„Das Große feiert sich selber“ – mit dieser doppelsinnigen Sentenz er-
öffnet Hugo von Hofmannsthal einen Artikel, der aus Anlass des 100.
Todestages Friedrich Schillers in der Wiener Zeitschrift Zeit am
23.4.1905 erscheint.2 Auf den ersten Blick wird hier „ironisch“3 das
Pathos jenes Schiller-Bildes gebrochen, das noch die Feiern zum 100.
Geburtstag im Jahr 1859 bestimmt und „zu einem nationalen Ereig-
nis“4 mit zahllosen Festumzügen und Großveranstaltungen gemacht
hatte, an denen in Hamburg 17 000, in Berlin sogar 40- bis 50 000
Menschen teilnahmen. Die Schiller-Feiern 1905 waren dagegen „nur
noch eine sentimentale Reminiszenz an das Nationalfest von 1859.“5
Gerade für die intellektuelle und künstlerische Avantgarde der Jahr-
––––––––––––––
1 Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. 4 Bde. Hg. von
Bruno Hillebrand. Bd. 2, Frankfurt/Main 1984, S. 141.
2 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Auf-
sätze (1-3). Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. 1: Reden und
Aufsätze I (1891-1913). Frankfurt/Main 1979, S. 351-355, hier S. 351; dazu vgl. Ham-
mer, Stephanie B.: Hofmannsthals Essay on Schiller. The Myth of Greatness. In: Mo-
dern Austrian literature 22 (1989), S. 97-108, der jedoch widersprochen werden muss,
wenn sie den Aufsatz als „spectacular failure“ beschreibt und den „gulf that separates
the modern author’s age from that of Schiller“ (S. 97) betont. Die Einstufung des
Aufsatzes als „ironic exercise“ geht an der großen Geste der Identifizierung vorbei,
mit der Hofmannsthal sich Schiller nähert. Eine einlässliche Studie zu Hofmanns-
thals Schiller-Rezeption, die sich z.B. auch auf die Zürcher Beethoven-Rede erstreckt,
fehlt.
3 Hammer: Hofmannsthal’s Essay on Schiller, S. 99.
4 Gerhard, Ute: Schiller im 19. Jahrhundert. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Schiller-
Handbuch. Stuttgart 1998, S. 758-771, hier S. 770f.
5 Albert, Claudia: Schiller im 20. Jahrhundert. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch,
S. 773-792, hier S. 773.
––––––––––––––
19 Brief von Tirpitz, zitiert nach Bruch, Rüdiger vom / Hofmeister, Björn (Hg.): Deut-
sche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg
1871-1918. Stuttgart 2000, S. 279.
20 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demo-
kratie. München 1992, S. 649.
21 NA 1, 173f.
22 Schmidt, Gustav: Der deutsche Imperialismus. München/Wien 1989, S. 100; Craig,
Gordon Alexander: Deutsche Geschichte 1866-1945 vom Norddeutschen Bund bis zum
Ende des Dritten Reiches. München 1980, S. 269-278; Nipperdey: Deutsche Geschichte
1866-1918, Bd. 2, S. 629-670.
23 Aus einer Reichstagsrede Bernhard von Bülows vom 6. Dezember 1897. Nach
Mommsen, Wolfgang J.: Imperialismus. Seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen
Grundlagen. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Hamburg 1977, S. 130: „Mit einem Worte:
wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an
der Sonne.“
24 Döring, Heinrich: Schiller’s Selbstcharakteristik. Stuttgart 1853.
25 Hofmannsthal, Hugo von: Schillers Selbstcharakteristik. Aus seinen Schriften nach ei-
nem älteren Vorbild neu hg. von Hofmannsthal, Hugo von. München 1926. Neu hg.
und mit einem Nachwort versehen von Joachim Seng. München 2005.
1.2. Fragment
––––––––––––––
35 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiede-
mann. Frankfurt/Main 111992 (zuerst 1970), S. 221.
36 Ebd. S. 74.
37 Ebd. S. 236.
38 Ebd. S. 221.
39 Adorno, Theodor W.: „Ist die Kunst heiter.“ In: Noten zur Literatur. In: Gesammelte
Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11, S. 599-606, hier S 599.
40 Ebd.: „Gerade durch ihre erbauliche Unverbindlichkeit wird die Kunst dem bürgerli-
chen Leben als dessen ihm widersprechende Ergänzung eingefügt und unterworfen.“
41 Ebd. S. 599f.: Im Gegenzug freilich findet Adorno in der „Platitude von der Heiter-
keit der Kunst“ doch ihr „Entronnensein aus den Zwängen von Selbsterhaltung“ wie-
der. „Sie verkörpert etwas wie Freiheit inmitten der Unfreiheit“ (S. 600), ihr „Spiel“
ist „Kritik des tierischen Ernstes“ (S. 600f.).
42 Zur Kritik des Kraftschen Ansatzes vgl. etwa Suppanz, Frank: Person und Staat in
Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen
Verhältnisses. Tübingen 2000 (= Hermaea 93), S. 13-15.
Weise beschreibt sie Schillers Denken und Schreiben vor der Klassik,
d.h. Schillers „Lehr- und Wanderjahre“50 vor der Aufnahme des Brief-
wechsels und „Commerciums“ mit Goethe. Neben der „weltanschau-
liche(n) Gemengelage“51 erweist sich das Fortschreiten als ein Grund-
element der Schiller’schen Arbeit. Diese läuft nämlich keineswegs
zielsicher auf die „Krone der Klassizität“52 zu. Vielmehr reiht Schiller,
um noch einmal Hofmannsthal zu zitieren, „fast provisorisch und
wie überhastet“ Projekt an Projekt, schreibt gleichsam ins Offene
hinein, von ökonomischen Anforderungen getrieben, häufig simultan
an verschiedenen Projekten. Die Produktion des frühen und mittle-
ren Schiller bildet somit ein dynamisches Gefüge kommunizierender
Fragestellungen, einen Reflexionsraum für fortgesetzte, oft aporeti-
sche Ideenarbeit. Prozessualität, Parallelismus und thematische Clus-
terbildung kennzeichnen die Struktur dieser frühen und mittleren
Schaffensperiode.
1.3. Klassik
––––––––––––––
50 Schings, Hans-Jürgen: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Il-
luminaten. Tübingen 1996, S. 14.
51 Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000, Bd. 2, S. 262.
52 NA 22, 259 (Bürger-Rezension).
53 Schulz, Gerhard: Klassik 2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2
(2000), S. 270-274, hier S. 271.
54 Berghahn: Von Weimar nach Versailles, S. 75.
––––––––––––––
67 NA 20, 435.
68 Barner: Anachronistische Klassizität, S. 67. Carsten Zelle hat diesen Typus von Gleich-
setzung um die Variante „Das Sentimentalische ist das Erhabene“ erweitert. Ders.:
Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 464-471.
69 Barner: Anachronistische Klassizität, S. 74.
70 Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der
Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit 91).
71 21.12.1792; NA 26, 170. Vgl. an Fischenich, 11.2.1793, NA 26, 188: „Wirklich bin ich
auf dem Weg […] seine Behauptung, daß kein objektives Princip des Geschmacks
möglich sey, dadurch anzugreifen, daß ich ein solches aufstelle.“
72 Urban, Astrid: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätauf-
klärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 116.
––––––––––––––
73 So Helmut Koopmann: Dichter, Kritiker, Publikum. Schillers und Goethes Rezensi-
onen als Indikatoren einer sich wandelnden Literaturkritik. In: Barner, Wilfried u.a.
(Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 79-
106. Vgl. Misch, Manfred: Schiller als Rezensent. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Hand-
buch, S. 711-728, S. 714: „Ursache dieser Krise der Kritik war das Fehlen allgemein
akzeptierter Kunstregeln, eines verbindlichen Normensystems, auf das der Kunstrich-
ter sein Urteil stützen konnte.“
74 Wilm, Marie-Christin: Die Jungfrau von Orleans. Tragödientheoretisch gelesen. Schil-
lers ‚Romantische Tragödie‘ und ihre praktische Theorie. In: Jahrbuch der deutschen
Schillergesellschaft 42 (2003), S. 141-170.
75 NA 27, 40.
76 Frick, Werner: Schiller und die Antike. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S.
91-116, hier S. 101.
77 26.11.1790 an Körner, NA 26,58; vgl. an Körner, 10. bzw. 12.3.1789: „Es rollen
allerley Ideen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es wird sich noch
etwas Helles daraus bilden.“
78 NA 20, 458.
Umschrift die „Schönheit der alten Klassiker“ für die eigenen Aus-
druckspotentiale (copia) zu gewinnen. Zwischen Herbst 1788 und
Frühjahr 1789 eignet sich Schiller die Euripideische Iphigenie in Aulis
und ausgewählte Szenen der Phönizierinnen an.85 Die Übertragung
dient dem „Lernen und Aneignen alles dessen, was [Schiller] so deut-
lich als ‚Mangel’ spürte“.86 Sie soll „in den Geist der Griechen hinein“
führen, „unvermerkt ihre Manier“ mitteilen.87
Vor 1800 ist Schiller einer der ambitioniertesten Theoretiker der
Klassizität. Er war es auch, der das Schlagwort aus dem Französischen
entlehnte (nach Analogie von simplicité / Simplizität, ein Begriff, der
ja um 1800 weithin der Semantik des Klassischen angehörte). In die-
sem Sinne ist ‚classicité‘ bereits seit der französischen Klassik, dem
„âge classique“ geläufig. Der früheste deutsche Beleg findet sich in ei-
nem Brief vom 18.12.1786 an den Schauspieler und Theaterdirektor
Friedrich Ludwig Schröder, der den Don Karlos in Hamburg zur Auf-
führung angenommen hatte: „Ausserdem glaube ich überzeugt zu
seyn“, schreibt Schiller, dass „ein Dichter, dem die Bühne, für die er
schreibt immer gegenwärtig ist sehr leicht versucht werden kann, der
augenbliklichen Wirkung den daurenden Gehalt aufzuopfern, Classi-
cität dem Glanze“.88 So verstanden, bezeichnet der Begriff ganz all-
gemein ein Überschreiten des Bedingten und Begrenzten – sei es des
„Localen“89, des Individuellen oder des Ephemeren – zum Unbeding-
ten, Überzeitlichen und Überregionalen. An prominenter, eben zi-
tierter Stelle begegnet es dann in der Bürger-Rezension. Von hier aus
wird ‚Classicität‘ zum Schlagwort der ästhetischen Debatten vor der
Jahrhundertwende. Schiller hat also mit der Unterscheidung von nai-
ver und sentimentalischer Dichtung nicht nur das Schema geliefert,
das in der Frühromantik den „generellen Gegensatz zwischen klassi-
scher (antiker) und romantischer (moderner) Kunstübung zu postu-
lieren“ hilft.90 Er hat auch das Schlagwort vorweggenommen, dem die
romantische als „progressive Universalpoesie“91 im 116. Athenäum-
Fragment entgegenstrebt, nämlich der „Aussicht auf eine grenzenlos
wachsende Klassizität“.92 Idee wie Begriff einer progressiven und da-
her immer schon provisorischen, noch zu erringenden Klassizität
––––––––––––––
85 Frick: Schiller und die Antike, S. 99.
86 Storz: Schiller und die Antike, S. 195.
87 An Körner, 20.10.1788; NA 25, 121.
88 NA 25, 74.
89 Ebd.
90 Allemann, Beda: (das) Klassische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4.
Basel 1976, Sp. 853-856, hier Sp. 854.
91 KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 182.
92 Ebd. S. 183.
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93 Vgl. die Dokumente in Fambach, Oscar (Hg.): Ein Jahrhundert deutscher Literaturkri-
tik. Bd. 3: Der Aufstieg zur Klassik. Berlin 1959, S. 468-470 Während August Wilhelm
ein Spottpoem (An einen Kunstrichter) verfasst, nimmt Friedrich die Rezension zum
Ausgangspunkt zu einer Reflexion über ‚öffentliche‘ und ‚geheime‘ Dichtkunst, die
Schillers Popularitätskonzept weiterdenkt. Fambach: Aufstieg zur Klassik, S. 470.
94 Barner: Anachronistische Klassizität.
95 Oesterle, Günter: Friedrich Schiller und die Brüder Schlegel. In: Monatshefte für
deutschsprachige Literatur und Kultur 97 (2005), S. 461-467; Behler, Ernst: Die Wir-
kung Goethes und Schillers auf die Brüder Schlegel. In: Ders.: Studien zur Romantik
und zur idealistischen Philosophie. Bd. 1. München u.a. 1988, S. 264-282; Grimm, Sieg-
linde: Von der sentimentalischen Dichtung zur Universalpoesie. Schiller, Friedrich
Schlegel und die „Wechselwirkung“ Fichtes. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesell-
schaft 43 (1999), S. 159-187; Oberembt, Gert: Die Literaturdebatte um Schillers Horen
oder Poeten auf Kriegspfad. Die Brüder Schlegel reizen Schiller und werden darüber
zu Romantikern. In: Hegewald, Wolfgang (Hg.): Gegen die Zeit. Schiller & Co. Die
Klassiker als Zeitgenossen. Bremerhaven 2005, S. 73-97; Schmidt, Benjamin Marius:
Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf von Modernität in den
1790ern. Stuttgart 2001.
96 NA 20, 434f.
97 KFSA, Bd. 23, S. 185.
98 KFSA, Abt. 1, Bd. 1, S. 274.
99 Ebd. S. 345.
100 Bloom, Harold: Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Frankfurt/Main 1995 (engl.
zuerst 1973).
101 KFSA, 1. Abt. Bd. 1, S. 274.
––––––––––––––
102 Ebd. S. 347.
103 Ebd. S. 209.
104 Ebd. 1. Abt. Bd. 1, S. 366: „Auch Bürgers rühmlicher Versuch, die Kunst aus den en-
gen Büchersälen der Gelehrten, und den konventionellen Zirkeln der Mode in die
freie lebendige Welt einzuführen, und die Ordensmysterien der Virtuosen dem Volke
zu verraten, ist nicht ohne den glücklichsten bleibenden Einfluß gewesen.“
105 Dazu erhellend Alt, Peter-André: Die Griechen transformieren. Schillers moderne
Konstruktion der Antike. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg
in die Moderne. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung 40), S. 339-363.
106 „Es ist ein sehr bedeutender Vorteil“, schreibt er an Goethe, „von dem Reinen mit
Bewußtsein ins Unreinere zu gehen, anstatt von dem Unreinen einen Aufschwung
zum Reinen zu suchen wie bei uns übrigen Barbaren der Fall ist.“ MA Bd. 8, 1, S.
813. Nr. 767.
theorie, Ironie, Poetik der Arabeske, des dunklen Stils, der „offenen
Form“ mit Digressionen107).
Diese Ambivalenz von Nähe und Distanz wird in Friedrich
Schlegels Rezension des von Schiller herausgegebenen Musen-Alma-
nachs für das Jahr 1796 offensichtlich. Sie enthielt Wendungen, deren
herablassender Ton Schiller verletzte und das Verhältnis nachhaltig
eintrübte.108 Von „Unvollendung“ war da die Rede, die „zum Theil
aus der Unendlichkeit seines Ziels“ entspringe. Beinahe erscheint
Schiller dabei als progressiver Universalpoet avant la lettre, dem es
Schlegel zufolge „unmöglich“ ist, „sich selbst zu beschränken und un-
verrückt einem endlichen Ziele zu nähern“. Halb anerkennend, halb
denunzierend schrieb Schlegel von der „erhabnen Unmäßigkeit“, mit
der sich „sein rastlos kämpfender Geist immer vorwärts (drängt)“.109
Schiller mag die Schlegelsche Kritik schon deshalb als denunziatorisch
empfunden haben, weil sie mit der „Unvollendung“ einen Aspekt in
den Vordergrund stellte, der für die Frühromantik programmatisch,
für Schiller dagegen traumatisch war. Schillers Fragmente waren nicht
als „litterarische Sämereyen“110 oder „fermenta cognitionis“111 inten-
diert. Ihre offene Form war eine offene Wunde, die zunehmend dem
Ideal der scharfen Kontur und der Begrenzung widersprach. Auch
wenn es Schiller war, der den modernen Dichter auf jene „Kunst des
Unendlichen“112 festgelegt hatte, die schließlich von den Frühroman-
tikern poetologisch beim Wort genommen wurde, befremdet an de-
ren poetischen Elaboraten dann doch das Exzentrische und Spekula-
tive. Schlegels Fragmenten wird „Dürre, Trockenheit und sachlose
Wortstrenge“ attestiert, die Lucinde (1798) ist für Schiller der „Gipfel
moderner Unform und Unnatur“.113
Ziel der folgenden Studien ist es, in einer ‚dichten‘ Beschreibung der
vorklassischen Produktionen jenen Weg zu rekonstruieren, den Schil-
––––––––––––––
107 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 320.
108 Ebd. S. 315.
109 Fambach, Oskar: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750-1850). Bd. 2: Schiller
und sein Kreis. Berlin 1957, S. 268.
110 Blüthenstaub Nr. 114. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs.
Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard
Samuel. Darmstadt 1999, hier S. 285.
111 KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 209.
112 NA 20, 440.
113 NA 30, 73
lers Auffassung von Funktion und Faktur der Kunst zwischen Karls-
schule und Kantrezeption – also im Zeitraum von 1780 bis 1795 –
nimmt. Sie greifen dazu über die ästhetischen Abhandlungen im en-
geren Sinne hinaus und beziehen das gesamte Gattungs- und Diskurs-
spektrum zwischen Medizin und Philosophie ein. In der systemati-
schen Durchsicht einer Ästhetik vor der Ästhetik, d.h. vor den gro-
ßen Abhandlungen, liegt der Neueinsatz der folgenden Untersu-
chung. Wie der Ethnologe steht der Literaturwissenschaftler hier vor
einer disparaten „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder
ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und
verborgen sind und die er zunächst einmal irgendwie fassen muss“.114
Dies geschieht in unserem Fall durch die Annahme, 1. dass das Text-
ensemble zwischen Karlsschule und Kant-Begegnung eine dynamische
Einheit bildet, deren Zentrum 2. eine kontinuierliche Auseinander-
setzung mit ästhetischen Grundfragen im weiteren Sinne darstellt, die
teils explizit (z.B. im Schaubühnen-Aufsatz) teils auch implizit (z.B. in
den Dissertationen, in der Lyrik oder im Geisterseher) geführt wird.
So wird im ersten Abschnitt zu zeigen sein, dass „Gleichursprüng-
lichkeit“115 und „Verschwisterung“116 von Ästhetik und Anthropolo-
gie im 18. Jahrhundert nicht nur eine Anthropologisierung der Äs-
thetik und Literatur zur Folge hat, sondern auch eine literarische
Durchdringung der Anthropologie, und dies nicht nur in dem be-
kannten Sinn, dass „Anthropologie sich Unterstützung von den äs-
thetischen Praktiken erwartet“117 und so etwa Roman oder Krimi-
nalerzählung zur narrativen Experimentalanordnung werden lässt.
Neben diese Laborsituation und –simulation literarischer Anthropo-
logie, die für Schillers Erzählungen, die Historiographie wie auch die
Dramen längst bekannt und gut dokumentiert ist, tritt ein gegenläu-
figer Vorgang. Die poetische Durchdringung auch der medizinischen
und anthropologischen Schriften. Nimmt man die „Verbindung von
Anthropologie und Literatur als wechselseitige Ermutigung, Reflexi-
on, Kritik“118 ernst, gilt es in der Frage der Poetizität bzw. „Poetik
––––––––––––––
114 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme.
Frankfurt/Main 1987 (= sw 696), S. 15.
115 Vgl. Zelle, Carsten: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Äs-
thetik und Anthropologie um 1750. In: Ders. (Hg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psy-
chomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklä-
rung. Tübingen 2001 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19), S. 5-24.
116 Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie: Selbstbiographien und ihre Geschichte
– am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987 (= Germanistische Abhandlungen 62), S. 1.
117 Ebd.
118 Ebd.
––––––––––––––
124 In der Definition der Komödie im 29. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: „Die
Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen […] Ihr wahrer
allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das
Lächerliche zu bemerken.“ Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zusam-
menarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von
Schirnding und Jörg Schönert. 8 Bde. München 1970ff., hier Bd. 4, S. 363.
125 An Goethe, 17.2.1797; NA 29, 51.
126 Zelle, Carsten: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In:
Luserke (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 364-374, hier S. 366. Cassirer: Idee und Gestalt, S.
101 spricht von der notwendigen „Betrachtung des persönlichen Moments in Schil-
lers Methodik.“
127 NA 1, 86 (An einen Moralisten; v. 38f.).
128 NA 23, 78-82.
129 Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hg.): Rück-
kehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999 (= Studien
und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71).
„Der Gang unseres Geistes wird oft durch zufällige Verkettungen be-
stimmt“, schreibt Schiller im Rückblick auf den hier zu betrachten-
den Zeitraum im Jahr 1801.130 In der Tat: Der Weg von der Karls-
schule zu Kant ist eine solche Folge von Begegnungen, Kraftfeldern
und Konstellationen, die Schillers Weg entscheidend beeinflussen.
Seit langem ist gesehen worden, dass Schillers „ästhetische Erzie-
hung“131 durch Figuren wie Wieland oder Moritz und durch den lang-
jährigen, kritischen Dialog mit Körner ebenso geprägt ist wie durch
die Auseinandersetzung mit Kant, auf die sich die Forschung zu den
großen Abhandlungen beginnend mit den Kallias-Briefen immer kon-
zentriert hat.132 Umstritten waren allenfalls die Folgen, die sich aus
dieser Begegnung für den Dichter Schiller ergaben. Dass Schiller aus
Kant „wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei“ 133, ist schon
bei Nietzsche ein Topos. Nietzsche ist es auch, der Schillers großen
Abhandlungen „Affectation der Wissenschaftlichkeit“ unterstellt und
sie als „Muster“ abfertigt, „wie man wissenschaftliche Fragen der Aes-
thetik und Moral nicht angreifen dürfe.134 Dass sich hier eine „Mesal-
––––––––––––––
130 An den Leipziger Musikkritiker Johann Friedrich Rochlitz. NA 31, 72.
131 Hinderer, Walter: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung. In: Jahrbuch
der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 348-387; Wielands Beiträge zur deut-
schen Klassik. In: Conrady, Karl Otto (Hg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik.
Stuttgart 1977, S. 44-64; zu Moritz und Schiller vgl. Schneider: Die Schwierige Sprache
des Schönen.
132 Einige der wichtigsten neueren Studien seien hier genannt: Stachel, Thomas: Der
Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010 (= Manhat-
tan Manuscripts 4); Macor, Laura Anna: Il giro fangoso dell’umana destinanzione.
Friedrich Schiller dall’illuminismo al criticismo. Florenz 2008 (Edizione ETS 50);
Beiser, Frederick: Schiller as Philosopher. A Re-Examination. Oxford 2005; Feger,
Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg
1995; Muehleck-Müller, Cathleen: Schönheit und Freiheit. Die Vollendung der Moderne
in der Kunst; Schiller – Kant. Würzburg 1989; Tschierske, Ulrich: Vernunftkritik und
ästhetische Subjektivität. Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers. Tübingen 1988
(= Studien zur deutschen Literatur 97); Mein, Georg: Die Konzeption des Schönen.
Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik: Kant – Moritz – Hölderlin
– Schiller. Bielefeld 2000; Schaarschmidt, Peter: Die Begriffe ‚Notwendigkeit‘ und ‚All-
gemeinheit‘ bei Schiller und Kant. Diss. Zürich 1971.
133 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, 181.
134 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 605. Hier mag Heine im Hintergrund stehen,
für den Schiller „ein gewaltsamer Kantianer“ ist, dessen „Kunstansichten […] ge-
schwängert [sind] von dem Geist der Kantischen Philosophie.“ Heinrich Heine: Wer-
ke und Briefe in zehn Bänden. Hg. von Hans Kaufmann. Berlin/Weimar 21972, Bd. 5,
S. 272. Zu Schiller und Nietzsche vgl. Merlio, Gilbert: Schiller-Rezeption bei Nietz-
physik, die vor 1793 noch miteinander verschränkt sind. Auf Schil-
lers Wendung von der Theosophie zur Ästhetik trifft Nietzsches Dik-
tum zu: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlas-
sen“.139 Erst Schillers Verzicht auf metaphysische Gewissheiten lenkt
die spekulativen Energien von der Philosophie auf Kunst und Kunst-
philosophie um. Nach der Resignation wird Schönheit für Schiller
zur promesse de bonheur. Als „Bürgerin zweier Welten“140 wachsen ihr
soteriologische Dimension und Funktion zu. Schönheit wird zur
Mittlerin und Mittelkraft in metaphysicis, mit Hegels Worten zu(m)
„erste(n) versöhnende(n) Mittelglied zwischen dem bloß Äußerlichen,
Sinnlichen und Vergänglichen und dem reinen Gedanken“.141 Die
Kallias-Briefe, das erste Dokument der Auseinandersetzung mit Kant,
zeigen denn auch die Verbindung der Kritik der Urteilskraft mit pla-
tonischen Elementen aus Schillers Jugendphilosophie. Sie verleihen
dem Diskurs um das Schöne eine religiöse Anmutung, welche die
Kunst auf den (mit Hegel) „gemeinschaftlichen Kreis mit Religion
und Philosophie“142 verweist. Aus der „transzendentalen Ästhetik“
wird eine Ästhetik als Transzendenzersatz, in der die Evidenz der Er-
scheinung über die Entzogenheit des Göttlichen hinwegtrösten soll.
Im Schönen und seiner sinnlichen Epiphanie findet Schiller seine äs-
thetische Theodizee, einen ästhetischen Gottesbeweis durch das
„sinnliche Wunder“143 der Kunst. Sind Ästhetik und Metaphysik
beim vorklassischen Schiller noch untrennbar miteinander verbun-
den, so unternehmen die großen Abhandlungen eine säkularisierende
Ersetzung und kontrafaktische Verschiebung, bei der christliche bzw.
christologische Denkfiguren und Bilder aus ihrem ursprünglichen
––––––––––––––
139 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, 144 (Menschliches, Allzumenschliches I, 4, Nr. 150).
140 NA 20, 260.
141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Auf der Grundlage
der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und
Karl Markus Michel. 3 Bde. Frankfurt/Main. 1979 (= Theorie-Werkausgabe, 13-15).
hier Bd. 1, S. 21.
142 Ebd. S. 20.
143 Der Begriff nach Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik.
Frankfurt/Main 31982 (zuerst russ. 1928), S. 232, der jedoch die sinnlichen und
kunstreligiösen Emphasen der theoretischen Schriften unterschätzt: „Schiller war na-
he daran in der Schönheit das fleischgewordene Nichts zu verehren“; erst als er aus
den „Zwängen des Denkens“ herausgetreten sei, habe er das Schöne als „ein sinnliches
Wunder“ beschreiben können. An dieser Stelle, am „sinnlichen Wunder des Schö-
nen“, wird Hegel anschließen, nicht nur mit seiner berüchtigten Definition des
Schönen als „sinnlichem Scheinen der Idee“ – die unmittelbar den Kallias-Briefen
entnommen sein könnte – sondern auch mit seiner Würdigung Schillers in den Vorle-
sungen zur Ästhetik, Bd. 1, S. 89: „Es muß Schiller das große Verdienst zugestanden
werden, die Kantische Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen und
den Versuch gewagt zu haben, über sie hinaus die Einheit und Versöhnung denkend
als das Wahre zu fassen und künstlerisch zu verwirklichen.“
––––––––––––––
163 Görner, Rüdiger: Poetik des Wissens. Zur Bedeutung der Kontroverse zwischen
Schiller und Fichte über ‚Geist und Buchstab‘ sowie die ‚Grenzen beim Gebrauch
schöner Formen‘. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), S. 342-
360; Waibel, Violetta L.: Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schil-
ler und Fichte in Jena. In: Schrader, Wolfgang H. (Hg.): Fichte und die Romantik.
Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre. Amsterdam u.a. 1997, S. 43-
69; Wildenburg, Dorothea: ‚Aneinander vorbei‘. Zum Horenstreit zwischen Fichte
und Schiller. In: Ebd., S. 27-41.
164 Zelle, Carsten: Über den Grund des Vergnügens, S. 374.
165 Riedel: Kommentar, SW, Bd. 5, S. 1222.
166 Ebd. S. 1223.
167 Zelle, Carsten: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Brie-
fen (1795). In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 409-445, hier S. 429.
168 Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau
bis Nietzsche. Stuttgart u.a. 1995.
169 Ebd. S. 437.
griff der Schönheit“170 und zur ‚doppelten‘, aber nur halb eingelösten
Ästhetik gesellt sich eine doppelte Anthropologie, die nun neben der
physiologischen jene pragmatischen Aspekte einschließt, die Kant in
seiner 1798 gedruckten Vorlesung auf die „Erkenntnis des Menschen
als Weltbürgers“ bezieht.171 Ihre „Quellen“ und „Hülfsmittel“ sind
Schillers ureigene Domäne: „Weltgeschichte, Biographien, ja Schau-
spiele und Romane“.172 Hier weiß sich Kant einig mit Schiller, der
schon 1784 die Schaubühne eine „Schule der praktischen Weißheit“
und „ein(en) Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ nennt.173 Die
ästhetischen Briefe sind auch in dieser Hinsicht als Integrationsversuch
zu lesen: Sie wollen aus der physiologischen Anthropologie Platner-
scher Observanz eine pragmatische Anthropologie ableiten, die in der
Idee des „ästhetischen Staates“ als einer Enklave des „guten Tones“ ih-
ren Mittelpunkt findet.174 Es geht nicht um das Kunstschöne, sondern
um Lebenskunst, die den „vollendeten Weltmann“ ausmacht.175 Hier,
im alteuropäischen Traditionszusammenhang von civilitas und
prudentia politica, von sozialen Kompetenzen und höfischen Kom-
munikationsidealen erweist sich Schiller nicht nur als Philosoph,
sondern als Soziologe des Schönen176.
von einem „neuen Typus“ des Philosophierens, der „eine ganz per-
sönliche, scheinbar individuell-bedingte und individuell-begrenzte
Aneignung der Kantischen Grundideen“ bedeute.178 Dies gilt jedoch
nicht nur für die Kant-Rezeption. Der viel beschworene Schiller’sche
„Eklektizismus“179 bestimmt vor allem das Frühwerk und bietet sich
von jeher ideengeschichtlichen Rekonstruktionen in besonderer Wei-
se an. Schiller selbst tendiert, wie oben gesehen, eher dazu, das Dis-
kontinuierliche seiner Entwicklung zu betonen. Dies gilt nicht nur
für seine Einschätzung als Kantianer, sondern auch für die poetische
Produktion: „im Poetischen habe ich seit 3, 4 Jahren einen völlig
neuen Menschen angezogen“180, schreibt er 1796 unter dem Eindruck
der Wiederaufnahme des Wallenstein.
Ebenso stark sind jedoch die Kräfte der Kontinuität – auch und
gerade jenseits von Kant. Beinahe Punkt für Punkt wird sich zeigen,
dass die kardinalen Themen der klassischen Ästhetik eine gleichsam
autochthone, mitunter verdeckte Vorgeschichte in Schillers vor-
klassischer Ästhetik besitzen, die dann wieder nach der Kant-Periode
in ihrer Eigenart aufgenommen wird. So stößt Schiller, um ein Bei-
spiel zu geben, auf das Problem des „doppelten“, d.h. des legitimen
„ästhetischen“ und des betrügerischen Scheins vortheoretisch im Geis-
terseher, der in der Gestalt des Illusionisten und Lichtmagiers den
dunklen Bruder des Schaubühnendichters als Großmeister der Täu-
schung entwirft. Der Roman wird zum metapoetischen Gleichnis für
die prekäre Genealogie der Schaubühne aus der Schaulust und ihren
trivialen Medien wie Guckkasten und Zauberlaterne, die metapho-
risch oder modellhaft auch in Schillers purgierter Ästhetik gegenwär-
tig bleiben und tragende Konzepte wie das der Projektion begründen.
Andere zentrale Themen idealistischer Ästhetik, etwa das Problem
der Autonomie der Kunst gegenüber der Philosophie, gehen Schiller
anlässlich der Künstler im Gespräch mit Wieland auf, dem auf diese
Weise das Verdienst zufällt, die prekäre Frage nach dem Ende der
Kunst erstmals als Kardinalproblem der Kunstphilosophie benannt zu
haben.181 Der Dynamik der Ideenentwicklung entspricht so eine be-
merkenswerte Kontinuität in den Tiefenstrukturen. Schon 1788 weist
Schiller gegenüber Körner auf das ökonomische Prinzip seines Schrei-
bens hin: „Meiner Kenntniße sind wenig. Was ich bin, bin ich durch
eine oft unnatürliche Spannung meiner Kraft. Täglich arbeite ich
––––––––––––––
178 Ebd. S. 85.
179 Ebd. S. 86
180 NA 27, 38.
181 Brief an Körner vom 9.2.1789; NA 25, 199f.: „Wieland nämlich empfand es als sehr
unhold, daß die Kunst nach dieser bisherigen Vorstellung doch nur die Dienerin ei-
ner höhern Kultur sei.“
schwerer – weil ich viel schreibe. Was ich von mir gebe, steht nicht in
proportion mit dem, was ich empfange. Ich bin in Gefahr mich auf
diesem Wege auszuschreiben.“182 Schiller löst diese Disproportion
durch eine Arbeitsweise auf, die den Lern- in den Schreibprozess ein-
lagert. Mit diesen drei Operationen – Variation, Verschiebung, Über-
tragung – scheint die Methode und Evolutionsstruktur der Schil-
ler’schen Theoriebildung zureichend erfasst.
Nirgends wird dies deutlicher als in jenem Problemkomplex, an
dem sich die Anthropologie des jungen Schiller konstituiert. Die Fra-
ge nach dem Verhältnis von Geist und Körper („commercium mentis
et corporis“183) war mit der cartesischen Trennung des Menschen in
zwei distinkte Substanzen („res cogitans“ – „res extensa“) zur Provo-
kation der Philosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts ge-
worden. Dies forderte Kompensationen heraus. Gegen Descartes’
Abwertung wird in Anthropologie und Ästhetik die Sinnlichkeit re-
habilitiert. Der „ganze Mensch“ in seiner leibseelischen Totalität wird
zum Leitbild.184 Ein einziges Mal, nämlich in der zweiten Dissertation
über den Unterschied von entzündungsartigen und Faulfiebern (De
discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum), erwähnt Schiller
das commercium-Problem in seiner lateinischen Fassung. Es ist eine
bezeichnende Stelle, die den Zusammenhang von Geist und Körper
sogleich von seiner Grenze und Auflösung her in den Blick nimmt:
So sehr wird die enge Verbindung zwischen Geist und Körper bewahrt, so
sehr wohnt ein tyrannischer Mahner dem allzu anmaßend über sich selbst
bestimmenden Menschen inne, welcher unablässig den aus Erde Geschaffe-
nen selbst mahnt – ihn, der wieder zu Erde zerfallen wird.185
Der Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des
Menschen mit seiner geistigen, Schillers dritte Dissertation, stellt dann
den „merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele,
den grossen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes
––––––––––––––
182 Brief an Körner 18.1.1788; NA 25, 5.
183 Noch einmal sei dazu an die Arbeiten von Hans-Jürgen Schings: Melancholie und
Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des
18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie und
Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller passim erinnert.
184 Specht, Rainer: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Carte-
sianismus. Stuttgart/Bad Cannstatt 1966; Gerabek, Werner: Naturphilosophie und
Dichtung bei Jean Paul. Das Problem des commercium mentis et corporis. Stuttgart 1988
(= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 202); Kondylis: Aufklärung, S. 9-19; zum
größeren Kontext Borsche, Tilman u.a.: Leib-Seele-Verhältnis. In: Historisches Wör-
terbuch der Philosophie. Bd. 5. Basel 1980, Sp. 185-206.
185 SW, Bd. 5, S. 1110 (§ 23): „Adeo strictum inter animam et Corpus servatur
commercium; adeo tyrannicus homini arroganter nimis de se ipso statuenti monitor
inest, qui continuo ipsum hortetur ab humo progenitum, in humum relapsurum.“
Vorrede zur Braut von Messina den Chor als „lebendige Mauer“ be-
zeichnet, „die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der
wirklichen Welt rein abzuschließen“192, so verschiebt dies unter Bei-
behaltung von Wortlaut und Struktur das Wahrnehmungsverhältnis
von Ich und Welt auf das Verhältnis von Idealismus (der Kunst) und
Realität. Schiller, der Denker der Kluft und des „Sprunges“, wird zum
Begründer einer Ästhetik der Distanz.193 Es wäre ein lohnendes
metaphorologisches Unterfangen, die Bildlichkeit der liminalen Tren-
nung, der unerbittlichen Demarkationen und der verweigerten Über-
gänge in Schillers Werk einmal systematisch zu verfolgen. Sie begeg-
net in zahlreichen Varianten: Neben „Riß“, „Mauer“194, „Abgrund“195,
„Sprung“ oder „Ferne“196 wäre noch der „Damm“197 zwischen Welt
und Gott zu nennen, der im Philosophischen Gespräch des Geistersehers
als undurchdringliche „Decke der Zukunft“ wiederkehrt, die zur Pro-
jektionsfläche für „Gaukler“ oder „Dichter, Philosophen und Staaten-
stifter“ (!) wird, die sie „mit ihren Träumen bemal(en)“.198 Aus dieser
Decke wird schließlich der Schleier der Isis (Das verschleierte Bild zu
Sais), an dem die „Forschbegierde“ des curiösen Jünglings zu Schan-
den wird wie im Taucher die Hybris des Menschen, der sich wissend
in die Tiefe stürzt.199 Schillers Wende von der Enthüllung zur Hülle,
zur ästhetischen Affirmation von Decke und Schleier als Medien-
metaphern spiegelt eine moderne Wende in der Geschichte der Schlei-
er-Metapher: „Mit der Wende zum Ästhetischen ist das Geheimnis
aus den semantischen Tiefenschichten in die Textur der Dichtung
übergetreten, wo es sich als unablösbar und unlösbar zeigt“.200
––––––––––––––
192 NA 10, 13.
193 Wilkinson, Elizabeth M.: Über den Begriff der künstlerischen Distanz. Von Schiller
und Wordsworth bis zur Gegenwart. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung
(1957), S. 69-88.
194 Auch in einem räumlichen Sinn, etwa bei der Belagerung der Malteser-Festung durch
die Türken in den Malthesern (NA 12, 25), bei der „die Communication zwischen
Elmo und La Valette Stadt aufgehoben ist.“
195 An Goethe; 27.2.1798; NA 29, 212.
196 In der gegen Bürger erhobenen Forderung, der Dichter müsse „aus der fernenden Er-
innerung“ (NA 22, 256) schreiben, also aus einem Moment der zeitlichen wie affekti-
ven Distanz und „Freiheit des Geistes“ gegenüber dem nötigenden Affekt.
197 NA 20, 124: „Gefiel es der Allmacht dereinst, dieses Prisma zu zerschlagen, so stürzte
der Damm zwischen ihr und der Welt ein, alle Geister würden in einem Unendlichen
untergehen, alle Akkorde in einer Harmonie ineinanderfließen, alle Bäche in einem
Ozean aufhören.“
198 NA 16, 166.
199 Kaiser, Gerhard: Sprung ins Bewußtsein. In: Oellers, Norbert (Hg.): Gedichte von
Friedrich Schiller (= RUB 9473). Stuttgart 1996, 201-216.
200 Assmann, Aleida: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit. Esoterische
Dichtungstheorien in der Neuzeit. In: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hg.): Schlei-
––––––––––––––
er und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1997 (= Archäologie
der literarischen Kommunikation 5), S. 263-280, hier S. 278.
201 Zur Ideengeschichte der ‚Mittelkraft’ vgl. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schil-
ler, S. 61-100.
202 NA 20, 14.
203 NA 20, 42.
204 NA 20, 60 bzw. 61.
205 NA 20, 119: „Liebe ist […] eine Anziehung des Vortreflichen, gegründet auf einen
augenbliklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.“ Riedel:
Anthropologie, S. 121-142.
206 Ebd. S. 128.
207 Dies gilt zumal für den Dichter in Zeiten ‚zerdehnter‘ Kommunikation. „Ein ganz
eigenthümliches UnterscheidungsZeichen der neueren Welt von der Alten [...] daß
der Schriftsteller gleichsam unsichtbar und aus der Ferne auf den Leser wirkt, daß
ihm der Vortheil abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accom-
pagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken, daß er sich immer nur durch abs-
trakte Zeichen, also durch den Verstand an das Gefühl wendet, daß er aber den
Vortheil hat, seinem Leser eben deswegen eine größere Gemüthsfreyheit zu lassen,
als im lebendigen Umgang möglich ist.“ Brief an Christian Garve, 25.1.1795; NA 27,
126f.
2.3. Metaphorologie
––––––––––––––
212 NA 20, 42.
213 Ebd.
214 NA 20, 97.
215 NA 20, 115f.
216 NA 20, 116.
––––––––––––––
234 Kant: Werke, Bd. 8, S. 458-463.
235 Ebd. S. 461. Kant verweist auf die Analogie zwischen monarchischem Staat und „be-
seelte(m) Körper“ und auf das Problem des „Anthropomorphism“ („alle unsere Er-
kenntnis von Gott [ist] bloß symbolisch“).
236 Dies gilt auch für den umgekehrten Übertragungsvorgang – den von der Schönheit
auf die Moral: „Indeßen wird der Begriff der Schönheit doch auch in uneigentlichem
Sinn auf das moralische angewendet, und diese Anwendung ist nichts weniger als
leer. Obgleich Schoenheit nur an der Erscheinung haftet, so ist moralische Schönheit
doch ein Begriff, dem etwas in der Erfahrung correspondirt.“ NA 26, 195.
237 NA 26, 183.
238 NA 26, 181.
239 Kant: Werke, Bd. 8, S. 460.
240 NA 20, 43.
––––––––––––––
241 Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Litera-
turwissenschaft. Stuttgart 31990 (zuerst 1960), S. 287.
242 Diese Transformation rhetorischer Bestände in semiotische betont Wellbery, David
E.: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in The Age of Reason. Cambrid-
ge/London/New York 1984, S. 70: „The rhetorical terms are reinterpreted from the
standpoint of Enlightenment semiotics.“
243 Vgl. die Überlegungen in meinem Beitrag: Die Kunst der Natur – Schillers Land-
schaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon. In: Braun-
gart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches
Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissen-
schaft. Sonderheft 6), S. 139-154.
244 Kant: Werke, Bd. 8, S. 460.
245 Gemeint ist der Nachlass-Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
(In: Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 873-890), in dem der Begriff bereits als „Re-
siduum einer Metapher“ bezeichnet wird (S. 882). Nietzsche bestreitet kategorisch je-
den Gegensatz von Begriff und Metapher: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches
Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, ge-
schmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und
verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass
sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind“ (ebd.
S. 880f.).
246 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/Main 1998 (zuerst
1960) (= stw 1301); fortgesetzt in Ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt/Main
2007.
247 Blumenberg: Paradigmen, S. 10.
––––––––––––––
248 Lausberg: Handbuch, S. 288.
249 Schon Lausberg: Handbuch, S. 290 macht auf die existentielle und anthropologische
Dimension der Katachrese aufmerksam: „Die wirkliche oder durch den Menschen so
gesehene Analogie der Seinsschichten bringt es mit sich, daß die Katachrese eine sehr
häufige, weil für die Seinserkenntnis und –gliederung nützliche und notwendige se-
mantische Erscheinung ist […] so ist etwa ‚Gott Vater’ eine Katachrese aus dem Fami-
lienleben.“
250 Blumenberg: Paradigmen, S. 10.
251 Ebd. S. 286.
252 Hier ist vor allem an eine Eigenart des „mythischen Denkens“ zu erinnern, die Clau-
de Lévi-Strauss als „bricolage“ – „intellektuelle Bastelei“ – bezeichnet hat. Sie steht für
die Notwendigkeit, „sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammenset-
zung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muß
es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat
nichts anderes zur Hand.“ Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt/Main
1973 (zuerst 1962) (= stw 14), S. 29. Die Metapher ließe sich in diesem Sinne als
Form der semantischen Improvisation und als rhetorische Bastelei begreifen. Zum
Konnex von wildem Denken und Metapherndiskurs um 1900 vgl. Wolfgang Riedel:
Arara ist Bororo oder die metaphorische Synthesis. In: Zymner, Rüdiger / Engel,
Manfred (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale
Handlungsfelder. Paderborn 2004 (= Studien und Texte zur empirischen Anthropo-
logie der Literatur 2), S. 220-241; ders.: Archäologie des Geistes. Theorien des wilden
Denkens um 1900. In: Barkhoff, Jürgen / Carr, Gilbert / Paulin, Roger (Hg.): Das
schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von
Eda Sagarra im August 1998. Vorwort von Wolfgang Frühwald. Tübingen 2000
(= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 77), S. 467-485.
tung“.253 Die Verknüpfung des Primitiven mit dem Poetischen ist da-
bei keine Erkenntnis der Ethnologien des ausgehenden 19. Jahrhun-
derts. Bereits in Hamanns Weckrufen „Poesie ist die Muttersprache
des menschlichen Geschlechts“254 und „Sinne und Leidenschaften re-
den und verstehen nichts als Bilder“255, ist sie angelegt. Poesie ist
schon bei Hamann das Andere der Vernunft, mit einem Wort: Na-
tur.256 Die Rehabilitation der Sinnlichkeit bedeutet literarisch eine
Rehabilitation der Bilder als Medien einer archaischen Erkenntnis.
Dies bedeutete eine dreifache – logische, ethnologische und theologi-
sche – Rebellion gegen das Weltbild des aufgeklärten Rationalismus:
Logisch als Verstoß gegen das cartesische Ideal von Bestimmtheit und
Klarheit, ethnologisch gegen die Erkenntnisse der aufgeklärten Religi-
ons- und Mythenkritik (Hume), theologisch gegen das jüdisch-protes-
tantische Bilderverbot, dessen Abstinenzneurosen – wie im Geisterse-
her und im Mortimer der Maria Stuart vorgeführt – zu kunstreligiö-
sen Exzessen der Sinnlichkeit und zur „Libertinage des Geistes und
der Sitten“257 führen. Wie kein anderer Autor um 1800 hat Schiller
diese dreifache Provokation des Bildes gegen den Denkcomment der
protestantisch Aufklärung auf die Spitze getrieben. In der Geschichte
der französischen Unruhen schreibt Schiller:
Im Lager dieser [d.h. der reformierten; J.R.] Partey erblickte man nichts la-
chendes, nichts erfreuliches; alle Spiele, alle geselligen Lieder hatte der fins-
tre Eifer verbannt. Psalmen und Gesänge ertönten an deren Stelle […]. Eine
Religion, welche der Sinnlichkeit solche Martern auflegte, konnte die Ge-
müter nicht zur Menschlichkeit einladen; der Karakter der ganzen Partey
mußte mit diesem düstern und knechtischen Glauben verwilldern.258
Beinahe wörtlich wird dieses Ressentiment gegen einen kunst- und
bilderfeindlichen Protestantismus in Maria Stuart der Figur Morti-
mers in den Mund gelegt, der jedoch – Dialektik der rehabilitierten
Sinnlichkeit – der physischen Attraktion der schottischen Königin
verfällt, in der Schiller prägnant die beiden Naturen der Frau – Eva
bzw. Helena und Maria – zusammenbringt.
––––––––––––––
253 Pfotenhauer: Würdige Anmut, S. 164.
254 So am Beginn der Aesthetica in nuce. Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwür-
digkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jørgensen.
Stuttgart 1968 (= RUB 926), S. 81.
255 Ebd. S. 83.
256 Ohne Bezug auf Poetik und Ästhetik das grundlegende Werk von Hartmut und Ger-
not Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen
am Beispiel Kants. Frankfurt/Main 1985 (= stw 542).
257 NA 16, 106.
258 NA 19/I, 113.
frei seyn kann, und wollen dieselbe zwingen, zu denken. Das kann sie
nicht.“264 Schiller reagiert mit einem Traktat Von den nothwendigen
Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten,
der im 9. Stück der Horen im September 1795 erscheint (in den Klei-
neren prosaischen Schriften unter dem Titel: Ueber die nothwendigen
Grenzen beim Gebrauch schöner Formen) und der eine vorsichtige
Apologie des eigenen „gemischten Stils“ darstellt, den Schillers eigene
Studien zeigen.265 Er nimmt dazu Fichtes Popularitätsvorwurf auf
und betont, dass sich „der populäre Unterricht“ durchaus mit der
„Freyheit“ des Lesers vertrage.266
––––––––––––––
264 NA 35, 231f.
265 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 186.
266 NA 21, 7. Es war zugleich die Neuauflage eines Problems, das sich in der Matthisson-
Rezension gestellt hatte. Der Dichter müsse „unsre Einbildungskraft frei spielen und
selbst handeln lassen“, andererseits aber „seiner Wirkung gewiß sein und eine bestimm-
te Empfindung erzeugen.“ NA 22, 267.
267 Koopmann: Denken in Bildern.
268 Sayce, Olive: Das Problem der Vieldeutigkeit in Schillers ästhetischer Terminologie.
In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 149-177.
269 Nowitzki, Hans-Peter: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im
Widerstreit. Berlin/New York 2003 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und
Kulturgeschichte 25), S. 28.
270 Ebd.
271 NA 20, 23.
Schiller selbst war die Eigendrift der Bilder wie der Imagination
durchaus suspekt. Er perhorresziert die regellos schweifende Einbil-
dungskraft und setzt auf die kalkulierte Assoziation oder die Unter-
ordnung der Metaphern „unter einem höhern Begriff“.284 Das Indivi-
––––––––––––––
280 Vgl. Anm. 1.
281 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 605.
282 Blumenberg: Paradigmen, S. 13.
283 Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 221.
284 NA 21, 10.
duelle muss mithin immer wieder auf das vom Autor bestimmte und
kontrollierte Allgemeine zielen. Die literaturwissenschaftliche Annä-
herung kehrt diese Unterordnung um. Sie ist gehalten, gegen die In-
tention des Autors am sinnlich Konkreten, am „einzelnen Falle“285,
anzusetzen, der einer einfachen Subsumtion widersteht. Hier lagern
die semantischen Residuen jener Felder, die als Bildspender der Über-
tragung dienen und im Transfer ihr Eigenrecht geltend machen. Zu-
gleich bedeutet dies eine Wette gegen Schiller selbst und seine Bild-
theorie, die sich im Vergleich zu seiner Bilderpraxis weitaus konserva-
tiver auf die Kontrolle des Uneigentlichen durch das Eigentliche be-
ruft. Freiheit der Einbildungskraft gibt es – der Theorie nach – im-
mer nur in den Grenzen der Logizität. Ein Ziel dieser Studie ist es,
diesen Widerspruch produktiv zu nutzen. Sie unternimmt den Ver-
such, Metaphern nicht als semantische Erfüllungsgehilfen eines vo-
rausberechneten Sinns zu unterschätzen, sondern als prinzipiell offe-
ne und zweideutige fermenta associationis zu begreifen. Schillers The-
orie des Sprach- oder Begriffsbildes stellt dabei eine weitere poeto-
logische Entfaltung jener anthropologischen Grundfigur des „Zu-
sammenhangs“ der beiden Naturen des Menschen dar, nunmehr in
charakteristischer Variation und Verschiebung, als eine Theorie des
doppelten Textes, der – so Schiller in Ueber die nothwendigen Grenzen
– aus einem „materiellen Theil oder Körper“286 und einem „geistigen
Theil“, eben der „Bedeutung“ besteht.287 Die Theorie der Metapher ist
damit selbst Metapher, d.h. Übertragung: vom doppelten Menschen
auf den doppelten Text. Einmal mehr erweist sich die Metapher nicht
nur als Thema, sondern als argumentatives Instrument des Schil-
ler’schen Denkens, das – wie eingangs gesagt – aus wiederholten Ver-
schiebungen und Übertragungen ein- und desselben cartesischen
Grundproblems hervorgeht. Durch diese Übertragung wird der
Substanzendualismus nun auch als poetologisches Problem des Logo-
zentrismus sichtbar.
Die Harmonisierung von materiellem und geistigem Gehalt, von
Stil und Bedeutung stellt vor Probleme, wie sie die Figur des „ganzen
Menschen“ insgesamt kennzeichnen. Entscheidend ist dabei, dass
Schiller die logozentrische Position nicht einfach aufkündigt. Wie
noch auf der Stufe der Künstler besteht das integumentum-Denken
fort, wird die Form als disponible, bald verrätselnde bald didaktische
Hülle verstanden. Noch in Ueber die Grenzen wird daher betont, dass
die Unterschiede zwischen wissenschaftlicher, populärer und schöner
––––––––––––––
285 NA 21, 9.
286 NA 21, 8.
287 NA 21, 9.
––––––––––––––
288 Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts
aus dem Geist der Goethezeit. München u.a. 1981 (= UTB 1147).
289 Eine neue Würdigung der Schiller’schen Wirkungsästhetik in toto bietet Stachel:
Ring der Notwendigkeit, S. 122-150. Stachel datiert diese Wende präzise auf den Essay
Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), der eine „systema-
tische Revision des Konzepts eines notwendigen Wirkungsmechanismus“ (S. 141) zu-
gunsten der freien Ausübung der Gemütskräfte im Zuschauer biete.
290 NA 20, 314 (3. Brief).
291 NA 20, 282 (Ueber Anmut und Würde).
292 Ebd.
––––––––––––––
293 NA 20, 278.
294 Ebd.
295 NA 20, 279.
296 Ebd. Vgl. Diana Schilling: Über Anmut und Würde. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller
Handbuch, S. 388-398, hier S. 392: „Es ist das Dilemma Schillers: Die Brüche erschei-
nen überall dort, wo er für sein Anliegen – die Versöhnung von Neigung und Pflicht,
von Sinnlichkeit und Sittlichkeit – die Sphäre des Abstrakten verlässt; an der Konkre-
tion verrät sich am deutlichsten, wie das Denken an die gesellschaftlichen Bedingun-
gen geknüpft ist.“
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Reize des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es
widerspricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegentheil zu
thun, und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrthum und Unrecht zu verwenden.“ NA
20, 338.
312 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 4.