Unfälle verletzen nicht nur den Körper, sondern wirken sich auch auf die Psyche
aus. Die sowohl quantitativ als auch qualitativ zunehmende Bedeutung dieser Ge-
sundheitsschäden hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung im August 2008
veranlasst, „Empfehlungen zur Prävention und Rehabilitation von psychischen
Störungen nach Arbeitsunfällen“ zu veröffentlichen. Unter anderem wird im Kapi-
tel „Begutachtung“ auf Besonderheiten bei psychischen Störungen, wesentliche
Zuständigkeiten und Aufgaben des Gutachters sowie maßgebliche Beurteilungskri-
terien und MdE-Aspekte eingegangen. Im Internet stehen die Empfehlungen voll-
ständig und kostenfrei zur Verfügung (Broschürenversand: info@dguv.de).
Die psychische Reaktion auf einen äußeren Vorgang ist rechtlich der sog. haftungs-
ausfüllenden Kausalität zuzuordnen, so dass die eingetretenen psychischen Störun-
gen als Unfall- bzw. Schädigungsfolgen (im Unfallversicherungsrecht bzw. sozialen
Entschädigungsrecht) anzusehen sind. Den „Unfall“ stellt dabei die körperliche
oder psychisch wirkende Schädigung (mit dem sog. Primärschaden, der auch in ei-
nem psychischen Trauma bestehen kann) dar. Außerdem wird als „Gesundheits-
schaden“ nach ständiger Rechtsprechung auch eine Beeinträchtigung im rein psy-
chischen Bereich verstanden. Voraussetzung für eine psychische Störung als „Ge-
sundheitsschaden“ und den dafür erforderlichen Krankheitswert ist, dass neben der
Behandlungsbedürftigkeit und sozialen Auffälligkeiten („regelwidriger Zustand“)
ein nicht unerheblicher Energieaufwand zur Überwindung der Störung erforderlich
und nicht durch einen nur kurzfristigen Erlebnisvorgang gekennzeichnet ist. Insbe-
sondere seelische Belastungen, die zum täglichen Leben gehören, erfüllen nicht
diese Kriterien.
In der Entscheidungspraxis gilt die Grundregel, dass vor allem vor einer Rentenbe-
gutachtung zunächst geeignete Therapieansätze zu prüfen und ggfs. Behandlungs-
maßnahmen zur Beseitigung psychischer Beschwerden durchzuführen sind. Bei der
Begutachtung von psychischen Störungen nach Unfällen haben Auftraggeber und
Gutachter besondere Grundsätze und Einzelkriterien für die (formale) Methodik
der gesamten Begutachtung, die Prüfung der Unfallkausalität sowie für die Ein-
schätzung der MdE zu beachten.
Bei den gutachtlichen Feststellungen und Beurteilungen ist von dem allgemein an-
erkannten wissenschaftlichen Kenntnisstand und dem gesicherten psychiatrisch-
psychologischen Erfahrungswissen auszugehen. Es sind deshalb auch standardisier-
te psychometrische Testverfahren über das psychische Leistungsbild des Betroffenen
einzusetzen.
Das psychiatrische Gutachten ist nach den allgemeinen Regeln abzufassen mit fol-
genden wesentlichen Besonderheiten:
Die Bemessung der MdE einer psychischen Störung – mit ihren einzelnen Beschwer-
den und verschiedenen Auswirkungen – sollte auf folgender (dokumentierter)
Grundlage vorgenommen werden:
! Es liegen gesicherte (aktuelle) Befunde vor und die damit verbundenen Beein-
trächtigungen sind (voll) bewiesen. Ihre funktionellen Folgen lassen sich hin-
sichtlich Art und Ausmaß konkret bestimmen.
! Das Störungsbild ist diagnostisch differenziert beschrieben und auch nach einem
allgemein anerkannten, wissenschaftlichen Diagnosesystem gekennzeichnet.
! Die psychische Störung besitzt Krankheitswert und stellt damit einen Gesund-
heitsschaden dar. Außerdem liegen funktionelle (Leistungs-)Einschränkungen
vor, die sich auf das Erwerbsleben auswirken können.
! Die funktionellen Einschränkungen für das Erwerbsleben sind im Einzelnen fest-
gestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die individuelle (berufliche) Leis-
tungsfähigkeit insgesamt gewürdigt.
Allgemeiner Maßstab der MdE-Bewertung sind die Person des Betroffenen und
seine spezifischen individuellen Verhältnisse (Konstitution, Lebensumfeld usw.).
Die Belastungsstörungen sind in drei Ebenen aufgeteilt: psychisch-emotionale Be-
einträchtigung, z. B. Ängste und Depressionen, sozial-kommunikative Beeinträchti-
gung, z. B. Verfremdung, Verstimmungszustände und Misstrauen und körperlich-
funktionelle Beeinträchtigung, die sich in Störungsbildern der körperlichen Funk-
tion, die keine organischen Ursachen haben, zeigen, z. B. Lähmungen und chroni-
scher Schmerz. Für jede dieser Ebenen ist eine gesonderte Schweregradeinteilung
vorzunehmen.
Die MdE ist in einer Gesamtwürdigung der einzelnen Beeinträchtigungen einzu-
schätzen, deren Zusammenwirken berücksichtigt und die ganzheitliche Auswirkung
auf die Erwerbsfähigkeit bewertet werden muss. Diese Grundsätze gelten entspre-
chend für die Bildung einer Gesamt-MdE, die nicht in einer Addition der isolierten
MdE-Sätze für verschiedenartige Störungen (z.B. Vermeidungsverhalten und kör-
perliche Beeinträchtigung) bestehen darf. Bei der Bewertung der MdE für eine zu-
rückliegende Zeit oder nach einem längeren Zeitraum ist zu beurteilen, ob sich die
Ursachen der psychischen Störung im zeitlichen Verlauf geändert haben und ganz
oder teilweise durch unfallunabhängige Ursachen ersetzt wurden (sog. Verschie-
bung der Wesensgrundlage). Hieraus kann sich eine stärkere Staffelung der MdE
für die Vergangenheit oder eine erhebliche Verringerung der MdE für die Zukunft
ergeben. Liegt ein unfallunabhängiger psychischer Vorschaden vor, kann sich dieser
im Einzelfall in besonderer Weise auf die zu beurteilenden Störungen auswirken
und zu einer höheren MdE führen. Behandlungserfolge und (nachgewiesenen) funk-
tionellen Verbesserungen, z.B. durch eine Verhaltenstherapie mit Expositionsübun-
gen oder eine zumutbare Medikamenteneinnahme, bestimmen ebensfalls grund-
sätzlich die MdE.
Generell sind noch folgende Maßstäbe und Einzelaspekte bei der individuellen
MdE-Einschätzung zu beachten:
! Die Höhe der MdE bestimmt sich nach dem Ausmaß der Arbeitsmöglichkeiten,
die dem Betroffenen trotz zumutbarem Energieaufwand verschlossen sind (als
alleiniges Kriterium fraglich: Energieaufwand zur Überwindung der psychischen
Störung, um weiterhin erwerbstätig sein zu können).
! Ein nur kurzfristiger Erlebnisvorgang oder die „normale“ Verarbeitung der psy-
chischen Belastung wirkt sich nicht auf die MdE aus.
Prozentsatz
Belastungsstörungen mit emotionaler Einschränkung der Erlebnis-
und Gestaltungsfähigkeit
– in geringerem Ausmaß, allgemeiner Leidensdruck, auch mit leichte-
ren vegetativen Beschwerden, ohne wesentliche soziale Anpassungs-
– schwierigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bis 10
– in stärkerem Ausmaß, insbesondere mit sozial-kommunikativer Be-
– einträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 – 20
– in erheblichem Ausmaß, insbesondere mit starker sozial-kommuni-
– kativer Beeinträchtigung, auch angstbestimmten Verhaltensweisen . 20 – 30
– in schwerem Ausmaß, insbesondere mit starker sozial-kommunikati-
ver Beeinträchtigung, Angstzuständen und ausgeprägtem Vermei-
ungsverhalten, Antriebsminderung, vegetativer Übererregtheit (u.U.
– auch mit körperlicher Symptomatik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 – 50
Somatoforme Störungsbilder
– körperlich wirkende und auch vegetativ ablaufende emotionale Be-
lastungen, insbesondere mit einem andauernden (und wechselndem)
– Beschwerdebild, insgesamt bis zu einem mittleren Ausmaß . . . . . . . bis 20
– ausgeprägte vegetativ-körperlich wirkende emotionale Belastungen
bei langem Beschwerdeverlauf, insbesondere mit erheblichen körper-
lichen-funktionellen Beeinträchtigungen und chronischen Schmerzen,
auch Störung des Sozialverhaltens, insgesamt in einem schweren
– Ausmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 – 40
Persönlichkeitsänderungen
– nach Extrembelastung, insbesondere mit erheblichen sozialen Anpas-
sungsschwierigkeiten, Antriebsminderung, Verstimmungszuständen,
– auch körperlich wirkenden Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 – 50
– mit wesentlicher Beeinträchtigung des Sozialverhaltens (bis zur Ent-
fremdung), ausgeprägten Verstimmungszuständen und stärkeren
körperlich wirkenden Beschwerden, insgesamt zentrale Einschrän-
kung der Leistungsfähigkeit (bis zum völligen Abbruch des
– bisherigen Berufslebens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . über 50
Die individuelle MdE bestimmt sich nach dem konkreten Vorliegen der jeweils ty-
pischen Beeinträchtigungen, ihres funktionellen Ausmaßes und ihrer Gesamtwir-
kung auf das erwerbsrelevante Leistungsvermögen. Abweichungen von den An-
haltswerten sollten besonders begründet werden.