung kommen wird, ist fraglich. Das mehr Bäume gefällt werden, als nachwach-
es einigen der Naturschützer, sich in das staatliche Unternehmen Mokrjanske Forst- sen können. Wenn das Holz in den Export
abgeriegelte Waldstück zu schleichen. wirtschaft, das für die Abholzungen ver- geht, sind die Profite besonders hoch – vor
Durch die Nebelschwaden sehen sie heim- antwortlich ist, hat sich aus dem FSC-Pro- allem dann, wenn das angeblich minder-
lich dabei zu, wie Baum um Baum fällt. gramm zurückgezogen, das bislang dazu wertige Holz kranker Bäume in Wahrheit
»An diesem einen Vormittag haben sie diente, das Holz aus dem Wald als ökolo- von gesunden Bäumen stammt.
über hundert Nadelbäume gefällt«, sagt gisch wertvoll zu verkaufen. Auf dem Papier gelten auf beiden Seiten
Karabtschuk, der für ein ukrainisches der EU-Außengrenze umfassende Vor-
Waldschutzprojekt des World Wide Fund Die ukrainischen Wälder sind für ihre schriften zum Waldschutz. So müssen
for Nature arbeitet. »Und das auch noch wildwüchsige Schönheit berühmt. Sie bie- Holzimporteure nachweisen, dass sie ihre
außerhalb der offiziellen Rodungssaison.« ten Luchsen, Braunbären, Adlern und Wöl- Ware aus legalen Quellen beziehen. Und
Die groß angelegte Abholzungsaktion fen Heimat, auch bedrohte Arten wie der schon vor drei Jahren hat Kiew den Export
ereignete sich Anfang Juli. Ein solcher Europäische Nerz und das Europäische von Qualitätsrundholz mit dem Zollcode
Kahlschlag wird auch aus anderen Wäl- Wisent finden hier Zuflucht. Sogar Teile 4403 verboten, um die eigene Holzindus-
dern der Karpaten berichtet. Gerechtfer- der ursprünglichen Buchenurwälder sind trie vor der übermächtigen ausländischen
tigt wird er meist damit, dass die Bäume erhalten geblieben, sie zählen zum Unesco- Konkurrenz und ihre heimischen Wälder
krank gewesen seien, ihr Holz noch recht- Weltnaturerbe. Satellitenbilder zeigen, dass vor dem Ausverkauf zu schützen.
zeitig vor der Entwertung genutzt und be- sich die Waldfläche der Ukraine allein in Gebracht hat das alles wenig. In Tscher-
nachbarte Bäume vor Schädlingen ge- den Jahren 2016 und 2017 um 193 000 Hek- niwzi, 35 Kilometer entfernt von der Gren-
schützt werden sollen. tar verringert hat. ze zu Rumänien, ist beinahe täglich zu be-
Doch stimmt das? Allein im Mokrjanske- Dass ukrainische Holzfäller in FSC-zer- sichtigen, wie schwer sich das Export-
Wald fielen in den Jahren 2015 und 2016 tifizierten Nutzwäldern mehr abholzen, verbot für Rundholz durchsetzen lässt.

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Waldstück in den
ukrainischen
Karpaten, be-
schädigter
Güterwaggon,
Umweltaktivist
Petitschenko
»Alles nur ein

ANDREA REHMSMEIER
Missverständnis«

Am Bahnhof stehen Güterwaggons mit seres Landes. Unsere Chefs sprechen sich tiert zu haben, das als Brennholz fehl-
gerade gewachsenen Stämmen auf dem mit den Chefs auf rumänischer Seite ab. deklariert gewesen sei – mit »Dokumen-
Weg in die EU. Und dann klappt das.« ten, die falsche Informationen über den
Woher kommen all die Rundhölzer? Am Ende nahm der Güterzug Kurs auf Zollcode und den Wert des Produktes ent-
Dies versucht der Waldschützer Mykola die Stadt, in der der Holzkonzern Egger hielten«. Die Zollbehörde stuft die Unter-
Petitschenko aufzuklären, ein Mittvier- sein Betriebsgelände hat: das rumänische bewertung des ukrainischen Exportholzes
ziger mit rundem Gesicht, der am liebsten Radauti, nahe der ukrainischen Grenze. als »administrative Straftat« ein. Schadens-
Tarnanzug trägt. Der Forstwirt kämpft seit Das österreichische Unternehmen (Jah- höhe: umgerechnet 860 000 Euro.
Jahren gegen die Korruption und ihre resumsatz: fast 2,7 Milliarden Euro) gilt Den Egger-Konzern haben weder diese
Profiteure von Kiew bis Brüssel. Im Mai als wichtigster Importeur von ukraini- Ermittlungen noch die Verhaftung des mut-
haben Unbekannte ihn mit einem Hammer schem Holz. Auf SPIEGEL-Anfrage lässt maßlich korrupten Chefs der Forstverwal-
krankenhausreif geschlagen. »Unsere Forst- es über seinen Anwalt mitteilen, dass es tung im vergangenen Jahr dazu gebracht,
und Zollbeamten bauen sich trotz ihres sich bei dem Holz des fotografierten Wag- die Geschäftskontakte mit der in Verruf
mickrigen Soldes jetzt Villen«, sagt Peti- gons Nummer 66813619 um FSC-zertifi- geratenen Forstregion in der Westukraine
tschenko. »Und die europäischen Holz- ziertes Brennholz aus dem Herkunftsland einzustellen. Immerhin lässt der Konzern
konzerne bekommen hochwertiges Holz Ukraine gehandelt habe: »Egger führt um- wissen: »Selbstverständlich wird Egger
zu einem lächerlich niedrigen Preis.« fassende Kontrollen durch, damit gewähr- diesen Vorgang weiter beobachten und
Wie weit die illegalen Machenschaften leistet ist, dass Egger kein Holz kauft, wel- ggfs. erforderliche Konsequenzen ziehen.«
rund um Tscherniwzi am Rande der Wald- ches aus illegalem Holzeinschlag stammt.« Die ukrainischen Behörden leugnen die
karpaten reichen, zeigte sich im vergange- Missstände in ihrem Land nicht mehr. Laut
nen Oktober durch eine spektakuläre Doch die Earthsight-Recherchen legen dem Regulierungsbüro BRDO existieren
Festnahme. Der Leiter der regionalen nahe, dass der Weg, auf dem das Tradi- 12 000 illegale Sägewerke, die fast aus-
Forstbehörde war auf frischer Tat ertappt tionsunternehmen sein Holz bezieht, zu- schließlich für den Export arbeiten. Die
worden, als er Polizisten Schmiergeld in mindest dubios ist. Laut rumänischen Zoll- Zahl der legalen Sägewerke liegt nur bei
Höhe von 10 000 US-Dollar monatlich daten hat Egger im Jahr 2017 jeden Monat 9200. Das führt in der Außenbilanz der
anbot, damit sie die Regelverstöße in den rund 25 000 Tonnen Holz aus der Ukraine Ukraine zu einer erstaunlichen Export-
staatlichen Forstbetrieben unter seiner importiert, das als »4403« deklariert war: holz-Vermehrung: Die Ukraine exportier-
Verwaltung übersehen. Das Kürzel steht für »unbearbeitetes te 2016 50 Prozent mehr Schnittholz, als
Bemerkenswert ist der Fall, den Peti- Rundholz«, dessen Export die Ukraine un- die Sägewerke des Landes überhaupt legal
tschenko im vergangenen Jahr aufgedeckt ter Strafe stellt. Offiziell kann es die Ukrai- produzieren.
hat. Es begann damit, dass er am Bahnhof ne daher nur als »Brennholz« (Zollcode Nach Berechnungen von Earthsight ge-
von Tscherniwzi einen auffälligen Güter- 4401) verlassen haben. langen etwa 40 Prozent des Importholzes
zug fotografierte. Die Waggons waren Von »unzulässigen Manipulationen des aus der Ukraine nur mithilfe illegaler Prak-
stark beschädigt, teilweise fehlte sogar Zollcodes« könne keine Rede sein, recht- tiken in die EU. »Die Fakten sind schreck-
die vorgeschriebene Zulassungsaufschrift. fertigt sich der Konzern: »Egger hat zu kei- lich«, teilte der ukrainische Premierminis-
Durch ein riesiges Rostloch in der Seiten- nem Zeitpunkt sägefähiges Rundholz, wel- ter Wolodymyr Hrojsman nach der Veröf-
wand eines blassblauen Waggons mit der ches unter das Exportverbot der Ukraine fentlichung der Earthsight-Studie mit. Er
Zulassungsnummer 66813619/22 waren fällt, importiert.« Alles sei nur ein »Miss- hat groß angelegte Inspektionen der staat-
Baumstämme zu erkennen. verständnis«, weil Rumänien Holz fast im- lichen Forstunternehmen angekündigt.
Mitstreiter verfolgten diesen Güterzug mer als 4403 kennzeichne und anders als Die deprimierenden Fakten sind in
mit Waggons ohne Zulassungsaufschrift die Ukraine nicht zwischen Brennholz und Brüssel ebenfalls bekannt. In einem Be-
auf dem Weg gen EU. Unbeanstandet vom Rundholz unterscheide. richt an das Umweltdezernat der EU-Kom-
Zoll rollte er über die Grenze nach Rumä- Die Zollverwaltung in Tscherniwzi je- mission wird die Ukraine als ökologisches
nien. Wie ist so was möglich? Oberst Mar- doch geht mitnichten von einem »Missver- »Hochrisikoland« eingestuft: »Ein substan-
ko Streltschuk war jahrelang in der Zoll- ständnis« aus, wenn das Rundholz an der zielles Korruptionsrisiko kann an jedem
kontrollstelle in leitender Position tätig. ukrainisch-rumänischen Grenze seinen Punkt der Lieferkette und in allen Lan-
»Diese Waggons hätte man längst aus dem Zollcode ändert. Sie beschuldigt drei staat- desteilen festgestellt werden.«
Verkehr ziehen müssen«, sagt er. »Aber liche Forstunternehmen, Rundholz mit Andrea Rehmsmeier
die Korruption blüht an allen Grenzen un- dem Zollcode 4403 nach Rumänien expor-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 113


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Elektrorennwagen
I. D. R Pikes Peak von VW
Mit seinen 680 PS be-
schleunigt das Versuchs-
fahrzeug in 2,25 Sekunden
von 0 auf 100 km/h.

Schädlinge ohne Auspuff


Mobilität Mit bulligen SUV starten Deutschlands Autokonzerne in die E-Mobilität.
Doch weil ihre Herstellung viel Energie verschlingt,
könnten die Stromkolosse das Klimaproblem sogar verschärfen.

D er Volkswagen-Konzern hat ein


Elektroauto entwickelt, das schnel-
ler beschleunigt als ein Formel-
1-Rennwagen. Das Einzelstück leistet
kann sich jeder wiegen, der die Dinge nicht
kritisch hinterfragt.
Dass auch Autos ohne Auspuff Umwelt-
und Klimaschädlinge sein können – und
hat ihre Herstellung das Klima so belastet
wie der fossile Spritverbrauch eines spar-
samen Benzin-Kleinwagens, der schon
über 200 000 Kilometer gefahren wurde.
500 Kilowatt und hat auf einer amerika- große Exemplare eben auch große Schäd- Der »ökologische Rucksack«, wie Fach-
nischen Bergrennstrecke eine neue Best- linge –, wurde von einer Untersuchung leute das Akkuproblem nennen, ist ein
zeit aufgestellt. des schwedischen Umweltinstituts IVL mit praller Tornister, der auch ethische und hu-
Markenvorstand Frank Welsch bezeich- sehr eindrucksvollen Zahlen belegt. Pro manitäre Probleme enthält: Kobalt, ein
nete die Rekordfahrt als »Erfolg von lang- Kilowattstunde, so die Expertise, entsteht wichtiger Rohstoff für Batterien, wird in
fristiger Bedeutung«. Und wer sich an die- bei der Produktion der Batteriezellen der- Zentralafrika unter üblen Arbeitsbedin-
ser Stelle fragt, ob Europas größter Auto- zeit eine Klimagasemission, die bis zu 200 gungen, häufig mit Kinderarbeit, gewon-
konzern noch nicht verstanden hat, worauf Kilogramm Kohlendioxid entspricht. nen. Lithium kommt oft aus Salzseen in
es bei einer ökologischen Verkehrswende E-Mobile nach Tesla-Vorbild speichern Südamerika. Der Abbau ist ein empfind-
ankommt, kann diesen Zweifel gleich auf bis zu 100 Kilowattstunden. Das heißt: licher Eingriff in den Wasserhaushalt der
die gesamte heimische Branche ausdehnen. Noch ehe sie den ersten Kilometer fahren, Regionen.
Deutschlands Autokonzerne streben
nach dem Elektroauto der Superlative –
stark, schnell und wuchtig. Das Vorbild
heißt Tesla, und die etablierten Konzerne
sind kurz davor, den amerikanischen Pio-
nier um sein Monopol zu bringen.
Noch in diesem Jahr wird der Audi
e-tron 55 quattro in den Handel kommen,
ein Elektro-SUV mit 300 Kilowatt Leis-
tung, Allradantrieb und einem Riesen-
akku, der mehr als 400 Kilometer Reich-
weite garantieren soll. Daimler folgt im
nächsten Jahr mit dem E-Modell EQC, das
ähnliche Eckdaten aufweist; es wird be-
reits als »Mercedes unter den Elektroau-
tos« angepriesen – was insofern einleuch-
tet, als der Stuttgarter Hersteller auch ein
großer Anbieter von Lastwagen ist. Der Audi e-tron 55 quattro
Stromkoloss wiegt zweieinhalb Tonnen. Bei einer Höchstgeschwindigkeit
So soll sie aussehen, die neue Welt der von 200 km/h wird der Elektro-
emissionsfreien Mobilität: fahren wie bis- Allradwagen (408 PS) abgeregelt.
her, mit großen, starken, schweren Autos, Reichweite: über 400 Kilometer.
nur eben ohne Sünde. In dieser Illusion

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Technik

Was die Klimabelastung durch die Bat- befreit sein von der ökologischen Erbsün- mabelastung darstellen als ein Vergleichs-
terieproduktion angeht, fällt der enorme de. Sie würden, erklärte er kürzlich auf fahrzeug mit konventionellem Antrieb.
Energieverbrauch ins Gewicht. Stromspei- einer Pressekonferenz, »mit grüner Ener- »Wir haben nicht nur aus Kosten-
cher sind am Anfang ihres Daseins zu- gie« produziert. gründen, sondern auch aus ökologischen
nächst große Stromfresser. Das klingt erst einmal beruhigend: Wird Überlegungen heraus am Anfang auf
In der Gemeinde der Elektroenthusias- das E-Mobil nicht nur mit Ökostrom be- große Reichweiten verzichtet«, sagt Jury
ten schlug die IVL-Expertise ein wie die tankt, sondern auch gleich mit solchem Witschnig, Leiter der Nachhaltigkeits-
Widerlegung eines Gottesbeweises. Pro- hergestellt, ist alles gut und grün. Doch strategie bei BMW. BMW wird derzeit
teststürme fegten durch Internetforen, und kann das in der Praxis gelingen? von Samsung beliefert und kann sich noch
auch die Bundesregierung stand unter VW produziert nicht selbst Batteriezel- nicht mal aussuchen, ob die Zellen in
Rechtfertigungsdruck. Schließlich ist Elek- len. In ganz Europa gibt es keinen Indus- einem südkoreanischen oder einem chine-
tromobilität der Schlüssel ihrer geplanten triekonzern, der das in großem Stil macht. sischen Werk gefertigt werden.
Energiewende im Verkehrssektor. Die führenden Lieferanten sitzen in Süd- Immerhin, sagt Witschnig, bekomme er
So nahm bald das Freiburger Öko- korea, Japan und China. Die Kontrolle von Samsung eine Dokumentation des fos-
Institut Stellung, das häufig im Dienste über die Schlüsseltechnik der Elektro- silen Energieverbrauchs aus der Zellher-
des Umweltministeriums solche Fragen mobilität haben die westlichen Autopro- stellung mitgeliefert. Allein mit dieser An-
untersucht. Es kommt zu einem Schluss, duzenten längst verloren. frage habe er »keine offenen Türen einge-
der auf den ersten Blick wie ein Freispruch Volkswagen wird die Akkuzellen für sei- rannt«. Die Werte sind so hoch, dass
klingt für das E-Mobil: »Elektrofahrzeu- ne E-Offensive von den führenden südko- BMW bisher nur Autos mit kleineren Bat-
ge haben bereits heute eine positive Kli- reanischen Herstellern Samsung und LG teriekapazitäten anbietet.
mabilanz«, resümiert das Öko-Institut,
»selbst wenn dazu die Stromproduktion
und die Fahrzeugherstellung berücksich-
tigt werden.«
Auch das Umweltbundesamt teilt diese
Einschätzung und liefert eine Modellrech-
nung: Nach dieser kann das Elektroauto
den höheren Energiebedarf für seine Her-
stellung gegenüber dem konventionellen
Pkw »bei einer mittleren Lebensfahrleis-
tung von 168 000 km etwa ausgleichen«.
Also bestenfalls Gleichstand, und das
auch erst gegen Ende eines Autolebens.
Und wer sich die Umweltbilanz noch ge-
nauer anschaut, stellt schnell fest, dass das
E-Mobil derzeit weit entfernt ist von der
Öko-Absolution und dass zwischen der Mercedes EQC
FOTOS: VW (L.O.); ULI DECK / DPA (L.U.); DPA PICTURE-ALLIANCE / OBS/MERCEDES-BENZ SCHWEIZ AG/DAI / PICTURE ALLIANCE/KEYSTONE (R.)

schwedischen IVL-Studie und den Ein- Der Elektro-SUV (408 PS) soll auf
schätzungen der deutschen Umweltexper- eine Reichweite von 450 Kilome-
ten kein relevanter Unterschied besteht. tern kommen und beschleunigt in
Selbst den langen Weg zur besseren Kli- 5,1 Sekunden von 0 auf 100.
mabilanz schafft nur ein Fahrzeug mit sehr
kleinem Akku. Protagonist der behördli-
chen Modellrechnung ist ein E-Mobil, des-
sen Stromspeicher maximal 100 Kilometer beziehen. Diese eröffnen für die westliche Erst mit dem iNext will BMW ab 2021
Reichweite ermöglicht; das wäre ein Akku Kundschaft Werke in Osteuropa, wo sich große Reichweiten realisieren. Der Strom-
mit rund 20 Kilowattstunden. günstig produzieren lässt, weil dort billiger SUV soll Zellen aus einem Werk bekom-
Der E-Lieferwagen, den die Post in Ei- Strom fossiler Herkunft aus der Leitung men, das der chinesische Lieferant CATL
genregie gebaut hat, ist in diesem Sinne kommt. Wird Samsung wirklich einen in Thüringen errichten wird. Hier soll vor-
ein mustergültiges Batteriefahrzeug – der Windpark vor der schmutzigen Fabrik auf- wiegend mit regenerativer Energie produ-
Tesla hingegen ein Horror. bauen, um die Spezifikationen ökobeflis- ziert werden.
Nun aber wollen die deutschen Herstel- sener Einzelkunden zu erfüllen? Die Ernsthaftigkeit, mit der BMW sich
ler nicht den Postlaster bauen. Sie wollen »Wir sind mit unseren nominierten Bat- solchen Fragen stellt, ist umso löblicher,
den Tesla-Jäger bauen – das vollwertige teriezellen-Lieferanten dazu aktuell im en- als der Gesetzgeber dies weder fordert
Auto mit Stromantrieb, reisetauglich, pres- gen Austausch«, versichert VW-Sprecher noch honoriert. Elektroautos gelten grund-
tigeträchtig, stark und schnell. Christoph Adomat. Er bittet jedoch um sätzlich als emissionsfrei. Sie werden für
Mit einer Blaupause der Tesla-Archi- Verständnis, »dass wir erst nach jeweili- die Hersteller wertvolle Kompensatoren
tektur, »Modularer Elektrifizierungsbau- gem Vertragsabschluss inhaltlich näher da- sein, wenn ab 2021 unzulässig hohe Flot-
kasten« genannt, will Volkswagen in die rauf eingehen werden«. Verbindlich ver- tenverbrauchswerte mit empfindlichen
Massenproduktion gehen: Kernstück aller einbart ist also noch nichts. Strafzahlungen belegt werden.
Modelle wird ein großer, flacher Akku im Wesentlich weiter ist BMW: Der Münch- Ein E-Mobil, das klimaschädigend pro-
Wagenboden sein. Schon die kleinste Ver- ner Hersteller legt sich seit dem Produk- duziert wurde, wird dann nach seiner
sion soll eine Reichweite von 330 Kilome- tionsstart seiner Elektromodelle eine frei- Zulassung auch noch die Verbreitung
tern garantieren, muss also ein ziemlich willige interne Zertifizierung auf, die vom schluckstarker konventioneller Autos er-
großer Akku sein. TÜV Süd beglaubigt wird. Ein Elektroauto leichtern – also doppelt schädlich sein.
Doch die Batteriezellen, versichert VW- seiner Produktion muss in der Summe aus Christian Wüst
Markenvorstand Thomas Ulbrich, sollen Herstellung und Betrieb eine geringere Kli-

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Kultur
»Musik half einen Scheiß. Menschen haben geholfen.« ‣ S. 126

Schriftsteller

Heller Stern
 Einige Superlative umranken die Science-Fiction-Trilogie
»Trisolaris«: Als erster Chinese erhielt der Autor Cixin Liu
einen Hugo-Award, eine Art Nobelpreis des Genres. Ama-
zon soll angeblich eine Milliarde Dollar für die TV-Serien-
rechte an dem Stoff geboten haben. Doch die beste Werbung
machte der ehemalige US-Präsident Barack Obama. In
einem Interview mit der »New York Times« erzählte er, dass
ihm die Lektüre von Lius Büchern »Spaß machte« und seine
täglichen Probleme als Präsident im Vergleich zu dieser
Geschichte »ziemlich klein« wirkten – wie etwas, über das
man sich keine Sorgen machen müsse. Dabei lachte Obama.
In Deutschland ist im Frühjahr die Übersetzung des zweiten

ILLUSTRATION: STEPHAN MARTINIERE / MARTINIERE.COM


Bands von Lius Trilogie erschienen: In »Der dunkle Wald«
attackieren Aliens die Erde und haben Zugriff auf sämtliche
Daten, nur Gedanken bleiben geheim. Vier Wissenschaftler
werden ausgewählt, jeder von ihnen soll für sich einen Plan
gegen die außerirdischen Eroberer entwickeln. Einer der vier
versucht, die menschliche Logik zu überwinden und sich in
die Perspektive der Trisolarier zu versetzen. Liu, ein ehema-
liger Computeringenieur, lebt zurückgezogen in China. Nun
besucht er Deutschland. Die Aufregung dürfte riesig sein,
wenn er am 13. Oktober auf der Buchmesse auftritt; am
15. Oktober liest Liu in der Hamburger Kühne Logistics Uni-
versity; am 19. Oktober ist er noch mal in Frankfurt zu er-
leben, bei seiner Buchpräsentation im Konfuzius-Institut. CLV Buchillustration zu »Der dunkle Wald«

Kommentar

Raus aus dem Netz, rauf auf die Straße


Endlich mal ein guter Retrotrend: warum Menschen wieder demonstrieren gehen

Die Achtziger sind zurück. In der Mode schon lange. In der Musik, Meinung kundzutun? Bei Wind und Wetter, statt auf Facebook
klar. Aber nun auch auf der Straße. Ein neuer Retrotrend hat die und Twitter? Ein Post oder ein Tweet ist schnell geschrieben,
Republik im Griff: demonstrieren gehen. kostet kaum Zeit und kein Geld – und so bleibt oft unklar, wie
Fast täglich gab es in den vergangenen Wochen Protestmärsche groß der Unmut wirklich ist, der sich dort Bahn bricht. Eine Demo
für die offene Gesellschaft. In München mobilisierte der Hashtag dagegen macht Mühe – und deshalb Mehrheiten sichtbar. Men-
#ausgehetzt rund 40 000 Menschen; in Hamburg folgten rund schen zeigen Gesicht, nicht nur ein neues Profilbild.
30 000 dem Aufruf #wellcomeunited; bei der #unteilbar-Demo Die Extremismusforscherin Julia Ebner hat nachgewiesen, dass
diesen Samstag in Berlin dürften es noch viel mehr werden. es Rechtsextremen über soziale Netzwerke gelingt, überpropor-
Und auch der Kampf um den Hambacher Forst wurde nicht auf tional viel Einfluss auf politische Diskurse zu nehmen: Eine laut-
Twitter gewonnen, sondern auf den Bäumen. starke Minderheit wirkt wie eine Mehrheit. Der Moderator Jan
Es ist das Revival einer uralten Proteststrategie. Menschen Böhmermann hat darauf im Frühjahr mit der Aktion »Reconquis-
malen wieder Plakate, verteilen Flugblätter, pusten in Trillerpfei- ta Internet« reagiert: dem Versuch, die sozialen Netzwerke von
fen und schlagen auf Trommeln. Sie stehen, ganz wörtlich, für rechten Trollen zurückzuerobern. Die wirkungsvollere Reaktion
etwas ein: live und analog mit ihrem Körper an einem Ort. Was heißt: raus aus dem Netz, rauf auf die Straße. Die gute alte Demo
für ein Anachronismus! Wieso schließen sich Menschen im Zeit- verströmt das Achtzigerjahre-Aroma von Nicaragua-Kaffee – aber
alter des Individualismus zu einer Masse zusammen, um ihre auch der machte schon hellwach. Tobias Becker

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Literatur mit dem Wasser und dem Feuer zu spre- Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Das Herz einer Puppe chen. Eindringlich beschreibt Ferrante die
Angst, verlassen zu werden, und die Hilf- Wir auch
 Die Sonne geht unter, Celina liegt im losigkeit, sich gegen Stärkere nicht wehren
lauwarmen Sand und weiß nicht, was sie zu können. Als Celina vom Strandwär- In einer Sonderbeilage, deren
machen soll. Erst ist ihr langweilig, dann ter auf einen Haufen geharkt wird Titelseite künstlich verblasst
bekommt sie es mit der Angst zu tun. Es und wie Müll zwischen Kronkorken war, widmete sich das Res-
wird Nacht, und da ist dieser Strandwärter und Seepferdchen aus Plastik liegt, sort Nachrufe der »New
mit dem Schnurrbart, dessen Enden im fürchtet sie, dass ihre Besitzerin, das York Times« vor einiger Zeit
Dunkeln aussehen wie Eidechsenschwän- kleine Mädchen Mati, sie vergisst und den übersehenen Toten. Zwölf
ze. Celina ist eine Puppe mit einem rei- nun lieber mit ihrer Katze spielt. Die Gru- würdigende Erinnerungen an,
chen und bewegten Innenleben. selgeschichte, zu der die Illustratorin Mara nun ja, Nicht-Männer. Die historische
Die italienische Bestsellerauto- Cerri traumartige Bilder Spanne reichte von der britischen Schrift-
rin Elena Ferrante gemalt hat, können auch stellerin Charlotte Brontë bis zu Marsha
erzählt in ihrem ers- Erwachsene mit Gewinn lesen, P. Johnson, einer Prostituierten, Trans-
ILLUSTRATION: CERRI MARA

ten Kinderbuch »Der weil sie letztlich von sehr elementa- gender-Aktivistin und Drag-Künstlerin,
Strand bei Nacht« die ren Gefühlen handelt. RED 1945 geboren als Malcolm Michaels Jr.,
Geschichte einer Puppe, tot aufgefunden im Sommer 1992.
die denken und fühlen Elena Ferrante: »Der Strand bei Nacht«.
Ein Drittel dieser Menschen starb
kann. Außerdem verfügt Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Insel; gewissermaßen dramatisch oder auch
sie über die Fähigkeit, 48 Seiten; 14 Euro. tragisch – durch eigene Hand, durch die
Hand anderer oder auch unter unge-
klärten Umständen. Manche von ihnen
waren sozial privilegiert, durch Reich-
Kino katholische Priester beschäftigt, schlägt tum der Eltern und die richtige Haut-
»Eine Art innere Zensur« gerade in Polen Kassenrekorde.
Karpiński : Natürlich widerspricht der
farbe, wie die Fotografin Diane Arbus
oder die Golf-Olympionikin Margaret
Der polnische Drehbuch- Film der Vorstellung der Regierung, wie die Abbott; eine von ihnen, die Journalis-
autor Maciej Karpiński, 67, katholische Kirche auf der Leinwand ge- tin Ida B. Wells, wurde noch als Sklavin
spricht auf der 4. World zeigt werden sollte. Und doch ist »Klerus« geboren. Zu Lebzeiten, so heißt es in
Conference of Screenwriters gedreht worden und hat bereits über zwei- ihrem nachgetragenen Nachruf, war
in Berlin über die Ängste einhalb Millionen Zuschauer gefunden. Die Wells die berühmteste schwarze Frau
von Filmemachern in sei- Regierung hält sich zurück, Stimmung ge- in den Vereinigten Staaten, gleichwohl
nem Land und die Versuche der Regie- gen den Film zu machen. Bald sind Wahlen, war sie 1931 der auch damals schon
rung, die Kinoproduktion zu beeinflussen. und zweieinhalb Millionen Zuschauer sind höchstgeschätzten amerikanischen Zei-
zweieinhalb Millionen Wähler. Wir leben tung keinen Nachruf wert.
SPIEGEL: Die amtierende polnische in einer paradoxen Situation. Die Regie- Der blinde Fleck, das strukturelle
Regierung will das Land grundlegend um- rung ändert Gesetze willkürlich und be- Defizit, das Vorurteil, das Ressentiment
gestalten. Sie fördert Konservativismus, kämpft, was ihrem Weltbild widerspricht. oder Stereotyp, der Balken im Auge,
Patriotismus und Katholizismus. Was be- Doch wir polnischen Filmemacher sind es das Sarrazin: Viele Bezeichnungen pas-
deutet das für die Filmschaffenden? gewohnt, uns staatlichem Druck zu wider- sen für diese menschliche Eigenschaft,
Karpiński: Viele Produzenten schrecken setzen. Schon zur Zeit des Kommunismus die mir weniger eine persönliche
vor Stoffen zurück, die ihnen Ärger ein- haben wir es geschafft, sehr gute und sehr Schwäche zu sein scheint als eine kon-
bringen könnten. Ich habe einen Psycho- kritische Filme zu drehen. Die national- stitutive. Wir alle haben diesen blinden
thriller über eine Frau geschrieben, die konservative Regierung, die ja immerhin Fleck (mindestens einen); die Frage ist
Politikerin ist und mitten im Wahlkampf demokratisch gewählt worden ist, wird uns nur, was man aus dieser Einsicht macht.
steckt. Keiner will das Projekt anfassen. nicht davon abhalten können. LOB Verteufeln hilft nicht, leugnen ebenso
Dabei ist die Politik nur wenig, Korrektur durch das Lebendige
der Hintergrund für die aber schon. Naturgemäß sieht man
Geschichte. nicht, wen man übersieht, weshalb bei
SPIEGEL: Gibt es Zensur? Redaktionen wie in allen anderen
Karpiński: Nicht direkt. Gruppen, die sich der Wirklichkeit
Aber die Regierung domi- produktiv widmen wollen, eine mög-
niert die Filmförderung lichst gemischte Zusammensetzung
und kontrolliert das öffent- sinnvoll ist. Der Leiter der Obituaries
lich-rechtliche Fernsehen, führt außerdem die pragmatische
das Filme koproduziert. Einsicht an, dass sich Nachrufe auf
Das führt zu einer Art in- Verdienste der Vergangenheit richten,
neren Zensur, zur Schere in der nun einmal weiße Männer die
im Kopf. Doch wir dürfen Plätze an der Macht unter sich aufteil-
BARTEK MROZOWSKI / KLER

uns nicht den Mut neh- ten – und das für selbstverständlich
men lassen, sperrige und hielten, weil es die menschliche Groß-
kritische Filme zu drehen. zügigkeit überfordert, die eigene hohe
Dies ist weiterhin möglich. Position für unverdient zu halten.
SPIEGEL: Das Drama
»Klerus«, das sich mit An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Kindesmissbrauch durch Szene aus »Klerus« Nils Minkmar im Wechsel.

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Kultur

Gegen Identitätspolitik
Debatte In den vergangenen Jahren hat sich ein umfassender Politikwechsel vollzogen. Die Frage
nach der Identität ist eine treibende Kraft geworden. Doch so viel Gutes #MeToo und
ähnliche Bewegungen bewirkt haben: Die liberale Gesellschaft kann nur handlungsfähig bleiben,
wenn sie sich nicht in viele kleine Gruppen spalten lässt. Von Francis Fukuyama

Wenige Formulierungen haben in den tien, erhöhte sich gleichzeitig die wirt- worden. Einige Länder, die in den Neunzi-
vergangenen 30 Jahren eine solche Karriere schaftliche Ungleichheit. Der zunehmende gerjahren den Eindruck erfolgreicher libe-
gemacht wie die vom »Ende der Geschich- Umfang von Handel und Finanzgeschäften raler Demokratien gemacht hatten – da-
te« des amerikanischen Politologen Francis sowie die erhöhte Mobilität der Bevölke- runter Ungarn, Polen, Thailand und die
Fukuyama, 65. Mit einem Essay im Magazin rung stifteten außerdem Unruhe. In Ent- Türkei –, gleiten wieder in Richtung Auto-
»The National Interest«, der im Sommer wicklungsländern fanden sich Dorfbewoh- ritarismus ab. Die arabischen Revolten der
1989 herauskam und den er zu einem Buch ner, die zuvor nicht einmal einen Strom- Jahre 2010/11 haben zwar die Diktaturen
ausarbeitete, gab Fukuyama dem Nachden- anschluss gehabt hatten, plötzlich in Groß- überall im Nahen Osten erschüttert, aller-
ken über den Zusammenbruch der Sowjet- städten wieder, wo sie fernsehen konnten dings ohne dabei die Demokratisierung zu
union die entscheidenden Stichworte. Vom und durch ihre Mobiltelefone mit dem In- befördern. In ihrem Gefolge klammern sich
deutschen Philosophen Georg Wilhelm Fried- ternet verbunden waren. In Ländern wie despotische Regime an die Macht, und Bür-
rich Hegel inspiriert, postulierte Fukuyama, China und Indien sind riesige neue Mittel- gerkriege sind im Irak und im Jemen, in
das Ende des Kommunismus bedeute das schichten entstanden, doch deren Tätigkeit Libyen und Syrien entbrannt. Noch über-
Ende der großen ideologischen Auseinan- ersetzt die Arbeit, die vorher ältere Mit- raschender und vielleicht auch bedeutsamer
dersetzungen. Marktwirtschaft und liberale telständler in der entwickelten Welt ver- sind die Wahlsiege, die der populistische
Demokratie hätten gewonnen. Die Anschlä- richteten. Die Fertigungsindustrie ver- Nationalismus 2016 in zwei der ältesten
ge vom 11. September 2001 schienen Fukuya- lagerte sich kontinuierlich aus den USA liberalen Demokratien der Welt errungen
ma zu widerlegen. Vor dem Hintergrund der und Europa nach Ostasien und in andere hat: in Großbritannien, wo man sich ent-
Wahl von Donald Trump kehrt Fukuyama Niedriglohnregionen. Gleichzeitig wurden schied, die EU zu verlassen, und in den
nun in seinem neuen Buch »Identity« (im Männer in der zunehmend dienstleistungs- USA, wo Donald Trump Präsident wurde.
Februar wird »Identität« auf Deutsch im orientierten neuen Wirtschaft von Frauen All diese Entwicklungen haben auf die
Verlag Hoffmann und Campe erscheinen) verdrängt, ebenso wie gering qualifizierte eine oder andere Art mit den wirtschaft-
zu einigen Überlegungen von damals zu- Arbeiter von intelligenten Maschinen. lichen und technischen Umschwüngen der
rück. Hegel habe geglaubt, die Geschichte Zusammengenommen verlangsamten Globalisierung zu tun – aber sie sind auch
werde vom Kampf um Anerkennung getrie- diese Entwicklungen den Trend zu einer in einem anderen Phänomen verwurzelt:
ben, schreibt Fukuyama im Vorwort. Heute immer offeneren und liberaleren Weltord- dem Aufstieg der Identitätspolitik.
äußere sich das in der Identitätspolitik. nung. Zunächst stockte er, dann kehrte er Im 20. Jahrhundert wurde das politische
Wenn die liberalen Demokratien darauf kei- sich sogar um. Die entscheidenden Schläge Handeln überwiegend von Wirtschafts-
ne Antwort fänden, seien sie in Gefahr. waren die Finanzkrise 2007/08 und die fragen bestimmt. Bei der Linken kreiste die
2009 beginnende Eurokrise. In beiden Fäl- Politik um Arbeiter, Gewerkschaften, So-

I
len verursachten politische Maßnahmen zialhilfeprogramme und Umverteilungs-
n den vergangenen Jahrzehnten hat heftige Konjunkturrückgänge, hohe Ar- maßnahmen. Die Rechte hingegen interes-
sich ein dramatischer Wandel in der beitslosigkeit und Einkommensverluste für sierte sich hauptsächlich für den Abbau
Weltpolitik vollzogen. Zwischen den Millionen Arbeitnehmer. staatlicher Bürokratie und die Förderung
frühen Siebzigerjahren und der ers- Die Gesamtzahl demokratischer Staaten der Privatwirtschaft. Die heutige Politik
ten Dekade dieses Jahrhunderts erhöhte ist in den letzten Jahren in fast allen Re- dagegen wird weniger durch wirtschaft-
sich die Anzahl der Demokratien von rund gionen der Welt zurückgegangen. Zugleich liche oder ideologische Belange als viel-
35 auf über 110. Im selben Zeitraum ver- sind viele autoritäre Staaten, angeführt von mehr durch Identitätsfragen bestimmt. Die
vielfachte sich der weltweite Ertrag an Gü- China und Russland, selbstbewusster ge- Linke richtet ihr Augenmerk nicht mehr
tern und Dienstleistungen, das Wachstum primär darauf, ökonomische Gleichheit
dehnte sich auf fast alle Regionen der Erde herzustellen. Stattdessen geht es ihr da-
aus. Der Anteil der unter extremer Armut rum, die Interessen einer breiten Vielfalt
leidenden Menschen verringerte sich: von benachteiligter Gruppen zu fördern, etwa
42 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr Überall auf der Welt die von ethnischen Minderheiten, Ein-
1993 auf 18 Prozent im Jahr 2008. mobilisieren Führer ihre wanderern, Flüchtlingen, Frauen und der
Aber nicht alle haben von diesen Ände- LGBT-Community. Der Rechten liegt vor
rungen profitiert. In vielen Ländern, be-
Anhänger mit der Idee, allem der Patriotismus am Herzen, der
sonders in den wohlhabenden Demokra- ihre Würde sei verletzt. Schutz der traditionellen nationalen Iden-

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TERRENCE JENNINGS / POLARIS / STUDIO X / LAIF

Aktivistinnen am Frauentag 2017 in New York: Politik wird weniger durch wirtschaftliche als durch Fragen der Identität bestimmt

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Kultur

tität, die häufig explizit mit Rasse, Ethni- den. Diese Auffassung des menschlichen zahl von Gruppen setzt sich fort, und die
zität oder Religion verknüpft wird. Verhaltens hat tiefe Wurzeln im westlichen Marktwirtschaften bringen hohe Einkom-
Dadurch kehrt sich eine lange Tradition politischen Denken und bildet die Grund- mensdisparitäten hervor. Trotz ihres all-
um, die mindestens bis zu Karl Marx zu- lage großer Teile der heutigen Sozialwis- gemeinen Reichtums haben die Vereinig-
rückreicht, nach der man politische Kämpfe senschaft. Sie übersieht jedoch einen Fak- ten Staaten und andere entwickelte Län-
als Reflexion wirtschaftlicher Konflikte be- tor, der, wie antike Philosophen wussten, der in den vergangenen 30 Jahren eine
trachtet. Doch Menschen werden nicht nur von entscheidender Bedeutung ist: das drastische Zunahme der Einkommens-
vom materiellen Eigeninteresse beflügelt, Verlangen nach Würde. Sokrates glaubte, unterschiede erlebt.
sondern auch von anderen Kräften, mit dass solch ein Bedürfnis einen wesentli- Die subjektiv wahrgenommenen Bedro-
denen sich die Gegenwart besser erklären chen »dritten Teil« der menschlichen Seele hungen des Lebensstandards erklären den
lässt: Überall auf der Welt mobilisieren po- ausmache, der neben einem »begehrenden Aufschwung des populistischen Nationa-
litische Führer ihre Anhänger mit der Vor- Teil« und einem »überlegenden Teil« exis- lismus in den Vereinigten Staaten und an-
stellung, dass deren Würde verletzt worden tiere. In Platons »Staat« wird dieses Be- derswo zumindest zum Teil. Die amerika-
sei und wiederhergestellt werden müsse. dürfnis als »Thymos« bezeichnet. nische Arbeiterklasse hat in den vergan-
Die Wut über Erniedrigungen ist zu einem In der Politik kommt Thymos in zweier- genen Jahrzehnten nicht gut abgeschnitten.
wichtigen politischen Faktor geworden. lei Gestalt zum Ausdruck. Die erste nenne Das spiegelt sich nicht nur in stagnieren-
Die Black-Lives-Matter-Bewegung etwa ich »Megalothymia«: den Wunsch, von an- den Löhnen und dem Verlust von Arbeits-
entsprang einer Reihe gut dokumentierter deren als überlegen anerkannt zu werden. plätzen, sondern auch in ihrem sozialen
Erschießungen von Afroamerikanern durch Vordemokratische Gesellschaften ruhten Zerfall. Für Afroamerikaner begann dieser
Polizisten. Sie zwang die ganze Welt, die auf einem hierarchischen Fundament: Ihr Prozess in den Siebzigern. Viele von ihnen
Gewaltopfer wahrzunehmen. An Universi- Glaube an die inhärente Überlegenheit arbeiteten in der Fleischverpackungs-, der
täten und in Büros überall in den USA und einer bestimmten Schicht – wie die Ange- Stahl- oder Automobilindustrie, Wirt-
Europa waren und sind Frauen erbost über hörigen des Adels und des Königshauses – schaftszweige, in denen viele Arbeitsplät-
eine Epidemie sexueller Belästigungen und war entscheidend für die Erhaltung der ze verloren gingen. Damit einher ging eine
Nötigungen, die den Schluss nahelegen, sozialen Ordnung. Das Problem der Me- Reihe sozialer Missstände, die Kriminali-
dass Männer sie nicht als gleichberechtigt galothymia ist jedoch, dass einer kleinen tätsrate stieg an, Drogenmissbrauch nahm
ansehen. Hinzu kommen die vielen Trump- Anzahl der Personen, die als überlegen zu, und viele Familien zerfielen.
Wähler, die sich nach den vermeintlich bes- gelten, eine große Anzahl von Menschen Im vergangenen Jahrzehnt griff diese
seren vergangenen Zeiten sehnen, als ihr gegenüberstehen, die für minderwertig Entwicklung auch auf die weiße Arbeiter-
Platz in der Gesellschaft sicher gewesen gehalten werden und auf die Anerkennung schaft über. Eine Opioid-Epidemie hat
war. Immer neue Gruppen glauben, dass ihres Werts verzichten müssen. Doch ländliche Gemeinden überall in den Ver-
ihre Identität – sei sie nationaler, religiöser, wenn jemand missachtet wird, stellt sich einigten Staaten dezimiert, überall betäu-
ethnischer, sexueller oder sonstiger Art – ein mächtiges Gefühl des Unmuts ein, und ben sich Menschen mit schweren Schmerz-
nicht genügend Anerkennung erhalte. Die ein genauso mächtiges Gefühl – ich nenne mitteln; im Jahr 2016 gab es mehr als
Identitätspolitik ist zu einer Leitidee gewor- es »Isothymia« – veranlasst Menschen zu 60 000 Todesfälle nach einer Überdosis,
den, mit der sich die meisten Vorgänge der dem Wunsch, anderen gegenüber als rund doppelt so viele wie die alljährliche
globalen Politik erklären lassen. gleichwertig angesehen zu werden. Zahl von Verkehrsopfern in den USA. Die
Damit stehen zeitgenössische liberale Der Aufstieg der modernen Demokratie Lebenserwartung weißer Männer ist zwi-
Demokratien vor einer immensen Heraus- geht mit der Verdrängung der Megalothy- schen 2013 und 2014 gesunken – ein äu-
forderung. Die Globalisierung hat einen mia durch die Isothymia einher: Gesell- ßerst ungewöhnlicher Vorgang in einem
raschen wirtschaftlichen und sozialen schaften, die nur die Rechte einer kleinen Industriestaat.
Wandel nach sich gezogen, der ihre Ge- Elite anerkannten, wurden von solchen Eine maßgebliche Antriebskraft des
sellschaften vielfältiger gemacht hat, wo- abgelöst, die alle Menschen als von Natur neuen Nationalismus, durch den Donald
durch das Verlangen nach Anerkennung aus gleichwertig betrachteten. Im Laufe Trump ins Weiße Haus gelangte (und der
bei Gruppen geweckt worden ist, die einst des 20. Jahrhunderts begannen die libera- in Großbritannien zum Brexit führte), ist
unsichtbar für die Mehrheitsgesellschaft len Demokratien, allen Menschen Rechte das Gefühl unsichtbar zu sein. Bürger, die
waren. Solche Ansprüche wiederum lösen zuzugestehen – und kolonialisierte Völker um ihren Mittelschichtsstatus fürchten, zei-
eine Gegenreaktion bei anderen Gruppen bemühten sich um Unabhängigkeit. Ob gen anklagend nach oben auf die Eliten,
aus, die einen Statusverlust und ein Gefühl es die Kämpfe um Sklaverei und Rassen- für die sie, wie es scheint, nicht mehr er-
der Verdrängung empfinden. Demokrati- trennung, um Arbeiterrechte oder Frauen- kennbar sind – und nach unten auf die Ar-
sche Gesellschaften zersplittern in Segmen- emanzipation waren – alle beruhten auf men, die ihrer Meinung nach unverdient
te mit immer enger gefassten Identitäten, der Forderung, dass das politische System begünstigt werden. Wirtschaftliche Not
was die Möglichkeiten gesamtgesellschaft- den Kreis der als vollwertig geltenden In- wird von Individuen oftmals nicht als ma-
licher Erwägungen und kollektiven Han- dividuen erweitern sollte. terielle Entbehrung, sondern als Identitäts-
delns zunehmend bedroht. Allerdings führt die Gleichstellung nach verlust empfunden. Fleiß sollte Würde mit
Eine solche Entwicklung führt unwei- dem Gesetz in liberalen Demokratien sich bringen, doch viele weiße Amerikaner
gerlich zum Kollaps und zum Scheitern nicht zu wirtschaftlicher und sozialer sind überzeugt, dass ihre Würde nicht an-
des Staates. Wenn die liberalen Demokra- Gleichheit. Die Diskriminierung einer Viel- erkannt wird.
tien es nicht schaffen, die Menschenwürde Deshalb fallen die Ansichten nationa-
wieder umfassend zu begreifen, verdam- listischer oder religiöser Konservativer auf
men sie sich selbst – und die Welt – zu fruchtbaren Boden. Stärker als solche der
einem ständigen Konflikt. Linken, die sich traditionell auf ökonomi-
Wirtschaftliche Not wird sches Klassendenken stützen. Nationalis-
Der dritte Teil der Seele
nicht als Entbehrung, ten erzählen den Unzufriedenen, sie seien
Die meisten Ökonomen nehmen an, dass stets Mitglieder einer großen Nation ge-
Menschen durch den Wunsch nach mate-
sondern als Identitäts- wesen, doch nun hätten Ausländer, Ein-
riellen Mitteln oder Gütern motiviert wer- verlust empfunden. wanderer und Eliten sich verschworen, um

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JR
Demonstranten 2014 in New York*: Nicht gut abgeschnitten

sie zu unterdrücken. Die umfassende Ver- gend für die Demokratische Partei, die fassung seit dem Bürgerkrieg verankert
breitung solcher Erzählungen hat dazu ge- europäische Sozialdemokratie stand fest war. Bald darauf schloss sich die Frauen-
führt, dass die Einwanderung in so vielen auf einem Fundament aus Gewerkschafts- bewegung an, die ebenfalls Gleichbehand-
Ländern zu einem umstrittenen Thema ge- wesen und Arbeitersolidarität. lung forderte. Eine parallel verlaufende
worden ist. Tatsächlich nützt die Migration Doch im Zeitalter der Globalisierung soziale Revolution zerschmetterte tradi-
dem Bruttosozialprodukt, wie der Handel haben die meisten Linksparteien ihre Stra- tionelle Normen der Sexualität und der
auch – ohne jedoch allen gesellschaftlichen tegie geändert. Statt Solidarität mit breiten Familie, und die Umweltschutzbewegung
Gruppen zugutezukommen. Fast überall Bevölkerungsschichten wie der Arbeiter- veränderte die Ansichten über die Bezie-
werden Einwanderer von der Mehrheits- schaft oder den wirtschaftlich Ausgebeu- hung zur Natur. Bewegungen folgten, die
gesellschaft als Bedrohung ihrer kulturel- teten herzustellen, konzentrierten sie sich sich für die Rechte von Behinderten,
len Identität empfunden. auf immer kleinere Gruppen, die auf spe- ethnischen Minderheiten, homosexuellen
Gleichwohl kann allein der Zorn über zifische und individuelle Weise marginali- Männern und Frauen und schließlich
Zuwanderung keine Antwort auf die Frage siert werden. Das Prinzip der universalen Transgendern einsetzten.
liefern, aus welchem Grund die nationa- Anerkennung ist zu einer speziellen An- Jede marginalisierte Gruppe stand vor
listische Rechte in den vergangenen Jahren erkennung einzelner Gruppen mutiert. der Wahl, einen breiteren oder einen
sowohl in den Vereinigten Staaten als auch Und im Laufe der Zeit ist dieses Phäno- engeren Identitätsbegriff für sich zu be-
in Europa Wähler für sich gewonnen hat, men von der Linken auf die Rechte über- anspruchen. Sie konnte fordern, dass ihre
die früher Parteien der Linken unterstütz- gewechselt. Mitglieder genauso behandelt werden soll-
ten. Der Rechtsruck der Gesellschaft hat ten wie die Mitglieder dominanter gesell-
auch mit dem Versäumnis heutiger Links- Der Triumph der Identität schaftlicher Gruppen. Oder sie konnte auf
parteien zu tun, Wähler zu erreichen, de- In den Sechzigerjahren entstand in den einer besonderen Identität bestehen, die
ren relativer Status infolge der Globalisie- entwickelten liberalen Demokratien eine sich von jener der Mehrheitsgesellschaft
rung und des technischen Wandels gesun- Reihe machtvoller neuer Gesellschaftsbe- unterscheidet, und dafür Respekt verlan-
ken ist. In der Vergangenheit konnten sich wegungen. Die Bürgerrechtsbewegung in gen. Mit der Zeit setzte sich fast überall
Linke auf die geteilte Erfahrung der Aus- den USA verlangte, dass das Versprechen die zweite Strategie durch. Die frühe Bür-
beutung und auf den Unmut über reiche auf Gleichheit erfüllt wird, so wie es in der gerrechtsbewegung unter Martin Luther
Kapitalisten berufen. In den Vereinigten Unabhängigkeitserklärung und in der Ver- King bestand lediglich darauf, dass die
Staaten stimmten Arbeiterwähler vom amerikanische Gesellschaft Schwarze ge-
New Deal in den Dreißigerjahren bis hin * Auf einer Kundgebung gegen die Tötung eines Afro- nauso behandeln müsse wie Weiße. Gegen
zu Ronald Reagans Amtsantritt überwie- amerikaners durch die Polizei. Ende der Sechzigerjahre traten jedoch

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LUCIEN LUNG / RIVA PRESS / LAIF


Pride Parade im Juni in Paris: Wie wichtig gelebte Erfahrung für Kämpfe sein kann

Gruppen wie die Black Panthers und die benserfahrungen von Frauen seien grund- aldemokratische Linke ein anderes Pro-
Nation of Islam auf, die die Meinung ver- sätzlich anders als die von Männern. gramm: Sie akzeptierte die liberale Demo-
traten, dass schwarze Bürger eigene Tra- Auch andere marginalisierte Gruppen kratie, wollte jedoch den Wohlfahrtsstaat
ditionen und ein eigenes Selbstverständnis haben begriffen, wie wichtig die gelebte ausdehnen, um mehr Menschen sozialen
besäßen. Das authentische innere Selbst Erfahrung für ihre Kämpfe sein kann. Sie Schutz zukommen zu lassen. Marxisten
schwarzer Amerikaner sei nicht mit dem fordern nicht nur die Gleichbehandlung wie Sozialdemokraten hofften, die sozio-
weißer Bürger zu vergleichen, da es durch durch Gesetze und Institutionen, sondern ökonomische Gleichheit durch staatlichen
die Erfahrung, als schwarzer Mensch in auch, dass die Mehrheitsgesellschaft die Einsatz zu fördern, indem sie einerseits
einer feindseligen weißen Gesellschaft auf- Unterschiede anerkennen und sogar feiern allen Bürgern den Zugang zu Sozialleis-
zuwachsen, geformt werde. Diese Erfah- solle, die es zwischen Mehrheit und Min- tungen ermöglichten und andererseits
rung könne nicht von Menschen anderer derheit gebe. Der Begriff »Multikultura- Wohlstand und Einkommen umverteilten.
Herkunft nachempfunden werden. lismus«, der sich ursprünglich bloß auf Die Grenzen dieser Strategie lagen auf
Diese Entwicklung zeigt sich auch bei eine Eigenschaft vielfältiger Gesellschaften der Hand, als sich das Jahrhundert seinem
der heutigen Black-Lives-Matter-Bewe- bezog, ist zum Etikett für ein politisches Ende zuneigte. Kommunistische Gesell-
gung, die zunächst nur Gerechtigkeit für Programm geworden, das jede separate schaften wie die der Sowjetunion und Chi-
individuelle Opfer von Polizeigewalt for- Kultur und jede gelebte Erfahrung glei- nas entpuppten sich als groteske Diktatu-
derte. Doch Autoren wie Ta-Nehisi Coates chermaßen schätzt und zuweilen beson- ren. Gleichzeitig war die Arbeiterschaft in
zogen eine Verbindung zwischen aktueller dere Aufmerksamkeit auf diejenigen lenkt, den meisten industrialisierten Demokra-
Polizeigewalt und der langen historischen die in der Vergangenheit unsichtbar gewe- tien reicher geworden und mit der Mittel-
Erinnerung an Sklaverei und Lynchjustiz. sen oder unterbewertet worden waren. schicht verschmolzen. Die kommunisti-
Nach Meinung von Coates und anderen Tatsächlich hat die Linke sich dem Mul- sche Revolution verschwand also von der
macht diese Erinnerung einen Teil der tikulturalismus genau in dem Moment zu- Tagesordnung. Auch die sozialdemokra-
unüberwindlichen Verständnislücke zwi- gewandt, als es schwieriger wurde, einen tische Linke geriet in eine Sackgasse: Ihr
schen Schwarzen und Weißen aus. groß angelegten sozioökonomischen Wan- Plan, den Wohlfahrtsstaat stetig auszubau-
Ähnliches vollzog sich innerhalb der del herbeizuführen. In den Achtzigerjah- en, prallte in den Siebzigerjahren auf die
Frauenbewegung. Die Mehrheit konzen- ren sahen sich progressive Gruppen über- Realität fiskalischer Zwänge. Nach Chinas
trierte sich auf die Gleichstellung von Frau- all in der entwickelten Welt einer Existenz- marktwirtschaftlicher Öffnung 1978 und
en am Arbeitsplatz, im Erziehungswesen, krise gegenüber. Die dogmatische Linke dem Zusammenbruch der Sowjetunion im
vor Gericht und anderswo. Aber von Be- war in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Jahr 1991 ging die marxistische Linke weit-
ginn an gab es einen wichtigen Teil der Be- durch die Ideale des revolutionären Mar- gehend unter, womit es den Sozialdemo-
wegung, deren Vertreterinnen argumen- xismus und des radikalen Egalitarismus kraten überlassen blieb, Frieden mit dem
tierten, das Selbstverständnis und die Le- definiert worden. Dagegen hatte die sozi- Kapitalismus zu schließen.

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Kultur

Diese Krise der Linken fiel mit ihrer Hin- kommen und Chancen von Frauen und immer stärker auf den Schutz immer enger
wendung zu Identitätspolitik und Multi- Minderheiten außerhalb des Elfenbein- gefasster Gruppenidentitäten konzentrie-
kulturalismus zusammen. Die Linke wur- turms zu verbessern. Zudem sind viele der ren. Die Lösung liegt nicht darin, die Idee
de weiterhin durch ihre Forderung nach Zielgruppen der identitätspolitischen Kam- der Identität aufzugeben, da sie in unserer
Gleichheit, also durch Isothymia, gekenn- pagnen der letzten Zeit, etwa weibliche Zeit einen großen Teil des Bildes ausmacht,
zeichnet, doch ihr Programm legte den Führungskräfte im Silicon Valley und weib- das die Menschen von sich selbst und ihrer
Nachdruck nicht mehr wie früher auf die liche Hollywoodstars, nicht allzu weit vom Gesellschaft haben. Vielmehr gilt es,
Arbeiterschaft, sondern auf die Wünsche Einkommensgipfel entfernt. Es ist löblich, größere und einheitlichere nationale Iden-
eines stetig größer werdenden Kreises aus- ihnen zu mehr Parität zu verhelfen, doch titäten zu definieren, welche die Mannig-
gegrenzter Gruppen. Viele Aktivisten hiel- dadurch wird das krasse Missverhältnis faltigkeit liberaler demokratischer Gesell-
ten die alte Arbeiterklasse und ihre Ge- zwischen dem oberen einen Prozent der schaften berücksichtigen.
werkschaften bald für eine privilegierte Großverdiener und allen anderen nicht Gesellschaften können sich nicht von
Schicht mit wenig Sympathie für das Elend behoben. Identität und Identitätspolitik lösen. Iden-
von Einwanderern oder ethnischen Min- Die heutige linke Identitätspolitik lenkt tität ist nach dem Philosophen Charles
derheiten. Sie machten sich daran, die eher von den schwerwiegenden Proble- Taylor eine »mächtige moralische Idee«,
Rechte einer wachsenden Anzahl von men größerer Gruppen ab. Bis vor Kur- die auf dem universellen menschlichen
Gruppen auszuweiten, statt die Lebensbe- zem hatten linke Aktivisten wenig über Merkmal des Thymos gründet. Diese Idee
dingungen von Individuen zu verbessern. die Opioid-Krise oder über das Schicksal ermöglicht es Menschen, sich selbst zu er-
Die Folge war, dass die alte Arbeiterklasse von Kindern zu sagen, die in den länd- kennen und, wenn sie das Gefühl haben,
abgekoppelt wurde. lichen Gebieten der USA in verarmten nicht genügend Anerkennung zu bekom-
Single-Haushalten heranwachsen. Die men, sich dagegen zu wehren. Es ist weder
Von links nach rechts Demokraten haben keine Strategie für die möglich noch wünschenswert, dass solche
Bewältigung der enormen Arbeitsplatz- Forderungen nach Würde verschwinden.
Die Übernahme der Identitätspolitik verluste, die die Automatisierung begleiten Die liberale Demokratie stützt sich auf
durch die Linke war sowohl verständlich werden, oder für die wachsenden Einkom- das Recht der Individuen, bei der Bestim-
als auch notwendig, denn die gelebten Er- mensunterschiede in der Gesellschaft. mung ihres politischen Gemeinschafts-
fahrungen von Identitätsgruppen unter- Das vielleicht größte Problem der lin- lebens über ein gleiches Maß an Entschei-
scheiden sich und müssen oftmals auf spe- ken Identitätspolitik besteht allerdings dungsfreiheit und Handlungsfähigkeit zu
zifische Weise behandelt werden. Außen- darin, dass sie eine entsprechende Politik verfügen.
stehende ahnen häufig nichts von dem der Rechten ausgelöst hat. Denn in Donald Es liegt in der Natur der modernen Iden-
Schaden, den sie durch ihre Aktionen an- Trumps Aufstieg spiegelt sich keine kon- tität, wandelbar zu sein. Manche Men-
richten, was vielen Männer klar wurde, servative Ablehnung der Identitätspolitik: schen mögen sich einreden, dass ihre Iden-
nachdem die #MeToo-Bewegung Fälle sondern vielmehr ihre Akzeptanz durch tität biologischer Art sei und sich außer-
von sexueller Belästigung und Nötigung die Rechte. Seine Wähler unter der weißen halb ihrer Kontrolle befinde. Aber Bürger
öffentlich gemacht hatte. Arbeiterschaft sind der Ansicht, dass sie heutiger Gesellschaften verfügen über ver-
Die Identitätspolitik hat wichtige Ver- von den Eliten missachtet werden. Land- schiedene Identitäten, die durch soziale
änderungen der kulturellen Normen be- bewohner, die das Rückgrat der populis- Interaktion geformt werden und durch Ab-
wirkt, indem sie persönliche Erfahrungen tischen Bewegungen nicht nur in den Ver- stammung, Geschlecht, Arbeitsplatz, Aus-
von Ungerechtigkeit in den Mittelpunkt einigten Staaten, sondern auch in etlichen bildung, Vorlieben und Staatsbürgerschaft
rückte, und konkrete politische Maßnah- europäischen Ländern bilden, vermuten definiert sind. Auch wenn die Logik der
men ausgelöst, die zahlreichen Menschen häufig, dass ihre traditionellen Werte Identitätspolitik darin besteht, Gesellschaf-
geholfen haben. Die Black-Lives-Matter- durch die kosmopolitischen städtischen ten in selbstbezogene Grüppchen zu un-
Bewegung etwa hat dafür gesorgt, dass Oberschichten bedroht werden. Obwohl terteilen, ist es möglich, breitere und ein-
man bei Polizeibehörden überall in den sie einer dominierenden Volksgruppe an- heitlichere Identitäten zu erschaffen. Man
Vereinigten Staaten vorsichtiger geworden gehören, halten sich viele weiße Arbeiter muss die Erlebnisse von Individuen nicht
ist, was die Behandlung von Minderheiten für ungerecht behandelt und ausgegrenzt. bestreiten, um anzuerkennen, dass sie
angeht, auch wenn es weiterhin Fälle von Solche Gefühle ebneten den Weg für eine trotzdem Werte und Erwartungen mit
polizeilicher Gewalt gibt. Die #MeToo-Be- rechte Identitätspolitik, die im Extremfall einer großen Anzahl von Mitbürgern tei-
wegung hat das gesellschaftliche Bewusst- die Gestalt eines unverhohlen rassistischen len können. Keine Demokratie ist immun
sein für sexuelle Gewalt erhöht und eine weißen Nationalismus annimmt. gegen Identitätspolitik. Jede ist aber in der
wichtige Diskussion über die unzureichen- Lage, diese zu umfänglicheren Versionen
de Strafgesetzgebung eröffnet. Die be- Ein unentbehrliches Bekenntnis gegenseitigen Respekts zurückzulenken.
deutendste Folge ihres Wirkens dürfte der Ein solcher Politikwechsel muss mit
veränderte Umgang von Männern und Gesellschaften haben die Pflicht, Minder- dem Kampf gegen Schikane und Ausgren-
Frauen am Arbeitsplatz sein. heiten zu schützen, aber sie müssen auch zung beginnen, wie Polizeigewalt gegen
Eigentlich gibt es an der Identitätspoli- gemeinsame Ziele mithilfe von Abwägung Minderheiten oder sexuelle Belästigung.
tik als solcher also wenig zu bemängeln – und Konsens erreichen. Dieser Prozess Keine kritische Betrachtung der Identitäts-
sie ist eine natürliche und unvermeidliche wird bedroht, wenn sich Rechte und Linke politik sollte nahelegen, dass es sich hier
Reaktion auf Ungerechtigkeiten. Doch nicht um reale und dringende Probleme
gleichzeitig hat sie die Energie und die Auf- handelt, die konkrete Lösungen erfordern.
merksamkeit der Linken von ernsthaften Aber die Vereinigten Staaten und andere
Überlegungen darüber abgelenkt, wie die liberale Demokratien müssen darüber
soziale Ungleichheit bekämpft werden In Europa wird es schwer hinausgehen. Regierungen und Zivilgesell-
kann, die seit 30 Jahren immer größer werden, den Einfluss schaft sollten versuchen, die kleinen Grup-
wird. Es ist leichter, über kulturelle Fragen pen in ein größeres Ganzes einzubeziehen.
zu diskutieren oder feministische Literatur
der Identitätspolitik zu Demokratien haben die Aufgabe, »natio-
in Studienpläne einzubeziehen, als die Ein- bekämpfen. nale Bekenntnisidentitäten« – wie sie von

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Kultur

manchen Politologen genannt werden – Kenntnisse der Geschichte und der Regie- zeichnen, ebenso wie Schweden afrikani-
zu fördern. Diese beruhen nicht auf ge- rung des Landes aufweisen; dass sie nicht scher Herkunft, sich Schweden zu nennen,
meinsamen persönlichen Merkmalen, vorbestraft sind; und dass sie ihre Verbun- und so weiter. Dieser Prozess bahnt sich
Erlebnissen, historischen Gegebenheiten denheit mit den Prinzipien und Idealen an, wenn auch nur schleppend. Die Euro-
oder einer einheitlichen Religion, sondern der US-Verfassung durch Ablegung des päer haben eine bemerkenswerte Zivili-
auf Grundwerten und -überzeugungen. Treueeids auf die Vereinigten Staaten sation geschaffen, auf die sie stolz sein
Das Ziel muss es sein, die eigenen Bürger nachweisen. In europäischen Ländern soll- sollten und die Menschen aus anderen Kul-
zu ermutigen, sich in die Gründungsideale te es möglich sein, von Neubürgern eben- turen aufnehmen kann, während sie sich
ihrer Länder hineinzudenken und Neuan- falls entsprechende Schritte zu erwarten. ihrer eigenen Besonderheit bewusst bleibt.
kömmlinge mit politischer Hilfe bewusst Abgesehen davon, dass europäische
zu assimilieren. Länder die formellen Voraussetzungen für Zurück zu den Wurzeln
In Europa wird es relativ schwer sein, den Erwerb der Staatsbürgerschaft ändern
den schädlichen Einfluss der Identitäts- sollten, müssen sie von der Auffassung na- Sobald ein Land eine geeignete nationale
politik zu bekämpfen. In den letzten Jahr- tionaler Identität auf der Grundlage eth- Bekenntnisidentität gefunden hat, die
zehnten hat die europäische Linke eine nischer Zugehörigkeit abrücken. Vor rund offen ist für die Vielfalt heutiger Gesell-
Form des Multikulturalismus unterstützt, 20 Jahren schlug Bassam Tibi, ein deut- schaften, ändert sich das Wesen der Ein-
die kaum Wert darauf legt, Neuankömm- scher Professor syrischer Herkunft, vor, wanderungsdebatte von ganz allein. In
linge in nationale Bekenntniskulturen zu eine Leitkultur zur Basis für eine neue den USA und Europa ist die Auseinander-
integrieren. Unter dem Banner des Anti- deutsche nationale Identität zu machen. setzung zurzeit polarisiert. Die Rechte
rassismus haben die europäischen Links- Er definierte Leitkultur als Glauben an strebt danach, jegliche Einwanderung zu
parteien die Anzeichen dafür herunter- Gleichheit und demokratische Werte, die unterbinden, und möchte sämtliche Mig-
gespielt, dass Multikulturalismus der Inte- fest in den liberalen Ideen der Aufklärung ranten in ihre Heimatländer zurückschi-
gration im Weg stehen könnte. Die neue verwurzelt seien. Tibis Vorschläge wurden cken. Die Linke hingegen meint, liberale
populistische Rechte in Europa schaut wie- allerdings scharf von links kritisiert, weil Demokratien seien verpflichtet, jeden auf-
derum nostalgisch auf verblassende Natio- er diese Werte als überlegen gegenüber an- zunehmen. Beide Standpunkte sind un-
nalkulturen zurück, die auf Ethnizität oder deren kulturellen Konzepten darstellen haltbar. Die Debatte sollte sich vielmehr
Religion basierten und überwiegend in Ge- würde. Dadurch kam die deutsche Linke um die besten Strategien drehen, mit de-
sellschaften gediehen, in denen Einwande- unabsichtlich Islamisten und Rechtsextre- nen Einwanderer in die nationale Bekennt-
rung nicht existierte. misten entgegen, die wenig von den Idea- nisidentität eines Landes einbezogen wer-
Der Kampf gegen die Identitätspolitik len der Aufklärung halten. Doch Deutsch- den können. Sind sie gut integriert, brin-
in Europa muss mit Änderungen beim land und andere bedeutende europäische gen sie eine gesunde Vielfalt in ihre neue
Staatsbürgerrecht beginnen. Solch ein Pro- Länder benötigen dringend so etwas wie Gesellschaft ein. Schlecht angepasste Ein-
gramm übersteigt die Fähigkeiten der Eu- Tibis Leitkultur: einen Normenwandel, wanderer dagegen sind eine Belastung für
ropäischen Union, deren 28 Mitgliedstaa- der Deutschen türkischer Abstammung er- den Staat und in manchen Fällen eine Ge-
ten ihre nationalen Vorrechte eifersüchtig lauben würde, sich als Deutsche zu be- fahr für die Sicherheit.
verteidigen und nur darauf war- Die europäischen Regierun-
ten, bedeutsame Reformen oder gen legen Lippenbekenntnisse
Modifizierungen niederzustim- ab, wenn sie behaupten, dass sie
men. Jegliche Aktion wird sich für eine bessere Integration sor-
deshalb wohl oder übel auf der gen wollen, ohne weitere Schrit-
nationalstaatlichen Ebene ab- te zu unternehmen. In etlichen
spielen müssen. Um die Privile- Ländern hat man sogar Maßnah-
gien abzuschaffen, die bestimm- men eingeführt, welche sie aktiv
te ethnische Gruppen gegenüber behindern. Das niederländische
anderen genießen, sollten die System der »Versäulung« zum
EU-Mitglieder, die ihre Staats- Beispiel hat zur Folge, dass Kin-
bürgerschaftsgesetze am Ius san- der getrennte protestantische,
guinis ausrichten – dem »Recht katholische, muslimische und
des Blutes«, das die Staatsange- weltliche Schulen besuchen. Wer
hörigkeit gemäß der Herkunft in einer staatlichen Lernanstalt
der Eltern gewährt –, auf diese ohne jeglichen Kontakt mit Men-
Maxime verzichten und neue schen außerhalb des eigenen
Gesetze im Einklang mit dem Ius Glaubens erzogen wird, dürfte
soli verabschieden, dem »Recht Mühe haben, sich zu assimi-
des Bodens«, das die Staatsange- lieren.
hörigkeit jedem zugesteht, der In Frankreich herrscht eine
auf dem Territorium des Landes etwas andere Situation. Das
STEPHANE GRANGIER / GETTY IMAGES

zur Welt kommt. dortige Modell republikanischer


Darüber hinaus sollten euro- Staatsangehörigkeit ist, wie sein
päische Staaten strenge Einbür- amerikanisches Pendant, be-
gerungsvorschriften erlassen. In kenntnishaft und gründet sich
den USA erwartet man von auf die revolutionären Ideale von
Bewerbern neben einem fünf- Freiheit, Gleichheit und Brüder-
jährigen dauerhaftem Aufent- lichkeit. Durch das 1905 verab-
halt, dass sie fähig sind, einfa- schiedete Gesetz der laïcité (Sä-
ches Englisch zu lesen, zu schrei- Politologe Fukuyama kularismus) werden Kirche und
ben und zu sprechen; dass sie Deutschland benötigt eine Leitkultur Staat voneinander getrennt, was

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РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

„Ein Meisterwerk.
öffentlich finanzierte Konfessionsschulen
wie die in den Niederlanden unmöglich
teren Jahrzehnten des Jahrhunderts, jetzt
widmete sich eine spezifische Kategorie
Ein Film für
macht. Freilich hat Frankreich andere
schwerwiegende Probleme. Erstens wer-
den von der Identitätspolitik ausgelösten
Befürchtungen. Sogenannte Cyberpunk- die Ewigkeit.“
den Einwanderer, unabhängig vom Wort- Autoren wie William Gibson, Neal Ste-
laut der Gesetze, durch verbreitete Diskri- phenson und Bruce Sterling begannen - American Cinematographer
minierung benachteiligt. Zweitens krän- sich eine Zukunft auszumalen, die von
kelt die französische Wirtschaft seit Jahren, einer unkontrollierten, durch das Internet
die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch ermöglichten Fragmentierung beherrscht „Bradley Cooper
wie in Deutschland. Frankreich sollte sei- wird.
nen Einwanderern die Integration erleich- In Stephensons 1992 erschienenem Ro- und Lady Gaga
tern, indem es ihre Beschäftigungschancen man »Snow Crash« können Individuen in
erhöht, etwa durch die Liberalisierung des einem allgegenwärtigen virtuellen »Meta- werden Sie
Arbeitsmarkts. Drittens wird die Vorstel- versum« Avatare auswählen und ihre Iden-
lung einer französischen nationalen Iden- tität nach Belieben ändern. Die Vereinig- begeistern.“
tität und Kultur von vielen Linken als ten Staaten sind zersplittert, in Lebensge- - Variety
islamfeindlich angegriffen. Das ist bedau- meinschaften, die auf begrenzte Identitä-
erlich, es gestattet den Rechtsextremisten ten zugeschnitten sind, beispielsweise Neu-
des Front National, sich als wahre Vertei- Südafrika (für die Rassisten) und Mr Lees
diger des republikanischen Ideals aufzu- Groß-Hongkong (für chinesische Einwan-
spielen. derer). Man benötigt Pässe und Visa, um
Liberale Demokratien profitieren – in von einer Zone in die andere zu reisen.
wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht – Die Zuständigkeit der Regierung erstreckt
erheblich von Einwanderern. Aber sie ha- sich nur noch auf Grundstücke, auf denen
ben unzweifelhaft das Recht, ihre eigenen Bundesgebäude stehen.
Grenzen zu kontrollieren. Die EU muss in Unsere heutige Welt bewegt sich gleich-
die Lage versetzt werden, ihre Außengren- zeitig auf die gegensätzlichen Dystopien
zen besser zu schützen, was bedeutet, dass der Hyperzentralisierung und der endlo-
Länder wie Griechenland und Italien mehr sen Fragmentierung zu. China baut eine
finanzielle Mittel und juristische Kompe- gewaltige Diktatur auf, in der die Regie-
tenzen zur Regulierung des Einwanderer- rung persönliche Daten sämtlicher Bürger
stroms erhalten müssen. Die Freizügigkeit sammelt. In anderen Teilen der Welt lassen
innerhalb der EU wird sich politisch nicht sich der Zusammenbruch zentralisierter
aufrechterhalten lassen, falls man das Pro- Institutionen, scheiternde Staaten, zuneh-
blem der europäischen Außengrenzen mende Polarisierung und ein Mangel an
nicht lösen kann. Konsens über gesellschaftliche Ziele beob-
Eine politische Strategie, die sich auf achten. Soziale Medien und das Internet
die Integration von Ausländern konzen- ermöglichen die Entstehung eigenständi-
triert, könnte einerseits den politischen ger Gemeinschaften, die nicht durch phy-
Stillstand überwinden und andererseits sische Barrieren, sondern durch geteilte
den Populisten den Wind aus den Segeln Identitäten abgeschottet sind.
nehmen. Die Gruppen, die lautstark gegen Dystopische Literatur wird zum Glück
Einwanderung protestieren, sind Koalitio- fast nie wahr. Die Darstellung aktueller,
nen aus Menschen mit unterschiedlichen zunehmend extremer Trends taugt als
Anliegen. Überzeugte Nativisten werden nützliche Warnung: »1984« wurde zum
von Rassismus und Borniertheit motiviert, mächtigen Symbol einer totalitären Zu-
kaum etwas könnte ihre Meinung ändern. kunft, welche die Menschen vermeiden
Andere machen sich indes berechtigter- wollten, und das Buch trug so dazu bei,
weise Sorgen über das Tempo des sozialen Gesellschaften gegen Autoritarismus zu
Wandels infolge der Massenimmigration immunisieren. Gleichermaßen können
und über die Fähigkeit bestehender Insti- sich Bürger ihre Länder heute als bessere
tutionen, die Änderungen zu verarbeiten. Lebensbereiche ausmalen, in denen man
Eine Assimilationsstrategie könnte ihre größere Vielfalt fördert und zudem akzep-
Sorgen lindern und ihnen helfen, sich von tiert, dass Diversität gemeinsamen Zielen
den Fanatikern zu distanzieren. dienen und die liberale Demokratie stär-
ken kann, statt sie zu untergraben.
Eine einheitliche Zukunft Menschen werden nie aufhören, über
sich selbst und ihre Gesellschaften in
Ängste um die Zukunft lassen sich häufig Begriffen der Identität zu denken. Aber
am besten durch die Literatur ausdrücken. ihre Identitäten sind weder festgelegt noch
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden sie zwangsläufig durch Geburt
richteten sich viele dieser Zukunftsängste vermittelt. Identität kann zur Spaltung,
auf große, zentralisierte, bürokratische aber auch zur Einigung benutzt werden.
Tyranneien, die Individualität und Privat- Letztendlich wird diese Erkenntnis das
sphäre erstickten: Man denke an George Heilmittel für die populistische Politik
Orwells »1984«. Aber das Wesen fiktio- der Gegenwart sein.
naler Dystopien änderte sich in den spä-

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MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL


Künstler Levit am Klavier: »Hinter welchem Mond lebt ihr eigentlich?«

A Mensch
Klassik Igor Levit gilt als das Talent unter den jüngeren
Pianisten. Er spielt Bach und zeitgenössische
Komponisten – und hat eine politische Mission. Von Jurek Skrobala

I
gor Levit tritt ins Rampenlicht, setzt am Klavier laut, sondern auch mit seiner Nach dem Knall in London, der als
sich ans Klavier und knallt den De- Stimme. Für sein Klavierspiel und sein »Bang!« in den Noten auf dem iPad vor
ckel zu. Sein Publikum in der Lon- politisches Engagement erhielt er Anfang ihm steht, spielt Levit erste Töne, sein Rü-
doner Wigmore Hall zuckt, jemand des Jahres den renommierten Gilmore cken gebeugt, als pirschte er sich ran. Dann
raunt »Jesus«, doch es klingt mehr wie Artist Award, der alle vier Jahre an einen grollt das Klavier wie ein Raubtier, und
eine Frage: Sollte man als Pianist nicht Pianisten vergeben wird. Dass Levit Levit pfeift wie ein Vogel, der warnt. Mal
spielen statt zu knallen? Haltung zeigt, führt nicht bloß zu Applaus. zieht er die Mundwinkel nach oben, mal
Fragen danach, was man sollte und was Ein Journalist schrieb, Levit solle sich schiebt er die Augenbrauen nach unten,
nicht, mag Levit nicht, schon das Wort den Vogelfänger Papageno aus Mozarts mal beides, wie sein Lieblings-Emoji, .
»man« sei nicht seins, sagt er. Die »New »Zauberflöte« zum Vorbild nehmen, dem Er spielt an diesem Abend im April die
York Times« nannte den 31-Jährigen, ein Schloss vor den Mund gehängt wird, Weltpremiere eines Stücks des amerikani-
der in Berlin lebt, »einen der wichtigsten doch auch das klang mehr wie eine schen Komponisten Frederic Rzewski,
Künstler seiner Generation«, »den Pianis- Frage: Sollte man als Pianist nicht den eines Einzelgängers der Neuen Musik, der
ten des Widerstands«. Levit wird nicht nur Mund halten? im Publikum sitzt und an dem Tag 80 wird.

126 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Kultur

Levit nennt Rzewski einen der bedeu- Stück für ihn komponieren könnte. »Eine Gesellschaft, die sich nicht gegen
tendsten Komponisten unserer Zeit. Einen Rzewski antwortete: »Sollten Sie jeman- jede Idee stellt, dass es Menschen zweiter
Freund. Und schiebt nach: »Er ist ein bo- den finden, der für den Auftrag bezahlt, Klasse geben kann«, sagte er vor der Zu-
ckiger Bock.« Nach dem Konzert wird werde ich etwas für Sie schreiben.« Levit gabe, »lässt es zu, entmenschlicht zu wer-
Rzewski sagen, er habe die Weltpremiere fand jemanden, Rzewski schrieb, und Le- den.« Die Hände des Pianisten zitterten.
nicht schlecht gefunden, aber Levit müsse vit spielte ein Konzert mit den »Nano- Oder er sitzt neben Politikern und dis-
das Stück noch ein paarmal spielen, um es Sonaten«, für ihn von seinem ein halbes kutiert, mit Norbert Lammert in der Ber-
zu beherrschen, 10- bis 15-mal. »Rzewski Jahrhundert älteren E-Mail-Freund kom- liner Philharmonie, mit Robert Habeck
hat etwas mit meinem Spiel gemacht«, poniert, und es ging plötzlich weniger da- live auf Facebook. Redet er nicht mit Rech-
sagt Levit. »Und mit meinem Kopf.« rum, was man sollte, sondern darum, was ten? »Wir reden ja beinah nur noch mit
Levit krabbelte, so erzählt er es gern, möglich ist. den Rechten. Und nur noch von den Rech-
ans Klavier seiner Mutter, einer Pianistin, ten. Und nur noch wie die Rechten.« Mit
die ihn ab seinem dritten Lebensjahr Am Tag vor dem Knall in London hat Le- dem Grünenpolitiker Volker Beck veröf-
unterrichtete. Ein Jahr später gab er sein vit mit einem Zürcher Orchester in Paris fentlichte Levit, der auch Hassmails be-
erstes Solokonzert, zwei Jahre später mit gespielt, in der Nacht gab es wenig Schlaf kommt, an den »Unterstützer der Juden-
Orchester. In der Pubertät begann er, und viel CNN, er gähnt, zieht seinen Roll- kanzlerin Merkel« etwa, und der infolge
Klavier in Hannover zu studieren. Er kam koffer durch die Straßen Londons und des Skandals um die den Holocaust ver-
ins Finale beim namhaften Arthur-Rubin- bleibt stehen. »Oh Scheiße.« Er hat sein harmlosenden Rapper Kollegah und Farid
stein-Wettbewerb für junge Pianisten, als Bühnen-Outfit vergessen, die schwarzen Bang seinen Echo zurückgab, einen Text
jüngster Teilnehmer in der Geschichte. Schuhe sind mit dem Orchester weiterge- in der »Zeit«, in dem es heißt: »Antisemi-
Das Talent und die Ausdauer, die Wettbe- reist. Er blickt auf die braunen, höchstens tismus ist Alltag in Deutschland, oftmals
werbe und die Preise, die vielen Konzerte ein bisschen abgelaufenen Schuhe, die er unerkannt, meist unwidersprochen. Die
und überschwänglichen Kritiker trugen zu trägt, die einzigen, die er dabeihat, und antisemitischen Vorfälle sind das eine, der
seinem Ruhm bei. Noch vor seinem Exa- sagt: Umgang der Gesellschaft damit ist das
men an der Musikhochschule, höchste »Eieieieiei.« andere.«
Punktzahl in der Geschichte, erklärte ihn »Das beachtet kein Schwein.« Levit sagt: »Schweigen, sich mit einem
die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszei- »Was bin ich nur für ein Idiot?« Kunstberuf entschuldigen ist eine Verant-
tung« zu einem »der großen Pianisten die- »Es ist okay. Es ist völlig okay. Es ist wortungslosigkeit, die ich mir nicht leisten
ses Jahrhunderts«. Levit hat es durch ein egal.« kann.«
Nadelöhr geschafft, durch das fast nie- Es ist, als spukten in ihm Fragen danach Wieso nicht?
mand passt. Doch auch ihm wurde es mal herum, was man sollte und was nicht. Die Flüchtlingskrise, auf die 2016 die
zu eng. Dann greift er zum Handy. »Angriff ist Schließung der Balkanroute folgte, war für
Als Teenager bekam er das Gefühl, in die beste Verteidigung«, sagt er und twit- ihn ein »point of no return«, hat Levit mal
den Klavierstunden halb gare Wahrheiten tert ein Foto der braunen Schuhe: »To- gesagt. Ein Punkt, von dem aus er nicht
serviert zu bekommen, die nichts mit ihm night’s outfit for @wigmore_hall «. zurückkonnte.
zu tun haben. Die Beethoven-Sonaten hier, In seiner Twitter-Biografie schreibt Le- Am 23. Mai 2016 fuhr Levit mit einem
die Chopin-Etüden da, immer das Gleiche. vit, er sei »Bürger, Europäer, Pianist«, in Freund nach Idomeni, dem damaligen
Er wollte nicht hören, dass man dies oder dieser Reihenfolge. @igorpianist, mehr als Flüchtlingslager an der Grenze zwischen
jenes tun sollte. Er kam sich vor wie in einer 15 000 Follower, twittert mehrmals täglich, Griechenland und Mazedonien, sie woll-
Fantasiewelt. Er wollte mehr Realität. über sich und Kollegen, über Musik und ten es selbst sehen. Mehr Realität. Levit
Auf der Suche nach Inspiration hatten Kunst, zu seinem Repertoire gehören jü- sah dort eine junge Helferin, die sagte, sie
Levit und ein Kommilitone angefangen, dische Witze und Rants gegen die Deut- bliebe, bis ihr Bafög erschöpft sei. Er sah
sich durch die CD-Sammlung der Hoch- sche Bahn. Aber meistens geht es um Jungs, ihre Habe in Plastiktüten bei sich,
schule zu hören, Buchstabe für Buchstabe, Politik. sie folgten den Schienen nach Idomeni, am
beim R blieben sie hängen. Das Cover der Unter dem Hashtag #MeTwo twitterte Tag, als das Lager geräumt wurde. »Da,
CD zeigte eine Mauer, an die jemand in er, adressiert an jene, die sich noch darüber wo die herkamen, war nichts mehr, und
Rot »The People United Will Never Be De- wunderten, dass es Rassismus gebe: »Hin- da, wo die hingingen, auch nicht.« Er sah
feated!« gesprüht hatte: »Das vereinte ter welchem Mond lebt ihr eigentlich?« Er Zelte, an eines hatte jemand in Rot »Your
Volk wird nie besiegt werden!« Es sind Va- rief dazu auf, für zivile Seenotrettung zu silence killing us« gesprüht, »dein Schwei-
riationen, von Rzewski in den Siebziger- spenden: »Es geht um Menschenleben, es gen tötet uns«.
jahren auf Grundlage des chilenischen geht ums Menschsein.« Oder er kritisierte »Idomeni hat einen Stempel in meinem
Kampflieds »El pueblo unido« kom- Twitter selbst, das immer mehr »zu einer Gehirn hinterlassen«, sagt Levit. Danach
poniert, einer Hymne der Linken. Sie klin- Grube voller Hass, Unmoral, Entmensch- habe er begonnen, lauter zu sein. Er habe
gen, als löste sich das Ursprungsstück, mal lichung« werde. Es ist eine andere Art von begonnen, mehr zu twittern. Er habe be-
mehr, mal weniger verstörend auf, als Bühne. Eine, auf der die leisen Töne un- gonnen, Schriftsteller wie James Baldwin
zerfiele das vereinte Volk. Levit hörte tergehen. zu lesen, den afroamerikanischen Intellek-
»People United« und war platt. Levit wird auch auf klassischen Bühnen tuellen, der gegen Ausgrenzung anschrieb,
Mehr als zehn Jahre später nimmt er politisch. Zuletzt im September, bei einem für Levit ein »Menschenoffenleger«.
»People« auf, Rzewski neben Bachs Gold- Konzert mit dem Orchester des WDR. In einem Essay schrieb Baldwin über
berg-Variationen und Beethovens Diabel- die Einsamkeit und die Rolle des Künstlers:
li-Variationen. Er spielt »People«, das als »Die genaue Aufgabe des Künstlers besteht
nahezu unspielbar galt, live, immer wieder. darin, die Dunkelheit zu erhellen, damit
Als er die CD entdeckte, besorgte Levit
»Schweigen ist eine wir den Zweck nicht aus den Augen ver-
sich die Noten von »People« und dachte: Verantwortungslosigkeit, lieren, die Welt zu einem menschlicheren
Rutsch mir den Buckel runter. Statt die ich mir Ort zu machen.«
»People« zu lernen, schrieb er Rzewski Baldwins gesammelte Essays stehen in
damals eine E-Mail und fragte, ob der ein nicht leisten kann.« einem Regal in Levits Wohnung, in der

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Kultur

mann, die Feier, der Glanz, die Zerbrech-


lichkeit und die Ruhe bei Liszt. Im Kern
von »Life« steht »A Mensch«.
Mahlers Tod habe alles verändert, sagt
Levit.
Was genau?
Er habe weniger Angst, sagt er dann. Er
sei klarer geworden, härter. Er mache
mehr und grüble weniger. Er mache ein-
fach. Und eines habe sich festgesetzt.
»Musik half einen Scheiß. Menschen
haben geholfen.«
Am 9. November 2016, einen Tag
nachdem Donald Trump zum Präsidenten
gewählt worden war, sollte Levit Beet-
hoven-Sonaten im Brüsseler Palais des
Beaux-Arts spielen. Igor Levit trat ins
Rampenlicht, setzte sich nicht ans Klavier
und sagte: »Die Zeit, in meiner Komfort-
zone zu bleiben, ist vorbei. Wir müssen
uns zu Wort melden und tun, was wir
können, um unsere Gesellschaft mensch-
lich zu halten.« Es war damals, nach Ido-
meni und Mahlers Tod, seine erste große
Rede dieser Art, nach wenigen Sätzen

MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL


unterbrochen, ein Mann rief, er wolle
Musik hören, zum Schluss Applaus. In der
Rede sprach er von sich als Europäer, der
zufällig Musiker sei.
Nach Deutschland kam Levit mit acht
Jahren. Seine Familie verließ Russland für
ein Leben mit mehr Chancen. Nach einem
der ersten Schultage in Hannover kam er
Musiker Levit: Es ist die linke Hand, was nichts mit Politik zu tun hat heim und sagte auf Russisch: »Mama, ich
werde besser Deutsch sprechen als die
anderen.«
Ein Wort, um das Levits Deutsch mehr
Nähe des Holocaust-Überlebenden Primo Levit vor einem Konzert, Mahler saß im als 20 Jahre später kreist, ist »Mensch«.
Levi, des Ökonomen Thomas Piketty und Publikum, die Ränge noch leer, Levit noch Heimat sei kein Ort, das seien Menschen.
fast allen Büchern von Maxim Biller, »grün im Gesicht«, wie Mahler sagte, von Er sagt, er sei »menschbezogen«, »men-
einem Freund von Levit. Thilo Sarrazin den vielen Gläsern Wermut. Levit spielte schenfixiert«, »menschensüchtig«. Er wie-
steht hier nicht. »Keine Zeit für so was.« »People«, das für die Freunde zu einem derholt und variiert es, wie ein Leitmotiv.
Drei Monate nach dem Knall in London Soundtrack ihrer Freundschaft werden soll- Auf Twitter schrieb er mal über die AfD,
sitzt Levit auf seinem Balkon in Berlin, te, zur wichtigsten Musik. Und da war noch einer Partei aus »Menschen, die ihr
schräg gegenüber eines Asylbewerber- ein Rzewski, der die Freunde bewegte. Menschsein verwirkt haben«. Das brachte
heims, und erzählt, was ihn neben Idome- Mahler und Levit saßen im Publikum, ihm ein paar Twitter-Herzen ein, aber
ni dazu gebracht hat, lauter zu sein. Eine Rzewski spielte seine eigene Komposition auch Antworten wie: »Du hältst dich ganz
Treppe führt vom Balkon ins Wohnzim- in Hannover. Das Stück, schwer und frei, offensichtlich für etwas Besseres.« Levit
mer, links steht sein Flügel, den er »Monk« zerworfen und anmutig, hieß »A Mensch«. sagt: »Ich bereue kein Wort.«
nennt, nach dem Jazzpianisten Thelonious Rzewski widmete es einem toten Freund. Spricht Levit vom Menschsein, spricht
Monk. Auf Monk steht ein Foto, das Levit Er erklärte, das Wort »Mensch« komme er auch, manchmal ex negativo, davon,
und Rzewski zeigt, Levit beugt sich vor aus dem Jiddischen und bezeichne in Ame- ein guter Mensch zu sein. A Mensch. Das
und guckt wie das Emoji, Rzewski fuchtelt. rika einen guten Menschen. mag auf manche pathetisch wirken, es
An der Wand hängt ein Bild. »Das hat klingt aber vor allem wie ein Kontra-
Hannes gemalt«, sagt Levit. Levits neues Album, »Life«, soeben er- punkt zu einer kühlen bis rauen,
Am 18. Juli 2016 starb Hannes Malte schienen, ist Mahler gewidmet. Es ist ein entmenschlichten Rhetorik, die in den
Mahler, 48, bei einem Fahrradunfall. Als Konzeptalbum, das mit Trauer beginnt, vergangenen Jahren immer mehr ins Zen-
Levit am Handy von Mahlers Tod erfuhr, der »Fantasia nach J. S. Bach« des Kom- trum der Aufmerksamkeit, in die Mitte
brach er in seiner Wohnung zusammen, ponisten Ferruccio Busoni, der Anfang des des politischen Diskurses gerückt ist:
lag auf dem Boden, auf dem Mahler und 20. Jahrhunderts den »Entwurf einer neu- Geflüchtete als »Asyltouristen«, deren
er vor Kurzem noch gestanden hatten. en Ästhetik der Tonkunst« verfasste, in Helfer als »Asylindustrie«, Migration als
Mahler, ein Hannoveraner Künstler und dem er schrieb: »Wer gegebenen Gesetzen »Flüchtlingsstrom« oder »Flüchtlings-
früherer Schüler der Performancekünst- folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.« tsunami«, die NS-Zeit, »ein Vogelschiss
lerin Marina Abramović, war Levits engs- »Life« endet im Frieden, mit dem »Peace in der Geschichte«.
ter Freund. Piece« des Jazzmusikers Bill Evans, und Dass Levit als Musiker überhaupt die
Nach einer durchzechten Nacht in Berlin, dazwischen liegt, was zum Leben gehört, Stimme erhebt, auf den Bühnen, in den
der Feier in seinen 25. Geburtstag, probte die Düsternis und die Hoffnung bei Schu- sozialen und sonstigen Medien, ist an sich

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nicht ungewöhnlich. Der größte Popstar


unserer Zeit, die Sängerin Beyoncé, nutzt
TV-Auftritte vor Millionen für feministi- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
sche und antirassistische Botschaften, sie nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
schweigt in Interviews und auf Instagram
nicht zu Politik. Levit irritiert auch, weil Belletristik Sachbuch
er sich Ideen davon widersetzt, was eine
Musik sollte und was nicht: dass Klassik 1 (2) Charlotte Link 1 (1) Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch
eine Aura des Andächtigen umwehe, an- Die Suche Blanvalet; 24 Euro Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro
ders als Popmusik, in der ein Geist des
Aufbegehrens herrsche. Nur sind die Gren- 2 (1) Carmen Korn 2 (4) Thilo Sarrazin
Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Feindliche Übernahme FBV; 24,99 Euro
zen längst verschwommen – spätestens
heute, wo sich fast jeder an fast allem be- 3 (3) Jonas Jonasson Der Hundertjährige, 3 (2) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für
dienen kann, wo jemand wie Levit auch der zurückkam, um die Welt zu retten das 21. Jahrhundert C. H. Beck; 24,95 Euro
Kanye Wests »My Beautiful Dark Twisted C. Bertelsmann; 20 Euro 4 (3) Kollegah
Fantasy« als Meisterwerk ansieht; Lang Das ist Alpha! Riva; 22 Euro
Lang spielt in Stadien, Lady Gaga singt in 4 (4) Juli Zeh
der Royal Albert Hall, und Aufbegehren, Neujahr Luchterhand; 20 Euro 5 (–) Udo Lindenberg / Thomas Hüetlin
das war und ist auch klassisch, mit Musi- Udo
5 (5) Rita Falk Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
kern wie Kurt Masur, Daniel Barenboim Eberhofer, Zefix! dtv; 8 Euro
oder der Venezolanerin Gabriela Montero,
die sich gegen Missstände in ihrer Heimat 6 (–) Iny Lorentz Die Wanderhure Die Biografie des deutschen
und die Nonne Knaur; 19,99 Euro Altrockers, entstanden aus
einsetzt. einem Porträt für den SPIEGEL.
Doch nur, weil Levit Musiker und poli- 7 (10) Jussi Adler-Olsen
Eine große Geschichte
tisch ist, heißt das nicht, dass für ihn alles voller Triumphe und Abstürze
Miese kleine Morde dtv; 10 Euro
Musikalische politisch oder alles Politische 6 (5) Dirk Müller
musikalisch wäre. 8 (–) Elizabeth George Machtbeben Heyne; 22 Euro
Ein Juliabend in München. Im Foyer Wer Strafe verdient Goldmann; 26 Euro
7 (6) Bas Kast Der Ernährungskompass
einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sitzt 9 (6) Martin Suter C. Bertelsmann; 20 Euro
Levit erneut neben Lammert, eine Podi- Allmen und die Erotik Diogenes; 20 Euro
umsdiskussion über »Freiheit, die ich mei- 8 (–) Rainer M. Schießler
ne«. Auf den Stühlen vor ihnen sitzen 10 (7) Maxim Leo / Jochen Gutsch Jessas, Maria und Josef Kösel; 20 Euro

Männer im Anzug und Frauen im Abend- Es ist nur eine Phase, Hase 9 (–) Elli H. Radinger
Ullstein; 12 Euro
kleid. Levit sagt, Rassismus sei keine Mei- Die Weisheit alter Hunde Ludwig; 22 Euro
nung, Lammert sagt, es sei eine Einstel- 11 (12) Annette Hess 10 (9) Christopher Schacht
lung, die Gesellschaft müsse sich darüber Deutsches Haus Ullstein; 20 Euro Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro
klar werden, wie sie damit umgehe.
Das Publikum darf nun Fragen stellen. 12 (9) Frank Schätzing 11 (–) Rainer Mausfeld
Ein Mann im Anzug fragt Levit etwas, Die Tyrannei des Schmetterlings Warum schweigen die Lämmer?
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro Westend; 24 Euro
doch es klingt mehr wie ein Rätsel: Könne
er den Arabischen Frühling im Kontext 13 (8) Robert Seethaler 12 (14) Richard David Precht
des Heidelberger Frühlings einordnen? Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro
Zwei Frühlinge, der eine ein Oberbegriff
14 (17) Andreas Eschbach NSA – Nationales 13 (–) Mrs. Bella
für Proteste im arabischen Raum, der an- Contour & Confidence
Sicherheits-Amt Lübbe; 22,90 Euro Fischer; 16 Euro
dere ein Festival der klassischen Musik
im Rhein-Neckar-Gebiet, bei dem Levit 15 (16) Timur Vermes Die Hungrigen 14 (13) Peter Hahne
die Kammermusik Akademie leitet. Zwei und die Satten Eichborn; 22 Euro Schluss mit euren ewigen
Frühlinge, die eines eint: der Frühling im Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro

Namen. 16 (11) Mariana Leky Was man von hier


aus sehen kann DuMont; 20 Euro
15 (7) Harald Lesch / Klaus Kamphausen
»Äh, schauen Sie«, antwortet Levit, Wenn nicht jetzt, wann dann?
»das ist jetzt echt weit hergeholt.« 17 (14) Paulo Coelho Penguin; 29 Euro
Manchmal ist Musik Musik und Politik Hippie Diogenes; 22 Euro
16 (–) Isabell Werth / Evi Simeoni Vier Beine
Politik. tragen meine Seele Piper; 22 Euro
Am Ende bleibt Igor Levit im Rampen- 18 (13) Stephen King
licht, setzt sich ans Klavier und spielt. Er Der Outsider 17 (–) Peter Wohlleben
spielt ein Stück von Bach, von Brahms fürs Heyne; 26 Euro Das geheime Leben der Bäume
Klavier aufgeschrieben, für eine Hand. Es Ludwig; 19,99 Euro
Im neuen Thriller
ist die linke, was nichts mit Politik zu tun erzählt King von der Jagd 18 (10) Margarete Stokowski
hat, sondern mit Musik. nach einem Kinder-
mörder und steigt hinab Die letzten Tage des Patriarchats
Twitter: @skrobala in die Abgründe der Rowohlt; 20 Euro
amerikanischen Provinz
19 (–) Frank Thelen
Video 19 (15) Isabel Allende Startup-DNA. Die Autobiografie
Igor Levit Ein unvergänglicher Sommer Murmann; 22 Euro
spielt Suhrkamp; 24 Euro
spiegel.de/sp422018levit 20 (8) Harald Meller / Kai Michel
oder in der App DER SPIEGEL 20 (18) Jo Nesbø Die Himmelsscheibe von Nebra
Macbeth Penguin; 24 Euro Propyläen; 25 Euro

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Ostpreußische
Stellung
Literaturkritik Ein pornografischer Roman
aus dem Deutschen Reich:
Rudolf Borchardts »Weltpuff Berlin« ist
die Überraschung der Buchmesse.

K aum seiner elterlichen Wohnung entronnen, stürzt sich


der junge Mann ins Getümmel der Großstadt Berlin.
Und Getümmel, das bedeutet Frauen.
»Rosa war eine Virtuosin«, das ist nur eine flüchtige Zwi-
schenbilanz. »Ihr blühendes Gesicht unter den fast weißen
Haaren war jetzt tief braunrosig, meine Lippen küssten sie tief
zwischen den üppig gewordenen Wangen, die fast schwarz-
blauen Augen schimmerten blicklos aufgerissen ihre Zunge
leicht aufgebogen …«, solche Momente und noch weitaus def-
tigere gibt es zu Hunderten.
Bis ins Kleinste und Obszönste beschreibt der Held, was
vorgeht. Mehrfach steigert sich der sexuelle Rausch bis zur
phantasmagorischen Orgie, und nie lassen die Kräfte nach.
Martha, Karla, Vera, Fanny, Pam, Lottchen, Lida, Lussy, Lydia:
Die Begierde nimmt kein Ende.
Als Sittengemälde oder deutlicher gesagt: Porno aus den
wildesten Tagen des Wilhelminismus ließe sich diese an die
tausend Seiten starke Explosion der physischen Leidenschaften Sprachvirtuose Borchardt 1906
vielleicht wie eine seltsame Fußnote der deutschen Literatur- »Der primitive Packen der Menschlichkeit«
geschichte abhaken – wäre da nicht der Name des Autors: Ru-
dolf Borchardt. Dass ausgerechnet dieser einschüchternd bele- purer Begeisterung für das sperrig-frappante Sprachgenie eine
sene Sprachkünstler, Lyriker, Übersetzer und Redner, dessen vielbändige Ausgabe seiner Briefe, begleitet von Dokumentbän-
weit ausschwingende Satzperioden das Publikum geradezu den. Herausgegeben werden sie von Gerhard Schuster, in dessen
magisch bannen konnten, eine enorme Rhapsodie der Unter- Rudolf Borchardt Archiv dank jahrzehntelanger Forschungs-
leibsfreuden im Dauerstakkato hätte schreiben können, das arbeit alle Spuren des Dichters zusammengetragen sind.
mochten lange Zeit nicht einmal die besten Kenner glauben. Und doch war auch Schuster mehr als verblüfft, als er 2010
Zwar galt Borchardt (1877 bis 1945) schon immer als heikler im Marbacher Literaturarchiv einen Packen Blätter überreicht
Fall: Jüdischer Herkunft, kämpfte er in fast all seinen Unterneh- bekam, der als Nachzügler aus Familienbesitz zum Nachlass
mungen um die »schöpferische Restauration« dessen, worin er Borchardts eine Weile vom früheren Direktor beiseitegehalten
Europas wahres Erbe sah. Eminenter Kenner der Antike und worden war. »Priapea« sollten da drinstehen, womit norma-
des Mittelalters, zeigte er sich unnachsichtig selbst gegen die lerweise saftig erotische Kleingedichte nach antikem Vorbild
größten literarischen Gestalten seiner Zeit. Als Virtuose schwe- bezeichnet werden. Doch nach der mühsamen Abschrift und
bend musikalischer Lyrik und donnernder Polittiraden, als über- Ordnung der in winziger Schrift über und über bekritzelten
wältigender Sprachartist, der mühelos altgriechische Verse, Blätter erwies sich das Konvolut als gigantisches Romanprojekt,
Ritterepik, Shakespeare-Sonette oder empfindsame Dialoge des dem Schuster und Tenschert nun mutig nach einer Textstelle
18. Jahrhunderts improvisieren konnte, hatte er sich schnell einen den Namen »Weltpuff Berlin« verpasst haben.
Ruf als Wundertier erworben – oder auch als Hochstapler. Entstanden ist es 1938/39, als Borchardt, von NS-Deutsch-
Obendrein wohnte ausgerechnet dieser herbe, einzelgänge- land geächtet, keinerlei Möglichkeit zu publizieren mehr hatte.
rische Nationalist die längste Zeit seines Lebens in Villen in Noch kurz davor hatte er, schon aus Geldmangel, mit dem
der nördlichen Toskana; durch das quirlige literarische Leben nach Wien exilierten Verlag S. Fischer einen Zyklus von Zeit-
Deutschlands zwischen Naturalismus, Expressionismus und romanen zu verabreden versucht, erfolglos. Einmal raunte er
neuer Sachlichkeit funkelte er wie ein Meteor. Gewiss, auch brieflich, es gebe da auch einen großen Roman, etwa so dick
ein paar Erzählungen und einen Roman gab es, freilich in einer wie Tolstois »Krieg und Frieden«. Aber dass dieses Manuskript
Sprache, die an die Intensität Kleists anknüpfte. Trotz einer tatsächlich existieren könnte, daran hatten auch die Fachleute
posthumen Gesamtausgabe in schließlich 14 Bänden, Borchardt nicht mehr geglaubt.
blieb stets ein Geheimtipp. Vergangenen Mittwoch konnten Tenschert und Schuster nun
Daran haben bislang nicht einmal Heribert Tenschert und gleich zwei Ausgaben des Geheimwerks vorstellen: eine kriti-
Gerhard Schuster etwas ändern können. Tenschert, als Groß- sche mit sämtlichen Varianten und peniblen Erläuterungen zu
antiquar in Fachkreisen legendär, finanziert seit Langem aus den vielen Spezialausdrücken und zeitbedingten Details, die
Borchardt aus dem Gedächtnis, nicht immer ganz akkurat,
Rudolf Borchardt: »Weltpuff Berlin«. Edition Tenschert bei Rowohlt; 1088 Seiten; aber doch überbordend genau festgehalten hat. Und eine Lese-
35 Euro. Kritische Ausgabe in zwei Bänden mit Kommentar 98 Euro. ausgabe, mit Übersetzungen der seitenlangen Dialoge auf Eng-

130 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Kultur

lisch, Französisch, Latein und sogar Altgriechisch, in denen und ich Dich nicht, aber ich möchte Dich ›haben‹ … Kein
»Rudolf«, der Held, großbürgerliche, blaublütige oder akade- Mensch kann den andern ›haben‹, glücklicherweise. Wenn es
mische Bettgenossinnen umgarnt. möglich wäre wäre es aus. Aber die Liebe besteht bei mir wie
Schon vor ein paar Jahren war es fast so weit gewesen. Doch bei Dir zur Hälfte aus absurdem, aus Widersprüchen in sich.
kurz vor Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist von 70 Jah- Man flieht sich um sich zu sehnen, man vereint sich um sich zu
ren nach dem Tod des Autors hatte der überlebende Sohn Bor- fliehen, man wünscht Verschmelzung, in der man nicht leben
chardts verfügt, das drastische Werk für immer zu sperren. Die- könnte. Woran liegt es, sag mir das?«
se Sperrung gilt zwar nominell noch – aber zum Glück nicht Und »Rudolf« antwortet plötzlich ganz ernst: »Woran liegt
für eine vollständige Kopie, die man in Marbach noch kurz es, Addie, dass wir sterblich sind und uns doch eigentlich be-
vorher hatte anfertigen lassen. nehmen als seien wir Götter auf Urlaub? Es ist der primitive
Und was steht nun drin in dem gigantischen, so lange Packen der Menschlichkeit. Verschmelzen können wir nur auf
verheimlichten Buch? Natürlich kann man es als langes dem einen Punkte, an dem wir mit Geburt und Tod zusam-
autobiografisches Gedankenspiel eines Mannes lesen, dessen menhängen. Wir werden ein Leib in der Sekunde, in der wir
sexuelle Energie nur noch sprachlich, in immer neuen, gerade der Zeugung dienen, gleichgiltig ob wir ihr ausweichen.«
zu hastig aneinandergereihten Szenen und Dialogen Ausdruck Als Alexander Fest, früher Verlagschef bei Rowohlt, Bor-
fand. Affären mit berlinernden Dienstmädchen, kesses Par- chardts Werk vergangenen Mittwochabend im Rahmen der
lando an der Hoteltafel, mehrere Abende im Puff, aber Frankfurter Buchmesse vorstellte, nannte er klingende Namen.
auch ein regelrecht barockes Gruppenmaskenspiel nach dem Immer habe den Deutschen ihr großer erotischer Roman ge-
Vorbild von »Tausendundeiner Nacht«, nichts scheint zu fehlt, nie habe es einen richtigen Casanova auf Deutsch gege-
fehlen. ben. Nun könne ausgerechnet der Verlag von Henry Miller
Mal glänzt »Rudolf«, der Dauerverführer, als Poet, dem das Missing Link präsentieren, ein Zeitgemälde als Porno –
nichts selbstverständlicher ist, als dass man einander als »Satyr« und eben doch viel, viel mehr als das.
und »Mänade« wortkitzelt. Dann wieder setzt er die verläss- Es ist eine schöne Pointe. Denn 1919 hatte Borchardt mit
liche »Brechstange der Eroberung«, ja den »Rammschieber« dem Gründer des Verlags, Ernst Rowohlt, nicht nur einige
geradezu gewaltsam ein. Ostpreußisch, ungarisch, von vorn noble Einzelausgaben, sondern sogar eine Gesamtedition
und von hinten, sprachlich wie in den Stellungen scheint alles seiner Schriften in zwölf Bänden vereinbart. Wie fast immer
möglich. Aber nie wird das Vokabular eintönig, und so entsteht bei Borchardt, der Werke schwer beenden konnte, kam es
aus hektischen Taxifahrten, kulinarischen Schwelgereien, zum Streit um Ablieferungstermine und Honorare. Dass nun
Telefonaten (einmal sogar tarnungshalber lateinisch und grie- der steilste, anspruchsvollste Virtuose der deutschen Sprache,
chisch) und auch Briefen eine Porträtgalerie von Frauen, die den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, mit seiner in fast
der vergnügungsbesessene Held erobert und die er doch, wie jeder Hinsicht unmöglichen, ungeheuren Feier des Sexus zu
er selbst am besten weiß, fast immer nur benutzt. diesem Verlag zurückkehrt, ist eine kleine späte Wiedergut-
Einmal gibt Addie, die Einzige, die er wirklich liebt, nach- machtung – und so schön ironisch, dass vielleicht sogar der
denklich zu: »Ich weiss dass Du mich nicht heiraten kannst strenge Borchardt geschmunzelt hätte. Johannes Saltzwedel

BPK

Straßenszene in Berlin um 1910: Explosion der physischen Leidenschaften

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Nachrufe
Karl Mildenberger, 80 Leon Lederman, 96
Nur zehn Jahre wollte er Der Teilchenphysiker revo-
als Profi boxen, das hatte er lutionierte das Verständnis
sich zu Beginn seiner Kar- der Materie. Seine Erfor-
riere geschworen, und Karl schung der Neutrinos ging
Mildenberger hielt sich der Urfrage nach, was die
daran: Mit 30 beendete er Welt im Innersten zusam-
seine Sportlerlaufbahn. menhält. Leon Ledermans
Trotzdem brachte er es auf Eltern waren jüdische Immi-
62 Profikämpfe; er gewann granten aus Russland und
1964 den Europameister- betrieben eine Wäscherei
titel im Schwergewicht und in Manhattan. Unmittelbar
verteidigte ihn sechsmal. nach seinem ersten Uni-
Doch es war eine Niederla- Abschluss in Chemie 1943
ge, die »Milde« als Krönung ging er nach Frankreich, um
seiner Karriere bezeichnete. gegen Nazideutschland zu
Am 10. September 1966 kämpfen. Nach dem Krieg
stieg er in Frankfurt als wechselte er zur Physik,

SEEGER-PRESS
hoffnungsloser Außenseiter und in den Sechzigerjahren
in den Ring. Sein Gegner: machte er an der Columbia
Muhammad Ali, »The Grea- University geniale Experi-
test«, der bis dahin unge- mente, um eine bislang
Montserrat Caballé, 85 schlagene Weltmeister aus unerforschte Sorte von Teil-
Ein Nachruf auf die große spanische Sopranistin Mont- den USA. Zwölf Runden chen nachzuweisen, die
serrat Caballé sollte mit ihrer Stimme beginnen. Weil das Myon-Neutrinos. Dafür be-
hier nicht geht, behelfen wir uns: Wir könnten erinnern, kam er 1988 den Nobel-
wie 1965 die Erstbesetzung ausfiel in Donizettis »Lucrezia preis, gemeinsam mit zwei
Borgia« in der Carnegie Hall und Caballé einsprang, eine Kollegen. Jahrelang leitete
bis dahin weithin unbekannte Sängerin. Sie bekam mehr er das renommierte Fermi-
als 20 Minuten lang stürmischen Applaus, Plattenfirmen- lab in Illinois, doch be-
vertreter standen Schlange, Einladungen aus aller Welt rühmt wurde er vor allem
folgten. Wir könnten erinnern, wie sie als Kind hungerte durch seine griffige Wort-
und sich die Gesangsausbildung nur leisten konnte, weil schöpfung: »Gottesteilchen«
Mäzene zahlten. Wie sie später über ihre Leibesfülle sagte: taufte er das Higgs-Boson
»Ich hatte das Glück, in einer Zeit zu singen, als man nicht in einem Buch. Dessen
WERNER BAUM / DPA
in die Oper ging, um sich deine Figur anzuschauen.« Wie Nachweis dauerte Jahrzehn-
sie in Verona die Elisabetta in Verdis »Don Carlos« nach te, bis das Schweizer Cern
einem Unfall auf Krücken spielte und den Schlusston länger ihn 2012 endlich lieferte.
hielt, als das Orchester sie zu begleiten hatte, sodass nur »Das gottverdammte Teil-
noch ihre Stimme widerhallte. Ja, wir wollen uns an ihre chen« wollte er es eigentlich
Stimme erinnern, ihre Reinheit, Kraft, Brillanz und Wärme, hielt Mildenberger dagegen, nennen, aber sein Verleger
vor allem an eine Fähigkeit, die wichtiger ist, als ein dop- erst dann nahm ihn der riet ab. Als Lederman an
pelt gestrichenes C zu produzieren. Wir erinnern uns an Ringrichter stehend aus Demenz erkrankte, geriet
Caballés Pianissimo, das direkt ins Herz ging. Montserrat dem Kampf. Anschließend er in finanzielle Schwierig-
Caballé starb am 6. Oktober in Barcelona. TKW erklärte Ali den Deutschen keiten und musste 2015
zum »zweitschnellsten seine Nobelpreismedaille
Schwergewichtler der Welt versteigern, er bekam dafür
Kyriakos Papadopoulos, 44 und am besten aussehenden 765 002 Dollar. Leon Leder-
Die Griechen nannten ihn den »Helden der Ägäis«: Kyria- weißen Boxer«. In seiner man starb am 3. Oktober in
kos Papadopoulos, Offizier der griechischen Küstenwache, Heimatstadt Kaiserslautern Rexburg, Idaho. HIL
bewahrte Tausende Menschen, die von der Türkei über empfingen mehr als 30 000
das Meer nach Griechenland flohen, vor dem Ertrinken. Menschen jubelnd »Karl
Im Ausland wurde er vor allem durch den Film »4.1 Miles« den Großen«. Aus einer
bekannt, der den Einsatz der Küstenwache vor der Insel Krise nach dem Karriere-
Lesbos dokumentiert und 2017 für den Oscar nominiert ende half ihm ein Job als
war. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 kamen Bademeister heraus,
dort täglich bis zu 3000 Menschen an. Papadopoulos war zudem trainierte er weiter.
mit seinem Team im Dauereinsatz. »In gewisser Weise bin So hielt er jahrzehntelang,
ich selbst panisch. Ich bin entsetzt«, sagte er. »Wir sehen nicht ohne Stolz, sein
mit an, wie sich Familien im griechischen Meer verlieren.« Kampfgewicht von 90 Kilo-
Papadopoulos ist auf Lesbos geboren und aufgewachsen. gramm. Zuletzt lebte er
Er war Vater von zwei Töchtern. »Er zeigte Europa, was zurückgezogen mit seiner
Werte wie Menschlichkeit, Solidarität, Gleichheit und zweiten Ehefrau Miriam in
AKG-IMAGES

Frieden bedeuten«, sagte Fotis Kouvelis, der griechische der Pfalz. Karl Mildenber-
Minister für Schifffahrt. Kyriakos Papadopoulos starb am ger starb am 5. Oktober in
10. Oktober an einem Herzinfarkt. POP Kaiserslautern. LEK

DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018 133


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Personalien

NORA LOREK / PANOS PICTURES


Ein Stückchen Heimat wurde Tabu von der in Deutschland geborenen Fotografin
Nora Lorek. Lorek produzierte eine Serie von Bildern mit
G Im August 2016 floh Rejoyce Tabu, 40, vor dem Bürger- Flüchtlingen aus dem Südsudan, die sie vor deren traditionel-
krieg in ihrer Heimat Südsudan. Heute lebt sie mit mehr als len Bettlaken positionierte. Die Milaya genannten, kunstvoll
270 000 Menschen in dem Flüchtlingscamp Bidibidi in Uganda. gestalteten Tücher zählen zu den ganz wenigen Besitztümern,
Daheim verkaufte sie Kleidung, in Bidibidi sammelt sie Steine, die die Flüchtlinge mitnehmen konnten. Tabu entschied sich,
die sie zerkleinert und als Baumaterial anbietet. Mit dem Geld ihr Land zu verlassen, als ihr Ehemann, der Soldat ist, an
unterstützt sie ihre Mutter. Die beiden Frauen kümmern sich die Front ging. Seither hat sie nichts von ihm gehört. Sie weiß
um zehn Kinder, darunter die von Tabus Bruder. Fotografiert nicht, ob er noch lebt. Aber: »Ich habe Hoffnung.« KS

Oscarfantasien. Dabei gibt es dent zu sehen sein wird. Haupt- Bale, der dafür einige Kilo zu-
Ganz nah dran bisher nur ein paar Bilder aus figur ist Dick Cheney, Bushs und mehrere Schichten Make-
G Seine Darstellung des dem Trailer von »Vice«, in Vizepräsident von 2001 bis up aufgelegt hat. In den weni-
beschränkten, rassistischen, dem Rockwell als US-Präsi- 2009, gespielt von Christian gen Sequenzen des Trailers
alkoholkranken Polizisten zeigt Rockwell eine frappie-
Jason Dixon in dem Film rende Ähnlichkeit mit dem
»Three Billboards Outside ehemaligen Präsidenten. Im
Ebbing, Missouri« bescherte karierten Hemd hockt er
ihm den Oscar für den besten hähnchenschenkelkauend vor
LARRY DOWNING / REUTERS

Nebendarsteller. Bald wird Cheney, nuschelt mit texani-


ANNAPURNA PICTURES

der Schauspieler Sam Rock- schem Akzent und legt seine


well, 49, als George W. Bush, Stirn in Dackelfalten, was ihn
heute 72, in den Kinos zu nicht besonders intelligent
sehen sein – und wieder ent- Bush 2008 aussehen lässt, seinem Vorbild
wickeln einige Filmkritiker jedoch sehr nahe kommt. KS

134 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Ende des Ersten Weltkriegs


König der vor 100 Jahren. Er dürfte
PR-Kunst nebenbei auch viele Fantasy-
Fans für sich einnehmen:
G Wo tritt er auf, wo nicht; Der Regisseur von »They
mit wem zeigt er sich, mit Shall Not Grow Old« ist
wem nicht? Prinz William, nämlich Peter Jackson,
36, wird, wenn nichts dazwi- berühmt für seine Verfilmun-
schenkommt, eines Tages gen der Fantasy-Klassiker

GORDONWELTERS.COM / DER SPIEGEL


britischer König sein. Schon »Der Herr der Ringe« und
jetzt beherrscht er die Kunst, »Der Hobbit«. Wenn Jack-
mit öffentlichen Auftritten son bei der Premiere Wil-
mehr oder weniger subtile liam die Hand schüttelt, sym-
Botschaften zu senden, die bolisiert das außerdem Res-
seinen Anspruch auf den pekt vor Traditionen: Ein
Thron untermauern – oder Untertan aus einer ehemali-
zumindest seinen Sinn für gen Kolonie begrüßt seinen
perfekte PR belegen. Jüngs- künftigen König. Jackson
tes Beispiel: eine Weltpre- stammt aus Neuseeland, Der Augenzeuge
miere im Kino des British das zum Commonwealth ge-
Film Institute am 16. Okto-
ber in London, die der Prinz
mit seiner Anwesenheit
hört. Das Staatsoberhaupt
Neuseelands ist bis heute
Queen Elizabeth, Williams
»Bitte nicht ausweichen«
beehren wird. Gezeigt wird Großmutter. MWO Michael Mitsching, 55, ist Kreisjägermeister aus Des-
»They Shall Not Grow Old« sau-Roßlau. In seinem Revier testet das Land Sachsen-
(»Sie werden nicht alt wer- Anhalt ein neues Warnsystem, das Wildunfälle
den«), eine Dokumentation
verhindern soll – mit Pieptönen und Lichtsignalen.
in 3-D über den Ersten Welt-
krieg. William hat selbst sie-
ben Jahre lang in der briti- G »Die Zahl der Unfälle mit Wildtieren steigt rasant. Das
schen Armee gedient, er liegt auch daran, dass wir in Deutschland einen sehr hohen
DAVID HARTLEY / REX FEATURES

wurde dort zum Hubschrau- Bestand haben. Rehe, Hirsche, Wildschweine leben hier,
berpiloten ausgebildet und aber auch Hasen, Füchse, Waschbären und Dachse. Unser
betont bis heute seine Ver- neues Warnsystem hält Tiere von der Straße fern, wenn ein
bundenheit mit aktiven und Auto kommt. Es sendet dann Lichtsignale und wechselnde
ehemaligen Soldaten. Doch Töne, die abschreckend wirken.
der Prinz erinnert mit dem Wildbiologen haben herausgefunden, dass diese Kom-
Kinobesuch nicht nur an das bination die Tiere besonders gut anspricht. Wir stellen die
Geräte an bekannten Wechseln auf. Die Tiere pendeln
zwischen Ruheplätzen und den Orten, an denen sie fressen.
Rehe sind am mobilsten, sie sind alle zwei bis drei Stunden
bleme gehabt hätten, wollten auf der Suche nach Nahrung und verursachen bei uns die
Wer bin ich? damals sichergehen, dass Hälfte der Wildunfälle. Um ein Motorrad aus der Bahn zu
G Die Schauspielerin Dakota es ihr gut geht, sagte sie in bringen, genügt aber schon ein Hase oder ein Fuchs – das
Johnson, 29, bestätigte Ge- einem Interview mit dem kann tödlich enden.
rüchte, sie sei schon als Klein- Magazin »Tatler«. Es ist Eine Stunde vor Sonnenaufgang und eine Stunde nach
kind in psychotherapeuti- bekannt, dass ihre Mutter Sonnenuntergang passieren die meisten Unfälle. Dann bewe-
scher Behandlung gewesen. Melanie Griffith und ihr gen sich die Tiere am liebsten, sie äsen gern in der Däm-
Als Dreijährige habe sie spie- Vater Don Johnson mit merung. Zu dieser Zeit ist das Gras taunass, und es ist ruhig.
lerisch Bekanntschaft mit Alkohol- und Drogenmiss- Rund die Hälfte der Unfallfahrer ist jünger als 26 Jahre,
der Wissenschaft von der brauch kämpften. Dakota ihnen fehlt oft die Routine am Steuer. Ein 70-Jähriger hat in
menschlichen Seele gemacht. Johnson, bekannt durch der Regel auch kein Handy am Ohr und ist seltener nachts
Ihre Eltern, die einige Pro- die Verfilmung von »Fifty unterwegs. Passiert ein Unfall, kontaktiert die Rettungsstelle
Shades of Grey«, in der sie den Jäger, der für das Revier verantwortlich ist. Und der
eine sexuell sehr aktive kommt dann, egal an welchem Wochentag und zu welcher
EVAN AGOSTINI / INVISION / AP / PICTURE ALLIANCE

Masochistin spielt, geht auch Uhrzeit. Er sucht das Tier, falls es verletzt ist und sich in den
heute noch zur Therapie, Wald geschleppt hat, oder entsorgt den Wildkörper.
sie liebe das: »Ich wüsste Ich wünsche mir, dass die erlaubten Höchstgeschwindigkei-
nicht, was ich ohne sie täte.« ten reduziert werden, 100 Kilometer pro Stunde sind in der
Die Sitzungen hätten sie Dunkelheit viel zu schnell. Ich selbst fahre nachts im Wald
gelehrt, dass Antworten auf nie schneller als 70 und behalte die Straßenränder im Auge.
die großen Fragen des Le- Je eher ich das Wild sehe, desto eher kann ich reagieren. Ein
bens in einem selbst lägen, Tipp: Bitte nicht ausweichen, sondern das Lenkrad festhalten
man müsse nur ehrlich und stark bremsen, selbst wenn es dann zu einem Zusammen-
sein – und das sei manchmal stoß kommen sollte. Denn Menschenleben geht vor Tierleben.«
schmerzhaft. KS Aufgezeichnet von Astrid Ehrenhauser

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»Nicht derjenige, der Jogginghosen trägt,


hat die Kontrolle über sein Leben verloren, sondern derjenige,
der sich ohne Smartphone nackt fühlt.«
Patrick Meiser, St. Wendel (Saarland)

Etikette versäumt Leider haben Sie auf dem Titel nur einen die Kleinkinder mit leeren Blicken nach
Teil des Ursprungsbildes abgedruckt, das vorne schauen müssen, ohne jeglichen
Nr. 41/2018 Mein Kind, sein Handy
ich bei jungen Müttern täglich beobachte. (Augen-)Kontakt in der trubeligen Welt
und ich – Vom richtigen Umgang mit der
Generation Smartphone Und das im Übrigen gut zum Selbsttest zu den meist telefonierenden Eltern. Oder
der Redakteurin Olbrisch aus der Haus- Eltern – als Therapeutin frage ich es regel-
Man muss sich nur eine Bundestagsdebat- mitteilung passt. Hier das »Original«: mäßig ab –, die drei bis sieben Stunden
te ansehen. Hier ist nur eine der Auswir- Thomas Keller, Königswinter (NRW) täglich, neben Vollzeitjob, Haushalt und
kungen von Smartphones zu ersehen – der Kinderbetreuung, online sind.
kulturelle Verfall. Von der Bundeskanzle- Astrid von Friesen, Dresden
rin bis zum Hinterbänkler sitzen die meis-
ten teilnahmslos herum und tippen auf ih- Ziemlich nackt
ren Smartphones. In den meisten Eltern-
Nr. 40/2018 Der schwarze Kanal
häusern wird es genauso laufen. Anstatt
seinen Kindern Wissen, Kultur, Sprache Seit mehr als 50 Jahren lese ich den
und so weiter zu vermitteln, sagt man ein- SPIEGEL, mit nur einem einzigen versäum-
fach: Dafür gibt es eine App! ten Heft. Durststrecken wurden epochal
Alfred Pell, Fürstenzell (Bayern) von exzellenten Ausnahmejournalisten
überbrückt, die allein den Preis wert waren.
Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel. So auch momentan: Alle Texte, unter de-
Leider lässt er einen Aspekt außen vor: nen der Name Jan Fleischhauer steht, bür-
Die neuen Medien haben sich so rasant gen für treffsichere Analysen! Beim »Prin-
entwickelt, dass das Erlernen einer Kom- zip Kühnert« trifft er den Nagel auf den
munikationsetikette versäumt wurde. Un- Von Leser Thomas Keller erweitertes Kopf. Ich war schon unsicher, ob ich denn
ser 13-jähriger Sohn fragte kürzlich in die SPIEGEL-Titelbild der Einzige bin, der vermutet, dass dieses
Hausaufgabengruppe: »Weiß jemand, was Kaiserchen ziemlich nackt durch die Lande
wir in Englisch aufhaben?« Postwendend Ich habe jetzt, im 80. Lebensjahr stehend, zieht. Im Übrigen gehören auch die ande-
antworteten sieben Mitschüler und Mit- einen Familien-Chat eingerichtet, in dem ren beiden Autoren dieser Kommentar-
schülerinnen mit »Nein«. Das provoziert ich mit unseren vier Kinderfamilien, sie- spalte, Markus Feldenkirchen und Jakob
bei einer Klassenstärke von 20 Kindern ben Enkeln, zwei Urenkeln, dazu dem je- Augstein, zur Kategorie der Spitzenjourna-
mehr als hundert überflüssige Blicke aufs weiligen Partner (sofern es diese schon listen. Selbst wenn man nicht immer auch
Handy. gibt), in ständigem Kontakt über das nur annähernd deren Meinung sein muss.
Christian Jungbluth, Freiburg Smartphone stehe. Das bekämpft die Ein- Wolfgang Hund, Hersbruck (Bayern)
samkeit, schafft Kommunikation mit der
Ganz gleich ob Kinder und Jugendliche Jugend, lässt uns Alte noch Anteil nehmen Ein Lob seinen Kollegen Feldenkirchen
Mobiltelefone heutzutage mehr nutzen als an der Entwicklung unserer Nachkom- und Augstein, die mir Fleischhauer zumin-
ihre Eltern, es sind letztlich dennoch die men. Großartig, diese Lösung! Habe ich dest für 14 Tage vom Leibe halten.
Erziehungsberechtigten als Hauptverant- diese Seite in Ihrem Artikel verpasst? Viel- Hans-Dieter Schabram, Berlin
wortliche für die exzessive Handynutzung leicht schickt ja der Junge auf der Titel-
ihrer Kinder auszumachen. Denn was seite gerade eine WhatsApp an seinen Was soll diese Polemik gegen Herrn Küh-
bleibt einem Kleinkind anderes übrig, als Opa, wie ihm das Gezogenwerden durch nert? Beginnt der Mensch für Herrn
auf Tuchfühlung mit seiner Konkurrenz zu die Mama stinkt? Fleischhauer erst mit dem zweiten Staats-
gehen – dem kleinen, eckigen Ding, wel- Peter Költzsch, Dresden examen? In unserem Nachbarland Öster-
chem Mami viel mehr Beachtung schenkt reich kann man es sogar ohne Ausbildung
als einem selbst? Und zack! Schon hat das Ein dreistündiges Wegschließen von El- zum Bundeskanzler bringen. Früher gab
böse Smartphone sein nächstes Opfer ge- tern- und Nachwuchs-Smartphones am es in der SPD – und auch in der CDU –
funden. Also alle Eltern aufgepasst: Lasst frühen Abend nennen Sie »radikale« Lö- führende Politiker aus dem Arbeiter-
das Handy bei der nächsten Kinderwagen- sung? Drei Stunden? Nicht Ihr Ernst, oder? bereich, vollkommen ohne Studium. Diese
spazierfahrt einfach mal zu Hause liegen! Heike Suzanne Hartmann-Heesch, Hamburg hatten meistens einen gesunden Men-
Luisa Hintz, Trebur (Hessen) schenverstand, und das hat der deutschen
Das Stadtjugendamt in Düren geht schon Politik auch nicht geschadet.
Das Titelbild ist klasse. Schade, dass es einen Schritt weiter als der SPIEGEL-Titel Heribert Buhr, Köln
nur einen Ausschnitt zeigt. Ich bin mir und hat einen Fachtag angekündigt: »Das
sicher, dass die Mutter auch auf ihr Handy, meine Eltern und ich. Das Kind Die Entwicklung Ihrer Meinung über Herrn
Smartphone starrt und ihrem Kind keine in Konkurrenz zum Familienmitglied Kühnert finde ich ärgerlich. Unterstellun-
Beachtung schenkt. Höchstens über das Handy.« Denn bereits viele junge Eltern gen wie »Arroganz, Gönnerhaftigkeit, He-
Smartphone. Irre. halten smartphonefreie Situationen kaum rablassung« empfinde ich als reine Projek-
Barbara König, Wörth (Rhld.-Pf.) aus: Eltern, die Buggys schieben, in denen tion, die ich eher auf dem Schulhof verorten

136 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Briefe

würde. Wenn ich Herrn Kühnert auf mich lung – Auf-Klärung – aktuellen persönli- Entwicklungstraumen während der prä-
wirken lasse, so wie ich ihn aus den Medien chen und politischen Daseins. Stefan Berg und perinatalen Zeit ist längst gut erforscht
kenne, nehme ich einen begabten jungen ist dies am Beispiel von Rilkes »Herbsttag« und belegt. Wenn aber nur ein FAS gese-
Nachwuchspolitiker wahr. Einen, der sich und der »Kanzlerinnen-Dämmerung« in hen und der Rest zur Seite geschoben wird,
Sachkunde angeeignet, der sich offenbar in Berlin in einer Weise gelungen, der man hat die Welt der Medizin sehr viele Leben
seiner Gruppe der Jusos Anerkennung er- sich nur schwer entziehen kann. Mutig von auf dem Gewissen.
worben hat, der die Meinung vieler erkun- der Redaktion, auch einmal einen Beitrag Eva Kungl, Alzey (Rhld.-Pf.)
det und der schon zu einer gewissen Stand- in diesem Verständnis von Aufklärung in
festigkeit gefunden hat. das Blatt aufzunehmen. Da capo!
Barbara Lemke, Kammerstein (Bayern) Günter Schulze, Bonn

Ohne Parteinahme oder Häme

JULIA UNKEL / DER SPIEGEL


Stefan Berg fragt: »Haben solche Zeilen
etwas in einem Nachrichten-Magazin ver-
Nr. 40/2018 Klage wegen eines Vergewalti-
loren?« – Ja, und danke dafür. Eine solche
gungsvorwurfs gegen Cristiano Ronaldo
Betrachtung in diesem stürmischen Herbst,
Selten habe ich einen Artikel gelesen, der in dem uns Hass zu oft und erschreckend
dermaßen detailliert, mit Unterlagen und überall entgegenschlägt, ist notwendig und
Aussagen belegt, einen Vorfall schildert, führt uns zu den Werten, die es einzig zu Spielsachen bei Adoptiveltern
ohne Parteinahme oder Häme. Dies ist verteidigen gilt: Achtung vor jedem Men-
bester Journalismus – wichtiger denn je! schen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Bei allem Mitgefühl für die Adoptiveltern,
Rolf Sturm, Habach (Bayern) Eckhard Eichel, Reutlingen (Bad.-Württ.) deren schwere Schicksale in dem Artikel
dargestellt werden, befremdet mich deren
Die Klärung der Schuldfrage kann ich mir Sehr erfreulich, dieser Beitrag! Ich denke, Erwartungshaltung: Wie beim Erwerb
nicht anmaßen, aber nach der Lektüre der solche Zeilen haben sehr wohl einen wich- eines Konsumartikels erheben sie Anspruch
zehnseitigen Story mit ganzseitigem Foto tigen und vielleicht sogar regelmäßigen auf qualitätsgeprüfte, einwandfreie Kinder.
des attraktiven Opfers bleibt ein schales Platz im SPIEGEL verdient. Haben sie jemals darüber nachgedacht,
Gefühl im Magen. Der ganze Bericht erin- Werner Lutz, Waldböckelheim (Rhld.-Pf.) dass die Erfüllung des Wunsches nach
nert eher an Boulevardjournalismus. einem Kind niemals mit einer Glücksgaran-
Gesine Hunger, Augustusburg (Sachsen) Lieber SPIEGEL, bitte gib uns mehr von tie verbunden ist? Auch Eltern, in deren Le-
Stefan Berg! ben Alkohol keine Rolle spielt, können
Alois Fessler, Glattfelden (Schweiz) Nachwuchs mit schweren Behinderungen
unterschiedlicher Art bekommen – körper-
Solche Artikel wünsche ich mir mehr. Hier lich wie geistig. Und auch diesen Kindern
wird nicht nur Information geliefert, der ein liebevolles Zuhause zu geben ist die mit
MARIA FECK / DER SPIEGEL

Blick geht weiter, tiefer. Dass ein Gedicht der Elternrolle verbundene Herausforde-
interpretiert und mit Politik und Gesell- rung, egal ob es sich um adoptierte oder
schaft verknüpft wird, ist selten in Ihrem »eigene« Kinder handelt. Selbstverständlich
Heft. Stefan Berg hat eine unauffällige, ru- sollte allen Eltern in dieser Situation jede
hige Seite geschrieben, die mich berührt nur mögliche Hilfe von Jugendämtern und
hat und Nachklang erzeugt. Eine Seite, die anderen Stellen zuteilwerden.
Klägerin Mayorga man mehrmals liest und die anregend Dipl.-Psych. Hans-Jörg Bieger, Hamburg
bleibt.
Schändlich nicht nur die Tat, schändlich Michael Kunze, Stuttgart Ich habe durchaus Mitgefühl mit den be-
gleichermaßen die Anwälte, die gegen troffenen Eltern und finde das Vorgehen
Geld die Tat zu vertuschen suchen und Sehr wahr. Sehr berührend. Danke. mancher Jugendamtsmitarbeiter proble-
somit Vorschub leisten für die nächste Tat Johannes Köbler, Ludwigsburg matisch. Und doch würde ich mir wün-
der sich mächtig wähnenden Geldgockel. schen, dass die Gefühle und Gedanken der
Harald Dupont, Ettringen (Rhld.-Pf.)
Ein liebevolles Zuhause enttäuschten Adoptiveltern vielleicht et-
was weniger Raum einnähmen, und mehr
Nr. 40/2018 Wie Kinder ein Leben lang
Gib uns mehr! leiden, weil ihre Mütter während der
Fachleute und vielleicht auch die FAS-Kin-
Schwangerschaft Alkohol getrunken haben der selbst zu Wort kommen könnten. Aus
Nr. 40/2018 Was Rainer Maria Rilke und die
meinem beruflichen Alltag weiß ich, dass
Bundeskanzlerin verbindet
Großartig, dass Sie auf das Schicksal so Menschen mit dieser Art von Behinde-
Die »Betrachtung« von Stefan Berg zu vieler Adoptiveltern aufmerksam machen rung, Kinder wie Erwachsene, keineswegs
einem Gedicht von Rainer Maria Rilke war und die Diagnose Fetales Alkoholsyndrom immer »kaum erziehbare Mündel«, noto-
unter all dem politischen »Gedöns« eine (FAS) einen neuen Raum bekommt. Den- rische Lügner oder gefühlskalte, abweisen-
echte Entdeckung. Wie schön, dass solche noch ärgere ich mich maßlos: Mit keinem de Wesen sind. Leider erweckt Ihr Artikel
Artikel bei Ihnen einen Platz haben. Wort wird erwähnt, dass viele dieser Kin- diesen Eindruck, da die Sachlage vor allem
Hans-Peter Rumler, Budapest (Ungarn) der sehr wahrscheinlich auch bindungs- aus der Perspektive der Adoptiveltern ge-
oder entwicklungstraumatisiert sind. Was schildert wird. Das finde ich sehr schade.
Ich, SPIEGEL-Leser seit 50 Jahren, habe sie durch das Verhalten ihrer leiblichen Anna Ikramova, Lemgo (NRW)
meinen Augen nicht getraut und musste Mütter erlebt haben, ist ein massives Nicht-
den Artikel gleich noch mal lesen: eine sol- gewolltsein und Nichtswertsein. Viele der
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
che Betrachtung, ganz ungebrochen erbau- im Artikel beschriebenen Verhaltenswei- (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
lich im besten Sinne des Wortes – im sen sind nicht nur Folgen eines FAS, son- sowie digital zu veröffentlichen und unter
SPIEGEL? Ein Plädoyer für die existenziale dern auch klassische Traumasymptome. www.spiegel.de zu archivieren.
Interpretation großer Dichtung, zur Erhel- Auch eine Beeinflussung des Gehirns bei

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Hohlspiegel Rückspiegel

Der »Stern« über den Schauspieler Zitate


Hugh Jackman: »Die Zusage für ein
Stipendium ließ auf sich warten, aber ein Der Branchendienst Meedia zur
Freund soll ihm damals erzählt haben,
dass er pro Spende bei einer Samenbank
Jetzt im SPIEGEL-Sonderausgabe #frauenland:

40 Dollar bekäme, zehn Becher Der SPIEGEL widmet sich in dieser


erledige man im Handumdrehen.« Handel Woche unter dem Motto »#frauenland«
einer Bestandsaufnahme zur Lage der
Frauen in Deutschland. Auf allen Kanälen
gibt es Schwerpunkte zu dem Thema. Das
geht nicht, ohne auch in das eigene Haus
zu schauen. In einer Sonderausgabe des
Heftes schreibt die stellvertretende Chef-
redakteurin Susanne Beyer über das Ver-
hältnis der Geschlechter beim SPIEGEL –
und ist dabei erstaunlich offen ... Der
»Männerladen« SPIEGEL, den der Grün-
der und 2002 verstorbene Herausgeber
Kleinanzeige aus »Super Sonntag« Rudolf Augstein prägte, hat eine bewegte
Vergangenheit hinter sich – insbesondere
was die Gleichstellung von Mann und Frau
Das »Badener Tageblatt« über die angeht ... Beyer, die selbst seit 22 Jahren
Sanierung einer Treppe: »Neben Histori- beim SPIEGEL arbeitet, kann aus ihrer
schem gibt es jedoch auch Neuerungen. Position in der Chefredaktion vermutlich
Und zwar ein zusätzlicher Handlauf freier berichten, als es ein normaler Re-
auf der Häuserseite und zwei Leutchen, dakteur oder eine Redakteurin könnte.
die für Helligkeit sorgen.« In diesem Sinne handelt es sich nicht um
einen üblichen SPIEGEL-Text, sondern
einen, der von innen heraus nach innen
blickt – eine ungewohnte, aber notwen-
dige Perspektive.

Aus den »Fürther Nachrichten«


Der US-Schriftsteller Richard Powers in der
www.spiegel-geschichte.de »Welt« zum SPIEGEL-Beitrag »Sie denken,
Aus dem »Wangerooger Inselboten«: sie haben gewonnen« (Nr. 39/2018):
»An einen behinderten Eingang
und einen Fahrstuhl hat man ebenfalls Neulich stand im SPIEGEL ein Artikel über
gedacht.« X Auch als App für iPad, Android den Hambacher Forst, der aus meinem
Roman zitierte. Die Unterzeile lautete:
sowie für PC/Mac. Hier testen: »Im Hambacher Forst kämpft der Pragma-
geschichte.spiegel.de/digital tismus gegen die Naivität – und die Logik
der Wirtschaft gegen die der Schönheit.«
Ich denke, das ist nicht richtig … Die Natur
einzig als Ressource zu begreifen ist wirt-
schaftlich nicht logisch, denn unsere ganze
Existenz hängt von der nichtmenschlichen
Lesen Sie in diesem Heft: Welt ab. Es geht nicht um Geschäft gegen
Schönheit. Es geht um gutes Geschäft ge-
gen schlechtes Geschäft. Und jedes Ge-
Richard Löwenherz schäft, das unsere Existenz noch prekärer
Schild an einer Straße im Cilento (Italien) macht, ist ein schlechtes Geschäft.
Duell mit Sultan Saladin
Aus der »Bruchsaler Rundschau«: Die »Jüdische Allgemeine« zum SPIEGEL-
»Bei der Aufhellung der Hintergründe
Alltag in Jerusalem Beitrag »Rappelkiste« (Nr. 41/2018):
tappt die Polizei im Dunkeln.« Begegnung der Religionen »Fast alle Mitschüler meines Sohnes besit-
zen ein Smartphone. Bisher fand ich das
Kaiser Friedrich II. absurd. Jetzt denke ich anders«, schreibt
SPIEGEL-Redakteur Hauke Goos in der
Toleranz und Diplomatie jüngsten Ausgabe des Magazins. Offenbar
hat der Kollege das gleiche Problem wie
ich: Seitdem mein Sohn das Gymnasium
besucht, muss ich mir jeden Nachmittag
Aus der Wochenzeitung nach Schulschluss beharrliches Gequengel
»Der neue Ruf« anhören.

138 DER SPIEGEL Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Sie sind klein, grün und


könnten die Zukunft
des Biokraftstoffs sein.
Algen sind eine erneuerbare Energiequelle.
ExxonMobil erforscht ihr Potenzial als Kraftstoff mit
geringeren COƥ-Emissionen. Und da Algen in Salzwasser
ebenso gedeihen wie auf Böden, die für Nutzpflanzen
ungeeignet sind, könnte ein erfolgreicher Biokraftstoff
auf Algenbasis der Welt mehr Energie liefern, ohne die
globale Nahrungsmittel- und Wasserversorgung zu
gefährden. Mehr dazu auf EnergyFactor.de
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Bayern
Am 7. November feiert der Freistaat Bayern mit einem Staatsakt seinen 100. Geburtstag.
Der SPIEGEL hat dieses runde Jubiläum zum Anlass genommen, mit bayerischen
Bürgern über ihr Land zu reden. In einem 16-seitigen Sonderteil sprechen sie über die
kirchliche Tradition, den Einfluss der Wittelsbacher auf die politische Kultur, die
Annehmlichkeiten der Provinz und die Idee, von Bayern aus ins Weltall zu gelangen.

JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL


DIETER MAYR / DER SPIEGEL

Die Aristokratin Der Historiker


Ausschweifung und Glaube: »Das Partyleben und das Monarchen und Ministerpräsidenten: »Vom Staat erwar-
Katholische schließen sich nicht aus«, tet der Bürger Sicherheit«, erklärt Ferdinand Kramer,
so sieht es Gloria Fürstin von Thurn und Taxis. Seite II »das ist in der politischen Kultur Europas so.« Seite VIII

NORA KLEIN / DER SPIEGEL


HR SCHULZ / IMAGO

Die Astrophysikerin Der Unternehmer


Weite und Schwerelosigkeit: »Ich wundere mich, dass es Heimat und Globalisierung: »Wir haben mit Flüchtlingen
Menschen gibt, die nicht Astronaut werden eher gute Erfahrungen gemacht«, sagt Michael
wollen.« Suzanna Randall will es unbedingt. Seite XII Stoschek, langjähriger Chef der Firma Brose. Seite XIV

DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018 I


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Bayern

DIETER MAYR / DER SPIEGEL

Katholikin Thurn und Taxis in Schloss Emmeram in Regensburg: »Mein Gott, ich hab alles probiert«

II DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Gloria von Thurn und Taxis über

Ausschweifung und Glaube


Als Schulkind lebte die Fürstin vier Jahre lang im islamisch geprägten Mogadischu – gute
Voraussetzung für ein Gespräch über das Kopftuch, die Beichte und wilde Partynächte.

Thurn und Taxis, 58, führt seit dem Tod SPIEGEL: Das heißt, Sie haben den Glau- sich zu zentrieren. Heute rennen die Leu-
ihres Mannes das Familienunternehmen. ben immer als etwas Helles erlebt? Es gibt te ins Fitnessstudio, das ist die moderne
ja auch unter Katholiken Menschen, die Kapelle. Aber die Seele braucht ebenfalls
SPIEGEL: Fürstin, kennen Sie Ihren Wiki- das Sündenverständnis und die Beichte in Training. Wenn ich einmal im Monat beich-
pedia-Eintrag? ihrer Jugend als etwas Niederdrückendes ten gehe, dann bin ich natürlich ganz an-
Thurn und Taxis: Ich müsste ihn mir mal empfunden haben. ders on Top, was meine Schwächen angeht,
wieder angucken. Da ist einiges falsch. Thurn und Taxis: Wir hatten auch strenge als wenn ich zu viel Zeit verstreichen lasse.
Aber ich weiß nicht, wie man das macht, Klosterschwestern. Ich bin oft mit dem Erst vergisst man, und dann wird man
dass man’s ändert. Teppichklopfer versohlt worden. Ich war schludrig, das ist wie beim Turnen.
SPIEGEL: Dafür hat man doch Hilfe. schon als Kind sehr renitent und frech und SPIEGEL: Das klingt so, also ob Sie das Ge-
Thurn und Taxis: Ich fürchte, unser Chef mochte nicht still sitzen. Aber die Religion bet als eine meditative Übung sähen.
vom Archiv weiß nicht mal, was Wikipe- selbst habe ich immer als etwas Befreien- Thurn und Taxis: Die Beichte hat auch
dia ist. des erlebt. Natürlich haben wir unsere eine heilende Kraft. Das geht nicht hopp-
SPIEGEL: Gut, Sie leben in einem anderen Beichtzettel geschrieben. Da kamen halt lahopp und von jetzt auf gleich. Aber
Jahrhundert. Jedenfalls steht da ein in- die Dinge drauf, die wir so gemacht hatten: natürlich haben die Sachen, die man an-
teressanter Satz: »Gloria von Thurn und die Mutter angelogen, die Hausaufgaben spricht, anschließend nicht mehr dieselbe
Taxis bekennt sich seit 1995 öffentlich zum nicht gemacht, der Schwester was weg- Bedeutung. Man kommt weg von den
katholischen Glauben.« Das klingt so, als genommen. Aber ich hab das nie als be- Sünden.
ob Sie im Alter von 35 Jahren mit einem drückend empfunden. SPIEGEL: Sie meinen: weg von Dingen, die
düsteren Geheimnis herausgerückt wären. SPIEGEL: Sie gehen regelmäßig zur Kirche? einen bedrücken und niederhalten?
Thurn und Taxis: Das steht da wirklich? Thurn und Taxis: Ich geh eigentlich fast Thurn und Taxis: Auch von konkreten
Jetzt weiß ich, warum die Leute mich im- täglich. Nebenan haben wir Sankt Emme- Versuchungen. Wenn ich beichte und be-
mer fragen, ob ich einen Bekehrungsmo- ram, da gibt’s immer eine Messe. Und in reue, und ich tu’s dann trotzdem wieder,
ment hatte. Die haben das bei Wikipedia der Innenstadt, da haben sie am Vormittag wird es beim nächsten Mal schon etwas
gelesen. gleich mehrere Möglichkeiten. leichter, standzuhalten. Es ist wirklich wie
SPIEGEL: Und, gab es einen Bekehrungs- SPIEGEL: Beichten Sie auch jeden Tag? beim Turnen. Die ersten 20 Liegestütze
moment? Thurn und Taxis: Nein, um Gottes wil- sind die Hölle. Aber wenn man einmal
Thurn und Taxis: Nicht im klassischen len, Hilfe. Einmal im Monat Maximum. Übung hat, schafft man 40, ohne mit der
Sinne. Aber es gab eine Zäsur – als mein Manchmal auch nur alle zwei Monate Wimper zu zucken. So ist es mit der See-
Mann starb und ich mit drei Kindern allein einmal. le auch.
dastand und dann zu allem Überfluss auch SPIEGEL: Weil Ihnen nicht genug einfällt? SPIEGEL: Es werden immer die armen
noch feststellte, dass unser Vermögen in Thurn und Taxis: Es ist immer das Glei- 68er für den Sittenverfall in Deutschland
eine prekäre Schieflage geraten war. Wenn che, was man beichtet. verantwortlich gemacht. Aber wenn man
Regentage kommen, hat der Glaube noch SPIEGEL: Hochmut. liest, wie Sie es in Ihrer Partyzeit haben
einmal eine andere Bedeutung. Thurn und Taxis: Natürlich. Hochmut ist krachen lassen, fragt man sich, ob Sie
SPIEGEL: Sie sind katholisch aufgewachsen. brutal. nicht einen deutlich größeren Anteil an
Thurn und Taxis: Wir sind am Sonntag SPIEGEL: Was noch? der moralischen Zerrüttung der deutschen
und den hohen Feiertagen selbstverständ- Thurn und Taxis: Die Konsequenzen, die Jugend haben. Zum 60. Geburtstags Ihres
lich in die Messe gegangen. Bei uns wurde aus dem Hochmut folgen. Herrisch zu sein, Mannes ließen Sie eine Torte mit 60 Mar-
bei Tisch gebetet und beim Schlafengehen. ungeduldig und rechthaberisch. Tausend zipanpenissen auftragen. Die weiteren
Das habe ich auch mit meinen Kindern so solcher Sachen. Ausschweifungen mag man sich gar nicht
gehalten. Das Partyleben und das Katho- SPIEGEL: Neid? vorstellen.
lische schließen sich ja nicht aus. Ich würde Thurn und Taxis: Ach, das könnte auch Thurn und Taxis: Wir sind katholisch. Die
sogar sagen, sie gehören zusammen. Wir schon vorkommen, das will ich nicht aus- katholische Religion feiert den Sexualakt.
sind eine sinnliche, fröhliche Religion, das schließen. Es geht bei der Beichte darum, Die Schöpfung Gottes manifestiert sich in
sieht man in den Kirchen in Süddeutsch- der geschlechtlichen Vereinigung. Die Pro-
land. Auch während meiner wilden Zeit kreation, also die Fortpflanzung, ist das
in New York bin ich zur Messe gegangen. Heiligste überhaupt. Was die Marzipan-
SPIEGEL: Aber nicht in die Frühmesse. »Das Fitnessstudio ist penisse angeht: Mein Mann kam aus dieser
Thurn und Taxis: Ich weiß nicht, ob wir die moderne Kapelle. sexuell befreiten Generation. Ich bin in
die Frühmesse geschafft haben. Aber ich den Siebzigerjahren groß geworden, damit
bin mit Andy Warhol in die Kirche gegan- Aber die Seele braucht war ich schon wieder eher ein Opfer der
gen, und zwar jeden Morgen. ebenfalls Training.« sexuellen Revolution. Ich hatte regelrecht

III
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Bayern

Angst vor Männern. Es war alles auf Sex, SPIEGEL: Wird bei den Kindern noch ge- den. Da ist der Emmeram, dann natürlich
das war mir too much. Ich wollte davon betet? die Namen aller mir befreundeten Priester,
überhaupt nichts wissen. Thurn und Taxis: Da geht’s schon los, das Bischof Rudolph, der heilige Roman, unser
SPIEGEL: Ich habe gelesen, dass Sie Ihren habe ich nicht mehr im Griff. Ich bin froh, Pfarrer. Ich hab einen ganz festen Ablauf.
Mann vor Ihrer ersten gemeinsamen wenn da ein Kreuz hängt. Es sind alle ge- Die werden alle abgeklappert, damit ganz
Nacht daran erinnern mussten, dass Sie tauft, die Kommunion wird sicher kom- klar ist, dass ich jeden Tag an sie denke,
nicht verhüten. men. Ich hoffe und ich bete auch dafür. und ich mich sicher fühlen kann.
Thurn und Taxis: Er sagte: »Macht ja SPIEGEL: Wenn man durch Bayern fährt, SPIEGEL: Nehmen Sie auch die Jenseits-
nichts. Wir heiraten ohnehin.« sieht man überall Kreuze, Motivtafeln, An- Topologie der Bibel wörtlich? Gibt es für
SPIEGEL: Sie waren immerhin 20 Jahre alt, dachtsstellen. Kann man Bayern über- Sie Himmel und Hölle als reale Orte?
also nicht gerade erst der Pubertät ent- haupt ohne den Glauben verstehen? Thurn und Taxis: Ja, und das Fegefeuer
wachsen. Thurn und Taxis: Ich glaube, man nähert obendrein. Aber das heißt nicht, dass man
Thurn und Taxis: Es war keine Notwen- sich Bayern am besten über die kirchliche nicht bereits im Diesseits bezahlt. Die
digkeit zu verhüten, weil ich mich auf Tradition. Auch wenn heute alles sehr viel Rechnung kommt, das ist meine Lebens-
Jungs erst gar nicht eingelassen habe. Ich laxer geworden ist, ist es nach wie vor ein erfahrung. Die Leute, die nicht anständig
hatte Angst, dass es außer Kontrolle gerät. sind, die bezahlen schon hier. Ich hab noch
Ich hab’s ja bei meinen Freundinnen gese- keinen Schuft gesehen – und ich spreche
hen. Zack, und die waren schwanger. Und wirklich von Schuften, rücksichtslosen, bö-
diejenigen, die die Pille nahmen, wurden sen Menschen, die nur an sich denken –,
fett und bekamen Pickel. der nicht bezahlt hätte. Mit Einsamkeit,
SPIEGEL: Mit Ihrem Mann hat es dann Depressionen, Krankheit, dem Verlust ei-
doch geklappt. nes Kindes. Man muss nicht bis nachher
Thurn und Taxis: Mein Mann war ganz warten. Die Strafe im Jenseits kommt
ruhig und gelassen. »Take your time» hat dann noch zusätzlich.
er gesagt. »Ich hab in dir die Frau meines SPIEGEL: Das ewige Leben ist für Sie nicht
Lebens erkannt. In dem Augenblick, wo Möglichkeit, sondern Gewissheit?
du zu mir Ja sagst und wir in dieses große Thurn und Taxis: Ich bin ganz sicher, dass
Projekt einsteigen können, stehe ich be- es ein ewiges Leben gibt. Wir sind prädes-
reit.« Da hab ich mich zurückgelegt, habe tiniert, ewig zu leben. Wenn man bedenkt,
alle Ängste verloren, und dann ging’s wie viel Geld und Energie reingesteckt

DIETER MAYR / DER SPIEGEL


plötzlich. wird, um das Leben hier auf Erden zu ver-
SPIEGEL: Wie haben Sie es bei Ihren Töch- längern, kann ich nur lachen. Warum dok-
tern gehalten? Haben Sie denen trotzdem tern die Leute so sehr an etwas herum, das
gesagt: kein Sex vor der Ehe? wir schon besitzen? Die wollen mithilfe
Thurn und Taxis: Aber natürlich! Mein der Medizin ewig leben im Hier und Jetzt,
Credo war immer, dass man den größtmög- während wir Christen doch wissen, dass
lichen Genuss an diesem Geschenk des Thurn und Taxis, SPIEGEL-Redakteur* wir am Ende aller Tage unsere Körper oh-
Himmels hat, wenn man sich aufspart für »Wir sind prädestiniert, ewig zu leben« nehin wiederbekommen.
den richtigen Mann. Aber ich bin jetzt SPIEGEL: Es gibt ein großes spirituelles
auch nicht die Mutter gewesen, die alles prägender Teil der hiesigen Kultur und hat Bedürfnis in der Gesellschaft. Die Men-
kontrolliert. Das ging als Alleinerziehende damit sozusagen atheistisches Bleiberecht schen rennen zu Tausenden ins Yogastu-
schon rein zeitlich nicht. Außerdem musste erworben. In den Sechzigerjahren ist viel dio oder lassen sich im Ashram erleuchten.
ich mich um das Unternehmen kümmern. an Tradition zerstört worden. Heute wacht Nur die Kirchen sind leer. Haben Sie eine
Die Kinder behaupten zwar, ich sei streng das Denkmalamt, dass das, was noch da Erklärung?
gewesen. Ich finde, ich war viel zu nach- ist, erhalten bleibt. Thurn und Taxis: Das liegt daran, dass
lässig. SPIEGEL: Zur katholischen Tradition ge- auch der Klerus den Glauben verloren hat.
SPIEGEL: Aus Ihren Kindern scheint trotz- hört auch eine tief verwurzelte Volksfröm- Der Katholizismus ist eine Kulturreligion
dem etwas geworden zu sein. Oder ist da migkeit. Kaum etwas ist Protestanten so geworden, bei der man im Grunde ge-
eines vom Weg abgekommen? fremd wie die Heiligenverehrung. nommen nicht mehr wirklich an die hei-
Thurn und Taxis: Nein, vom Weg abge- Thurn und Taxis: Anbeten dürfen auch lende Kraft der Sakramente glaubt. Wir
kommen, das würde ich nicht sagen. Aber wir nur Gott. Aber wir können um Bei- haben als Kinder gelernt, dass man in der
ich kann natürlich auch nicht in die Seele stand bitten. Ich hab einen ganzen Kanon Gegenwart des Allerheiligsten kniet, und
reinschauen. Wie erfolgreich ich gewesen von Heiligen, die jeden Tag angerufen wer- wenn man’s nicht mehr aushält, dann
bin, das werden wir dann an den Enkel- kann man ja rausgehen. Wenn die Königin
kindern feststellen. * Jan Fleischhauer auf Schloss Emmeram. von England einen Raum betritt, gehen

49,6 8000 17 998


Prozent der Gesamtbevölkerung Bayerns katholische Kirchen, fein geschätzt, gibt Katholiken verließen 2017 in der
(6,44 Millionen von 13 Millionen es in Bayern. Damit steht etwa jedes Erzdiözese München und Freising die
Einwohnern) sind Mitglied in der dritte Gotteshaus der Bundesrepublik im Kirche. Nirgendwo in den 27 deutschen
katholischen Kirche. Freistaat (Kapellen nicht mitgerechnet). Diözesen war die Zahl höher.

IV DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Bayern

HUG / INTERFOTO
Ehepaar Thurn und Taxis um 1985: »Da habe ich alle Ängste verloren, und dann ging’s plötzlich«

die Leute in Habachtstellung. Es herrscht noch in Freizeit- und Sexkategorien den- Röcken: Die Aufregung, die er da erlebt
eine Gespanntheit in dem Raum, die wun- ken und dann auch noch entsprechend habe, sei tausendmal größer als beim An-
derschön zu beobachten ist. Und in der rumlaufen. blick der Halbnackten, die heute über die
Kirche? Da lümmeln die Leute herum. SPIEGEL: Was heißt das für Deutschland? Straße laufen.
Selbst der Klerus sitzt, statt zu knien. An Thurn und Taxis: Es kann sein, dass wir SPIEGEL: Apropos Nacktheit: Gibt es Fo-
solchen scheinbaren Kleinigkeiten erken- unsere Gewohnheiten ändern müssen. tos aus Ihrer Jugend, die Ihnen jetzt pein-
ne ich, dass der echte Glaube an die Ge- Vielleicht können wir irgendwann nicht lich sind?
genwart des Schöpfers in der Welt nicht mehr im Minirock auf die Straße gehen. Thurn und Taxis: Es gibt schon die ein
mehr vorhanden ist. Haltung und Körper- Das mag man bedauern, aber wenn man oder andere Klamotte, wo ich im Nach-
sprache haben extrem viel mit Empfinden das nicht will, dann darf man die anderen hinein sage: Wie konnte ich so etwas nur
zu tun. halt nicht reinlassen. Wir müssen uns tragen? Ich gehöre zu den Leuten, die sich
SPIEGEL: Die Muslime haben dieses Pro- der Mehrheit der Leute, die da sind, an- selbst ungern hören oder im Fernsehen
blem nicht. passen. Und wenn das bedeutet, mehr sehen. Da geniere ich mich.
Thurn und Taxis: Ich bin unter dem Halb- Textilien, dann bedeutet das eben mehr SPIEGEL: Es gibt den Auftritt von Ihnen
mond aufgewachsen. In der für mich prä- Textilien. im Kettenhemd.
genden Zeit zwischen sechs und zehn Jah- SPIEGEL: Sie haben demnach auch kein Thurn und Taxis: Das Kettenhemd war
ren waren wir in Mogadischu, weil mein Problem mit dem Kopftuch? Paco Rabanne! Das hängt heute im Muse-
Vater in Afrika als Hörfunkredakteur ge- Thurn und Taxis: Ganz Italien war vor um für Mode in Paris.
arbeitet hat. Mich hat schon als Kind fas- nicht allzu langer Zeit schwarz gekleidet SPIEGEL: Haben Sie irgendwelche Täto-
ziniert, dass die Muslime auf der Straße und hatte Kopftuch an. Wir trugen auch wierungen?
ihren Teppich ausrollen und beten. Bei uns Kopftücher in der Kirche. Das Kopftuch Thurn und Taxis: Keine Tätowierungen.
hat der Glaube immer so etwas Verschäm- ist absolut normal und in Ordnung. Mir SPIEGEL: Die Drogen haben offenbar auch
tes, so als sei er eine Sache, die man am hat mal ein Schriftsteller gesagt, die ka- nicht geschadet.
besten diskret erledigt. Man könnte ja je- tholische Kirche verstehe mehr von Erotik Thurn und Taxis: Hätte man auch sein las-
manden beleidigen. als jede andere Religion. Als er als junger sen können.
SPIEGEL: Sie halten die Angst vor dem Is- Mann über die Straße gegangen sei und SPIEGEL: Was war dabei: Marihuana,
lam für übertrieben? rübergeschaut habe auf die andere Seite Koks, LSD?
Thurn und Taxis: Ich habe lang genug in zu den Mädchen mit ihren knielangen Thurn und Taxis: Mein Gott, ich hab alles
einem muslimischen Land gelebt, um probiert.
sagen zu können, dass die Mehrheit der SPIEGEL: Sie sind offensichtlich keine
Muslime mitnichten feindselig ist. Sie ha- Suchtpersönlichkeit.
ben ihren festen Glauben, den muss man »Bei uns hat der Glaube Thurn und Taxis: Ich hab auch da Glück
respektieren. Sie respektieren aber auch immer so etwas gehabt. Ich hab immer nur ein Viertel
unseren Glauben. Was Muslime nicht von dem genommen, was man mir an-
ausstehen können, sind Leute, die den Verschämtes, man könnte geboten hat.
lieben Gott komplett negieren und nur ja jemanden beleidigen.«
VI DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018
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Ferdinand Kramer über SPIEGEL: Es funktioniert also vor allem


über Folklore?

Monarchen und
Kramer: Nein, Repräsentation ist nicht
Folklore. Sie steht für den in der Landes-
verfassung formulierten Kontinuitätsan-
spruch bayerischer Staatlichkeit. Schauen

Ministerpräsidenten
Sie sich nur die Lage der Münchner Staats-
kanzlei an: am Hofgarten im Ensemble mit
der königlichen Residenz. Ein anderes Bei-
spiel: Die Wittelsbacher Könige installier-
ten eine egalitäre Ministerialverwaltung
nach französischem Vorbild. Die dort täti-
Der Historiker erklärt die 200 Jahre alte Tradition gen Beamten rekrutierte man streng nach
den Ergebnissen der Examina, bis heute
der bayerischen Verfassung, das Ideal des ist das eine Aufstiegschance für junge Leute
Landesvaters und den skeptischen Blick auf Berlin. aus allen Landesteilen.
SPIEGEL: Wenn diese Beamten das richti-
ge Parteibuch haben?
Kramer: Im Gegensatz zu anderen Län-
Kramer, 57, leitet das Institut für Bayeri- Ministerpräsident Alfons Goppel stilprä- dern kennt Bayern keine politischen Be-
sche Geschichte der Ludwig-Maximilians- gend verkörpert, etwa indem er auf Staats- amten. Auch wenn die Ministerialbüros
Universität München. repräsentation Wert legte. Unmittelbar und Stabstellen wuchsen, so gilt dieses
nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst Prinzip bis heute. Eine der Mitbegründe-
SPIEGEL: Herr Kramer, Bayern begeht in die- Zurückhaltung angebracht, aber seit den rinnen der Grünen hat uns als Zeitzeugin
sem Jahr ein doppeltes Jubiläum: Die baye- Sechzigerjahren griff man gern auf die Bau- einmal erzählt, wie sie frisch gewählt in
rische Verfassung ist 200 Jahre alt, der Frei- ten der Wittelsbacher zurück. den Landtag kam, voller Misstrauen ge-
staat 100 Jahre. Ein Grund zum Feiern? SPIEGEL: Wozu? gen den Apparat. Sie fand dann zu ihrer
Kramer: Zumindest markieren die Daten Kramer: Als der französische Präsident Überraschung Beamte vor, die auch sie
wichtige Eckpunkte auf dem Weg Bayerns Charles de Gaulle 1962 München besuchte, sachdienlich unterstützten.
in die Demokratie. Die Verfassung von brachte man ihn in der königlichen Resi- SPIEGEL: Sie loben die bayerischen Beam-
1818 war im europäischen Vergleich sehr denz unter. Dort hat die Staatsregierung ten. Heißt das: Ganz egal, welche Volten
fortschrittlich. Sie garantierte Grundrechte ihre wichtigsten Repräsentationsräume, sich die jeweilige Landesregierung aus-
und etablierte den Landtag mit zwei Kam- den Kaisersaal oder das Antiquarium. Drei denkt, Bayern funktioniert immer?
mern als Volksvertretung. Aus den Grup- Jahre später fuhr Goppel, der als Bäcker- Kramer: Zumindest gibt es bei einem
pierungen entwickelten sich politische Par- sohn aus Regensburg aus kleinen Ver- Wechsel an der politischen Spitze eines
teien. 1918 fiel zunächst die Entscheidung hältnissen stammte, mit der englischen Ministeriums keinen grundlegenden Aus-
für die Demokratisierung in Form einer Königin Elizabeth gemeinsam im offenen tausch des Personals. Die Verwaltung ver-
parlamentarischen Monarchie mit Frauen- Wagen durch die Prachtstraßen der Lan- steht sich als Element der Kontinuität. Eine
stimmrecht und Verhältniswahlrecht. Es deshauptstadt. Wenn man so will, söhnten Eigenheit ist auch, dass es in der Fläche mit
folgte die Revolution: In München rief Kurt sich so monarchische und republikanisch- den Landräten gewählte Beamte gibt, die
Eisner den Freistaat Bayern aus. demokratische Traditionen aus. ihrem Landkreis verpflichtet sind und staat-
SPIEGEL: Manche Bayern trauern bis heu-
te ihrem König nach.
Kramer: Das Haus Wittelsbach, das bis
1918 über viele Jahrhunderte regiert hat,
war in Bayern beliebt. Die Wittelsbacher
standen für eine maßvolle Herrschaft.
Während in Berlin und in Wien die Monar-
chen 1848 auf die Menschen in den Stra-
ßen schießen ließen, trat in Bayern König
Ludwig I. zurück. Das ist schon eine ande-
re politische Kultur. Der Gründer der So-
zialdemokraten, August Bebel, sagte ein-
mal, dass die Deutschen, hätten sie ihren
Kaiser wählen dürfen, vermutlich einen
Wittelsbacher gekürt hätten.
SPIEGEL: Heute hat Bayern keine Könige
mehr, dafür CSU-Ministerpräsidenten, die
sich bisweilen allmächtig wähnen. Auch
ein Erbe der Monarchie?
STADTMUSEUM MÜNCHEN

Kramer: Der Monarch als Integrations-


figur war sicherlich eine prägende Gestalt
in Bayerns politischer Kultur. Das Ideal
des Landesvaters mag Elemente davon
enthalten. Den hat beispielsweise der CSU-

Das Gespräch führte der Redakteur Jan Friedmann. Gedenkstätte für den ermordeten Eisner in München 1919: »Antisemitische Fieberkurve«

VIII
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Bayern

JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL


Wissenschaftler Kramer in München: »Vom Staat erwartet der Bürger Sicherheit«

liche sowie kommunale Verwaltung verbin- zunehmend in die Rolle des Landesvaters geriet unter Druck, weil die Märkte sich
den. Das sind in der Regel recht zupacken- hinein. Luitpold hatte zunächst einen internationalisierten und liberalisierten.
de Menschen, die selbstbewusst gegenüber schweren Start, weil man ihm unterstellte, Mit dem Bauernbund bildete sich eine Par-
den Ministerien auftreten, weil sie eigen- er habe Ludwig II. entmachten wollen. tei mit radikaleren Positionen.
ständig demokratisch legitimiert sind. SPIEGEL: Wie Söder seinen Vorgänger SPIEGEL: Wie heute?
SPIEGEL: Bei aller Verwaltungstradition: Horst Seehofer? Kramer: Tiefgreifende wirtschaftliche und
Am meisten verehrt wird bis heute Lud- Kramer: Das sind jetzt Ihre Assoziationen. gesellschaftliche Veränderungen wirken
wig II., der Märchenkönig. War der nicht das Luitpold hat auf die Proklamation als Kö- sich auf die Menschen aus, materiell und
genaue Gegenteil von Maß und Vernunft? nig verzichtet, formal blieb sein Neffe Otto, mental. Das war in der Hochmoderne
Kramer: Er war anders, deshalb wurde er der kranke Bruder von Ludwig II., König. nicht anders als in der Globalisierung.
so populär. Ludwig II. hat prunkvolle Durch diese Zurückhaltung hat der Prinz- Zusätzlich verunsichernd wirkt es, wenn
Schlösser wie Neuschwanstein gebaut, das regent an Statur gewonnen. staatliche Sicherungssysteme infrage ge-
dann später Walt Disney als Inspiration SPIEGEL: Der Prinzregent war wie Söder stellt werden. Vom Staat erwartet der Bür-
für sein Logo diente. Er war wegen seiner Franke. Hatten die Münchner oder die ger Sicherheit – und zwar nicht nur im
Persönlichkeitsstörung bald nicht mehr Oberbayern damit kein Problem? polizeilichen Sinn, sondern auch was die
fürs Regieren geeignet. Er lehnte die Kramer: Nein, in Zeiten der Monarchie Möglichkeiten zu einem gerechten Aus-
Reichseinigung ab, unterschrieb aber den wurden Prinzen auch außerhalb Bayerns kommen anbelangt. Das ist jedenfalls in
sogenannten Kaiserbrief. Er ist früh und geboren oder sind dort aufgewachsen. der politischen Kultur Europas so.
unglücklich gestorben. Eine Figur voller Ministerpräsidenten kamen aus der Pfalz SPIEGEL: Und die Parteienlandschaft?
Ambivalenzen, die Mythen und Projektio- oder Franken, nach 1945 etwa Hans Ehard, Kramer: Man kann auch die Frage stellen,
nen ermöglicht, gerade in einer scheinbar Hanns Seidel und Günther Beckstein. ob wir derzeit eine Rückkehr in ältere Tra-
durchrationalisierten Welt. SPIEGEL: War denn die gute alte Zeit wirk- ditionen des Parteienspektrums erleben.
SPIEGEL: Der CSU-Politiker und jetzige lich so gut, wie die Bayern sie erinnern? Historisch gesehen gab es in Deutschland
Ministerpräsident Markus Söder hat sich Kramer: Die Epoche um die Jahrhundert- lange Zeit Parteien rechts vom Zentrum,
zuletzt beim fränkischen Fasching in Veits- wende war hochdynamisch und nicht ohne etwa die DNVP, die DVP, später die Na-
höchheim als Prinzregent Luitpold verklei- Widersprüche. In München herrschte ein tionalsozialisten. Und es gab Parteien links
det. Der regierte als Nachfolger des Mär- liberales Klima, im Gegensatz zum macht- der SPD – USPD, Kommunisten.
chenkönigs von 1886 bis 1912. Was wollte orientierten Auftreten von Kaiser Wil- SPIEGEL: Den Freistaat hat ausgerechnet
uns Söder mit diesem Kostüm sagen? helm II. in Berlin. Künstler und Intellek- ein Sozialist gegründet, der USPD-Politi-
Kramer: In der bayerischen Geschichte tuelle zogen von Berlin nach München, ker Kurt Eisner. Wie passt das zur Rheto-
verbindet sich mit dem Prinzregenten die weil sie dort freier leben konnten. Seit den rik, wie sie heute die CSU pflegt?
sogenannte gute alte Zeit vor dem Ersten Jahren nach 1890 wirkte die Industriali- Kramer: Freistaat heißt ja zunächst nichts
Weltkrieg. Dabei wuchs der Prinzregent sierung in die Breite. Das agrarische Milieu anderes als Republik, es ist die Überset-

DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018 IX


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Bayern

zung ins Deutsche. Weiter gedeutet hat dert, daran mitzuwirken: So hätte Franz Jo-
die Publizistik den Begriff seit den Sechzi- sef Strauß als Ministerpräsident gern einige
gerjahren, im Sinne des Freistaats mit sei- Dinge rückgängig gemacht, die er zuvor als
ner eigenen staatlichen Tradition in der fö- Bundesfinanzminister durch die große Fi-
deral verfassten Bundesrepublik, der Bonn nanzreform auf den Weg gebracht hatte.
oder Berlin bisweilen auch die Stirn bot. SPIEGEL: Und wie erfolgreich sind die
SPIEGEL: Taugt der Freistaat, so wie ihn bayerischen Politiker in Berlin?
Eisner am 8. November 1918 ausrief, zum Kramer: Das schwankt. Es war bisweilen
historischen Vorbild? nicht einfach, Spitzenkräfte aus Bayern für
Kramer: Eisner hatte Vorbehalte gegen die Bonn oder Berlin zu gewinnen, weil die
parlamentarische Demokratie. Die SPD selten aus Bayern wegwollen. Umgekehrt
hat sich ja lange eher abgegrenzt von hatten Bundespolitiker aus Bayern keinen
Eisner. Es war der Vorsitzende der Mehr- ganz leichten Stand, wenn sie nach Mün-
heits-SPD, Erhard Auer, der beharrlich die chen wechselten. Das Verhältnis der Mi-
parlamentarische Demokratie in Bayern nisterpräsidenten Strauß und Seehofer zur

STEFFENS / DDP IMAGES


vorangetrieben hat. Die entsprechenden CSU-Landtagsfraktion ist da ein interes-
parteiübergreifenden Beschlüsse hatte der santes Untersuchungsobjekt.
König schon am 2. November, also vor Eis- SPIEGEL: Woher rührt eigentlich der baye-
ners Revolution, unterschrieben. rische Exzeptionalismus, der Glaube, et-
SPIEGEL: Warum verehren heute viele So- was ganz Besonderes zu sein?
zialdemokraten und Linke Kurt Eisner? Politiker Söder verkleidet als Ludwig II. Kramer: Ist das nicht auch ein Klischee?
Kramer: Die humanistischen Ideale Eis- »Figur voller Ambivalenzen« Die lange Tradition eigener Staatlichkeit
ners stehen dabei im Vordergrund. In sei- mag eine Rolle spielen. Daraus leitet sich
ner kurzen Regierungszeit wurden die ers- antisemitische Fieberkurve, die den Auf- der Anspruch ab, die Dinge so weit wie
ten allgemeinen Wahlen durchgeführt und stieg der NSDAP begünstigte. möglich selbst regeln zu wollen. Da denkt
Reformen in Gang gesetzt. Angesichts des SPIEGEL: Bei der Bundestagswahl 2017 er- die Freie und Hansestadt Hamburg ähnlich
Strebens der CSU, Land und Partei iden- zielte die AfD in Niederbayern einige ihrer wie Bayern. Im historischen Vergleich war
tisch zu setzen, wollte die SPD mit der In- besten Ergebnisse in Westdeutschland. Bayern agrarischer und katholischer ge-
anspruchnahme Eisners ihren Anteil am Aufgrund historischer Vorprägungen? prägt als der Durchschnitt Deutschlands …
Freistaat verdeutlichen. Auf den Schild ge- Kramer: Da bin ich sehr vorsichtig. Es gibt SPIEGEL: … was sich nun angleicht.
hoben haben ihn aber vor allem Teile der zwar Orte, in denen der Bauernbund und Kramer: Ja, zumindest teilweise. Bei all
68er mit ihrer Revolutionsaffinität. dann die NSDAP relativ stark waren, spä- den Analysen über Bayern wird häufig die
SPIEGEL: Die Ausrufung des Freistaats ist ter die NPD oder die Republikaner. Das Nord-Süd-Wanderung innerhalb Deutsch-
also kein positives Jubiläum? katholische Niederbayern hatte aber lange lands vergessen. Sie hat mehr Menschen
Kramer: Da gehen die Meinungen aus- vergleichsweise wenige NSDAP-Wähler. nach Bayern geführt, als nach dem Zwei-
einander. Die Demokratisierung war SPIEGEL: Später hat sich insbesondere die ten Weltkrieg Flüchtlinge und Heimat-
schon zuvor beschlossen. Die Revolution CSU für die ländlichen Gebiete starkge- vertriebene hierhergekommen sind.
von 1918 verlief auch in Bayern nicht ge- macht und sogar ein eigenes Heimatminis- SPIEGEL: Wie ist Bayern mit seinen Zu-
waltfrei: Eisner holte am 7. November Sol- terium gegründet. Eine gute Erfindung? wanderern umgegangen?
daten aus den Kasernen und besetzte die Kramer: Maßnahmen zur Entwicklung Kramer: Ohne Probleme zu verkennen:
Zentren der Macht in München. Aber es des ländlichen Raumes haben in Bayern Im Großen und Ganzen hat deren Integra-
gab kein Blutvergießen, dazu hat Eisner eine lange Tradition. Es ging darum, gleich- tion gut geklappt. Dazu hat die in den
genauso beigetragen wie der König, der wertige Lebensverhältnisse herzustellen Fünfzigerjahren einsetzende positive Wirt-
München verließ. Der Bürgerkrieg mit und die Abwanderung in die Städte zu brem- schaftsentwicklung beigetragen. Schon
rund tausend Toten, der kommt erst nach sen. In den Sechziger- und Siebzigerjahren nach dem Ungarn-Aufstand haben baye-
Eisners Ermordung, im April und Mai errichtete man binnen kurzer Zeit 100 rische Firmen in den Flüchtlingunterkünf-
1919. Gymnasien, zahlreiche Hochschulen wur- ten nach Arbeitskräften gesucht.
SPIEGEL: Bayern sollte zur Ordnungszelle den in allen Landesteilen gegründet, Auto- SPIEGEL: Warum reden bayerische Politi-
des Reiches werden, forderte später Minis- bahnen gebaut, etwa nach Regensburg. ker dann so viel über Grenzsicherung?
terpräsident Gustav von Kahr. SPIEGEL: Haben die Bundespolitiker aus Kramer: Historisch gesehen hatte Bayern
Kramer: Tatsächlich wurde es eher zur Un- Bayern nur ihr Heimatland im Blick? lange Jahre eine eigene Grenzpolizei, be-
ordnungszelle des Reiches, weil sich dort Kramer: Insgesamt waren Politiker aus Bay- vor die Regierung Stoiber sie abschaffte.
Extremisten aus dem gesamten Reich sam- ern aus föderaler Perspektive eher skep- Mit ihr wollte man einst die Staatlichkeit
melten. Es entstand mit dem Verweis auf tisch, wenn der Bund seine Kompetenzen Bayerns demonstrieren.
die Rolle von Juden in der Revolution eine erweiterte. Das hat sie nicht daran gehin-

2 1 2
Kammern hatte der Bayerische Land- Ministerpräsident gehörte seit 1945 Millionen Flüchtlinge und Heimat-
tag noch bis 1999. Im Senat saßen nicht der CSU an: Der SPD-Politiker vertriebene hat Bayern nach dem
vor allem Vertreter von Berufsorganisa- Wilhelm Hoegner entwarf die heutige Zweiten Weltkrieg aufgenommen, da-
tionen und Gewerkschaften. Verfassung des Freistaats Bayern. runter eine Million Sudetendeutsche.

X DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Suzanna Randall über Randall: Ein paar Tage vor Bewerbungs-


schluss habe ich in meiner Mittagspause
auf SPIEGEL ONLINE zufällig über die Su-

Weite und che nach Deutschlands erster Astronautin


gelesen. Am Tag der Deadline habe ich
meine Bewerbung abgegeben. Mit mir ha-
ben das 400 Frauen getan, 100 kamen in

Schwerelosigkeit
die nächste Runde.
SPIEGEL: Wie läuft so ein Auswahlverfah-
ren genau ab?
Randall: Das Deutsche Zentrum für Luft-
und Raumfahrt hat den Auswahlprozess
Die Münchner Astrophysikerin möchte die erste deutsche übernommen und genauso gesiebt, wie sie
das bei der Suche nach Alexander Gerst
Frau im All werden. Das bayerische Raumfahrtprogramm gemacht haben. Wir mussten kognitive
»Bavaria One«, sagt sie, komme zur genau richtigen Zeit. und psychologische Tests bestehen, Team-
workaufgaben lösen und dann sehr aus-
führliche medizinische Untersuchungen
durchlaufen.
SPIEGEL: Ist es Zufall, dass von den sechs
Finalistinnen drei Frauen zu dem Zeit-
punkt in Bayern arbeiteten?
Randall: Nein, der Großraum München
ist einfach ein Hotspot für Raumfahrttech-
nologie und naturwissenschaftliche Grund-
lagenforschung. Airbus entwickelt hier
Raketenantriebssysteme für die »Ariane 5«
und »6«. Wenn ich mich nicht gerade auf
die Mission im All vorbereite, wofür ich
FELIX HÖRHAGER / PICTURE ALLIANCE / DPA

30 Prozent meiner Arbeitszeit aufwenden


darf, bin ich in der Europäischen Südstern-
warte zuständig für die Qualität der Daten
von »Alma«, des größten Millimeter-Tele-
skops der Welt.
SPIEGEL: Wie sieht das Astronauten-
training konkret aus?
Randall: Momentan ist es wahnsinnig viel
Theorie. Viele denken, ich springe von
Astronauten-Trainee Randall: »Viel mehr als eine Nervenkitzelmission« einem Survivaltraining zum nächsten,
aber ganz so aufregend ist es nicht. Gerade
lerne ich, wie die elektrischen Systeme auf
Randall, 38, arbeitet in der Europäischen Gender Balance angeht. Brauchen wir der ISS funktionieren oder welche Rake-
Südsternwarte am Technologiecampus eine Frauenquote fürs Weltall? ten von welcher Raumfahrtagentur derzeit
Garching bei München. Randall: Leider ja. Ich finde es beängs- entwickelt werden. Außerdem mache ich
tigend, dass sich dieser verschwindend einen Flugschein.
SPIEGEL: Frau Randall, bislang hat geringe Frauenanteil in den letzten 30 Jah- SPIEGEL: Wissen Sie, wie sich Schwere-
Deutschland elf Männer auf Mission in den ren nicht wirklich vergrößert hat. In Ame- losigkeit anfühlt?
Weltraum geschickt, aber keine einzige rika gibt es deswegen seit zwei Jahren beim Randall: Anfang des Jahres habe ich mei-
Frau. Was können Astronauten, das Astro- Auswahlverfahren neuer Astronauten- nen ersten Parabelflug gemacht. Für 22 Se-
nautinnen nicht können? Trainees eine Art Frauenquote. Generell kunden ist man da schwerelos. Ein fan-
Randall: Männer sind kräftiger als Frauen, arbeiten gemischte Teams einfach besser. tastisches Gefühl, das man mit nichts
doch das kann nicht der Grund für ihre SPIEGEL: Das spendenfinanzierte Start-up vergleichen kann. Auch nicht mit dem Tau-
Dominanz im All sein. Schließlich braucht »Die Astronautin« will auf eigene Faust chen unter Wasser. Viele versuchen in der
man in der Schwerelosigkeit gar keine den Frauenanteil in Raumschiffen erhö- Schwerelosigkeit Schwimmbewegungen
Muskelmasse, und in einer engen Raum- hen. Wie haben Sie von dieser ungewöhn- zu machen, aber das funktioniert nicht,
kapsel hat man als groß gewachsener lichen Aktion erfahren? weil Luft keinen Widerstand gibt.
Mensch eher Nachteile. Im Weltall sind SPIEGEL: Was fasziniert Sie so an den

30
eine schnelle Auffassungsgabe und Team- Sternen?
fähigkeit gefragt. So gesehen müssten Randall: Diese endlose Weite, die unser
Frauen fast besser für Weltraummissionen Gehirn gar nicht fassen kann und die mir,
geeignet sein als Männer. ehrlicherweise, auch Angst macht.
SPIEGEL: Trotzdem sind nur gut zehn Pro- SPIEGEL: Wird man als Astrophysikerin, die
zent aller Astronauten weltweit weiblich. täglich mit Teleskopen ins All blickt, emp-
Deutschland bildet unter den Raumfahrer- Millionen Euro will der Freistaat fänglich für komplett unwissenschaftliche Er-
nationen das einsame Schlusslicht, was die künftig jährlich in die Fakultät für klärungen unseres Daseins auf dieser Erde?
Luftfahrt, Raumfahrt und Geodäsie Randall: Einige Wissenschaftler sind sehr
Das Gespräch führte die Redakteurin Anna Clauß. der TU München investieren. gläubig. Ich glaube nicht an die Kirche,

XII DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Bayern

aber ich kann mir gut vorstellen, dass treiben. Das ist viel Geld, übrigens genau- SPIEGEL: Die New Space genannte Pri-
etwas außerhalb unseres Vorstellungsho- so viel, wie Felix Baumgartners Sprung vatisierung der Raumfahrt ist ein Rie-
rizonts existiert. Allerdings kein weißer, gekostet hat. Aber wir bieten viel mehr senmarkt. Wie kann Bayern davon profi-
männlicher Gott, der uns bestraft, wenn als eine Nervenkitzelmission mit einer tieren?
wir etwas Falsches tun. Ich bin da freier in Frau als Protagonistin. Wir wollen auf der Randall: Bis vor 15 Jahren gab es nur
meinen Gedanken. ISS nicht nur genderspezifische Gesund- staatliche Auftraggeber von Weltraum-
SPIEGEL: Woran liegt es, dass die Esa auf heitsforschung oder zum Beispiel Experi- missionen. Die Esa, die Nasa, die Russen,
offiziellem Weg bislang noch keine Frau mente zur Entwicklung von In-vitro-Fleisch die Kanadier und die Japaner. Das war’s.
aus Deutschland für Weltraummissionen machen, sondern Frauen für naturwissen- Dank der sinkenden Kosten für Träger-
ausgewählt hat? schaftliche Fächer begeistern. raketen wird sich die Raumfahrt in den
Randall: Zum Beispiel an der geringen SPIEGEL: Wann könnte Ihr Flug ins All nächsten Jahren mehr regionalen Unter-
Bewerberinnenzahl. Es fehlen in der starten? nehmen öffnen, von denen sich bereits
Raumfahrt weibliche Vorbilder. Ich habe Randall: Wir planen mit dem Zeitraum viele in der Region um München ange-
neulich einen Workshop für Mädchen zwi- 2020 bis 2022. Hoffentlich bringt die Eu- siedelt haben.
schen zehn und zwölf Jahren gemacht und phorie, die Alexander Gerst derzeit aus- SPIEGEL: Würden Sie in einer bayerischen
am Anfang gefragt, wer Astronautin wer- löst, Wirtschaft und Politik dazu, sich hin- »Bavaria One«-Rakete Platz nehmen?
den will. Da ging kein einziger Arm hoch, ter uns zu stellen. Ich biete gern auch an Randall: Warum nicht? Vorerst hat die
was mich wirklich schockiert hat. Tierärz- herauszufinden, wie lange eine bayerische bayerische Staatsregierung allerdings nur
tin war hingegen hoch im Kurs. Brezel im All frisch bleibt. vor, einen Satelliten ins All zu senden, der
SPIEGEL: Wollten Sie schon als Kind As- SPIEGEL: Der bayerische Ministerpräsi- mit Sensoren und einer Videokamera aus-
tronautin werden? dent hat angekündigt, 700 Millionen in gestattet sein soll, die auch Bürger von der
Randall: Ja klar, immer schon. Ich wun- ein bayerisches Raumfahrtprogramm zu Erde aus bedienen können sollen.
dere mich, dass es Menschen auf der Welt investieren und viel Spott dafür geerntet. SPIEGEL: Darf man auf dem Mond die
gibt, die nicht Astronaut werden wollen. Randall: Nicht von mir. »Bavaria One« bayerische Flagge hissen?
In meiner Abizeitung stand »Die Suzie kommt zum genau richtigen Zeitpunkt. Es Randall: Die Lektion Weltraumrecht hatte
wird die erste Frau auf dem Mars«. Ein ist überhaupt nicht lachhaft zu sagen, wir ich noch nicht. Aber Nationen werden
Flug zur ISS würde mir schon reichen. streben als Bundesland ins All. Die Raum- doch immer unwichtiger. Ich sehe mich als
SPIEGEL: Wie viel kostet denn so ein Ti- fahrt ist enorm im Wandel, weil immer Europäerin, als Weltbürgerin. Wenn man
cket ins All? mehr privatwirtschaftliche Initiativen wie von oben auf die Erde blickt, sieht man
Randall: 50 Millionen Euro. So viel Geld zum Beispiel SpaceX aus dem Silicon keine Grenzen.
muss das Start-up »Die Astronautin« ein- Valley auf den Markt drängen.

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Stoschek, 70, ist Vorsitzender der Gesellschaf-


Michael Stoschek über terversammlung der Firma Brose, eines der
größten Automobilzulieferer Deutschlands.

Heimat und
Bis 2005 leitete er das Unternehmen in drit-
ter Generation.

SPIEGEL: Herr Stoschek, Sie haben vor


gut 15 Jahren das älteste Gasthaus Co-

Globalisierung burgs, das Goldene Kreuz, gekauft, und


Ihre Frau hat es restauriert. Der Speisekar-
te entnehmen wir, dass zu den Spezialitä-
ten ein »Gedöns« gehört. Was verbirgt
sich denn dahinter?
Der Coburger Unternehmer erläutert, weshalb Stoschek: Gedöns ist eine Kombination
der Autozulieferer Brose nicht aus Bayern wegziehen will, aus Spiegelei, Bratkartoffeln, einer Ge-
würzgurke und der Coburger Bratwurst.
warum viele Mitarbeiter in der Sitzproduktion seiner SPIEGEL: Gehört das Gasthaus zu dem,
Firma frustriert sind – und was er unter »Gedöns« versteht. was Sie mit Heimat verbinden?
Stoschek: Seit mehr als 35 Jahren spiele
ich im Goldenen Kreuz am Mittwochnach-
mittag Skat. Eines Tages hat mich die Wir-
tin gefragt, ob ich das Gebäude aus dem
13. Jahrhundert übernehmen könnte, da
sie keine Altersversorgung habe. Ich habe
zugesagt, da meine Frau und ich mit der
Restaurierung des Denkmals einen Beitrag
zur Qualität der Coburger Innenstadt leis-
ten wollten, nachdem wir genau die wie-
derholt kritisiert hatten. Inzwischen macht
uns das ausgezeichnete Gasthaus viel Freu-
de, und es ist so gut frequentiert, dass wir
manchmal ohne Reservierung keinen
Platz bekommen.
SPIEGEL: Was bedeutet Ihnen Ihre Hei-
matstadt?
Stoschek: Ich bin in Coburg geboren und
zur Schule gegangen. Nach dem Wehr-
dienst und meiner Ausbildung bei Siemens
verbrachte ich mein ganzes Berufsleben
in dieser Stadt. Mit der Expansion unseres
Unternehmens habe ich natürlich auch die
Entwicklung der Stadt aufmerksam ver-
folgt. Brose wurde ja in Berlin gegründet,
wo auch meine Großeltern gelebt haben.
Meine Familie zog dann nach Coburg in
die fränkische Provinz um. Das war für
sie natürlich zunächst etwas gewöhnungs-
bedürftig.
SPIEGEL: Warum ausgerechnet Coburg?
Stoschek: Nach dem Anschluss an Bayern
lag die Stadt in der Mitte des Deutschen
Reiches. Und mein Großvater hatte sich
mit einem Chemiker aus Coburg zusam-
mengetan, der wusste, dass hier eine klei-
ne Metallfabrik zum Verkauf stand. In
einem der 1904 erbauten Gebäude befin-
den sich seit der Renovierung unsere be-
trieblichen Ausbildungsstätten und damit
unsere jüngsten Mitarbeiter.
SPIEGEL: Sie wohnen drei Kilometer au-
NORA KLEIN / DER SPIEGEL

ßerhalb in der eigenständigen Gemeinde


Ahorn und sind dort Ehrenbürger. Auch
in Coburg hat man Ihnen dies angetragen.
Warum haben Sie die Ehre ausgeschlagen?

Das Gespräch führten die Redakteure Dinah Deckstein


Firmeninhaber Stoschek in Ahorn bei Coburg: »Wir haben Mitarbeiter aus 91 Nationen« und Martin Hesse.

XIV DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018


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Bayern

Stoschek: Ich bin grundsätzlich kein Und man spart viel Zeit. Zugleich sind wir abteilungen infolge des globalen Wachs-
Freund großer Ehrungen. In der 4200-Ein- mit unseren Firmenflugzeugen innerhalb tums unseres Unternehmens permanent
wohner-Gemeinde Ahorn fühle ich mich von drei Stunden in jeder Stadt Europas. wächst, während sie selbst sich um ihren
sehr wohl. Alles ist sehr persönlich, und SPIEGEL: Spielt es für Ihre Kunden – die Arbeitsplatz sorgen müssen, weil sie im
es macht viel Freude, sich dort für das Ge- großen Autokonzerne – eine Rolle, wo Kostenwettbewerb zu ihren osteuropäi-
meinwesen zu engagieren. Deshalb habe Brose produziert? Ist »made in Germany« schen Kollegen stehen.
ich mich über die Ehrenbürgerschaft ge- noch ein Verkaufsargument? SPIEGEL: Sie haben also Verlierer und Ge-
freut, aber eine reicht. Stoschek: Unsere Kunden schätzen die winner der Globalisierung direkt neben-
SPIEGEL: Das klingt so, als würden Sie Hei- hohe Qualität unserer Erzeugnisse – un- einander vor Ort.
mat sehr lokal definieren und Ahorn ge- abhängig davon, wo sie produziert werden. Stoschek: Das stimmt. Allerdings müssen
genüber Coburg vorziehen. Bedauerlicherweise unterstützen die Au- wir notgedrungen auch immer mehr ad-
Stoschek: Man kann die beiden Orte nicht tohersteller den Erhalt von inländischen ministrative Tätigkeiten im Ausland auf-
miteinander vergleichen. Die Stadt Co- Arbeitsplätzen in der Zulieferindustrie bauen, entweder aus Kostengründen oder
burg ist ein wichtiger Teil unserer Unter- nicht. Das erlebe ich nicht nur bei deut- um näher an unseren Kunden und Liefe-
nehmensgruppe, aber auch nur einer von schen, sondern auch bei anderen west- ranten zu sein. All das müssen wir unseren
62 Standorten in 23 Ländern. Die kleine europäischen Kunden. Vor diesem Hin- Coburger Produktionsmitarbeitern erklären.
Gemeinde ist mein privates Refugium, und tergrund ist es bemerkenswert, dass die SPIEGEL: Das wird kaum ausreichen, um
ich fühle mich sehr wohl in dieser vertrau- Gesellschafter unseres Familienunterneh- das Problem mit den Fehlzeiten zu lösen.
ten Atmosphäre. mens bereit sind, auf Rendite zu verzich- Stoschek: Uns bleibt gar nichts anderes
SPIEGEL: Brose hat sich unter Ihrer Füh- ten, um Arbeitsplätze zu erhalten. Aller- übrig, als uns den Bedingungen des Mark-
rung zu einem internationalen Konzern dings müssen auch die Mitarbeiter ihren tes zu stellen. Unsere Produkte müssen
entwickelt, mit 26 000 Mitarbeitern ... Beitrag leisten. höchsten Anforderungen hinsichtlich Qua-
Stoschek: Ich mag den Begriff Konzern SPIEGEL: Denen drohen Sie gerade mit lität und Technik genügen und gleichzeitig
nicht. Ich verbinde damit Anonymität, Bü- dem Abbau von bis zu 1500 Jobs in der wirtschaftlich wettbewerbsfähig sein. Zum
rokratie und Zahlenorientierung. Brose ist Montage von Sitzen in Coburg. Glück sehen unsere Arbeitnehmervertre-
ein Familienunternehmen aus Überzeu- Stoschek: Niemand hat gedroht. Unsere ter das ähnlich.
gung. Hier stehen Eigentümer seit 110 Jah- Geschäftsführung und ich haben darauf SPIEGEL: Am schnellsten ließe sich der
ren für Verantwortung gegenüber den Mit- hingewiesen, dass wir unsere Arbeitskos- Krankenstand abbauen, wenn Sie den
arbeitern und langfristig orientiertes Den- ten in Coburg so weit senken müssen, dass Produktionsmitarbeitern mehr zahlen
ken und Handeln. Mein Großvater und ich wir zumindest die Abschreibungen der An- würden ...
haben fast hundert Jahre die Geschäfte lagen und die Entwicklungskosten der hier Stoschek: Das wäre falsch und ist absolut
persönlich geführt. gefertigten Erzeugnisse erwirtschaften unrealistisch. Wir müssen im Gegenteil bei
SPIEGEL: Braucht gerade ein großes Fami- können. Wir sind der letzte verbliebene unseren Personalkosten so produktiv wie
lienunternehmen so etwas wie eine Hei- Sitzehersteller in Deutschland. Alle ande- möglich sein, etwa indem wir noch stärker
mat? Ist Coburg deshalb für Brose wichtig? ren haben ihre Fertigung verlagert. Um automatisieren oder die Digitalisierung
Stoschek: Natürlich. Wir beschäftigen an das bei uns zu verhindern, müssen wir die nutzen, um noch effizienter zu werden.
unserem ältesten Fertigungsstandort zahl- Abwesenheitsrate unserer Mitarbeiter in SPIEGEL: Mehr Automatisierung bedeutet
reiche Mitarbeiter in der vierten Genera- der Produktion halbieren. Sie ist fast dop- im Umkehrschluss weniger Stellen.
tion. Unsere Weihnachts- und Jubilar- pelt so hoch wie im Branchenschnitt. Stoschek: Lieber weniger, aber dafür zu-
feiern und auch die vielen historischen SPIEGEL: Woran liegt das? In den Siebzi- kunftssichere.
Gebäude erinnern uns an unsere Anfänge. gerjahren war der Krankenstand bei Brose SPIEGEL: Ist es in Zeiten der Globalisie-
Natürlich arbeiten wir heute mit den neu- noch weit unterdurchschnittlich. rung schwieriger, eine Bindung an die Fir-
esten Technologien. Aber es ist doch auch Stoschek: Das Hantieren mit schweren ma herzustellen?
wichtig, sich zu seinen Wurzeln zu beken- Sitzgestellen bedeutet eine hohe körper- Stoschek: Sicher ist es nicht einfacher ge-
nen. Im kommenden Jahr feiern wir übri- liche Belastung. Auch die Hitze in diesem worden, aber es ist einfach wichtig, dass
gens den 100. Jahrestag der Gründung des Sommer machte den Mitarbeitern zu die Mitarbeiter motiviert bleiben und sich
Metallwerks Max Brose & Co. in Coburg, schaffen. Hinzu kamen Defizite im Ma- weiterhin mit dem Unternehmen identifi-
also den Beginn unserer Produktion. nagement. Das führte dazu, dass unsere zieren. Unsere Beschäftigten in der Cobur-
SPIEGEL: Beneiden Sie Manager, die in Beschäftigten im Durchschnitt mehr als ger Fertigung arbeiten zum Beispiel neue
Städten wie München, Hamburg oder fünf Wochen pro Jahr wegen Krankheit Mitarbeiter für unsere Werke in Tsche-
Frankfurt leben und arbeiten? nicht zur Arbeit gekommen sind. Na- chien und der Slowakei ein, obwohl diese
Stoschek: Überhaupt nicht. In einer mitt- türlich ist es unseren Mitarbeitern in der Kollegen tendenziell ihre eigenen Arbeits-
leren Stadt ohne Verkehrs- und Wohn- Produktion schwer zu vermitteln, dass plätze gefährden. Das zeigt den hohen
raumprobleme lebt es sich hervorragend. die Zahl der Beschäftigten in den Zentral- gegenseitigen Respekt.

192,1 3,1 22,9


Milliarden Euro betrug 2017 der Wert Millionen Bürger des Landes Milliarden Euro entgehen
aller Exporte aus Bayern ins Bayern haben einen Migrationshinter- der bayerischen Wirtschaft 2018
Ausland. In der bundesweiten Statistik grund. Das sind 23,8 Prozent an Wertschöpfung aufgrund
liegt das Land damit hinter der Bevölkerung, knapp die Hälfte des Fachkräftemangels. Das sind
Baden-Württemberg auf Rang zwei. davon hat einen deutschen Pass. 4,7 Prozent der Bruttowertschöpfung.

XV
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Bayern

SPIEGEL: Ihr Unternehmen liegt im frühe- aufgerufen, sich ebenfalls gegen Fremden-
ren Zonenrandgebiet. Was ist Ihnen durch »In Bayern konzentriert feindlichkeit zu engagieren. Finden Sie
den Kopf gegangen, als Sie die Bilder aus das gut?
Chemnitz gesehen haben?
sich vieles zu Stoschek: Ja. Wir haben Mitarbeiter aus
Stoschek: Das war schon bedrückend. Es sehr auf den Großraum 91 Nationen, für uns gibt es überhaupt
ist tragisch, dass die gut gemeinte Migra- München.« keine nationalen Grenzen. Die bedauer-
tionspolitik von Angela Merkel unsere Ge- liche Situation in den neuen Bundeslän-
sellschaft so gespalten hat. dern hängt natürlich mit deren spezifi-
SPIEGEL: Beschäftigen Sie bei Brose SPIEGEL: ... oder solche, die nur schwer scher Vergangenheit zusammen. Deshalb
Flüchtlinge? an eine Arbeitserlaubnis kommen, weil bin ich zuversichtlich, dass diese Aggres-
Stoschek: Ja. Wir haben Mitarbeiter gefun- das Asylverfahren noch läuft. sivität nicht in die alten Bundesländer
den, die sich als Paten zur Verfügung stellen, Stoschek: Erfreulicherweise will die Bun- überschwappt.
und haben mit Flüchtlingen eher gute Er- desregierung ja für gut ausgebildete und SPIEGEL: Sie sind seit vielen Jahren CSU-
fahrungen gemacht. Die, die sich integrie- integrierte Asylanwärter den Zugang zum Mitglied. Tragen Sie die strikte Asylpolitik
ren lassen, sind ohnehin nicht das Problem. Arbeitsmarkt erleichtern, was schon lange der Partei mit und ihren Vorstoß, Flücht-
SPIEGEL: Sondern? überfällig war. Das kann dazu beitragen, linge an der Grenze zurückzuweisen?
Stoschek: Das Problem ist, dass wir eine dass Migranten nicht in die Kriminalität Stoschek: Ich bin parteipolitisch nicht ak-
ganze Reihe Ausländer haben, die illegal abrutschen. tiv oder interessiert. Trotzdem glaube ich,
nach Deutschland eingereist sind und des- SPIEGEL: Siemens-Chef Joe Kaeser hat dass eine kontrollierte Migrationspolitik
halb keiner offiziellen Arbeit nachgehen sich eindeutig von der AfD abgegrenzt im Sinne der Mehrheit unserer Bevölke-
können ... und andere Unternehmer und Manager rung und des inneren Friedens alternativ-
los ist. Schließlich sprechen die Erfolge auf
dem Gebiet der inneren Sicherheit auch
nicht gegen die bayerische Politik.
SPIEGEL: In Bayern wurde 2014 ein Hei-
matministerium eingerichtet, unter ande-
rem um strukturschwache Regionen zu
fördern. War das sinnvoll?
Stoschek: Ich denke, ja. In Bayern kon-
zentriert sich vieles zu sehr auf den Groß-
raum München. Insofern ist es richtig, die
strukturschwächeren Regionen zu fördern.
In den USA gibt es seit Längerem ein Hei-
matschutzministerium. Dort soll es wohl
auch das Nationalgefühl der Amerikaner
stärken. Ich frage mich: Wann werden die
Deutschen in der Lage sein, ein vernünfti-
ges Nationalgefühl zu entwickeln?
SPIEGEL: Nationalistische Tendenzen gibt
es in Deutschland zurzeit mehr als genug.
Stoschek: Das stimmt bedauerlicherweise.
Aber was soll einen angemessenen Natio-
nalstolz in Deutschland konkret ausma-
chen? Für mich passt es nicht zusammen,
dass wir uns wegen der furchtbaren Ereig-
nisse während des Nationalsozialismus zu
Recht bis heute beschämt fühlen, auf der
anderen Seite aber andere Nationen per-
manent belehren. Wir sagen ihnen, was
richtig und was falsch ist oder wen sie zu
wählen haben und wen nicht. Ein Zeichen
von Toleranz ist das wirklich nicht. Ich
denke, wir sollten uns umgekehrt einmal
damit befassen, wie die Menschen in an-
deren Ländern über Deutschland und sei-
ne Politik denken.
SPIEGEL: Welche Erfahrungen machen Sie
persönlich? Sie sind ja immer noch viel
im Ausland unterwegs.
Stoschek: Ich betreibe nach wie vor viel
NORA KLEIN / DER SPIEGEL

Sport, ich reite und fahre Rallyes und


Rennen, zuletzt in San Martino di Castroz-
za. Wie wir in der Welt als Deutsche oft
beschrieben werden, nämlich als notori-
sche Besserwisser, das kann ich mitunter
schlecht verarbeiten.
Brose-Showroom: Der letzte verbliebene Sitzehersteller in Deutschland

XVI DER SPIEGEL Bayern Nr. 42 / 13. 10. 2018

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