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BRAHMS

BRUCKNER
HANDBUCH
HANDBUCH
Wolfgang Sandberger (Hg.)
Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.)

METZLER
METZLER
BÄRENREITER
BÄRENREITER
Bruckner
Handbuch
BRUCKNER
HANDBUCH

Herausgegeben von

Hans-Joachim Hinrichsen

Metzler
Bärenreiter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-476-02262-2
ISBN 978-3-476-00345-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00345-4

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der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und
strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2010 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2010
www.metzlerverlag.de
www.baerenreiter.com
V

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

EINLEITUNG

Bruckner, der große Unbekannte. Zur Konzeption des Handbuchs (Hans-Joachim Hinrichsen) . . 2
Literatur 5

Das Porträt Anton Bruckners von Emil Orlik (Dietrich Erben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6


Literatur 11

DER KOMPONIST UND SEINE MUSIK

Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert (Laurenz Lütteken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14


Öffentliche und verborgene Existenz 14 ♦ Bürgerlichkeit als Lebensform 15 ♦ Bürgerliche Existenz und
höfische Kontraste 17 ♦ Der lange Weg nach Wien 18 ♦ Land, Stadt und Reisen 20 ♦ Ämter und Stellun-
gen 22 ♦ Einkommen und Lebensformen 23 ♦ Habitus und Persönlichkeit 25 ♦ Literatur 30

Bruckner und seine Schüler (Thomas Leibnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31


Bruckners Lehrer 31 ♦ Bruckner als Lehrer 33 ♦ Die Schüler als Freunde und Wegbereiter 35 ♦ Die
Schüler als Bearbeiter der Werke Bruckners 38 ♦ Literatur 41

Bruckner und die Orgel (Andreas Jacob) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42


Ausbildung und erste Anstellungen 42 ♦ Orgeln und Orgelbauer um Bruckner 43 ♦ Konzerttätigkeit an
der Orgel: Improvisation und Literaturspiel 44 ♦ Literatur 47

Bruckners musikalische Herkunft (Gerhard J. Winkler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49


Musikalische Herkunft: das Milieu des österreichischen »Lehrerorganisten« 50 ♦ Traditionen 53 ♦ Sin-
fonische Vorbilder 54 ♦ Literatur 60

Bruckners Musik (Giselher Schubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62


Musik zwischen Gegensätzen 62 ♦ Werke und Werk 64 ♦ Erlebnis der Form 65 ♦ Kompositionstechnische
Charakterisierungen 66 ♦ Wendung zur Individualität der Werke 67 ♦ Musik und Werk 68 ♦ Verständnis
der Musik 70 ♦ Literatur 71
VI Inhalt

Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise (Thomas Röder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73


Quellenlage und Überlieferung 73 ♦ Der Komponist als Arbeiter 77 ♦ Das Problem der Fassungen 82 ♦
Literatur 87

WERKE

Bruckner als Sinfoniker (Hans-Joachim Hinrichsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90


»Schema«, »Schablone« und »Form« 91 ♦ Gibt es »die« Bruckner-Sinfonie? Bruckners sinfonisches
System 93 ♦ Mittlere Ebene: Die einzelnen Sätze 94 ♦ Oberste Ebene: Der sinfonische Zyklus 101 ♦
Unterste Ebene: Die Themen und ihre Verarbeitung 102 ♦ Absolute Sinfonik und Kunstreligion 104 ♦
Bruckner, der Sinfoniker 108 ♦ Literatur 109

Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie (Wolfram Steinbeck) . . . . . . . . . . . . . . 110
Studienzeit 110 ♦ Die ersten Schritte als »vollberechtigter Kompositeur« 121 ♦ Literatur 150

Die Dritte und Vierte Sinfonie (Thomas Röder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151


Die Dritte Sinfonie 151 ♦ Entstehung – Fassungen – Überlieferung und Ausgaben 152 ♦ Die Vierte
Sinfonie 164 ♦ Ausgaben 177 ♦ Literatur 177

Von der Fünften zur Siebten Sinfonie (Peter Gülke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178


Die Fünfte Sinfonie 178 ♦ Die Sechste Sinfonie 185 ♦ Die Siebte Sinfonie 191 ♦ Literatur 196

Die Achte und Neunte Sinfonie (Mathias Hansen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197


Achte und Neunte: eine verwickelte Entstehungsgeschichte 197 ♦ Die Achte Sinfonie (2. Fassung) 200 ♦
Die Neunte Sinfonie 213 ♦ Werkausgaben und Kritische Berichte 222 ♦ Literatur 222

Geistliche Vokalmusik (Melanie Wald-Fuhrmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224


Einleitung 224 ♦ Kirchenmusik und Lebenswelt 226 ♦ Messen und Requiem 240 ♦ Liturgische Einzel-
werke 271 ♦ Nicht-liturgische Werke 279 ♦ Literatur 287

Weltliche Vokalmusik (Ivana Rentsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290


Lieder 292 ♦ Kantaten 296 ♦ Weltliche Chöre 298 ♦ Germanenzug (WAB 70) und Helgoland (WAB 71)
303 ♦ Literatur 309

Die Kammermusik (Wolfgang Rathert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310


Kompositionsgeschichtlicher Ort 310 ♦ Kammermusik vor dem Streichquintett 311 ♦ Das Streichquintett
314 ♦ Literatur 321

Die Klavier- und Orgelwerke (Andreas Jacob) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322


Klavierstücke 322 ♦ Die Orgelwerke 327 ♦ Literatur 332

Die Musik für Bläser (Wolfgang Suppan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333


Werke für Bläser unter sich 334 ♦ Bläser kombiniert mit Vokalstimmen/Chor 334 ♦ Bläser im Sinfonie-
orchester 335 ♦ Blasorchester-Bearbeitungen 336 ♦ Ausgaben (Blasorchester-Bearbeitungen) 336 ♦ Lite-
ratur 337
Inhalt VII

DIE BRUCKNER-REZEPTION
(Erich Wolfgang Partsch)

Bruckner-Bilder 340 ♦ Musikalische Bruckner-Rezeption 345 ♦ Rezeption zu Lebzeiten 347 ♦ Das 20.
Jahrhundert 355 ♦ Wege und Stationen der Forschung 358 ♦ Die beiden Gesamtausgaben 363 ♦ Literatur
370

ANHANG

Werkverzeichnis (zusammengestellt von Dominique Ehrenbaum) . . . . . . . . . . . . . . . . . 374


Werkverzeichnis nach WAB-Nummern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
IX

Vorwort

Anton Bruckner zählt heute zweifellos zu den he- Klischees und Stereotypen, die den Bruckner-
rausragenden Gestalten der neueren Musikge- Liebhabern wie den Bruckner-Verächtern das Le-
schichte. Der fast schon alltäglich gewordene ben so einfach machen.
Umgang mit seiner Musik und deren selbstver- Die Bruckner-Forschung hat in den vergange-
ständlich gewordene Einbürgerung im globalen nen drei Jahrzehnten einen erfreulichen Auf-
Musikleben haben das Gefühl einer umfassenden schwung genommen, und davon profitiert auch
Vertrautheit mit seinem Œuvre befördert und die das vorliegende Handbuch. Viele, philologische
von Bruckners Zeitgenossen noch deutlich wahr- wie ästhetische, Probleme sind als solche erkannt
genommenen Kanten und Schroffheiten weitge- und vielfach auch gelöst worden; einschlägige
hend abgeschliffen. Die alten Kontroversen um Quellen und Dokumente liegen in vorbildlichen
sein Werk sind, jedenfalls in ihrer früheren Heftig- Editionen vor. An einer neuen Sicht auf Bruckner
keit, erledigt. Bruckner ist seit langem eingemein- wird seit längerem durchaus gearbeitet, ohne dass
det, auch wenn bis heute vehemente Kritiker seiner man freilich das Gefühl einer nachhaltigen Wir-
Musik keineswegs fehlen. So gibt es neben den kung auf das Bruckner-Bild in der breiten Öffent-
Gewohnheiten einer Liebe zu Bruckners Musik lichkeit hätte, wie es (natürlich stets mit erfreuli-
eben auch die Konstanten einer stereotypisierten chen Ausnahmen) etwa in Konzertprogrammein-
Bruckner-Kritik; beide Phänomene gehen freilich führungen, CD-Begleitheften oder Radio-Features
von Gewissheiten aus, über deren Axiomatik sich sich abbildet.
heute fast niemand mehr Rechenschaft ablegt. Im vorliegenden Handbuch wird der Versuch
Könnte es indessen nicht sein, dass das Gefühl unternommen, einerseits aus dem heute erreichten
dieser apologetischen wie kritischen Vertrautheit Stand der Bruckner-Forschung die Konsequenzen
mit Bruckner in Wahrheit ein höchst trügerisches, zu ziehen und einen sinnvollen Weg zur Beschäf-
durch die vielen Deutungsangebote der Rezep- tigung mit dem eigentümlichen Œuvre des nach
tionsgeschichte nur scheinbar stabilisiertes Funda- wie vor rätselhaften Komponisten zu bahnen, an-
ment besitzt? Denn beim näheren Blick auf die dererseits aber auch neue Fragen zu stellen und
Musik wie auf die Person des Komponisten gibt offene Probleme mit Nachdruck als solche zu
es, daran hat sich in den letzten hundert Jahren markieren, um der Denkfalle täuschender Ge-
eigentlich nichts Grundlegendes geändert, des Ir- schlossenheit vorzubeugen.
ritierenden, des Beunruhigenden und des Wider- Für die Auswahl der Autoren war ausschlagge-
sprüchlichen wahrlich genug. Am Ende könnte bend, das ausgewiesene Spezialistentum der
sich herausstellen, dass gerade das Disparate und Bruckner-Forschung mit dem bewährten Scharf-
das Aporetische den Grundzug eines Bruckner- sinn des Blicks von außen zu einer fruchtbaren
Bildes darstellen müssen, das sich ziemlich weit Synergie zu bringen. Es ist hoffentlich gelungen,
von jener Geschlossenheit entfernt, auf die man die erforderliche Vereinheitlichung eines Hand-
im Umgang mit Komponisten des 19. Jahrhun- buchs mit der gewünschten Individualität der
derts inzwischen Anspruch erhebt – nicht sehr einzelnen Verfasserpersönlichkeiten zum Ausgleich
bequem, aber vielleicht doch produktiver als die zu führen – ebenso wie den Anspruch auf durch-
X Vorwort

gängig gute Lesbarkeit mit der selbstverständlichen der Österreichischen Akademie der Wissenschaf-
Ambition auf Präsentation des aktuellen For- ten) eine Neubearbeitung des längst vergriffenen,
schungsstandes. Der Herausgeber weiß sich allen seinerzeit vom Linzer Bruckner-Institut unter der
Beiträgern für die bereitwillige Erfüllung dieser Federführung von Uwe Harten (gemeinsam mit
Vorgaben und für die optimale Kooperation zu Renate Grasberger, Andrea Harrandt, Elisabeth
herzlichem Dank verpflichtet. Unter den Institu- Maier und Erich Wolfgang Partsch) erstellten
tionen und den hinter ihnen stehenden Menschen, »Bruckner-Handbuchs« von 1996 in Arbeit – mit
die das vorliegende Projekt durch Auskünfte, dem neuen und zutreffenderen Titel »Bruckner-
Materialbeschaffung und kollegiale Diskussionen Lexikon« –; sie wurde und wird in Absprache und
auf freundlichste Weise unterstützt haben, seien enger Kooperation mit dem vorliegenden Projekt
vor allem die Musikabteilung der Österreichischen konzipiert. Während das vorliegende Handbuch
Nationalbibliothek, die Internationale Bruckner- aber die Vorzüge eines enzyklopädisch angelegten
Gesellschaft, das Anton Bruckner Institut Linz und übersichtlich gegliederten Nachschlagewerks
und die »Arbeitsstelle Anton Bruckner« der Öster- mit den Vorteilen eines verständlichen und flüssig
reichischen Akademie der Wissenschaften dankbar geschriebenen Lesebuchs zu vereinen bestrebt ist,
genannt. Meine studentischen Mitarbeiterinnen wird das geplante »Bruckner-Lexikon« nach dem
und Doktoranden Dominique Ehrenbaum, Alex- bewährten Muster des Modells von 1996 mit sei-
andra Jud, Damaris Leimgruber, Michael Matter ner Lemmatisierung der Sachbegriffe als eine
und Felix Michel haben bei der Materialerstellung umfassende Enzyklopädie nutzbar sein. Jeder an
und bei den Korrekturen wertvolle Unterstützung Bruckner Interessierte wird also beide Werke in
geleistet. Ein weiterer, nicht minder herzlicher sinnvoller Ergänzung nebeneinander zu Rate zie-
Dank gilt dem Metzler-Verlag und namentlich hen können.
seinem Lektor Oliver Schütze, der bei der Erarbei-
tung dieses Bandes ein unschätzbarer Diskussions- Zürich, im Sommer 2010
partner war.
Zeitgleich mit dem vorliegenden Handbuch ist Hans-Joachim Hinrichsen
anderenorts (in der »Arbeitsstelle Anton Bruckner«
XI

Siglenverzeichnis

AGA (= Alte Gesamtausgabe) Anton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtaus-


gabe. Im Auftrage der Generaldirektion der Nationalbibliothek und (bzw. mit
Förderung) der Internationalen Bruckner-Gesellschaft hrsg. von Robert Haas und
Alfred Orel; bzw. Anton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe.
Hrsg. von Robert Haas. (Verschiedene Orte und Verlage) 1930 ff.

Briefe 1 Bruckner, Anton: Briefe 1. 1852–1886. Vorgelegt von Andrea Harrandt unter Be-
rücksichtigung der Vorarbeiten von Otto Schneider (= Anton Bruckner. Sämtli-
che Werke XXIV/1). Wien 1998 (2., revidierte Ausgabe: Wien 2009).

Briefe 2 Bruckner, Anton: Briefe 2. 1887–1896. Vorgelegt von Andrea Harrandt und Otto
Schneider † (= Anton Bruckner. Sämtliche Werke XXIV/2). Wien 2003.

Bruckner-Handbuch Anton Bruckner. Ein Handbuch. Für das Anton Bruckner Institut Linz hrsg. von
1996 Uwe Harten. Graz 1996.

Bruckner-Jahrbuch Bruckner-Jahrbuch. Hrsg. vom Anton Bruckner Institut Linz und der Linzer
Veranstaltungsgesellschaft mbh. Linz 1980 ff.

Göll.-A. August Göllerich/Max Auer: Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild.
4 Bde. in 9 Teilbänden (1, 2/1, 2/2, 3/1, 3/2, 4/1, 4/2, 4/3, 4/4). Regensburg 1922–
1937 (Reprint: Regensburg 1974).

IBG-Mitteilungsblatt Internationale Bruckner-Gesellschaft. Studien & Berichte. Mitteilungsblatt.

IKO Grasberger, Renate: Bruckner-Ikonographie. Bd. 1: Um 1854–1924. Graz 1990;


Bd. 2: 1925–1946. Wien 2004; Bd. 3: 1947–2006 (= Anton Bruckner. Dokumente
und Studien Bd. 7, 14, 18). Wien 2007.

MGG2 Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik.
2., neubearb. Ausgabe. Hrsg. von Ludwig Finscher. Kassel u. a. 1994 ff.

NGA (= Neue Gesamtausgabe) Anton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamt-


ausgabe. Hrsg. von der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek
und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft unter Leitung von Leopold No-
wak. Wien 1951 ff.

WAB Grasberger, Renate: Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB). Tutzing 1977.


XIII

Zeittafel
zusammengestellt von Alexandra Jud und Damaris Leimgruber

Jahr Biographisches Werk


Kindheit und Jugend (1824–1845)
1824 • 4. September: (Joseph) Anton Bruckner wird in Ans-
bis felden, Oberösterreich, als das erste von elf Kindern
1832 geboren (von denen fünf überleben). Eltern: Anton
Bruckner (1791–1837), Schullehrer und Kirchenmusi-
ker; Theresia Helm (1801–1860)
• Schulbesuch in den ersten Jahren in Ansfelden; Kla-
vier- und Orgelunterricht beim Vater
1833 • 1. Juni: Firmung im Alten Dom in Linz (Firmpate:
Johann Baptist Weiß)
• 28. Juli: Geburt des Bruders Ignaz (1833–1913)
1834 • als Zehnjähriger erste Orgeldienste im Gottesdienst
1835 • Bruckner zieht nach Hörsching in den Haushalt seines • in Hörsching erste Kompositionen, u. a. Pange lingua
Cousins und Firmpaten Johann Baptist Weiß und er- (WAB 31)
hält bei diesem Unterricht in Orgelspiel und General-
bass (bis 1837)
1836 • Herbst: Erkrankung des Vaters; Rückkehr Bruckners
ins elterliche Haus nach Ansfelden
1837 • 7. Juni: Tod des Vaters
• Ende Juli: Bruckner wird Sängerknabe im Augustiner-
Chorherrenstift St. Florian; Orgelunterricht u. a. bei
Anton Kattinger (bis 1840)
• Wohnen und Unterricht beim Schulleiter Michael
Bogner
1838 • Oktober: Datierung im Klavierauszug von Rossinis
Tancredi-Ouvertüre
1839 • 24. April: Bruckner schließt die Volksschule als Primus
ab
• Kontakt mit Karl Seiberl (1830–1918), der als Sänger-
knabe ebenfalls bei der Familie Bogner lebt und der
Bruckner lebenslang freundschaftlich verbunden bleibt
1840 • 15. Oktober: Beginn der zehnmonatigen Ausbildung • Abschrift von Michael Haydns Deutscher Messe
zum Schulgehilfen an der Präparandie der k.k. Nor- »Hier liegt vor Deiner Majestät« für einen Schulkolle-
malhauptschule in Linz; Unterricht in Harmonie- und gen
Generalbasslehre, Choralgesang und Orgelspiel bei
Johann August Dürrnberger
• Besuch der von Karl Zappe, Konzertmeister am Linzer
Theater, veranstalteten Konzerte (u. a. Ouvertüren von
Carl Maria von Weber, Beethovens Vierte Sinfonie,
2. Oktober: Beethovens Fidelio)
XIV Zeittafel

Jahr Biographisches Werk


1841 • 3. Oktober: Dienstantritt als Schulgehilfe in Wind- • Studium von J.S. Bachs Kunst der Fuge, von Präludien
haag bei Freistadt; das jährliche Gehalt beträgt 12 Gul- und Fugen J.G. Albrechtsbergers, von F.W. Marpurgs
den Handbuch beim Generalbass und der Komposition und
von D.G. Türks Generalbasslehre
1842 • 16. Juni: Bruckners Leistung wird bei einer Inspektion • Windhaager Messe in C-Dur (WAB 25), Anna Maria
positiv beurteilt Jobst gewidmet
1843 • 19. Januar: Dienstende in Windhaag; 23. Januar: An- • zwischen 1843 und 1845: Komposition der Zwei Asper-
stellungsdekret als Schulgehilfe in Kronstorf bei Steyr; ges WAB 3 (signiert »Anton Bruckner m.p.ria. /
Bruckner wohnt bei der Lehrerfamilie Lehofer Comp.«)
• Unterricht bei Leopold von Zenetti in Enns: dreimal • bis 1845 entstehen etliche kirchenmusikalische Chöre
wöchentlich bis 1845, in gelockerter Form bis 1855 und weltliche Vokalwerke
• Gründung eines Männerquartetts in Kronstorf
1844 • Messe für den Gründonnerstag (WAB 9); 4. April:
mutmaßlicher Termin der Erstaufführung
• Tantum ergo WAB 43 (evtl. auch erst 1845)
1845 • 27./28. Mai: Lehrerprüfung beim bischöflichen • März: Requiem für Männerchor und Orgel (WAB 133,
Konsistorium in Linz verschollen); Erstaufführung in Kirchberg; weitere
• 24. Juni: Zeugnis über die am 29. Mai abgelegte Aufführungen am 11. März 1852 und 4. April 1854
Prüfung in den musikalischen Fächern
• 19. August: Präparandie-Zeugnis: »kann als Lehrer in
Vorschlag gebracht werden«
• 23. September: Dienstende in Kronstorf
St. Florian (1845–1855)
1845 • 25. September: Schulgehilfe in St. Florian während • bis 1851 zahlreiche Gelegenheitskompositionen: welt-
zehn Jahren bei 36 Gulden Jahreslohn; Bruckner liche und kirchliche Vokalmusik
wohnt wieder bei der Lehrerfamilie Bogner • Tantum ergo WAB 43 (evtl. auch schon 1844)
• erneut Orgelunterricht bei Kattinger (vermutlich bis • Studium der Kompositionslehre von Heinrich
Ende 1849) Christoph Koch
1846 • Weiterbildung in den Fächern Physik und Latein • Februar bis 9. Juni: Tantum ergo WAB 42; einige Auf-
führungen bis 1856
• Vier Tantum ergo WAB 41; zahlreiche Teilaufführun-
gen bis 1858
• Nachspiel d-Moll (WAB 126) (evtl. auch später)
1847 • 28. Januar: Tod der Patentante Rosalia • Der Lehrerstand (WAB 77), Michael Bogner gewid-
• 1. Bassist im Männerquartett met
• Vorspiel und Fuge c-Moll für Orgel (WAB 131); die
Fuge ist auf 15. Januar datiert
• zwei Aequale c-Moll für drei Posaunen (WAB 114 und
149)
1848 • zwei Zeugnisse über die Befähigung als Organist von • Männerquartett Sternschnuppen (WAB 85)
Kattinger und Joseph Pfeiffer; März: wahrscheinlich • In jener letzten der Nächte (WAB 17); Erstaufführung
Ernennung zum provisorischen Stiftsorganisten (evtl. vermutlich am Gründonnerstag oder Karfreitag
erst Februar 1850) • 1. November: kontrapunktische Studien zu Mendels-
• Orgel-Wettspiel in St. Florian sohns Paulus; eine der Skizzen später in der Missa so-
• lehnt Klavierlehrerstelle am Gymnasium Krems- lemnis (WAB 29) wiederverwendet
münster ab
• 13. September: Tod des Stiftsschreibers Franz Sailer;
Bruckner erbt dessen Bösendorfer-Flügel
• Teilnahme an der Nationalgarde
1849 • 12. Oktober: Ernennung zum Privatlehrer der Sänger- • 14. März: Requiem d-Moll (WAB 39) auf den Tod
knaben Franz Sailers; Erstaufführung zum 1. Todestag; drei
weitere Aufführungen bis 1854; Überarbeitung 1892
1850 • Weiterbildung an der Unterrealschule bis Oktober 1851 • Klavierstücke Lancier-Quadrille (WAB 120) und
• 28. Februar: provisorischer Stiftsorganist (evtl. schon Steiermärker (WAB 122) für Aloisia Bogner
März 1848)
• 10. Juli: Selbstmord des Firmpaten Johann Baptist
Weiß wegen ungerechtfertigter Vorwürfe der Verun-
treuung von Vereinsgeldern
Zeittafel XV

Jahr Biographisches Werk


1851 • Aushilfsarbeit in der Bezirksgerichtskanzlei • mehrere Kantaten und Lieder zu Namensfesten
• definitive Anstellung als erster Stiftsorganist, Jahresge- • zwei Sängersprüche für die Liedertafel Eferding
halt: 80 Gulden (zuzüglich 36 Gulden als Lehrer sowie (WAB 83)
36 Gulden für den Privatunterricht der Sängerknaben)
1852 • Jahresanfang: Besuch bei Ignaz Aßmayr in Wien, um • Juli: 114. Psalm (WAB 36)
ihm die Partitur des Requiem (WAB 39) vorzulegen; • 15. August: Magnificat (WAB 24)
später Widmung des 114. Psalms • 28. oder 29. September: Erstaufführung der Kantate
• 6. Juni: Sängerfahrt der Linzer Liedertafel »Frohsinn« »Heil, Vater, Dir zum hohen Feste« (WAB 61b) in Linz;
nach St. Florian Bruckners Orgelspiel wird in der Linzer Zeitung –
• 19. Dezember: Franz Joseph Rudigier (1811–1884) wird ohne Namensnennung – erwähnt
Bischof von Linz
1853 • 25. Juli: (erfolglose) Bewerbung um eine Kanzleistelle • drei Aufführungen des Tantum ergo WAB 42
1854 • 24. März: Tod des Stiftsabtes Michael Arneth; Bruck- • April oder Mai bis 8. August: Missa solemnis b-Moll
ner schreibt zum Begräbnis drei Werke (WAB 29); 14. September: Erstaufführung in
• 9. Oktober: Orgelprüfung vor Ignaz Aßmayr, Simon St. Florian zur Amtseinsetzung des neuen Abtes
Sechter und Gottfried Preyer in der Wiener Piaristen- Friedrich Mayr
kirche • 1. August: Erstaufführung des Magnificat (WAB 24)
in St. Florian; zwei weitere Aufführungen bis 1855
1855 • 25./26. Januar: Hauptschullehrerprüfung in Linz • bis 1861 zahlreiche Gelegenheitswerke: Festgesänge
• ab Juli: Musiktheorie-Unterricht bei Simon Sechter für Männerchor und Soli zu Festen und Begräbnis-
(1788–1867) in Wien sen; Kantaten und Lieder zu Namensfesten; kleine
• im Sommer Bewerbung um die Domorganistenstelle Klavierstücke u. a. zu Unterrichtszwecken
in Olmütz
• 13. November: erfolgreiches Probespiel für die
Organistenstelle an der Stadtpfarrkirche Linz, danach
provisorischer Dom- und Stadtpfarrorganist
• 22. Dezember: Ende der Tätigkeit als Schullehrer
• 24. Dezember: Einzug in die Dienstwohnung im
»Mesnerhäusl« am Pfarrplatz in Linz
Linz (1856–1868)
1856 • 25. Januar: Probespiel im Alten Dom, danach definiti- • 24. Juli: Ave Maria (WAB 5); 7. Oktober: Erstauffüh-
ver Domorganist rung am Rosenkranzfest in St. Florian
• spätestens März: Mitglied der Linzer Liedertafel
»Frohsinn«
• 25. April: Anstellungsdekret als Domorganist; 14. Mai:
Diensteid
• September: Reise mit der Liedertafel »Frohsinn« zur
Mozartfeier in Salzburg; dort lernt Bruckner den
Wiener Chordirigenten Rudolf Weinwurm (1835–1911)
kennen, der während der ganzen Linzer Zeit sein
wichtigster Wiener Kontaktmann wird
• 31. Oktober: 2. Archivar der Liedertafel »Frohsinn«
(bis November 1857)
1857 • wiederholte Beschwerden über den schlechten Zu- • Entstehung des Chores Das edle Herz (WAB 66)
stand beider Linzer Orgeln • Kantate »Auf, Brüder! auf zur frohen Feier« (WAB 61a,
• November/Dezember: Bruckners Orgelspiel wird in recte b) zum Namensfest des Prälaten Friedrich Mayr
der »Linzer Zeitung« erwähnt von St. Florian
1858 • Sommer: einmonatiges intensives Studium bei Sechter • spätestens 1858: 146. Psalm (WAB 37); möglicherweise
in Wien (Harmonielehre, Fuge, Kanon und Kontra- gehört WAB 37 aber auch in die späte St. Florianer
punkt), danach regelmäßig kurze Reisen zu Sechter Zeit
(bis 1861)
• 12. Juli: Prüfung im praktischen Orgelspiel in Wien
(Piaristenkirche); Zeugnis von Sechter
• 2. September: Aufkündigung der aktiven Mitglied-
schaft der Liedertafel »Frohsinn« wegen Heiserkeit
• 14. September: Antrag auf Teilung der Organistenstelle
und Förderung des Kirchengesangs
1859 • Plan der Gründung einer Linzer »Gesang-Akademie«
mit Engelbert Lanz (später zurückgezogen)
• 1. Juni: Heimatrecht in Linz
XVI Zeittafel

Jahr Biographisches Werk


1860 • 7. November: Wahl zum 1. Chormeister der Liederta-
fel »Frohsinn«
• 11. November: Tod der Mutter in Ebelsberg bei Linz
1861 • 26. März: letztes Zeugnis von Simon Sechter • 12. Mai: Erstaufführung des Ave Maria (WAB 6)
• 22. Juni: erfolglose Bewerbung um die Direktoren- durch die Liedertafel »Frohsinn«; in den folgenden
stelle des Salzburger Dom-Musik-Vereins Jahren viele weitere Aufführungen (Referenzwerk:
• 29./30. Juni: in Krems beim 1. Deutsch-Österreichi- Bruckner verwendet das Ave Maria für das Probediri-
schen Sängerfest gat in Salzburg und legt es einigen Bewerbungen bei)
• 19. bis 24. Juli: beim Großen Deutschen Sängerfest in
Nürnberg als Chormeister der Liedertafel »Frohsinn«
• 19. November: Prüfung am Konservatorium der Ge-
sellschaft der Musikfreunde in Wien (Kommission:
Sechter, Hellmesberger, Herbeck, Dessoff, Becker)
• 21. November: Orgelprüfung in der Piaristenkirche,
Introduktion und Fuge über ein Thema Sechters;
22. November: Zeugnis des Konservatoriums
• ab Dezember: Studium beim Linzer Theaterkapell-
meister Otto Kitzler (1834–1915): Formenlehre, Instru-
mentation, Komposition; dabei entsteht das soge-
nannte »Kitzler-Studienbuch« (bis Juli 1863)
1862 • September: erste Pläne, sich an die Hofmusikkapelle • 25. April: Festkantate (WAB 16); 1. Mai: Erstauffüh-
nach Wien berufen zu lassen rung zur Grundsteinlegung des Mariä-Empfängnis-
Domes in Linz
• verschiedene Tanzsätze für Klavier (Kitzler-Studien-
buch)
• 7. August: Streichquartett (WAB 111)
• Instrumentationsstudien bei Kitzler; u. a. Orchester-
arrangement des 1. Satzes von Beethovens Grande
Sonate pathétique
• 12. Oktober: Marsch für Orchester (WAB 96)
• 16. November: Drei Orchesterstücke (WAB 97)
1863 • 13. Februar: Linzer Erstaufführung von Richard Wag- • 22. Januar: Ouvertüre (WAB 98)
ners Tannhäuser, worauf Bruckner sich durch intensi- • 7. Januar bis 26. Mai: »Studiensinfonie« f-Moll (WAB
ves Partiturstudium vorbereitet; Bruckner studiert mit 99)
dem mitwirkenden »Frohsinn« den Pilgerchor ein • 5. Juli: 112. Psalm (WAB 35)
• 10. Juli: Abschluss der Studien bei Kitzler mit förm- • Juli: Kompositionsbeginn Germanenzug (WAB 70)
licher »Freisprechung« • um 1863: Zigeuner-Waldlied (WAB 135, verschollen)
• September/Oktober: beim Musikfest in München;
Bruckner legt dem dortigen Hofkapellmeister Franz
Lachner seine f-Moll-Sinfonie vor
• Studien bei Ignaz Dorn (bis 1865)
1864 • Ende August: Germanenzug erscheint als erstes • Mai oder Juni bis 29. September: d-Moll-Messe (WAB
gedrucktes Werk (bei Josef Kränzl, Ried) 26); 20. November: Erstaufführung unter Bruckners
Leitung im Alten Dom
• August: Germanenzug (WAB 70) für den Druck ein-
gerichtet
1865 • Mai/Juni: Reise nach München zur Erstaufführung • Januar: Erste Sinfonie c-Moll (WAB 101) begonnen
von Wagners Tristan und Isolde unter Hans von Bü- • 5. Juni: Germanenzug (WAB 70) beim Oberösterrei-
low; Begegnungen mit Richard Wagner und Hans von chischen Sängerfest in Linz erstaufgeführt; Bruckner
Bülow, dem Bruckner seine im Entstehen begriffene erhält den 2. Preis (hinter der Germania von Rudolf
Erste Sinfonie zeigt Weinwurm); einige weitere Aufführungen, u. a. zum
• August: Reise nach Budapest zur Erstaufführung von Abschied von der Liedertafel »Frohsinn« im Sommer
Franz Liszts Legende von der heiligen Elisabeth 1868
1866 • Maria Anna Bruckner (1836–1870) zieht zu ihrem • 14. April: Erste Sinfonie c-Moll (WAB 101) vollendet
Bruder, um ihm (bis zu ihrem Tod) den Haushalt zu (1. Fassung = sogenannte »Linzer Fassung«)
führen • August bis 25. November: e-Moll-Messe (WAB 27) als
• 16. August: Heiratsantrag an die 20 Jahre jüngere Auftrag von Bischof Rudigier
Linzer Fleischhauerstochter Josefine Lang
• Dezember: in Wien bei einer Aufführung von Hector
Berlioz’ Fausts Verdammnis
Zeittafel XVII

Jahr Biographisches Werk


1867 • 22. März: Bruckner hört in Wien unter dem Dirigat • 14. September: Beginn der f-Moll-Messe (WAB 28)
Herbecks erstmals Beethovens Neunte Sinfonie • 10. Februar: Aufführung der d-Moll-Messe (WAB 26)
• 8. Mai bis 8. August: Kuraufenthalt in Bad Kreuzen unter Johann Herbeck in der Wiener Hofburgkapelle
• 10. September: Tod Simon Sechters mit Bruckner an der Orgel
• 14. Oktober: Gesuch um Aufnahme in die k.k. Hof-
musikkapelle; wird 1868 bewilligt
• 2. November: erfolgloses Gesuch an den Dekan der
philosophischen Fakultät der Universität Wien um
Aufnahme als Lehrer für musikalische Komposition
1868 • 15. Januar: erneute Wahl zum Chormeister der Lieder- • 31. Januar: Pange lingua et Tantum ergo (WAB 33)
tafel »Frohsinn« • 9. Mai: Erstaufführung der Ersten Sinfonie (WAB 101)
• 4. April: Gründungsfestkonzert der Liedertafel »Froh- unter Bruckners Leitung in Linz (Redoutensaal)
sinn« mit der von Bruckner dirigierten Erstaufführung • 9. September: f-Moll-Messe beendet; zahlreiche Über-
des Schlusschors aus Richard Wagners Die Meistersin- arbeitungen bis 1893
ger von Nürnberg
• 11. Mai: Ernennung zum Ehrenmitglied des Mozar-
teum Salzburg
• Juni/Juli: in München bei der dritten Aufführung der
Meistersinger von Nürnberg unter Hans von Bülow
• 6. Juli: Anstellungsdekret als Professor für Harmonie-
lehre, Kontrapunkt und Orgelspiel am Konservato-
rium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
• August/September: erneut Kuraufenthalt in Bad Kreu-
zen
• 4. September: Berufung zum »exspectierenden k.k.
Hoforganisten« in Wien
• 29. September: Abschiedssoirée des »Frohsinn« für
Bruckner
Wien (1868–1896)
1868 • Oktober: Übersiedelung nach Wien (erste Wohnung:
9. Bezirk, Währingerstraße 41, 3. Stock) und Auf-
nahme der Unterrichtstätigkeit am Konservatorium
der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (zunächst
noch in den alten Räumen in den Tuchlauben)
• 28. Dezember: Gewährung eines Jahresstipendiums
des Kultusministeriums »zur Herstellung größerer
symphonischer Werke« (500 Gulden)
1869 • Seit 1868 bis Ostern 1869: Bruckner wohnt Vorlesun- • 24. Januar bis 12. September: d-Moll-Sinfonie (WAB
gen von Hanslick bei 100, die spätere Annullierte) in Wien und Linz
• April/Mai: Orgel-Konzertreisen nach Nancy (Basilika • 29. September: Erstaufführung der e-Moll-Messe zur
St. Epvre) und Paris (Notre Dame) Einweihung der Votivkapelle des Neuen Domes in
• 20. Mai: Ehrenmitglied der Welser Liedertafel Linz unter Bruckners Leitung
• 9. Juni: Ehrenmitglied der Linzer Liedertafel »Froh- • 29. Oktober: Erstaufführung des Graduale Locus iste
sinn« (WAB 23) in der Votivkapelle des Neuen Domes in
• 21. Oktober: Ehrenmitglied des Linzer Diözesan- Linz unter Johann Burgstaller
Kunstvereins • 29./31. Oktober: Skizzen zum ersten Satz einer Sinfo-
nie in B-Dur (WAB 142)
• November: Beginn der Arbeit am Chor Mitternacht
(WAB 80)
XVIII Zeittafel

Jahr Biographisches Werk


1870 • 5. Januar: Schlusssteinlegung am Großen Musikver- • 15. Mai: Erstaufführung des Chores Mitternacht
einssaal der Gesellschaft der Musikfreunde durch (WAB 80) in Linz beim Gründungsfestkonzert
Kaiser Franz Joseph der Liedertafel »Frohsinn« unter der Leitung von
• 6. Januar: erstes Konzert im neueröffneten Großen W. Gericke
Musikvereinssaal unter Herbeck mit Werken von
Beethoven, Haydn, Bach, Mozart und Schubert
• 16. Januar: Tod der Schwester Maria Anna in Wien;
die Führung von Bruckners Haushalt übernimmt (bis
zu seinem Tod) für einen Monatslohn von 7 Gulden
Katharina Kachelmaier (1846–1911)
• 27. Januar: Wiener Erstaufführung von Wagners Die
Meistersinger von Nürnberg unter Herbeck
• 10. Juni: Orgelimprovisation in der Piaristenkirche
• 18. Oktober: Hilfslehrer für Klavier an der Lehrerbil-
dungsanstalt St. Anna (bis 1874)
• 7. November: Künstlerstipendium von 400 Gulden
wird von Minister Stremayr bewilligt
• 19. November: Ehrenmitglied der Währinger Lieder-
tafel
• 22. November: Bruckner wird Ehrenbürger seines
Geburtsortes Ansfelden
• Dezember: Aufführungen verschiedener Werke von
Beethoven anlässlich des Beethoven-Festes
1871 • 27. Januar: Wiener Premiere von Wagners Der • 11. Oktober: Beginn der Arbeit an der Zweiten
Fliegende Holländer unter Herbeck Sinfonie
• 18. April: erfolgreiches Probespiel an der Orgel der
Piaristenkirche im Rahmen eines Konkurrenzspiels
anlässlich der Vorbereitungen zur Weltausstellung in
London
• 20. Juli: Beginn der Londonreise
• Juli/August: Orgelkonzerte in London (Royal Albert
Hall, Crystal Palace) mit Werken von Bach, Händel
und Mendelssohn sowie eigenen Improvisationen
• 5. Oktober: Enthebung Bruckners von seinem Amt als
Hilfslehrer (»St.-Anna-Affäre«); später Rehabilitierung
1872 • 8. Mai: Aufführung von Wagners Rienzi unter • 16. Juni: Erstaufführung der f-Moll-Messe unter
Herbeck Bruckners Leitung in der Hofpfarrkirche St. Augustin
• 12. Mai: Bruckner macht möglicherweise Bekannt- • 11. September: Vollendung der Zweiten Sinfonie; Be-
schaft mit dem Feuerzauber aus der Walküre im Wag- ginn der Arbeit an der Dritten Sinfonie
ner-Konzert im Musikvereinssaal • Oktober: Ablehnung der Erstaufführung der Zweiten
• 15. November: Orgelimprovisation zur Einweihung Sinfonie durch den Dirigenten der Wiener Philhar-
der neuen Orgel des Musikvereinssaales in Wien; moniker, Otto Dessoff
Brahms dirigiert den Wiener Singverein • 8. Dezember: Aufführung der f-Moll-Messe unter
Bruckners Leitung in der Wiener Hofburgkapelle
1873 • August/September: Reise nach Karlsbad (mit Orgel- • 31. August: Vollendung der Skizze zum Finale der
konzert), Marienbad (Kuraufenthalt), Bayreuth; dort Dritten Sinfonie
Besuch bei Richard Wagner und Bitte um Erlaubnis • 26. Oktober: Erstaufführung der Zweiten Sinfonie
zur Widmung der Dritten Sinfonie (Fassung 1872, mit Änderungen von 1873) durch die
• 15. Oktober: Beitritt zum Wiener Akademischen Wiener Philharmoniker unter Bruckners Leitung zur
Wagner-Verein Schlussfeier der Wiener Weltausstellung
• 8. Dezember: Erstaufführung des Christus factus est II
(WAB 10) für achtstimmigen Chor in der Hofburg-
kapelle
• 31. Dezember: Dritte Sinfonie (1. Fassung) vollendet
Zeittafel XIX

Jahr Biographisches Werk


1874 • 18. April: erfolgloses Gesuch an das Kultusministerium • 2. Januar bis 22. November: Vierte Sinfonie
um eine feste Anstellung als Theorielehrer an der Uni- (1. Fassung)
versität Wien
• 4. Mai: Antrag Hanslicks, das Gesuch vom 18. April
abzulehnen
• 10. Mai: Berichtigung des Gesuches vom 18. April mit
Bitte um eine Lehrstelle statt einer Professur
• 24. Juni: Cosima Wagner bedankt sich im Namen von
Richard Wagner schriftlich für die Widmung der
Dritten Sinfonie
• Oktober: Verlust der Klavierlehrerstelle an der Präpa-
randie St. Anna wegen Umstrukturierungen
• 31. Oktober: Ablehnung des Gesuches vom 10. Mai
durch das Professoren-Kollegium der Universität
1875 • 1. Juli: Vizearchivar der Hofmusikkapelle und zweiter • 14. Februar: Beginn der Arbeit an der Fünften Sinfonie
Singlehrer der Sängerknaben • 19. September: Beginn eines Requiem d-Moll (WAB
• 8. November: Bruckner wird vom Kultusministerium 141) in Wien skizziert
als zunächst (bis 1880) unbesoldeter Lektor für Har- • Kürzungen an der Zweiten Sinfonie
monielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien
zugelassen
• 22. November: Premiere der von Wagner selbst über-
wachten Wiener Neueinstudierung des Tannhäuser
unter Hans Richter; 15. Dezember: Premiere der von
Wagner selbst überwachten Neueinstudierung des Lo-
hengrin unter Richter
1876 • 2. März: Aufführung des Lohengrin unter der Leitung • 20. Februar: Erstaufführung der Zweiten Sinfonie
von Wagner (gekürzte Fassung von 1875/1876) unter Bruckners
• 24. April: Antrittsvorlesung an der Universität Leitung in Wien
• Ende August: bei der dritten Aufführung des Ring des • 16. Mai: Fünfte Sinfonie vorerst vollendet
Nibelungen in Bayreuth; dort erste Begegnung mit • Sommer: Änderungen an der d-Moll-Messe (»verbes-
dem Berliner Kritiker Wilhelm Tappert sert«)
• Sommer oder Herbst: Übersiedelung in den 1. Bezirk • 31. Dezember: Männerchor Das hohe Lied (WAB 74)
(Heinrichshof am Opernring 3, oberstes Stockwerk) vollendet
1877 • 7. Januar: erfolglose Bewerbung um die Kapellmeister- • Revision der Zweiten Sinfonie (2. Fassung)
stelle an der Kirche »Am Hof« • 27. September: Philharmoniker lehnen in einer Novi-
• 12. Januar: erfolgloses Gesuch an das Kultusministe- tätenprobe die Dritte Sinfonie erneut ab; dies löst
rium um eine feste Remuneration für seine Lehrtätig- neue Umarbeitungen aus
keit an der Universität • 28. Oktober: Tod Herbecks, der sich für eine Auffüh-
• 30. April: Bruckners erste Kontrapunkt-Vorlesung rung der Dritten Sinfonie eingesetzt hatte
• 15. November: Übersiedelung in den 1. Bezirk • 16. Dezember: Erstaufführung der Dritten Sinfonie
(Heßgasse 7); die Wohnung im 4. Stock wird Bruck- (2. Fassung, vermutlich gekürzt) unter Bruckners
ner durch den Hausbesitzer, seinen Universitätshörer Leitung in Wien; Theodor Rättig bietet Bruckner an,
Anton Ölzelt Ritter von Newin, kostenlos zur die Dritte Sinfonie auf eigene Kosten zu publizieren
Verfügung gestellt
1878 • 1. Februar: Bruckner wird »wirkliches« (= ordentliches) • 13. Januar: Vollendung des Männerchores Abend-
Mitglied der Hofmusikkapelle zauber (WAB 57)
• im Oktober zählen zu Bruckners Schülern J. Korn- • 30. März: Vollendung der Litanei Tota pulchra es
gold, R. Dittrich, F. Schalk, H.P. Vergeiner, (WAB 46)
A. Zamara, A. Meißner, C. Bernhard Öhn, F. Brischar, • Dezember: Beginn des Streichquintetts (WAB 112)
F. Burgarth und E. Denhof • Arbeit an der 2. Fassung der Vierten Sinfonie
1879 • 10. November: erste Datierung einer Mitschrift von • 12. Juli: Streichquintett vollendet
Bruckners Universitätsvorlesung durch den späteren • 18. Juli: Komposition des Graduale Os justi (WAB 30)
Benediktinerpater Oddo Loidol • 28. Juli: Komposition des Inveni David (I, WAB 20)
• im November zählen zu Bruckners Schülern auch • 28. August: Erstaufführung des Graduale Os justi und
J. Aichinger, O. von Liebig, J. Schnabl und R. Steiner des Inveni David unter Ignaz Traumihler in
St. Florian im Beisein Bruckners
• August/September: Beginn der Arbeit an der Sechsten
Sinfonie
• Herbst: Druck der Dritten Sinfonie (1. Druckfassung
= 2. Fassung) bei Rättig
• 21. Dezember: Intermezzo d-Moll (WAB 113) zum
Streichquintett vollendet
XX Zeittafel

Jahr Biographisches Werk


1880 • Anfang 1880: Bruckner interessiert sich für das Opern- • Vollendung der Vierten Sinfonie (2. Fassung mit 3.
libretto »Ilse« von F. Schaumann Fassung des Finales)
• 9. August: erfolglose Bewerbung bei Eduard Kremser • 6. Juni: erfolgreiche Wiener Aufführung der d-Moll-
um die Stelle des zweiten Chormeisters beim Wiener Messe unter Bruckners Leitung
Männergesang-Verein
• August/September: Reise nach Oberammergau (dort
Besuch des Passionsspiels), München und in die
Schweiz; Orgelspiel u. a. in Zürich, Genf, Bern und
Luzern
• ab November neue Schüler: F. Cambala, R. Haas, J.
Petters, E. Spiegler, A. Stephani
1881 • 8. Dezember: Brand des Ringtheaters in der Nähe von • 20. Februar: Erstaufführung der Vierten Sinfonie
Bruckners Wohnung (2. Fassung) unter Hans Richter in Wien in einem
Programm mit Werken von Beethoven und Bülow
(Beethoven: Ouvertüre zu König Stephan und Klavier-
konzert Nr. 4 mit Hans von Bülow als Solist, Bülow:
Orchesterballade Des Sängers Fluch unter dem Dirigat
Hans von Bülows)
• 3. bis 17. Mai: Entwurf des Te Deum (WAB 45)
• 3. September: Sechste Sinfonie vollendet
• 23. September: Beginn der Arbeit an der Siebten Sin-
fonie
• 17. November: Erstaufführung des Streichquintetts
(ohne Finale) in Wien durch Winkler, Lillich,
Kreuzinger, Desing und Lucca
• 10. Dezember: Aufführung der Vierten Sinfonie unter
Bruckners früherem Schüler Felix Mottl in Karlsruhe
(erste Aufführung eines Werkes von Bruckner in
Deutschland)
1882 • 12. Januar: Bewerbung um Ehrendoktorat der Univer- • Überarbeitung der e-Moll-Messe
sität Cambridge (vielleicht nie abgeschickt) • Überarbeitung der d-Moll-Messe (»neu verbessert«,
• 26. Juli: Uraufführung des Parsifal in Bayreuth; 1881/82)
Bruckner wohnt der dritten Aufführung am 30. Juli
bei
1883 • 13. Februar: Tod Richard Wagners. Die Nachricht • 10. Februar: Erstaufführung des ersten und dritten
erreicht Bruckner während der Arbeit am Adagio zur Satzes der Siebten Sinfonie mit Josef Schalk und Franz
Siebten Sinfonie Zottmann an zwei Klavieren in Wien
• 13. November: Ehrenmitglied der Liedertafel • 11. Februar: Erstaufführung der Mittelsätze der
Vöcklabruck Sechsten Sinfonie in Wien unter Wilhelm Jahn in
• November: als Bruckners Universitätsschüler schreiben Anwesenheit Bruckners
sich E. Mirus, H. Pietschmann, E. Reimer und • 3. September: Vollendung der Siebten Sinfonie in
R. Scharpff ein St. Florian
• 28. September: Wiederaufnahme der Arbeit am
Te Deum
1884 • April: Besuch bei Franz Liszt im Wiener Schottenhof • 27. Februar: Erstaufführung der Siebten Sinfonie mit
anlässlich der geplanten Widmung der Zweiten Sinfo- Ferdinand Löwe und Josef Schalk an zwei Klavieren
nie in Wien
• im Sommer auf der Rückreise von Bayreuth Aufent- • 16. März: Vollendung des Te Deum
halt in München • 5. April: Erstaufführung des Streichquintetts
• Oktober: Widmung des Streichquintetts an Herzog (komplett) durch das erweiterte Winkler-Quartett
Max Emanuel in Bayern (Winkler, Lillich, Schalk, Kreuzinger, Hummer)
• 28. Dezember: Aufsatz von Hugo Wolf über Bruckner • vermutlich Juni/Juli: Beginn der Arbeit an der Achten
im Salonblatt Sinfonie
• 30. Dezember: Erstaufführung der Siebten Sinfonie in
Leipzig unter Arthur Nikisch in Anwesenheit Bruck-
ners
• Druck des Streichquintetts bei Gutmann
Zeittafel XXI

Jahr Biographisches Werk


1885 • 22. Januar: Ehrenmitglied des Wiener Akademischen • 8. Januar: Aufführung des Streichquintetts durch das
Wagner-Vereins Hellmesberger-Quartett, in einem Programm mit
• 24. März: Gesuch um Ehrendoktorat an der Universi- Werken von Mozart und Beethoven
tät Philadelphia (vielleicht nie abgeschickt) • 27. Januar: Aufführung der Mittelsätze der Siebten
• Projekt einer von August Göllerich (jun.) zu verfassen- Sinfonie unter Nikisch in Leipzig
den Biographie Bruckners nimmt Gestalt an • 10. März: Aufführung der Siebten Sinfonie in Mün-
chen unter Hermann Levi in Anwesenheit Bruckners.
Diese Aufführung bewirkt den endgültigen Durch-
bruch Bruckners in Deutschland; 11. März: eine Auf-
führung von Wagners Walküre unter Levi in Mün-
chen wird mit einer kleinen Bruckner-Feier beschlos-
sen
• 2. Mai: Erstaufführung des Te Deum mit Begleitung
zweier Klaviere unter Bruckners Leitung in Wien
(Akademischer Wagner-Verein)
• 4. Oktober: Erstaufführung der e-Moll-Messe
(2. Fassung) in Linz durch den Linzer Musikverein
unter Adalbert Schreyer
• 5. Dezember: Aufführung der Dritten Sinfonie in New
York unter Walter Damrosch (erste Aufführung eines
Werkes von Bruckner in den USA)
• 11. Dezember: Aufführung der Dritten Sinfonie in
Dresden unter Ernst von Schuch
• Druck der Siebten Sinfonie bei Gutmann und des
Te Deum bei Rättig
1886 • März: Widmung der Siebten Sinfonie an König • 10. Januar: Erstaufführung des Te Deum mit
Ludwig II. von Bayern Orchester unter Hans Richter in Wien
• 9. Juli: Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens • 14. März: österreichische Erstaufführungen der
• August: Besuch von Tristan und Isolde sowie Parsifal in Siebten Sinfonie unter Karl Muck in Graz im Beisein
Bayreuth; 4. August: in Bayreuth Organist bei der Bruckners und am 21. März unter Hans Richter in
Totenfeier für Franz Liszt Wien
• 23. September: Audienz bei Kaiser Franz Joseph I. • 7. April: Aufführung des Te Deum unter Hermann
• 1885/1886: 25 Aufführungen der Siebten Sinfonie in Levi in München in Anwesenheit Bruckners,
Deutschland, weitere Aufführungen in Österreich und anschließend in Karlsruhe und in Linz
den USA • 18. April: Gustav Mahler dirigiert in Prag das Scherzo
der Dritten Sinfonie und beginnt damit seine Lauf-
bahn als Bruckner-Dirigent
• 29. Juli: Aufführung der Siebten Sinfonie unter Theo-
dore Thomas in Chicago, zudem Aufführungen in
Boston und New York
• Druck des Christus factus est III (WAB 11), des Locus
iste (WAB 23), des Os justi (WAB 30) und des Virga
Jesse (WAB 52) bei Rättig unter dem Titel Vier
Graduale […] von Anton Bruckner
1887 • 10. Juni: Ernennung zum korrespondierenden Mit- • 20. April: Erstaufführung der Fünften Sinfonie in der
glied der Amsterdamer ›Maatschappij tot bevordering Fassung für zwei Klaviere mit Josef Schalk und Franz
van Toonkunst‹ Zottmann in Wien
• Herbst: Ablehnung einer Aufführung der Achten Sinfo- • 4. April: Aufführung der Siebten Sinfonie unter
nie durch Levi, zunächst mit brieflicher Mitteilung Sándor Erkel in Budapest
Levis an Franz Schalk (30. September); für Bruckner • 9./10. August: Achte Sinfonie (1. Fassung) vollendet
wird dies der Anlass zu tiefgreifender Umarbeitung des • 21. September: Beginn der Arbeit an der Neunten
Werkes, zugunsten derer die gerade begonnene Arbeit Sinfonie
an der Neunten Sinfonie zurückgestellt wird • Oktober: Beginn der Umarbeitung der Achten
Sinfonie, die aber zugunsten der Revision der Dritten
Sinfonie unterbrochen wird
• Druck des Tota pulchra es (WAB 46) bei Wetzler
1888 • Juli: Reise nach Bayreuth, wo erstmals die Meistersin- • 22. Januar: Erstaufführung der Vierten Sinfonie
ger unter Hans Richter aufgeführt werden (3. Fassung) unter Hans Richter in Wien
• 4. April: Aufführung der Vierten Sinfonie (3. Fassung)
unter Anton Seidl in New York
XXII Zeittafel

Jahr Biographisches Werk


1889 • 22. Januar: Ehrenmitglied des Wiener Akademischen • Ende der Umarbeitung der Dritten Sinfonie
Gesangvereins (3. Fassung); ab März: Fortsetzung (bzw. eigentlicher
• Bewerbung um die Kapellmeisterstelle am Burgtheater Beginn) der Umarbeitung der Achten Sinfonie
• Druck der Vierten Sinfonie (in der Einrichtung
Ferdinand Löwes) bei Gutmann
1890 • Gründung eines Gönner-»Consortiums« für Bruckner • 10. März: Achte Sinfonie (2. Fassung) vollendet
zur Gewährleistung einer Jahresrente von 1000 Gulden • 12. März: Beginn der Umarbeitung der Ersten Sinfonie
• März: Kaiser Franz Joseph I. nimmt die Widmung der • 21. Dezember: Erstaufführung der Dritten Sinfonie
Achten Sinfonie an (3. Fassung) unter Hans Richter in Wien
• 12. Juli: Beurlaubung vom Unterricht am Konservato- • Druck der Dritten Sinfonie (3. Fassung) bei Rättig
rium wegen Krankheitssymptomen
• 31. Juli: Organist bei der Hochzeit von Erzherzogin
Marie Valerie in der Ischler Pfarrkirche
• 14. Oktober: Hugo Wolf kann seine Tübinger Freunde
wie auch Engelbert Humperdinck für die Unterstüt-
zung von Bruckners Person und Werk gewinnen
• 30. Oktober: Gewährung einer jährlichen Ehrengabe
von 400 Gulden durch den Oberösterreichischen
Landtag
• November: zu den Universitätsschülern zählen
C. Bilinski, H.J. Hermann, E. Hrkal, F. von Kraus,
O. Trebitsch
1891 • 15. Januar: definitive Dienstenthebung von der Stelle • 15. Januar: Erstaufführung des Chores Träumen und
am Konservatorium auf Bruckners eigenen Wunsch Wachen (WAB 87) an der Grillparzerfeier in Wien
• 15. Januar: Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musik- unter Bruckners Leitung
freunde in Wien • Januar: umfangreiche Revision der Ersten Sinfonie
• 7. November: Ehrendoktorwürde der Universität weitgehend beendet (2. Fassung = sogenannte
Wien »Wiener Fassung«)
• 18. Februar: Wiederaufnahme der Arbeit an der
Neunten Sinfonie, die aber (ab Oktober) zugunsten
der Durchsicht der Zweiten Sinfonie für den Druck
wieder unterbrochen wird
• 18. April: endgültiges Abschlussdatum der Revision
der Ersten Sinfonie
• 31. Mai: Aufführung des Te Deum unter Siegfried
Ochs in Berlin im Beisein Bruckners, auf der Rück-
reise Aufenthalt in Dresden
• 13. Dezember: Erstaufführung der Ersten Sinfonie
(»Wiener Fassung«) unter Hans Richter in Wien;
Bruckner widmet diese Fassung der Wiener Universi-
tät als Dank für das Ehrendoktorat
1892 • Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends • Karfreitag (15. April): Aufführung des Te Deum in
• Juli: letzter Besuch in Bayreuth Hamburg unter Gustav Mahler
• 28. Oktober: Beendigung des Dienstes an der Hof- • 29. Juni: 150. Psalm (WAB 38) vollendet; 13. Novem-
musikkapelle ber: Erstaufführung unter Wilhelm Gericke in Wien
• 18. Dezember: Erstaufführung der Achten Sinfonie
(2. Fassung) unter Hans Richter in Wien
• Druck der Zweiten Sinfonie bei Doblinger, der Achten
Sinfonie (2. Fassung, bearbeitet von Josef Schalk) bei
Schlesinger, der d-Moll-Messe bei Gross
• Neuausgabe des Germanenzugs bei Robitschek
1893 • Bruckner ist wegen Wassersucht, Herzschwäche und • 31. März: Aufführung des Te Deum und, als Erstauf-
Atemnot wiederholt bettlägerig führung außerhalb Österreichs, der d-Moll-Messe
• 22. September: Ehrenmitglied des Wiener Männer- durch Gustav Mahler in Hamburg
gesang-Vereins • April bis 7. August: Helgoland (WAB 71)
• 10. November: Bruckner verfasst sein Testament • 8. Oktober: Erstaufführung von Helgoland unter
Eduard Kremser in Wien anlässlich der 50-Jahr-Feier
des Wiener Männergesang-Vereins
• 23. Dezember: Kopfsatz der Neunten Sinfonie voll-
endet
• Druck der Ersten Sinfonie (»Wiener Fassung«) und
des 150. Psalms bei Doblinger
Zeittafel XXIII

Jahr Biographisches Werk


1894 • 6. Januar: Bruckner ist anwesend bei der Aufführung • 15. Februar: Scherzo der Neunten Sinfonie vollendet
der Siebten Sinfonie unter Karl Muck in Berlin • 9. April: Erstaufführung der Fünften Sinfonie unter
• 8. Januar: Bruckner ist bei der Aufführung des Te Franz Schalk in Graz (in der Bearbeitung von
Deum unter Siegfried Ochs in Berlin; bei diesem Ber- F. Schalk) in Abwesenheit Bruckners
lin-Aufenthalt letzter dokumentierter Heiratsantrag • 25. November: Erstaufführung der Zweiten Sinfonie
Bruckners (an das Stubenmädchen des Hotels »Kaiser- (Druckfassung) unter Hans Richter in Wien
hof«, Ida Buhz) • 30. November: Vollendung des dritten Satzes
• 2. März: Ehrengabe der philosophischen Fakultät der (Adagio) der Neunten Sinfonie
Universität Wien von 1200 Gulden jährlich anstelle • Druck der f-Moll-Messe bei Doblinger
der Lektoratsremuneration
• 11. Juli: Ehrenbürger von Linz
• 4. September: Ehrenmitglied des Wiener Schubert-
bundes
• 25. September: Kodizill zum Testament
• 12. November: letzte Vorlesung an der Universität
• Weihnachten: letztes Orgelspiel in Klosterneuburg
1895 • 8. April: Bruckner erhält ein Exemplar seiner ersten, • 24. Mai: Beginn der Arbeit am Finale der Neunten
von Franz Brunner verfassten Biographie Sinfonie
• 12. Mai: Enthüllung einer Gedenktafel am Geburts- • 4. Dezember: Aufführung von Bruckners Requiem
haus in Ansfelden durch die Liedertafel »Frohsinn« unter Franz Bayer in Steyr anlässlich des Todes von
• 4. Juli: Übersiedelung von der Heßgasse, wo das Pfarrer Aichinger
Treppensteigen zu beschwerlich wird, in eine Parterre- • 18. Dezember: Budapester Erstaufführung der Fünften
wohnung des »Kustodenstöckl« am Oberen Belvedere Sinfonie unter Ferdinand Löwe
(3. Bezirk), die Bruckner durch Vermittlung der Erz-
herzogin Marie Valerie vom Kaiser zur Verfügung
gestellt wird
1896 • August: letzter Besuch Otto Kitzlers bei Bruckner • Weiterarbeit am Finale der Neunten Sinfonie (unvoll-
• 11. Oktober: Tod Bruckners endet)
• 14. Oktober: Einsegnung in der Wiener Karlskirche • Überarbeitung der e-Moll-Messe für den Druck
und Überführung nach St. Florian • Druck der Fünften Sinfonie (in der Bearbeitung von
• 15. Oktober: Beisetzung gemäß Bruckners Wunsch in Franz Schalk) und der e-Moll-Messe (2. Fassung mit
der Gruft unter der großen Orgel in der Stiftskirche kleinen Korrekturen) bei Doblinger
St. Florian
• 26. November: Übernahme der testamentarisch ver-
machten Manuskripte durch die Wiener Hofbiblio-
thek (heute Österreichische Nationalbibliothek)
EINLEITUNG
2

Bruckner, der große Unbekannte.


Zur Konzeption des Handbuchs
von Hans-Joachim Hinrichsen

Das umfangreiche Gesamtwerk Anton Bruckners Kaum weniger irritierend als die merkwürdig
gehört fraglos zu den eindrucksvollsten Projekten polarisierte und zeitlich gestaffelte Gattungssyste-
ästhetischer Sinnstiftung, die das späte 19. Jahr- matik seines Gesamtwerks ist die Person des
hundert hervorgebracht hat. Doch hat Bruckner Komponisten selbst. Bruckners Werdegang, für
sein eigentlich breit angelegtes Œuvre mit merk- den weder das Bild des Sprunghaft-Gebrochenen
würdiger Ausschließlichkeit auf zwei Gattungen noch das der organisch-linearen Entwicklung
zugespitzt: die groß dimensionierte Sakralmusik wirklich greift, verlangt nach einer Erklärung da-
und die auf Monumentalität zielende Sinfonik, für, wie sich scheinbar Unvereinbares – die prakti-
innerhalb derer der Komponist mit erstaunlicher sche Einrichtung im oberösterreichischen Milieu
Hartnäckigkeit um die Optimierung individueller des komponierenden Schul- und Kirchenmusikers
Werkgestalten und Fassungen rang und damit der und die erfolgreiche Anverwandlung an den
Nachwelt eines ihrer großen ästhetischen wie kunstautonomen Musikbetrieb der Metropole –
philologischen Probleme hinterlassen hat. Andere in einer ebenso singulären wie letztlich rätselhaften
Bereiche seines Schaffens haben zwar hochbedeu- Biographie vereinen lässt. Beide Sphären haben
tende Einzelwerke hervorgebracht, aber sie wirken sich, wie man den zahlreich überlieferten Berich-
den beiden Hauptgattungen gegenüber eigentüm- ten in ihrer Widersprüchlichkeit entnehmen kann,
lich marginalisiert. Auch die Orgel, an der der zum schwer durchschaubaren Habitus einer unan-
improvisierende Musiker Bruckner zu zeitgenössi- gepassten Persönlichkeit addiert, der die Zeitge-
schem Weltruhm gelangte, steht keineswegs im nossen fallweise angezogen, abgestoßen, verstört
Zentrum seines kompositorischen Denkens: Ihre oder belustigt hat. In Wien fand Bruckner, der
allzu oft pauschal behauptete Relevanz für die seine öffentliche Wahrnehmung als Sonderling
Haltung des Komponisten dürfte sich auf das In- bewusst in Kauf genommen zu haben scheint,
strumentationsprinzip der schroffen Registerkon- somit offenbar zu einer Existenzform, die ihm,
traste an wenigen Stellen seiner frühen Orchester- weit entfernt von dem in der Literatur gern unter-
werke reduzieren lassen; für die spätere Zeit lässt stellten Leiden an der Großstadt, im Kontext der
sich eher sogar die umgekehrte Einflussrichtung urbanen Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht
vom modernen Orchester her auf eine gleichsam worden ist. Ungewöhnlich ist seine erfolgreiche
sinfonische Klangvorstellung des Organisten ver- Musikerkarriere vor allem, weil sie zwar zielstrebig,
muten. Dass aber überhaupt in Bruckners Ent- aber keineswegs linear verlief. Während schon der
wicklung die Kirchenmusik, weniger die Orgel- als junge Kronstorfer Schulgehilfe seine musikalische
vielmehr die groß besetzte Vokalkomposition, als Tätigkeit durchaus selbstbewusst als »Komponie-
systematische Vorbereitung für die schließliche ren« bezeichnet, ist diese Art von Kreativität
Bewältigung der Sinfonik erscheint, ist nach den durchaus noch im Umkreis des in der österreichi-
Maßstäben des 19. Jahrhunderts äußerst unge- schen Lehrerausbildung Üblichen zu verorten.
wöhnlich. Dass dann aber der bereits weit über Dreißigjäh-
Bruckner, der große Unbekannte. Zur Konzeption des Handbuchs 3

rige den immensen Aufwand einer über Jahre sich genannt wird, aber in einer Unzahl von aktuellen
erstreckenden systematischen Unterweisung auf Rezeptionsvorgängen weiterhin sein Unwesen
sich nimmt, an deren Ende eine förmlich verlangte treibt – ein perfekter Beleg für die bis heute anhal-
»Freisprechung« durch den Lehrer und der fast tende Wirkmächtigkeit der Kunstreligion des
plötzlich sich ereignende Durchbruch zu einem bürgerlichen Zeitalters, deren Funktionsmecha-
unverwechselbaren Personalstil steht, ist in der nismen sich für die Glättung von Bruckners
Musikgeschichte, in der eher das Wunderkind als sperrigen Hauptwerken offenbar bequem in An-
der Spätzünder die vertraute Abweichung vom spruch nehmen ließen. Davon ist nicht einfach
Standard bietet, ohne Parallele. Auch nachträglich nur Bruckners geistliche Gebrauchsmusik betrof-
wird nicht restlos deutlich, wie allmählich oder fen, sondern auch nahezu sein gesamtes Instru-
wie abrupt sich Bruckner die Einsicht in seine ei- mentalwerk. Nirgends wird im Konzertsaal die
gentliche Begabung und Berufung erschlossen Grenze zwischen sakraler und säkularer Dimen-
hat, auch nicht, mit welchem Grad von Bewusst- sion des Musikalischen, aber auch die zwischen
heit er den damit notwendig verbundenen radika- empirischer und ästhetischer Subjektivität so fahr-
len Wechsel der sozialen, ästhetischen und lebens- lässig verwischt wie bei Bruckner. Zwar hat schon
weltlichen Kontexte zu planen und zu steuern der bedeutende Bruckner-Forscher Leopold No-
vermochte. wak, der gewiss keinen Grund sah, an der Religi-
Dem Einblick in Bruckners »verborgene Per- osität des Komponisten zu zweifeln, deutlich vor
sönlichkeit« (Maier 2001) stellen sich denn auch dieser Konfusion gewarnt: »Es ist uns keine Äuße-
nicht erst heute beträchtliche Hindernisse entge- rung von ihm überliefert, aus der wir auch nur
gen. Spätestens seit dem krisenhaften Kuraufent- andeutungsweise entnehmen dürfen, daß er seinen
halt in Bad Kreuzen, also eigentlich seit dem Symphonien, vor allem der Neunten, sakralen
Ausbruch jener kreativen Phase, die dann in müh- Charakter zugebilligt wissen wollte« (Nowak 1985,
samer Arbeit den Hauptteil des Œuvres hervor- 53). Trotz dieser aus kundigem Munde gesproche-
bringen wird, ist aus Primärquellen über das Indi- nen Warnung aber sieht bis heute nicht nur der
viduum Bruckner kaum noch Signifikantes zu gläubige Hörer in Bruckners Sinfonien den Him-
erfahren. Dass vor dieser Leerfläche schon früh die mel offen. Es ist eine Konstante der seriösen wie
Stunde der wirkmächtigen Anekdote geschlagen der populären Literatur, nicht nur aus der Sakral-
hat, liegt auf der Hand (überaus nützlich für die musik, sondern vor allem aus der Sinfonik des
Rekonstruktion dieses Vorgangs nach wie vor gläubigen Katholiken Bruckner ein auskompo-
Grasberger/Partsch/Harten 1991). Bruckner selbst niertes religiöses Credo herauszuhören (besonders
scheint seine Person von einem bestimmten Zeit- drastisch: Ulm 1998, 226–231) – bis hin zu dem
punkt an konsequent und systematisch gegen inzwischen vielfach praktizierten Unsinn der Auf-
jeden Einblick abgeriegelt zu haben. Der im führung von Bruckner-Sinfonien in dafür schon
19. Jahrhundert geläufigen Überblendung von allein aus akustischen Gründen ungeeigneten
Leben und Werk verweigert sich sein Œuvre also großen Kirchenräumen.
von Anfang an. Dass damit beides, Leben wie Kaum je macht man sich bewusst, auf wie
Werk, zu beliebig füllbaren Projektionsflächen schwankendem Boden solche Hermeneutik steht.
wurden, war die fast zwangsläufige rezeptionsge- Ob nämlich überhaupt (und wenn ja, in welchem
schichtliche Folge. Ausmaß und in welcher Rangfolge) die subjektive
Bis heute erscheint denn auch die Bruckner- Disposition eines Komponisten – weltanschauli-
Rezeption mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit che Haltung, religiöse Überzeugung, politische
– und weit nachhaltiger als bei allen anderen Einstellung oder sexuelle Orientierung – einen
Komponisten seiner Epoche – als durch Stereo- Einfluss auf sein Schaffen und dessen Resultate
type und Klischees geprägt. Eines der hartnäckigs- haben, ist bis heute so wenig geklärt, dass die
ten ist, dank der folgenreichen Prägung durch die Frage bestenfalls als umstritten gelten kann. Und
Theaterautoren Victor Léon und Ernst Decsey wäre es tatsächlich legitim, für die Deutung von
(1924), zweifellos das vom »Musikanten Gottes«, Bruckners Sinfonien das empirische Subjekt des
der zwar heute nirgends mehr ausdrücklich so Komponisten in Anschlag zu bringen, dann müss-
4 Hans-Joachim Hinrichsen

ten als Verständnisfolie für die Extreme tiefster onskünstlers Emil Orlik buchstäblich den Weg zu
Versunkenheit und ekstatischer Höhepunktsentla- einem »Bruckner-Bild« abseits ausgetretener Pfade
dungen neben den vielen Modi visionärer Gläu- bahnen. Daraus begründet sich auch die Entschei-
bigkeit konsequenterweise auch alle denkbaren dung, den Band eigens mit einer Kommentierung
Formen erotischer Sublimierung ins Spiel kom- dieses faszinierenden Porträts, dem die wenig be-
men dürfen. Beides aber psychologisiert das kom- kannte Altersfotografie von 1894 zugrunde liegt,
positorische Œuvre so vordergründig, wie es das zu eröffnen und damit einige Bemerkungen zur
biographische Individuum Bruckner notwendig Bruckner-Ikonographie zu verbinden, mit denen
verfehlt, dessen Frömmigkeit dem Biographen sich zugleich ein Bogen bis zum abschließenden
hinter akribisch notierter Gebets- und Exerzitien- Rezeptionskapitel schlagen lässt.
praxis (siehe die Abbildung 5 auf S. 29) und dessen Damit ist bereits der Aufbau des vorliegenden
Liebesbedürfnis dem Psychologen hinter geradezu Handbuchs angesprochen, das zwar gezielt und
absurden Mengen überstürzter Heiratsanträge in selektiv konsultierbar, aber auch als Gesamtdar-
seiner Substanz zu verschwinden droht. Weder stellung durchgängig lesbar sein soll. Sein Zen-
also kann der alte Kurzschluss vom Leben auf das trum ist natürlich der ausführlichen Erklärung
Werk heute noch als Königsweg der Erkenntnis und der genauen Analyse des Werkes gewidmet;
gelten, noch war er angesichts der Ungreifbarkeit um diese Mitte herum werden, zum Beschluss, die
des Menschen Bruckner überhaupt jemals ein Bruckner-Rezeption und, am Beginn, der Kom-
gangbarer Weg. ponist selbst und seine Produktionsbedingungen
zum Gegenstand gemacht. Dabei geht es, gerade
*** angesichts der in der Rezeption stark stereotypi-
sierten Bruckner-Bilder, weniger um die lücken-
Das vorliegende Bruckner-Handbuch will den lose Rekonstruktion der Individualbiographie als
Zugang zu diesem schwierigen Komponisten er- vielmehr um ein angemessenes Verständnis der
leichtern. Dabei ist schon die Wahl des Umschlag- Voraussetzungen für die konkreten Praktiken
Porträts eine Art von Programm. Im Verein mit kultureller Sinnerzeugung und ihrer Wirksamkeit.
der Fakten schaffenden Kraft der bisherigen Re- Dazu gehört zunächst einmal die sachliche Evalu-
zeptionsgeschichte und dem mehr kolportagehaf- ation von »Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert«
ten als wirklich fundierten Wissen um Bruckners im Sinne einer Künstler-Sozialgeschichte, ferner
Persönlichkeit können sich die meisten zeitgenös- der Blick auf Bruckners Netzwerke und persönli-
sischen Bruckner-Porträts, gewiss weit jenseits ih- che Beziehungen (insbesondere zu seinen Schü-
rer eigentlichen Intention, durchaus auch noch lern), dann auf die ästhetischen und kompo-
dem heutigen Betrachter zu jenem zwiespältigen sitionsgeschichtlichen Voraussetzungen seiner
Eindruck zusammenfügen, den der bedeutende Kreativität, schließlich auf die Modi seiner Profes-
Münchner Kunsttheoretiker Conrad Fiedler nach sionalität und auf seinen künstlerischen Habitus,
einem persönlichen Zusammentreffen mit dem auf seine Arbeitsgewohnheiten und auf die gene-
Komponisten 1885 als »eine ganz unglaubliche rischen Eigenschaften seiner Musik überhaupt.
Erscheinung, mit einem tollen Kopf, halb Nil- Dies sollen in Einzelschritten die thematisch-lo-
pferd, halb Galeerensträfling« zusammengefasst gisch geordneten Kapitel des ersten Teils leisten.
hat (zitiert nach Erben 2008, 110). Zugleich hat Auf sie folgt, wie erwähnt, in einem zweiten
derselbe künstlerisch geschulte Beobachter – be- Hauptteil die Auseinandersetzung mit dem Œuvre
zeichnend für die Herausforderung, die Bruckners als solches, und zwar nicht chronologisch, sondern
Habitus für die zeitgenössische Wahrnehmung durchaus gemäß der Rangfolge, die Bruckner
darstellte – an Bruckner aber auch »ein Profil von selbst den Gattungen seines Gesamtwerks zuer-
einem römischen Kaiserkopf« entdeckt (zitiert kannt hat. Den Besprechungen der einzelnen
ebd.). So soll hier nicht eines der aus der Bruckner- Sinfonien (und ihrer Fassungen) ist ein allgemei-
Literatur geläufigen Bilder, sondern eine auf den nes Kapitel über »Bruckner als Sinfoniker« vorge-
ersten Blick wenig anheimelnde, gleichwohl schaltet, aus Gründen, die unmittelbar aus der
künstlerisch hochrangige Radierung des Secessi- Präsentationsform von Bruckners Sinfonik selbst
Bruckner, der große Unbekannte. Zur Konzeption des Handbuchs 5

sich ergeben, ausschließlich bei ihm Geltung ha- wohl kaum zufällig entsprang gerade ihm mit dem
ben und insofern gerade für ihn (und nur für ihn) Chorwerk Germanenzug (1863) die erste Kompo-
bezeichnend sind. Die nachgeordneten, aber da- sition, die der selbstbewusst gewordene Kompo-
rum doch keineswegs nebensächlichen Bereiche nist als Beitrag zu einem Œuvre im emphatischen
des Instrumentalwerks finden erst nach der Be- Sinne gelten (und bezeichnenderweise auch dru-
sprechung des umfangreichen Vokalwerks ihre cken) ließ. An diesem Bereich seines Schaffens,
gebührende Berücksichtigung. Der geistlichen innerhalb dessen eines der großen chorischen
Vokalmusik hat zwar die lebenslange Beschäfti- Spätwerke (Helgoland, 1893) sogar ausdrücklich
gung des Komponisten gegolten, und sie hat sogar unter dem Subtitel des »Sinfonischen« erscheint,
am Anfang seiner professionellen Laufbahn ge- lassen sich die Grundmodelle von Bruckners
standen. Doch unterhält sie eine eigentümlich Komponieren diskutieren, das eben so genuin
teleologische Beziehung zu der viel später einset- vokale wie ursprünglich instrumentale Wurzeln
zenden Sinfonik und ist auch von Bruckner selbst, hat. Die Entscheidung endlich, die kritische Dar-
wenngleich wohl erst nachträglich, in erster Linie stellung der Rezeptionsgeschichte (zu der als inte-
in dieser Relation gesehen worden. Daher sind bei grierender Teil auch die Geschichte der Bruckner-
der Besprechung von Bruckners Sakralmusik, dem Forschung gehört) an das Ende des Buchs statt an
einzigen Genre, das er von Anfang an und lebens- seinen Beginn zu setzen, kann zwar diskutiert
lang pflegte, sowohl die institutionellen als auch werden, sie hat aber jedenfalls nichts mit dem
die ästhetischen Kontexte zu bedenken, durch die frommen Wunsch zu tun, das Labyrinth der Re-
sie hervorgebracht wurde, von denen sie sich aber zeption könne sich damit von der in den ersten
auch zu emanzipieren suchte, ohne in einer Vor- beiden Großteilen behandelten »Sache selbst«
läuferrolle für die später einsetzende sinfonische säuberlich trennen lassen. Man kann die Lektüre
Berufung einfach aufzugehen. Weil gerade dieser des vorliegenden Handbuchs selbstverständlich
Gegenstandsbereich zwangsläufig den Rekurs auf auch mit diesem Schlusskapitel beginnen – so
die Anfänge des Komponisten, weit vor der Be- oder so wird man bemerken, dass sich die ver-
schäftigung mit der Sinfonie, verlangt, bietet wohl zweigten Wege der Rezeption, das von ihnen ver-
die Rekonstruktion der konkreten Arbeits- und deckte und zugleich eigenartig scharf beleuchtete
Theoriekonstellationen als Entfaltungsraum seiner Individuum Bruckner und schließlich das keines-
früh einsetzenden Produktivität am ehesten die wegs wie ein erratischer Block in das 19. Jahrhun-
Chance, die immanente Logik von Bruckners dert eingefügte Gesamtwerk im besten Sinne in
Werdegang, nicht zuletzt das Ausmaß seines zu- der prekären Balance eines hermeneutischen Zir-
nehmend strategischen Kalküls, zu verstehen. kels befinden, den die lineare Disposition eines
Auch das weltliche Vokalschaffen gewinnt in die- Buchs nicht abbilden, sondern nur andeuten
sen Zusammenhängen seine Signifikanz, denn kann.

Literatur

Erben, Dietrich: Komponistenporträts. Von der Renais- Anton Bruckner. Dokumente und Studien 11).
sance bis zur Gegenwart. Stuttgart 2008. 2 Teile. Wien 2001.
Grasberger, Renate/Partsch, Erich Wolfgang/Harten, Nowak, Leopold: Über Anton Bruckner. Gesammelte
Uwe: Bruckner – skizziert. Ein Porträt in ausgewähl- Aufsätze 1936–1984. Wien 1985.
ten Erinnerungen und Anekdoten (= Anton Bruck- Ulm, Renate (Hrsg.): Die Symphonien Bruckners.
ner. Dokumente und Studien 8). Wien 1991. Entstehung, Deutung, Wirkung. Kassel/München
Maier, Elisabeth: Verborgene Persönlichkeit: Anton 1998.
Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen (=
6

Das Porträt Anton Bruckners von Emil Orlik


von Dietrich Erben

Das Porträt von Anton Bruckner, das in Bearbei- findet das Blatt merkwürdigerweise weder in der
tung auf dem Umschlag des vorliegenden Hand- wissenschaftlichen Literatur über Emil Orlik noch
buchs abgebildet ist, entstand mehr als zwei Jahr- in den zahlreichen ihm gewidmeten, meist auf
zehnte nach dem Tod des Komponisten. Der Abbildungen beschränkten Ausstellungs- und
Grafiker und Maler Emil Orlik (1870–1932) schuf Verkaufskatalogen Erwähnung. Ausnahmsweise
die Porträtradierung im Jahr 1920 als Widmungs- ist es aufgeführt im Ausstellungskatalog des Prager
blatt für den Dirigenten Arthur Nikisch auf der Jüdischen Museums 2004 (Ausst.-Kat. Prag 2004,
Grundlage eines Fotos, das Bruckner 1894 von 26, mit Abb. des eigenen Sammlungsexemplars,
sich im Wiener Atelier von Josef Löwy (Grasberger JMP 27.873).
1990/1, Nr. 70) hatte anfertigen lassen. In der In Orliks Porträt ist Anton Bruckner als Brust-
frühen Bruckner-Literatur wird diese Fotografie bild in das hochrechteckige Bildformat gesetzt
nur selten erwähnt; erstmals findet sie sich 1901 als und wendet den Kopf im Dreiviertelprofil nach
Beigabe zu einem Erinnerungsbericht von Max rechts. Kompositorisch ist die Büste streng in den
Graf im Eröffnungsjahrgang der Zeitschrift Die Orthogonalen des Blattes verspannt. Das rechte
Musik (Graf 1901/02, 32) und dann in der kleinen Auge liegt in der Linie der Mittelsenkrechten, und
Monographie von Franz Gräflinger (Gräflinger an der Spitze des Kinns stützt die Querachse den
1911, zwischen 52 und 53), sie ist ferner als Fronti- Kopf. Der Künstler hat sich für die Wahl des klas-
spiz abgebildet bei Ernst Kurth (Kurth 1925), und sischen Formulars der Porträtbüste und für kom-
einen Hinweis gibt 1936 schließlich auch Max positorische Klarheit entschieden, um sich ganz
Auer in seiner Fortsetzung der von August Gölle- auf die Physiognomie des Komponisten konzent-
rich begonnenen Monographie (Göll.-A. 4/1, 377). rieren zu können. So erklärt sich auch der Verzicht
Orlik folgt der Fotovorlage bis in die Details der auf jedwede ausführlichere Darstellung der räum-
Darstellung mit der Präzision des Kopisten. Aber lichen Umgebung und nachrangiger Accessoires
gleichzeitig übersetzt er das Foto, von dem Abzüge wie der Kleidung. Bei der Fotovorlage hebt sich
im Postkartenformat mit rückseitigem Atelierauf- der Kopf diffus vor der Hintergrundreflexion der
druck gemacht worden waren, in das Reprodukti- künstlich ausgeleuchteten Atelierwand ab. Auch
onsmedium der Grafik. So erfährt die Fotografie Orlik belässt es bei einem neutralen Fond, den er
durch die drucktechnische Umsetzung nicht nur jedoch mit grafischen Eintragungen strukturiert.
eine spiegelbildliche Wiedergabe, sondern vor al- Innerhalb der Rahmenleisten, die das Blatt aus
lem eine Interpretation mit zeichnerischen Gestal- rötlichem Büttenpapier entlang des Druckrandes
tungsmitteln. Obwohl es unter die künstlerisch begleiten, sind vereinzelte Linien, isolierte Schraf-
bedeutendsten Zeugnisse der Bruckner-Ikonogra- furen und Punktierungen wie zufällig in der Fläche
phie gerechnet werden darf (vgl. Grasberger ausgestreut und gegenständlich nur noch teilweise
1990/1, Nr. 133, mit Abb. des Exemplars der Öster- aufzulösen. Über dem Hinterkopf des Dargestell-
reichischen Nationalbibliothek, PNB D 6597), ten bildet eine entschiedene Verdichtung von
Das Porträt Anton Bruckners von Emil Orlik 7

Abb. 1: Emil Orlik: Porträt von Anton Bruckner, 1920. Radierung mit Kaltnadel und Aquatinta,
23,3 × 19 cm. Abb. eines Exemplars in Zürcher Privatbesitz.

Schraffuren einen Schattenwurf, der zugleich ei- die Fotovorlage die Gewandfalten noch einzeln
nen Übergang zwischen Raum und Porträtiertem erkennen, so verleiht Orlik der Fläche mehr Ho-
schafft. In der unteren Bildhälfte ist der Rock zu- mogenität und damit dem Oberkörper eine mo-
sammen mit der Fliege in Schwarz getaucht. Lässt nolithische Geschlossenheit. Von diesen Partien,
8 Dietrich Erben

Aus den recht gegensätzlichen Darstellungs-


techniken von Foto und Grafik begründet sich
auch ein jeweils unterschiedlicher Ausdrucksge-
halt. Er lässt sich nur unter Vorbehalt als individu-
elle Charakterisierung des Dargestellten benennen,
weitaus plausibler hingegen als ästhetische Eigen-
art der Darstellung. Wenn man anhand des Fotos
Anton Bruckner mit den Attributen der »Spiritu-
alität des Alters« und der »Vergeistigung« auf den
Leib rückte, so sind diese Beschreibungen in erster
Linie Belege für die zudringliche Beliebigkeit sol-
cher Charakterisierungsversuche hinsichtlich der
Individualität eines Künstlers, dessen Verklärung
sie ihrerseits Vorschub leisten. Ebenso wenig ob-
jektivierbar, wenn auch vielleicht naheliegender,
ließen sich in das Foto Züge der Altersdemenz
hineinlesen, deren erste Anzeichen die Ärzte bei
Bruckner diagnostiziert hatten, als er sich 1894,
dem Jahr seines siebzigsten Geburtstages, im Ate-
lier des Fotografen einfand. Beim Porträt Orliks
mag man sich damit zufrieden geben, den Aus-
Abb. 2: Josef Löwy: Porträt von Anton Bruckner,
druck von Entschlossenheit und Willensstärke
1894. Fotografie (IKO 70), 14,8 × 10,6 cm. Abb.
aus Franz Gräflinger: Anton Bruckner. München akzentuiert zu finden. Doch auch diese Feststel-
1911. lung sagt nichts über den späten Bruckner aus –
sondern nur etwas über die stereotypen Stilisie-
rungsabsichten, wie sie für die Porträtkultur eines
versachlichten Spätrealismus, dem Orliks Bruck-
in denen sich der Grafiker der für malerische Flä- nerbildnis stilgeschichtlich zugehört, insgesamt
cheneffekte geeigneten Technik der Aquatinta verbindlich sind.
bedient, setzt sich – vermittelt über den weißen Bei postumen Porträts ist die Arbeit nach Foto-
Hemdkragen – der in Linienzügen und Schraffu- grafien oder anderen Bildvorlagen eine schlichte
ren gearbeitete Kopf um so deutlicher ab. praktische Notwendigkeit. Sie hatte sich aber
Die Unterschiede zwischen dem Foto und schon bei der Darstellung nach dem noch leben-
dessen Nachschöpfung durch Emil Orlik sind den Modell bald nach der Erfindung und Verbrei-
gerade deshalb so frappant, weil in der Grafik alle tung der Fotografie um die Mitte des 19. Jahrhun-
Grundgegebenheiten der Vorlage – die neutrale derts durchgesetzt. Das Procedere ist bei Franz
Raumschicht, die Silhouette und das Profil bis hin von Lenbach, der für die manufakturmäßige Her-
zu den vom Alter gezeichneten Gesichtszügen – stellung seiner Porträtgemälde systematisch auf
übernommen sind. Während aber auf der Vorlage Fotografien zurückgriff, beispielhaft belegt (vgl.
die Physiognomie entsprechend dem analogen Ausst.-Kat. Köln 1982; Ausst.-Kat. München
Wiedergabeverfahren der Fotografie mittels einer 1987). Unter den bedeutenden Komponistenpor-
weichen Licht-und-Schatten-Modellierung erfasst träts sei an das Gemälde erinnert, das Francesco
wird, zeichnet sich das grafische Porträt durch eine Hayez von Gioacchino Rossini malte (Mailand,
gleichsam skulpturale Herangehensweise des Pinacoteca di Brera, 1870) und dem ein vom
Künstlers aus. Der Schädel scheint von innen Komponisten dem Maler übereignetes Foto zu-
plastisch herausgearbeitet zu sein, und die scharf- grunde liegt. Die Zuhilfenahme von Fotografien
gratigen Zerklüftungen des Gesichts sind in die verschaffte dem Künstler Unabhängigkeit bei der
eindrucksvolle Architektur des Kopfes eingetra- Herstellung eines Porträts und er konnte den
gen. häufig überlieferten, bisweilen missmutigen Lau-
Das Porträt Anton Bruckners von Emil Orlik 9

nen des Modells aus dem Weg gehen, während sie tion nach dem Ersten Weltkrieg. Emil Orlik
umgekehrt den Auftraggebern eines Porträts die stammte aus Prag und absolvierte dort und in
Mühsal des Modellsitzens ersparte. Emil Orlik München seine Ausbildung als Maler und Grafi-
hatte zum einen ein ausgesprochenes Interesse an ker. Neben diesen beiden Städten war Wien ein
der Porträtfotografie und verteidigte in einem weiterer Bezugspunkt seiner Tätigkeit, nachdem
Aufsatz die den Prinzipien der Direktheit und er 1899 Mitglied der dortigen »Secession« gewor-
Einfachheit verpflichteten frühen Porträtfotografie den war. Im Jahr 1905 wurde er als Leiter der
gegenüber den späteren Moden der Gründerzeit- Grafikklasse an die Staatliche Lehranstalt des
aufnahmen mit ihren pomphaften historistischen Kunstgewebemuseums nach Berlin berufen. Enge
Atelierinszenierungen und ihren technischen Re- Beziehungen zu dem Theaterregisseur Max Rein-
tuschen (Orlik 1924, 32–42). Sein Bruckner-Bildnis hardt, den er bereits 1895 in Prag kennengelernt
kann als die Übersetzung der Wertschätzung die- hatte und der im gleichen Jahr 1905 in Berlin das
ser Auffassung in das Medium der Grafik gedeutet Deutsche Theater übernahm, verschafften ihm ein
werden. Zum anderen befürwortete Orlik aus- breites Aufgabenfeld in der Theaterarbeit, das
drücklich die Zuhilfenahme von Fotografien we- Bühnen- und Kostümbilder ebenso umfasste wie
gen der Möglichkeit zu einer regelrecht experi- Plakat- und Programmheftentwürfe (vgl. Ahrens
mentellen Versuchsanordnung des Modells: »Ich 2001). In Berlin etablierte sich Orlik als ein gera-
selber probiere ja auch mit meinen Modellen erst dezu ubiquitärer Porträtchronist des späten Kai-
vielfach und vorsichtig, sogar mit photographi- serreichs und der Weimarer Republik. Als solcher
schen Probeaufnahmen manchmal« (mündliche bewegte er sich versiert in Literaten-, Künstler und
Äußerung Orliks aus dem Jahr 1930, zit. nach Musikerkreisen und schuf unter anderem von
Otto 1997, 48, mit Anm. 19). zahlreichen zeitgenössischen Komponisten der
Bemerkenswerterweise war es der Komponist Epoche nach der Jahrhundertwende Porträts,
Gustav Mahler, der gelegentlich so weit ging, darunter solche von Hans Pfitzner (1899), Gustav
Orlik wegen der Verwendung von Reproduktio- Mahler (1902), Ferruccio Busoni (1912), Eugène
nen eine Kreativität aus zweiter Hand zu attestie- d’Albert (1916), Richard Strauss (1916/17), Alexan-
ren. Im Jahr 1902 hatte Orlik von Mahler die be- der von Zemlinsky (1920), Franz Schreker (1922)
kannte, scheinbar fragmentierte Kopfstudie ange- oder Arnold Schönberg (1926), aber auch histori-
fertigt. Nach einer Wiederbegegnung mit dem sche Porträts – so etwa 1915 eines von Johann Se-
»unvermeidlichen Orlik« in Prag, bei der dieser bastian Bach (vgl. Osborn 1920; Osborn
ihm von seinen Kunsterfahrungen auf seinen 1926/1998). Der Auftrag des deutschen Außenmi-
Reisen nach Asien und Südfrankreich berichtet nisteriums, der Orlik im Januar 1919 als Bildbe-
hatte, kommentiert Mahler in einem Brief an richterstatter zu den Friedensverhandlungen nach
Alma Mahler, dass Orlik »das Ganze nicht aus ei- Brest-Litowsk führte, wo er innerhalb weniger
gener Anschauung, sondern aus irgendwelchen Wochen über siebzig Porträtstudien von den De-
Berichten zu haben« scheine und dass er auf seinen legationsmitgliedern anfertigte, belegt schlaglicht-
Reisen bloß »einige Photographien gemacht hat artig sowohl seine Professionalität als auch sein
und einige Bilder von Cézanne und van Gogh Renommée als Porträtist (vgl. dazu speziell All-
abgepaust« (Brief Mahlers aus Prag vom 8.9.1908; mayer-Beck 1981). Orliks Lehrtätigkeit an der
de La Grange/Weiß 1995, Nr. 253). Nicht nur in Berliner Kunstschule und seine Theaterarbeit be-
ihrer Verallgemeinerung ist Mahlers Kritik unhalt- stimmten maßgeblich sein Selbstverständnis als
bar. Irritierend ist sie besonders deshalb, weil Künstler, der sich den jeweiligen Anwendungs-
Mahler ein Moment der Modernität verkennt, das kontexten stilistisch anzupassen verstand und sich
in dem – auch für ihn selbst produktiven – Ver- auch der Porträtgattung mit dem pragmatischen
fahren liegt, sich die Kunsttradition im Zitat an- Impetus des Gebrauchsgrafikers näherte.
zueignen und so die Mittelbarkeit ästhetischer Das Bruckner-Porträt fügt sich in diese Auffas-
Erfahrung kenntlich zu machen. sung von der künstlerischen Aufgabe ein. Den
Bei Orliks Porträt handelt es sich um eine Ge- konkreten Anlass zu seiner Anfertigung gab das
legenheitsarbeit im Rahmen der Bruckner-Rezep- 25-jährige Jubiläum von Arthur Nikisch als Ka-
10 Dietrich Erben

pellmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, gere Beziehungen zu bildenden Künstlern unter-


das den Dirigenten am 1. Oktober 1920 bei einem hielten, welche in eigener Initiative mit einem
Festakt im Gewandhaus ehrte und ihm eine Gra- Porträtanliegen an die Musiker herantraten. Um-
fikmappe zum Geschenk machte (die sich heute gekehrt lag es ihm – und auch dies unterscheidet
im Museum für Geschichte der Stadt Leipzig be- ihn von vielen seiner Komponistenkollegen – fern,
findet). Es ist gleichermaßen folgerichtig, dass das Porträts als Mittel der Selbstdarstellung seiner
Widmungskonvolut ein Bruckner-Porträt enthielt Person sowie als Instrument der Durchsetzung
und dass dieses von Emil Orlik stammte. Denn seiner Ansprüche und Interessen als Komponist zu
einerseits war Arthur Nikisch mit dem Künstler, nutzen (vgl. zu diesen Entwicklungen insgesamt
der den Dirigenten in jenen Jahren ebenfalls por- Erben 2008). Für diese Zurückhaltung sind die
trätiert hat (vgl. die Abbildung im Verkaufs-Kat. Fotografien, die Bruckner von sich anfertigen ließ,
Köln 1980, Nr. 228), bekannt, und andererseits symptomatisch. Lassen sich etwa von Franz Liszt
gehörte Nikisch seit der Leipziger Uraufführung mindestens 260 unterschiedliche Fotografien
der Siebten Sinfonie 1884 und einem in der Win- nachweisen, denen man ansieht, dass der Darge-
tersaison 1919/20 mit dem Gewandhausorchester stellte mit gewohnheitsmäßiger Souveränität in
erstmals realisierten Konzertzyklus mit sämtlichen Positur zu gehen versteht (siehe Burger 2003), so
Sinfonien zu den herausragenden Bruckner-Diri- präsentiert sich Bruckner in den wenigen Fotogra-
genten. Orliks Widmung auf dem Bruckner-Por- fien, die anlässlich biografischer Zäsuren und be-
trät lautete denn auch: »Mit den besten Glück- ruflicher Erfolge entstanden, ungeübt und zu-
wünschen dem Interpreten des Meisters in Vereh- rückgezogen. Bruckner nutzte das neue Medium
rung zugeeignet von Emil Orlik 1920« (zit. nach nicht zur bildlichen Imagepflege und öffentlichen
Lieberwirth 1990, 85; vgl. auch Lieberwirth 1988, Selbstdarstellung, sondern zur autobiographischen
256). Selbstvergewisserung. Wenn dem Komponisten
Unter den Bildnissen Anton Bruckners (dazu Karikaturen und Scherenschnitte in erheblicher
Grasberger 1990–2006/1–3) zählt das Blatt Orliks Anzahl gewidmet wurden, so kann man auch
zu den gehaltvollsten Werken der postumen visu- darin eher die Indizien für eine »negative« Bruck-
ellen Rezeption eines Komponisten, der sowohl zu ner-Ikonographie erkennen. Während die Spott-
Lebzeiten als auch in den Jahrzehnten nach seinem bilder die ästhetische Polemik, in die Bruckner
Tod mit einer zwar umfangreichen, aber künstle- zeitlebens hineingeriet, belegen, befestigen die
risch insgesamt bescheidenen, bisweilen geradezu betulich ausgefallenen Scherenschnitte auf fatale
kläglichen Hinterlassenschaft bedacht wurde. Die Weise das Image sozialer und intellektueller Unbe-
wenigen originellen, noch vor dem Tod Bruckners holfenheit, das der Person Bruckners bis heute
entstandenen Ausnahmen, zu denen das Gemälde anhaftet (vgl. etwa die Abbildung 11 auf S. 342).
des Abendmahls von Fritz von Uhde mit der Dar- Solche insgesamt zwiespältigen Befunde im
stellung des Komponisten als Apostel Petrus Hinblick auf die zu Lebzeiten entstandene Ikono-
(Stuttgart, Staatsgalerie, 1886; vgl. Erben 2008, graphie lässt das Bruckner-Porträt von Emil Orlik
110) und die später zum Denkmal erweiterte Büste nicht nur chronologisch, sondern auch inhaltlich
Viktor Tilgners (Gipsfassung aus dem Nachlass hinter sich. Es steht als Bilddokument für eine
Bruckners im Wienmuseum, ab 1891) zählen, be- rezeptionsästhetische Situation ein, in der man
stätigen nur diese Situation. Sie hat viele Gründe. sich aufgemacht hatte, Bruckners Sinfonik in ih-
So gehörte Bruckner nicht – wie andere seiner rem Rang und in ihrer Modernität in der Konzert-
Kollegen – zu denjenigen Komponisten, die en- praxis zu etablieren.
Das Porträt Anton Bruckners von Emil Orlik 11

Literatur

Ahrens, Birgit: »Denn die Bühne ist ein Spiegel der Internationalen Gewandhaus-Symposium »Anton
Zeit«. Emil Orlik (1870–1932) und das Theater. Kiel Bruckner – Leben, Werk, Interpretation, Rezeption«
2001. anläßlich der Gewandhaus-Festtage 1987 (= Doku-
Allmayer-Beck, Johann Christoph: Der Zeichner und mente zur Gewandhausgeschichte 7). Leipzig 1988.
Graphiker Emil Orlik in Brest-Litowsk. In: Jahrbuch –: Bruckner und Leipzig. Vom Werden und Wachsen
der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 77 einer Tradition. Leipzig 1990.
(1981), 197–216. Orlik, Emil: Über Photographie. In: ders.: Kleine Auf-
Burger, Ernst: Franz Liszt in der Fotografie seiner Zeit. sätze. Berlin 1924, 32–42.
260 Porträts, 1843–1886. München 2003. Osborn, Max: Emil Orlik. Berlin 1920.
Erben, Dietrich: Komponistenporträts. Von der Renais- Osborn, Max (Hrsg.): 95 Köpfe von Orlik. 95 neue
sance bis zur Gegenwart. Stuttgart 2008. Köpfe von Orlik. 2 Bde. Berlin 1920 u. 1926 (Nach-
Graf, Max: Anton Bruckner. Ein Entwicklungsgang. In: druck Berlin 1998).
Die Musik 1 (1901/02), 27–35, 294–302, 580–585. Otto, Eugen (Hrsg.): Emil Orlik. Leben und Werk
Gräflinger, Franz: Anton Bruckner. Bausteine zu seiner 1870–1932. Prag – Wien – Berlin. Wien u. a. 1997.
Lebensgeschichte. München 1911.
Grasberger, Renate: Bruckner-Ikonographie. Bd. 1: Um Kataloge
1854–1924. Graz 1990; Bd. 2: 1925–1946. Wien 2004; Ausst.-Kat. »Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotogra-
Bd. 3: 1947–2006 (= Anton Bruckner. Dokumente fie«. Bonn, Rheinisches Landesmuseum, Hrsg. von
und Studien Bd. 7, 14, 18). Wien 2007. Klaus Honnef. Köln 1982.
Kurth, Ernst: Anton Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925 (Repr. Ausst.-Kat. »Franz von Lenbach 1836–1904«. München,
Hildesheim 1971). Städtische Galerie im Lenbachhaus. München 1987.
La Grange, Henry-Louis de/Weiß, Günther: Ein Glück Ausst.-Kat. »Emil Orlik. Portraits of Friends and Con-
ohne Ruh’. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Erste temporaries«. Prag, Jüdisches Museum. Prag 2004.
Gesamtausgabe. Berlin 1995. Verkaufs-Kat. »Emil Orlik. Graphik«. Köln, Galerie
Lieberwirth, Steffen (Hrsg.): Kongreßbericht zum V. Glöckner, Katalog 9. Köln 1980.
DER KOMPONIST
UND SEINE MUSIK
14

Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert


von Laurenz Lütteken

Öffentliche und verborgene sondern von Belustigung, also mit den berühmt
Existenz gewordenen, anhaltend und fälschlich Gustav
Mahler zugeschriebenen, in Wirklichkeit aber von
Arthur Schnitzler erinnerte sich später seiner ein- Hans von Bülow stammenden Worten: »Halbge-
zigen Begegnung mit Bruckner: »Meinem Freunde nie + Halbtrottel« (vgl. Hinrichsen 2000, 23).
Richard Horn verdankte ich außer der Bekannt- Unter allen Mustern der künstlerischen Selbstin-
schaft mit seinem Onkel, dem ausgezeichneten szenierung, welche das 19. Jahrhundert in so rei-
Klavierspieler und liebenswürdigen Komponisten chem Maße bereithielt, erschien diejenige Bruck-
Ignaz Brüll, eine flüchtige Begegnung mit Anton ners offenbar als die provozierendste und zugleich
Bruckner. Da es bekannt war, daß Bruckner gern die rätselhafteste. Das Befremden, das sein Werk
geneigt war, seinen Besuchern auf dem Orgelhar- lange Zeit auszulösen vermochte und das keines-
monium vorzufantasieren, nahm mich Richard wegs gemildert wurde durch den von Schnitzler
Horn in Bruckners Wohnung mit, wo er sich den vermerkten frenetischen Jubel jugendlicher Au-
regelmäßigen Besuch der Kontrapunktvorlesun- ßenseiter, stand in einem beharrlichen Wider-
gen, die der Komponist an der Universität abhielt, spruch zu jener umfassenden Öffentlichkeit, die
im Index testieren lassen wollte. Bruckner, ebenso der Sinfonienkomponist reklamierte – und zwar
genial als gutmütig, ließ sich natürlich auch von mit einer Ausschließlichkeit, die ihn am Ende, bei
Richard, den er als seinen fleißigen Hörer kannte, wenigen Ausnahmen, von allen anderen musikali-
nicht lange bitten und erfreute uns, vielleicht eine schen Gattungen Abstand nehmen ließ. Die ›öf-
halbe Stunde lang, durch sein wunderbares, welt- fentlichste‹ Gattung, welche die Sinfonie zweifellos
verlorenes Spiel. Nachher habe ich den großen darstellte, wurde damit von einem Komponisten
Komponisten niemals wieder gesprochen oder bedient, der schon in seiner äußeren Erscheinung
spielen gehört, doch oft genug wiedergesehen, jedes öffentliche Einvernehmen mit ›seinen‹ Hö-
wenn er, stürmisch gerufen, nach Aufführung ei- rern zur Disposition stellte. Demonstratives
ner seiner Symphonien, in einem sackartigen An- Künstlertum, das beispielsweise Wagner oder
zug, in seiner unbeholfenen, rührenden Weise sich Brahms auf sehr unterschiedliche Weise zur Schau
vor dem belustigten, damals nur zum geringeren stellten, war seinem Auftreten so entschieden
Teile wirklich begeisterten Publikum verbeugte« fremd, dass dies weniger als decouvrierend denn
(Schnitzler 1968, 134). als kaschierend verstanden werden kann. So öf-
Wie in einem Brennspiegel vereinen sich hier fentlich Bruckners musikalische Existenz durch
jene Stereotypen, die bei jeder Beschäftigung mit die Gattungswahl wirken musste und wollte, so
Bruckner eine beherrschende Rolle gespielt haben verborgen und unnahbar blieb sie im rätselhaften
und immer noch spielen: gutmütig und genial, Erscheinungsbild.
wunderbar und weltverloren, unbeholfen und Dieser undurchdringliche Widerspruch hat die
rührend, Gegenstand nicht von Begeisterung, Auseinandersetzung mit dem Komponisten und
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 15

seiner Musik überschattet, und er tut es noch. In dazu immer nachdrücklicher, entzogen. Das 19.
einem Zeitalter, in dem, mit Wagner an der Spitze, Jahrhundert gilt, ungeachtet der zahllosen Schwie-
stets die rückhaltlose Überblendung von Kunst rigkeiten schon im Begrifflichen, als das ›bürgerli-
und Leben propagiert worden war – und in der che Zeitalter‹. Im Blick auf den deutschsprachigen
wissenschaftlichen Folge von Leben und Werk –, und insbesondere österreichischen Raum, um den
blieb Bruckner der agent provocateur, weil sich es hier ausschließlich geht – Bruckner hat ihn nur
zwischen seiner Kunst und seinem Leben eine zweimal und beinahe zufällig verlassen (Frankreich
schlechterdings unüberbrückbar erscheinende 1869, England 1871) – ergeben sich Differenzie-
Kluft auftat. Nicht zuletzt Eduard Hanslick, ein rungen. Sie betreffen zunächst den schwierigen
schroffer Verächter seiner Musik, hatte dies an Begriff des Bürgertums, das sich nicht als homo-
entscheidender Stelle, wenn auch in ätzender gene Gruppe darstellt, sondern sich sozial, poli-
Diktion bemerkt, indem er auf die Unvereinbar- tisch oder habituell, also nicht einheitlich definie-
keit einer als gewalttätig empfundenen komposi- ren lässt: Zur sozialen Schicht gehörten diejenigen,
torischen Sprache mit der linkischen Freundlich- die ein professionelles ›Handwerk‹ im weitesten
keit ihres Erfinders hinwies. Um bei Schnitzlers Sinne ausübten, zur politischen die Verantwor-
Worten zu bleiben: gutmütig, unbeholfen und tungsträger und zur habituellen diejenigen, die
weltverloren sind die Sinfonien Bruckners gerade sich mit bestimmten Anschauungs- und Darstel-
nicht, im Gegenteil. Das ihnen innewohnende lungsformen identifizieren konnten. Innerhalb
Potenzial an Bedingungslosigkeit, an Unerbittlich- der sozialen Schicht nehmen Bourgeoisie (Wirt-
keit und durchaus an Gewalt ist denkbar weit von schaftsbürgertum) und Bildungsbürgertum (Ab-
jenem Habitus entfernt, mit dem der Komponist solventen der Universitäten) den wichtigsten Teil
öffentlich Unterstützung für sie eingefordert hat. ein, während das Kleinbürgertum (der sogenannte
Der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, deren ›Mittelstand‹ mit Handwerkern, Elementarlehrern
Bestandteil Bruckner schon wegen seiner Her- etc., dem auch, ungeachtet des ländlichen Um-
kunft war und blieb, musste ein derartiger Wider- felds, Bruckner entstammte) dahinter nicht an
spruch fremd anmuten; deren Repräsentanten Größe, aber an Bedeutung und Einfluss zurück-
schreckten vor der Radikalität des Œuvres ebenso stand. Begreift man das Bürgertum im deutschen
zurück wie vor der inkommensurablen Attitüde Sprachgebiet daher als eine Gruppierung, die ge-
seines Produzenten. Auch wenn das äußere Geba- tragen ist vom »Streben nach selbständiger Gestal-
ren des Komponisten, ganz anders als lange ange- tung der individuellen und gemeinsamen Aufga-
nommen, im bunten, brodelnden Vielvölkerge- ben« (Kocka 1987, 43), so ist das äußerlichste
misch des Wiener Fin de siècle nur in Grenzen Zeichen dieses Strebens der Zusammenschluss zu
auffällig war (vgl. Csáky 2006) – das Stadtbild war Vereinen, Assoziationen oder Gesellschaften, die
voller Sonderlinge –, so geriet es doch in schweren alle Lebensbereiche betreffen, aber eine besonders
Konflikt mit den Normen bürgerlicher Repräsen- gut sichtbare Gestalt in Kultur und Wissenschaft
tation vor allem dann, wenn die streng getrennten annehmen konnten. Dieses Streben betraf zugleich
Sphären zur Disposition gestellt wurden, wenn die im Kontrast der Privatheit durchorganisierte
also der Sonderling Bruckner, um bildlich zu häusliche Familie. Ein hervortretendes Merkmal
sprechen, nicht, wie es sich schickte, außerhalb dieser Verhältnisse sind die zahlreichen musikali-
der Musikvereinsmauern blieb, sondern vorsätz- schen Vereine, die nicht einfach in der Nachfolge
lich in sie eindrang. herrscherlicher Kunstpatronage standen, sondern
in denen Musik als gemeinschaftsbildende, iden-
titätsstiftende Kraft nach innen wie nach außen
erfahrbar gemacht werden sollte, korrespondie-
Bürgerlichkeit als Lebensform rend mit der familiären Privatheit der ›Hausmusik‹
(und den ihr eigenen Gattungen wie Klavierstück
Bruckner war demnach zwar äußerlich Teil der oder Lied). Diese Mischung von kollektiver Selbst-
bürgerlichen Welt, hat sich ihr und ihren Mecha- organisation und individueller Selbsttätigkeit, als
nismen jedoch auf eine beharrliche Weise, noch Handlungsmuster getragen von einem sich auch
16 Laurenz Lütteken

materiell abbildenden Leistungswillen, lässt sich über der Oper, die am Ende eine höfische Einrich-
als idealtypischer Habitus dieser Gruppe beschrei- tung blieb.
ben, der von ihr auch abgetrennt werden kann Die Musikkultur partizipierte an dieser ›bür-
und für die der Begriff der ›Bürgerlichkeit‹ geprägt gerlichen‹ Disposition, aber auf eine durchaus ei-
worden ist. gene und nicht einfach zu bewertende Weise.
Kultur als identitätsstiftendes Wesensmerkmal Während das Intime, das Private in den Liedern
von Bürgerlichkeit im deutschsprachigen Raum und in der Kammermusik seit dem 18. Jahrhun-
des 19. Jahrhunderts, insbesondere in dessen zwei- dert eine konsistente eigene Tradition ausgebildet
ter Hälfte, hat entsprechende Außenwirkungen hat, blieb die ›große‹ Musik – und das hieß spätes-
entfaltet, sogar in den damit verbundenen Berei- tens seit Haydn und Beethoven: die Sinfonie und
chen des Schul- und Erziehungswesens und der das Oratorium – die kollektive Leistung von vie-
Öffentlichkeit, die durch Repräsentationsbauten len, die kostspielig organisiert werden musste und
›privater‹ und vergesellschafteter Art erzeugt wurde. für die es in der höfischen Institution der Kapelle
Wenn auch der Verbürgerlichung der Gesamtge- einen genuinen Träger gab. Die Inanspruchnahme
sellschaft in einem auf der Ebene der politischen gerade dieser Gattungen in der bürgerlichen Mu-
Entscheidungen, allemal in Österreich, noch aris- sikkultur bedurfte eigener Organisationsformen,
tokratisch dominierten Gemeinwesen spürbare die sich jedoch im Kern – Bildung von Chören
Grenzen gesetzt waren, so konnte dieser Prozess und Orchestern – nicht unterscheiden konnten
gleichwohl eine Dynamik entfalten, die auf dem vom höfischen Vorbild. Hinzu trat der bemer-
Gebiet von Kultur (und damit auch der Musik) kenswerte Grundwiderspruch zwischen einer auf
besondere Wirkmächtigkeit erlangt hat. Das ent- Selbstorganisation und Selbstfeier angelegten
scheidende Element an ihr war die Steuerung der Musikkultur, die eingebettet war in die Festkultur
Produktion (und im Fall der Musik zugleich der des 19. Jahrhunderts, und der tonangebend wer-
Reproduktion) durch investiertes Kapital. Die In- denden, auf Separierung zielenden Künstlerexis-
tensität bürgerlichen Mäzenatentums hat sich zwar tenz, die schließlich von Wagner ästhetisch und
nach 1848/49, in der Folge der Revolution, merk- ideologisch beglaubigt sowie provokant verkörpert
lich verringert, doch ist es im Umfeld der Grün- wurde. Die großen Virtuosen, wie Hummel oder
derzeit und ihrer gewaltigen Kapitalanhäufungen Liszt, liebäugelten daher durchaus mit der höfi-
wieder zu einem dominanten Merkmal der Kultur schen Daseinsform – wie umgekehrt der sich
geworden. In den großen Metropolen war diese durch und durch ›bürgerlich‹ gebärdende Czerny
Haltung verbunden mit einer dramatischen Auslö- auf die Äußerlichkeit virtuoser Selbstinszenierung
schung überkommener städtischer Physiognomien, ganz verzichtet hat. Der sich dagegen absetzende
paradigmatisch sichtbar an der kaiserlichen Resi- bürgerliche Musikdirektor, wie ihn paradigmatisch
denzstadt Wien, die in den Jahrzehnten nach 1860 Mendelssohn, später Hiller und Bruch sowie mit
ihr noch aus dem Mittelalter stammendes Gepräge vielen Schwierigkeiten Schumann verkörperten,
zugunsten einer sich in der Ringstraße abbilden- profitierte doch immerhin von der herausgehobe-
den, gleichwohl in komplizierter Wechselwirkung nen Allgewalt dieser Position, die ihre Wurzeln
mit dem Herrscherhaus entstandenen Modernität ebenfalls im 18. Jahrhundert hatte (etwa bei Tele-
verloren hat. Das gilt selbst, wenn auch unter den mann oder C.Ph.E. Bach). Bestenfalls ließen sich
Vorzeichen eines demonstrativen Reformkatholi- beide Sphären miteinander verbinden, wie es der
zismus, für Linz, dessen Kathedralneubau dies auf für die bürgerliche Musikkultur so bedeutsame, in
besondere Weise veranschaulichen kann (überdies vieler Hinsicht eine Scharnierstelle einnehmende
in seinem habituellen Kontrast etwa zur Wiener Spohr, der gleichwohl am Amt des Hofkapellmeis-
Votivkirche). Die Fülle der zwischen 1850 und 1910 ters festhielt, vorgeführt hat. Und schließlich be-
unter bürgerlicher Patronage errichteten, in zen- deutete Bürgerlichkeit in der Musik auch die
traler Lage positionierten Konzertsaalbauten (wie Selbstorganisation des Musiklebens, dessen Träger
München 1828, Wien 1870, Berlin 1882, Leipzig ein Verein war. Mit diesen Vereinen symbiotisch
1884, Zürich 1895 oder Hamburg 1908) legt davon verbunden waren im deutschsprachigen Raum die
ebenso Zeugnis ab wie die Zurückhaltung gegen- Ausbildungsstätten, die Konservatorien, die un-
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 17

mittelbar aus der Vergesellschaftung hervorgehen Bürgerliche Existenz und höfische


konnten. Und überdies war ein wesentlicher Be- Kontraste
standteil dieser Musikkultur die Zurückhaltung
gegenüber der Oper, die zumindest in ihrer an- Anders als Brahms, der in Wien – wenn auch
spruchsvollen Form eine höfische Domäne blieb. nicht bruchlos – zum Komponisten des Bürger-
Ein wesentlicher Zug dieser bürgerlichen Mu- tums avancierte und dies wohl auch so wollte,
sikkultur war die Selbstrepräsentation ihrer Prota- blieb Bruckners Verhältnis zum bürgerlichen Zeit-
gonisten, was, wenn auch unter zahlreichen Brü- alter nicht nur in seiner äußeren Erscheinung
chen und Unwägbarkeiten, sogar Brahms akzep- merkwürdig distanziert. Schon die Rahmenbedin-
tiert hat. Gerade vor diesem Hintergrund treten gungen seiner Biographie lassen dies erkennen. Er
die Schwierigkeiten im Falle Bruckners deutlich war, auch wenn er dem ländlichen Milieu des
zutage. Bruckner partizipierte, am deutlichsten in Lehrerstands entstammte, vordergründig ein fester
der Liedertafel »Frohsinn«, an den Mechanismen Bestandteil der bürgerlichen Kultur, sein gesamter
der bürgerlichen Kultur, aber nur zu einer be- Aufstieg vollzog sich – trotz aller Eigentümlichkei-
stimmten Zeit und bis zu einem gewissen Grad. ten – in den auf diese Weise gezeichneten Bahnen,
Dem kleinbürgerlichen Milieu der Herkunft, das bis hin zum Unterricht beim Theaterkapellmeister
auch Brahms in Wien demonstrativ, aber Distanz Otto Kitzler (1834–1915; das Linzer Theater war
nach beiden Seiten betonend hervorkehrte, blieb 1803 erbaut worden) und zur Position des Quasi-
er nicht wirklich treu, sondern wendete es bald in Musikdirektors der Linzer Liedertafel »Frohsinn«.
die verdrehte Existenzform des skurrilen Sonder- Doch hat sich Bruckner fast von Beginn an einem
lings. Am deutlichsten zeigt sich die merkwürdige entscheidenden Zug verweigert: der Selbstreprä-
Distanz zum bürgerlichen Zeitalter in der Gat- sentation und der mit ihr verbundenen Anpassung
tungswahl: Er komponierte die im Kontext bür- an das ›bürgerliche‹ Zeitalter. Gerade dadurch tritt
gerlicher Musikkultur, aber auch reformkatholi- ein gegenläufiges Merkmal um so deutlicher her-
schen Separatistentums gerade nicht vorgesehene vor. Denn er hat seinen künstlerischen und gesell-
großbesetzte Messe – und hat die Gattung in eine schaftlichen Aufstieg sehr hartnäckig an Mecha-
gewissermaßen teleologische Verbindung gebracht nismen geknüpft, die mit der höfischen Welt ver-
mit der Sinfonie. Ihr jedoch, ab 1865 das Le- bunden waren – und die damit anzuerkennenden
bensthema in einer Ausschließlichkeit, die es bei Prämissen zugleich auf eine noch drastischere
anderen Komponisten nur im Falle der Oper gab, Weise in Frage gestellt als im Falle der bürgerli-
steht bei Bruckner nichts mehr zur Seite. Die Zahl chen Welt.
ausnahmslos früher Klavierlieder und -stücke ist Die ständige Mischung bürgerlicher und höfi-
verschwindend gering, hinzu tritt ein einziges au- scher Ambitionen, von denen keine widerspruchs-
torisiertes Kammermusikwerk, während die frei und, vor allem, konsequent verwirklicht
Chorwerke fast alle geistlich sind und überdies wurde, beherrscht die Biographie in einer anhal-
den Schritt zum Oratorium nie vollziehen. Genui- tenden Form, bis hin zur späten Ehrenwohnung
ne musikalische Beiträge zum bürgerlichen Zeit- am Belvedere. Bruckner war Teil des reformkatho-
alter fehlen demnach vollständig. Mit der Oper lischen Milieus in Oberösterreich, und seine
hat sich Bruckner, obwohl die handwerkliche Herkunft aus der ländlich geprägten Lehrerschaft
Nähe zu einem Theaterkapellmeister suchend so- hat ihn einerseits für dieselbe Laufbahn prädesti-
wie ein glühender, 1882 auch zur Uraufführung niert. Andererseits war er damit Profiteur der
des Parsifal pilgernder Bewunderer Wagners, nie habsburgischen Erfolgsgeschichte, die sich in den
ernsthaft auseinandergesetzt. Öffentlich wahr- Aufstiegsmöglichkeiten des Kleinbürgertums,
nehmbar war er in dieser Hinsicht einzig als Ur- insbesondere im Zusammenhang mit dem Bil-
aufführungsdirigent des Meistersinger-Finales 1868 dungswesen besonders deutlich gezeigt hat.
in Linz. Und auch dieser Akt ist ein Querstand im Bruckner entstammte einem Umfeld, das einge-
bürgerlichen Musikleben: nicht etwa die Wieder- bunden war in staatliche Bildungsreformen, das
gabe eines großen Oratoriums, sondern eines alphabetisiert war und das schließlich partizipierte
›bühnenlosen‹ Opernausschnitts. an einer umfassenden Aufwertung pädagogischer
18 Laurenz Lütteken

Tätigkeit insgesamt. Der Vater Anton Bruckner bildete. Die Dauer der Tätigkeit (1845–55) besagt
(1791–1837) wirkte von 1822 an als Schulmeister zugleich etwas über den Erfolg des jungen Lehrers,
und Nachfolger seines eigenen Vaters im oberös- eines Aufsteigers, über dessen Alltag allerdings,
terreichischen Ansfelden – und damit zu einer also etwa seinen Umgang im Stift, die Nutzung
Zeit, in der das Habsburgerreich nach der Kata- der dort vorhandenen Möglichkeiten (bis hin zur
strophe der Jahre vor 1815 einen bedeutenden Bibliothek) bemerkenswert wenig bekannt ist.
Aufschwung nahm, zusammengehalten von der Erkennbar ist allein die wichtige Rolle des Floria-
Vorstellung Metternichs, nur der dezidierte Weg ner Stiftspropsts Michael Arneth (1771–1854), der
zurück hinter die Revolutionsvoraussetzungen ab 1837, also seit der Sängerknabenzeit, eine Art
könne der Zukunft stabile Konturen verleihen. Mentorfunktion ausgeübt hat. Ungeachtet dessen
Das Spannungsgefüge zwischen der nach wie vor sind die ersten drei Jahrzehnte von Bruckners Le-
möglichen Dynamik äußerer Lebensgestaltung ben nicht nur unauffällig im Blick auf seine Bega-
und dem Willen, den politischen Rahmenbedin- bung verlaufen, sie tragen alle Merkmale einer
gungen eine solche Dynamik vorzuenthalten, war kleinbürgerlichen Erfolgsgeschichte. Der erste
wahrscheinlich im ländlichen Umfeld spürbar wirkliche Querstand zum bürgerlichen Zeitalter
gemildert zugunsten eben eines individuellen begegnet im überraschenden, weil weder program-
Entfaltungsspielraums. Der unter diesen Voraus- mierten noch kontextualisierten Willen, den
setzungen sich ereignende Aufstieg des Vaters Lehrerberuf einzutauschen gegen eine Musiker-
sollte schließlich in die Vermählung mit der Arzt- laufbahn, auch wenn sie zunächst an das mit den
tochter Julie Hartung münden, die jedoch aus Normen des Lehrerdaseins nicht selten verbun-
unbekannten Gründen scheiterte. Immerhin dene Organistenamt geknüpft war. Der erstaunli-
stammte auch die Mutter Theresia Helm (1801– che Vorsatz des Dreißigjährigen, nach erreichter
1860) aus einer nicht unbegüterten Familie, so Hauptschullehrerprüfung (und vielleicht nicht
dass soziale Stabilität sich materiell abzubilden zufällig nach dem Tod von Arneth) einen berufli-
vermochte. Dem Paar entstammten zwischen 1823 chen Neuanfang zu wagen, ermangelt einer plau-
und 1837 elf Kinder, davon überlebten nur fünf, siblen Erklärung, ist aber sehr wahrscheinlich das
darunter der älteste Sohn Anton. Die familiären Ergebnis eines längeren Prozesses. Schon ein vier-
Voraussetzungen waren demnach vergleichsweise stimmiges Asperges (WAB 3/1) aus der Kronstorfer
günstig, auch wenn die letzten Jahre des Vaters Zeit trägt nicht etwa den Hinweis »componirt
durch dessen Lungenerkrankung nicht ohne von«, sondern die irritierende, mit der Existenz
Schwierigkeiten verlaufen sein müssen. des Schulgehilfen gänzlich unvereinbare Autorisa-
Bruckners ›bürgerliche Existenz‹ verlief, ganz tion »Anton Bruckner m.p.ria. Comp[onist]«
unabhängig von der wohl nie klar zu beantwor- (Bruckner-Handbuch 1996, 63; Faksimile des Ti-
tenden Frage, wann und auf welche Weise die telblatts: ebd., 40). Der Vorsatz, Musiker zu wer-
musikalische Begabung schließlich bemerkt wor- den, reicht demnach weit zurück, er ist aber in
den ist, unauffällig, freilich in steter institutionel- einem Umfeld entstanden, in dem eine solche
ler Nähe zum oberösterreichisch-reformkatholi- Option weder vorgesehen noch vorstellbar war –
schen Milieu und seinen Rekrutierungsmechanis- und es hat entsprechend lange gedauert, ihn zu
men: Sängerknabe (1837–40), verbunden mit dem verwirklichen. Unabhängig von der Frage, ob
obligatorischen Musikunterricht, Präparandie Bruckner sich wirklich für die Position des Dom-
(also Ausbildung zum Elementarlehrer) in Linz organisten in Olmütz interessierte, in Linz tat er
(1840–41), Schulgehilfe mit Probezeit (Windhaag, es erstaunlicherweise – und erfolgreich.
1841–43; Kronstorf 1843–45), dann Lehrer. Hier
allerdings ist eine erste Besonderheit zu beobach-
ten, denn die Anstellung des gerade Zwanzigjähri-
gen erfolgte im Augustiner-Chorherrenstift St. Der lange Weg nach Wien
Florian bei Linz, also in einem nicht unbedeuten-
den Zentrum, das erstmals einen merklichen Mit diesem Schritt, der doch immerhin in eine
Kontrast zur ländlichen Sphäre der Vorfahren Kathedralkirche und damit in ein Machtzentrum
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 19

der klerikalen Hierarchie führte, wurde ein langer scheinbaren Durcheinander der Hierarchiestufen.
und hartnäckig verfolgter Weg erstmals öffentlich, Hinzu kommt die vollkommen sinnlose, jedenfalls
nämlich der Versuch, das Dasein als Musiker ab- alle Verhaltensnormen verletzende Anbiederung
zubilden in Ämtern und Stellungen, von Beginn an bürgerlich-universitäre Ehrungen. Nie ging es
an verbunden mit der Wendung nach Wien, er- dabei jedoch um ein wirkliches musikalisches Amt
sichtlich im gleichzeitigen Ersuchen an den bald von erkennbarem Gestaltungspotenzial, ein
siebzigjährigen Konservatoriumslehrer Simon schwieriger Widerspruch zur selbstgewählten
Sechter, ihm Unterricht zu erteilen (1855). Die kompositorischen Daseinsform des ›Sinfonikers‹,
nächstliegende Option des bürgerlichen Zeitalters und nirgends wird, ausgenommen die Bewerbun-
allerdings, nämlich die Position eines Musikdirek- gen in Salzburg, der Wille erkennbar, den ebenfalls
tors anzustreben, verfolgte er dabei nur mit Ein- selbstgewählten wienerischen Kontext zu verlas-
schränkungen. Seine Tätigkeit bei der Linzer Lie- sen. Die Chormeister-Stelle beim »Frohsinn«,
dertafel »Frohsinn«, deren Gründung 1845 die er- wenigstens in Umrissen vergleichbar mit der Tä-
hebliche, politisch bedingte Verzögerung der tigkeit eines Musikdirektors, blieb Bruckners ein-
Chorbewegung in Österreich gegenüber dem zige bürgerlich-musikalische, institutionelle Am-
deutschen Reich anzeigt, vollzog sich wiederum bition.
im Sinne eines (allerdings kurzen) Aufstiegs vom Dagegen sind die höfischen Kontexte sehr viel
Notenwart (1856) bis zum Chormeister (1860), deutlicher profiliert: das anhaltende Werben um
doch immer als Domorganist, der er aktiv bis Aufnahme in die Hofmusikkapelle, das hartnäckig
1868, passiv sogar bis 1870 blieb. In Bruckners erwirkte Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens,
Plänen, die teilweise realistisch anmuten, teilweise verbunden mit einer kaiserlichen Audienz (1886),
fantastisch, überblenden sich bürgerliche Ambitio- manche daraus hervorgehenden Orgeldienste, die
nen mit dem Bemühen, sich durch höfische Widmungen (Streichquintett 1884 an Herzog Max
Ämter und Titel gewissermaßen zu nobilitieren. Emanuel in Bayern; Vierte Sinfonie an Fürst Con-
Er konnte sich dabei den Normen des bürgerli- stantin von Hohenlohe-Schillingsfürst; Sechste an
chen Zeitalters vorbildlich fügen, sie aber auch, Anton Ölzelt Ritter von Newin; Siebte 1885 an
ebenso unvorhergesehen wie heftig, auf groteske König Ludwig II. von Bayern; Achte 1892 an Kaiser
Weise durchbrechen. Er bewarb sich um die bür- Franz Joseph I. von Österreich), Ehrensolde und
gerlich-kirchliche ›Mischstelle‹ in Salzburg (1861 Pensionen am Ende beträchtlichen Ausmaßes (von
und, mit der d-Moll-Messe, 1868), um eine gar 1890 an, auch hier höfische und bürgerliche För-
nicht existierende Lektorenstelle an der Wiener derung vermischend). Und Bruckner wohnte ab
Universität (1867 und 1874), um Aufnahme in die 1877 mietfrei in einem gediegenen großbürgerli-
Hofmusikkapelle (1867), um eine in dieser Form chen, schließlich aristokratischen Ambiente. So
ebenfalls nicht existierende Tonsatz-Professur am wenig er sowohl institutionell als auch habituell
Konservatorium der Gesellschaft der Musik- ein Repräsentant des (für das 19. Jahrhundert noch
freunde (1868), um das Wiener Hoforganistenamt weitgehend unerforschten) höfischen Musiklebens
(1868), allen Ernstes um eine Hilfslehrerstelle für war, so deutlich tritt doch sein Bestreben hervor,
Klavier (1870), um eine Stelle an der Wiener Kir- sich ihm anzunähern, deutlicher jedenfalls als im
che Am Hof (1877), um die zweite Chormeister- Bereich der bürgerlichen Institutionen. Hierin
stelle am Wiener Männergesang-Verein (1880), unterschied er sich von allen musikalischen Exis-
ebenfalls allen Ernstes um Ehrendoktorate in tenzformen seiner Zeitgenossen. Anders als
Cambridge (1882) und Philadelphia (1885) sowie Brahms oder Verdi, die auf unterschiedliche Weise
um die Kapellmeisterstelle am Burgtheater (1889); eine gebrochene bürgerliche Existenz anstrebten,
auch der Ehrendoktortitel der Universität Wien anders als Mahler, der zunächst zielstrebig auf
(1891) wurde auf eigenes Betreiben verliehen. Bei höfische Ämter fixiert war, aber anders auch als
fast allen Positionen ging es nicht allein um den Wagner, der die privilegierte Künstlerexistenz am
bürgerlichen Erfolg, sondern um Annäherungen Ende doch unter höfischer Patronage kultivierte,
an höfische Kontexte, sichtbar zudem an der feh- blieb Bruckner ein Solitär. Die vergleichsweise
lenden Systematik der Pläne sowie an einem wenigen Zeugnisse lassen immerhin erkennen,
20 Laurenz Lütteken

dass diese Lebensform in hohem Maße intentional trennt zu existieren vermochten. Jedoch konnten
war; da ihr aber im 19. Jahrhundert nichts Ver- sie immer wieder aufeinanderprallen. Das betraf
gleichbares zur Seite steht, lässt sich der damit einerseits die patrizischen Ausflüge aufs Land, am
verbundene Reflexionsgrad nicht sicher bestim- deutlichsten sichtbar an der gerne auch von
men. Die Unnahbarkeit ihres Protagonisten er- Brahms gepflegten ›Sommerfrische‹, andererseits
weist sich hier als besonders undurchdringlich. den Zustrom ländlicher Bevölkerung in die Met-
ropolen, wo man sich, wie im Falle Gustav Mah-
lers, Stabilisierung, Ausbildung und Aufstieg er-
hoffte. Bruckner, schon mit der Kronstorfer Be-
Land, Stadt und Reisen kundung, »Componist« zu sein, auch vom
ländlichen Umfeld separiert, hat diese Isolation in
Bruckners wahrnehmbare öffentliche Existenz der Stadt nicht abgelegt, sondern weiter gepflegt.
beschränkte sich schließlich auf seine Kompositi- Die Verhältnisse, die er dort eingegangen ist, blie-
onen, seine Vorlesungstätigkeit und das immer ben ungeachtet einer äußeren Sesshaftigkeit merk-
seltener werdende Orgelspiel vor Publikum, weni- würdig vorläufig und unkonturiert. Die erstaunli-
ger auf den nicht wirklich nach außen dringenden che Entscheidung desjenigen, der sein gesamtes
Konservatoriumsunterricht. Dies gilt für sein Leben auf Wien ausgerichtet hatte, sich nicht re-
städtisches Dasein, noch nicht gänzlich in Linz, präsentativ auf dem Zentralfriedhof, sondern
dann aber in Wien, also für mehr als die Hälfte prominent, aber auch einsam in St. Florian beiset-
seines Lebens. In den städtischen Umfeldern, vor zen zu lassen, bekundet eine bemerkenswerte Di-
allem in der Residenzstadt, blieb er damit ein stanz zum selbst gewählten Lebensmittelpunkt
Querstand, und er hat diesen Habitus gepflegt. noch in der äußersten Konsequenz. Bruckner
Unabhängig von einer relativen Anpassung an reiste nicht, im Grunde auch nicht an die alten
bürgerliche Lebensformen und -normen in Linz, Wirkungsstätten – und wenn, dann nur mit sehr
ein gewisses Maß an Arriviertheit nach sich zie- konkretem Anlass (etwa 1884 zur Beisetzung seines
hend, hat Bruckner die Attitüde des Ländlichen frühen Förderers, des Bischofs Franz Joseph Rudi-
nie recht abgelegt und anscheinend auch nicht gier, nach Linz). Bildungsbürgerliche Reisen, die
ablegen wollen. Für jemanden, der mit so ostenta- selbst Brahms mit seiner Wendung nach Italien,
tivem Nachdruck ein Leben in der Stadt und wenn auch zögerlich, in Angriff nahm, waren ihm
schließlich in der Residenzstadt angestrebt hat, fremd. Die einzige wirkliche ›freie‹ Unternehmung
bleibt das damit erkennbare Missverhältnis be- war bezeichnenderweise die Reise in die Schweiz
merkenswert. Nichts hätte näher gelegen, als sich im Sommer 1880, also in ein Land, das als senti-
dieser Stadt auf die eine oder andere Weise auszu- mentalischer Ort ursprünglicher Naturerfahrung
liefern, sich ihr anzupassen, durch eine bürgerliche galt. Kurioserweise wurde jedoch dieser Aufenthalt
Lebensführung, durch die Gründung einer Fami- mit einem Besuch des Oberammergauer Passions-
lie, durch den Verkehr in Gesellschaften, Zirkeln spiels eingeleitet, der dazu noch in die Werbung
und Vereinen, kurzum: durch Partizipation. um eine der Darstellerinnen mündete. Nur die
Bruckner jedoch vermied alle Anpassung an die Siebte Sinfonie führte ihn, schon bei der triumpha-
städtische Welt, der er sich vorsätzlich auslieferte. len Leipziger Uraufführung (1884), mehrfach in
Symptomatisch spiegelt sich dies an seinen univer- bedeutende Metropolen und ihre bürgerlichen
sitären Ambitionen, die möglicherweise durch ein Musikzentren (München 1885, Preßburg 1890,
ähnliches Unterfangen des Freundes Rudolf Wein- Berlin 1894).
wurm angestoßen wurden: Er hat beharrlich dar- Die einzigen Reisen ins nicht-deutschsprachige
auf hingewirkt, Tonsatz an der Universität zu un- Ausland nach Nancy und Paris (1869) sowie nach
terrichten, und blieb doch, als es schließlich wider London (1871) waren dem Orgelvirtuosentum
alle institutionelle Vernunft geglückt war, im uni- geschuldet. Auch hier zeigt sich demnach ein
versitären Umfeld gänzlich isoliert. Querstand, da das Orgelspiel im Zeitalter der rei-
Selbstverständlich sind ›Stadt‹ und ›Land‹ im senden Klavier- und Geigenvirtuosen sowie der
späteren 19. Jahrhundert Lebensformen, die ge- Dirigenten am Ende eine Randerscheinung blieb,
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 21

so sehr Bruckner dabei bewundert wurde (mit und versammelte, entstammte zwar sehr verschie-
einschneidenden Folgen für die Wahrnehmung denen Kontexten, war aber stets gebunden an die
der Sinfonien, in deren Instrumentation man musikalische Praxis gelebter Urbanität. Ganz an-
ebenso hartnäckig wie abwegig Orgelregistrierun- ders im Falle Bruckners, dessen Beziehung zu
gen entdecken wollte). Zur Aufführung großer Wagner und zu Bayreuth von Rätseln durchzogen
eigener Werke in bedeutenden Konzertsälen kam ist. Wagner wurde als musikalischer Prophet, als
es dabei folglich nicht, denn selbst die Albert Hall Ästhetiker, auch als Ideologe bewundert und auf-
in London wurde nur wegen der gewaltigen, von gesucht, doch Bruckners nach außen getragenes
Henry Willis errichteten Orgel besucht. Überdies Verhältnis scheint gänzlich andere Akzente beses-
hatte man diese Visite von außen angestoßen, da, sen zu haben. (Bezeichnend ist es, dass er in Cosi-
so die Londoner Einladung, auch ein österreichi- mas Tagebüchern – abgesehen vom vieldeutigen
scher Organist das neue Werk erproben sollte und Diktum des »armen Organisten Bruckner« – keine
Bruckner den damit verbundenen, bereitwillig Rolle spielt, im Gegensatz etwa zu Brahms, dem
ausgetragenen Wettbewerb für sich entschied. (Die wenigstens gelegentlich die Ehre anti-bürgerlicher
Reise nach Frankreich war gleichfalls nicht intrin- Sottisen zuteil geworden ist.) Bruckners Verhältnis
sisch motiviert, sondern wurde von der Orgelbau- zu Wagner erweist sich als so unnahbar wie Bruck-
firma Merklin & Schütze angestoßen, hatte also ners ländlich-städtische Existenz in Wien. Die
mit dem bürgerlichen Konzertleben nichts zu direkten Zeugnisse, am spektakulärsten in der
tun.) Ob Bruckner überhaupt über Fremdspra- absurd anmutenden Entscheidung, Wagner um
chenkenntnisse verfügte (und wie weit seine zwei- die Auswahl eines Dedikationswerkes zu bitten
fellos vorhandenen Lateinkenntnisse reichten), (1873), sowie, erstaunlich genug, in der Urauffüh-
lässt sich ebenfalls nicht sagen. Dort also, wo er rung des Meistersinger-Finales, sind so schütter,
mit bedeutenden Musikzentren in Berührung dass hier wiederum nichts decouvriert, sondern
kam, vollzog sich die Begegnung gewissermaßen nahezu alles kaschiert wird. Bruckners Wagner-
auf einem Nebenschauplatz. Als Kammermusiker, Verständnis gehört zu den am nachhaltigsten ver-
als Dirigent, als Organisator trat er nie in Erschei- borgenen Teilen seiner musikalischen Existenz,
nung, und hierin unterscheidet er sich am Ende zumal sein eigenes Œuvre in der Verweigerung
von allen seinen komponierenden Zeitgenossen. gegenüber dem Musikdrama und im Festhalten an
Die Konfrontation einer scheinbar ländlichen der Sinfonie zentrale Voraussetzungen Wagners
Existenzform, die sich aber von der Ländlichkeit und der ›Neudeutschen‹ geradezu in Abrede stellt.
abhob, mit urbanen Strukturen, die der Kompo- Bezeichnenderweise hat sich Bruckner auch nicht,
nist zugleich anstrebte und ablehnte, gehört eben- jedenfalls nicht erkennbar, an dem wesentlich von
falls zu den habituellen Rätseln Bruckners. Wie im Cosima betriebenen Umbau Bayreuths zu einer
Falle von städtischen und höfischen Ambitionen nationalistisch-antisemitischen Weihestätte betei-
scheint sich der Komponist auch hier einer be- ligt.
wussten Festlegung entzogen zu haben. Nur ein Ein einziger geographischer Punkt in Bruckners
konstanter Faktor in Bruckners geographischem Vita verrät Grundsätzliches, gleichsam ansonsten
Radius lässt sich ausmachen, und es ist zumindest Verborgenes über seine Persönlichkeit, das aller-
auffällig, das auch dieser von Widersprüchen ge- dings nur wider Willen und durchsetzt mit einem
prägt ist. Er ging erstmals 1865 auf Reisen, um ein hohen Maß an Vermutungen. Im Sommer 1867
Werk Wagners zu hören, nämlich den Tristan in floh er geradezu ins oberösterreichische Bad Kreu-
München. Danach hat er Bayreuth insgesamt zen, als Insasse der 1846 eröffneten medizinisch
zehnmal besucht, zuweilen jährlich, letztmals modernen Kaltwasserheilanstalt des Arztes Maxi-
1892. Das kleine Städtchen, durch Wagner zum milian Keyhl. Er traf im Zustand vollständiger
Zentrum einer sich avantgardistisch verstehenden nervlicher Zerrüttung ein, die offenkundig im
Musikkultur geworden, entwickelte sich für Zusammenhang mit der Vollendung der Ersten
Bruckner zum Magneten, weit über Wagners Tod Sinfonie im Vorjahr stand und sich jedenfalls dra-
hinaus. Die Klientel, die Wagner im großbürger- matisch zugespitzt hatte. Der historische Abstand
lichen Ambiente der Villa Wahnfried empfing lässt eine nachträgliche, plausible Diagnose nicht
22 Laurenz Lütteken

zu; aus den Briefen an Rudolf Weinwurm gehen Recht auf eine Dienstwohnung am Arbeitsort.
aber depressive Zustände, höchste Reizbarkeit und Nach der einjährigen Ausbildung in der Präparan-
Suizidgedanken hervor. Wie immer der Befund die, die kostenfrei war, wurde die zweijährige
ausgesehen haben mag, Bruckner blieb drei Mo- Lehrzeit in einem Seminar oder einer bestehenden
nate und ist mindestens noch ein zweites Mal in Schule ebenfalls finanziert; danach erfolgte die in
der Klinik gewesen (1868). Sein Leben hat dadurch der Regel ebenfalls zweijährige Probezeit. Mit dem
offenbar eine Änderung erfahren, möglicherweise Antritt der Lehrerstelle in St. Florian hatte Bruck-
handelt es sich aber nicht um jenen radikalen, ner den konventionellen hierarchischen Weg er-
dramatischen Bruch, den man in der Bruckner- folgreich durchlaufen und war zudem im regiona-
Forschung lange Zeit angenommen hat. Denn die len Machtzentrum angelangt. Es gibt keinerlei
Rolle des Sonderlings, die auch zuvor deutlich Belege, dass er die Lehrerlaufbahn systematisch
erkennbar angelegt war, wurde danach lediglich hätte weiterverfolgen wollen. Die zehnjährige Tä-
mit einer gewissen Systematik kultiviert und aus- tigkeit diente vor allem dem langatmig organisier-
gebaut. Immerhin kann als ein spektakuläres Re- ten Ausbau musikalischer Kenntnisse, die mit der
sultat der Erkrankung der Rückzug der Person am 9. Oktober 1854 abgelegten Orgelprüfung in
Anton Bruckners aus einer kalkulierbaren öffent- der Wiener Piaristenkirche auch äußerlich wahr-
lichen Wahrnehmung gesehen werden, in einer nehmbar wurden.
Radikalität, für die es ebenfalls keine Parallele Mit dem Antritt der Organistenstelle am Linzer
gibt. Dom, die also von einem Laien wahrgenommen
wurde, änderte sich Bruckners persönliches Profil
vollständig. Mit dem Organistenamt engagierte er
sich in der Liedertafel »Frohsinn«, dem einzigen
Ämter und Stellungen institutionellen Rahmen, in dem er sich als Diri-
gent dezidiert hervortat, übrigens auch bei der
Bruckners öffentliche Existenz jenseits der Kom- Uraufführung der Ersten Sinfonie (1868 mit dem
positionen ist auch deswegen schwierig einzu- Linzer Theaterorchester; Bruckner trat überhaupt,
schätzen, weil die Suche nach Stellungen und obwohl Schüler eines Kapellmeisters, nur viermal
Ämtern ganz unterschiedliche Realitätsgrade auf- als Dirigent eigener Sinfonien in Erscheinung,
weist. Anders als Brahms, der sein Wiener Dasein, letztmals 1877 mit der zweiten Fassung der Drit-
von zwei kurzen Ausflügen in musikalische Ämter ten). Zugleich scheint er die musikalischen Mög-
abgesehen, im Grunde als Alleinaktionär einer lichkeiten in Linz sowohl aktiv wie passiv genutzt
kompositorischen Kapitalgesellschaft organisiert zu haben, mündend in den nicht verwirklichten
hat, wollte Bruckner einen gesellschaftlichen Sta- Vorsatz, eine ›Gesang-Akademie‹ zu gründen
tus wenigstens teilweise in seinen Titeln und (1859). Gleichwohl trat von Anfang an die Absicht
Funktionen abbilden – nur, um sich dann in der hervor, die musikalische Existenz nach Wien aus-
Regel nicht danach zu verhalten. Er hatte im Laufe zurichten – und dort Positionen anzustreben, die
seines Lebens eine Reihe von Positionen inne, die nicht mit der Aufführung von Werken verbunden
in ihrer Gesamtheit, aber auch in etlichen Details waren. Allein das Orgelspiel blieb jener Faktor in
nicht leicht zu bewerten sind. Eine Zweiteilung Bruckners Leben, mit dem er als Musiker öffent-
der Biographie in das Dasein als Lehrer auf der lich in Erscheinung trat. Ausgerechnet der Orgel-
einen, als Musiker auf der anderen erscheint als musik verweigerte er aber den Rang des Kompo-
erste Auffälligkeit. Das habsburgische Bildungs- sitorisch-Werkhaften mit einer irritierenden Kon-
system kannte in der ersten Hälfte des 19. Jahr- sequenz; der karge Bestand von vier authentischen
hunderts die Schulpflicht und ein bis in die zweite Orgelkompositionen ist am Ende nichtssagend.
Jahrhunderthälfte von der katholischen Kirche Sogar die gelegentlichen Begutachtungen von
organisiertes, kontrolliertes und in den Rahmen- Orgelum- und -neubauten sind ab 1878 unterblie-
bedingungen geregeltes Schulsystem. Die Lehrer ben. So sehr Bruckner als Organist öffentlich
auch der Elementarschulen besaßen gewisse Privi- wahrgenommen wurde, so deutlich distanzierte er
legien, etwa die unbefristete Anstellung sowie das sich als Komponist von seinem Instrument. Das
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 23

1868 in Exspectanz, 1878 tatsächlich erreichte Amt einer bildungsbürgerlichen Existenz, die aber äu-
des Hoforganisten hat Bruckners höfische Karriere ßerlich nicht gelebt wurde. Wie weit er am Kon-
nach außen getragen, jedoch ohne wahrnehmbare servatorium tatsächlich integriert war, lässt sich
musikalische, kompositorische Folgen. kaum abschätzen. Das universitäre Professorenamt
Mit der Tätigkeit in Wien waren Stellungen erstrebte er, obwohl er selbst nie eine Universität
verbunden, die ihn vom hauptamtlichen Produ- besucht und nicht einmal eine Matura aufzuwei-
zieren von Musik fernhielten. Bruckner strebte sen hatte. Dies wurde wiederum verquickt mit
schon 1861 eine Professur am Konservatorium der dem Amt des Hoforganisten. Die jungen Studen-
Gesellschaft der Musikfreunde an, doch aus- ten, die Bruckner vor allem in seinen Vorlesungen
schließlich für Harmonielehre und Kontrapunkt, zu beeindrucken und an sich zu binden wusste,
also Tonsatz. Nach einem komplizierten Procedere standen in großen Teilen der sich formierenden
und dem typischen Insistieren erlangte er 1868 Wiener Secession nahe, also einer gesellschaftli-
eine Doppelprofessur für Orgelspiel sowie Har- chen Gegenwelt, zu welcher der Sonderling
monielehre und Kontrapunkt, die er bis 1891 inne- Bruckner ansonsten wohl keinerlei Kontakte
hielt. Als Orgellehrer ist er öffentlich jedoch nicht hatte, der er vielleicht sogar distanziert gegenüber-
in Erscheinung getreten. 1875 wurde er zudem stand. Ob und wie er unter diesen Bedingungen
Lektor für dasselbe Gebiet, also Harmonielehre am musikalischen Leben Wiens wirklich partizi-
und Kontrapunkt, an der Universität, mit Unter- pierte, lässt sich schwer einschätzen; die Reaktio-
stützung des Ministeriums. Angestrebt war eine nen auf seine Opernbesuche sind ausschließlich
fest besoldete außerordentliche Professur, doch anekdotisch bezeugt und damit letztlich nicht
selbst das Lektorat gewährte ein regelmäßiges glaubwürdig. Die zahlreichen Ehrungen, die ihm
Einkommen, da die Hörerzahl groß war, ein paar schließlich zuteil wurden wurden (allein 18 Ehren-
Jahre nach Antritt zudem eine Mindestremunera- mitgliedschaften), setzten 1868 mit dem Mozar-
tion garantiert wurde. Im Grunde bestritt also teum in Salzburg ein und endeten 1894 mit dem
Bruckner seinen Lebensunterhalt in Wien aus drei Wiener Schubertbund. Sie blieben aber fast ganz
Professuren, was zusammen mit dem höfischen auf Chor- und Männerchorvereine des Habsbur-
Organistenamt eine mehr als solide Existenz- gerreiches beschränkt, hatten also mit dem Sinfo-
grundlage darstellt. Damit war er tatsächlich ein niker nichts zu tun. Über eine wirkliche Ausstrah-
Karrierist des bürgerlichen Zeitalters, nur nicht in lung verfügten nur das Ehrendoktorat in Wien
jenem Bereich, den er eigentlich als seinen Le- sowie die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft der
bensinhalt betrachtete, dem des Komponisten. Musikfreunde (beide 1891); die Ehrenbürgerschaf-
Ergänzt wird dies durch eine weitere Auffälligkeit. ten, früh in Ansfelden (1870) und spät in Linz
Der gelernte Lehrer Bruckner gestaltete seine (1894), können eher als lokale Tribute an den
musikalische Tätigkeit ausschließlich unterrich- schon berühmten Mann gelten.
tend. Gleichwohl war dies wesentlich öffentlicher
Unterricht, an der Universität noch nicht einmal
für Fachleute. Das hat dazu geführt, dass Bruckner
zwar eine Reihe von ›Schülern‹ hervorgebracht hat Einkommen und Lebensformen
(darunter, auch dies merkwürdig, nur wenige
Organisten, mit Hans Rott an erster Stelle), enge Die von Bruckner vorsätzlich gepflegte ländliche
Lehrer-Schüler-Verhältnisse, wie sie einem ambi- Attitüde, also die des Fremdkörpers in Wien,
tionierten Komponisten, der überdies eine be- täuscht darüber hinweg, dass er nicht nur institu-
trächtliche Zahl an Privat-Lektionen erteilte, an- tionell ein zuweilen äußerst geschickt agierender
gestanden hätten, aber allem Anschein nach mied Aufsteiger war, sondern vor allem materiell eine
(der engere Kontakt zu Hugo Wolf, der mögli- bürgerliche Erfolgsgeschichte erstaunlichen Aus-
cherweise vor allem von diesem vorangetrieben maßes verkörperte. Seine finanziellen Verhältnisse
wurde, blieb eine Ausnahme). sind bislang aufgrund einer schwierigen Quellen-
Bruckners Ämter verraten demnach ebenfalls lage noch nicht detailliert untersucht worden,
einen Zwiespalt. Sie demonstrieren den Willen zu stehen in ihrer Stabilität jedoch in einem seltsa-
24 Laurenz Lütteken

men Kontrast zu seinen anhaltenden Klagen über Renten und Ehrengaben erhielt: 400 Gulden vom
fehlende Anerkennung sowie seinem Werben um oberösterreichischen Landtag (auf Veranlassung
Ämter und Ehrungen. Schon als junger Linzer des Linzer Bischofs), etwa 1000 Gulden Jahresgabe
Domorganist erhielt er knapp 550 Gulden, inklu- von einem oberösterreichischen Förderkreis, der
sive einer Dienstwohnung, hinzu kamen 300 sich »Consortium« nannte, dazu Wiener Mäzene,
Gulden bei der Liedertafel »Frohsinn«. Die 1868 ebenfalls mit einem Jahresvolumen von 1000 Gul-
erlangte Doppelprofessur am Wiener Konservato- den. 1894, in einem Jahr, in dem Bruckner bereits
rium hat ihm, mit einem Jahreseinkommen von pensioniert war (auch in der Hofmusikkapelle, in
800 Gulden, eine solide Existenzgrundlage ver- der das Gehalt aber lebenslänglich bezahlt wurde)
schafft (nach der Pensionierung 1891 auf die gute und wohl keinen Unterricht mehr gab, kam die
Hälfte reduziert), dazu kam 1876 das Universitäts- erstaunliche Summe von über 5000 Gulden zu-
lektorat mit semesterweiser Remuneration (ab sammen, also erheblich mehr, als z. B. ein aktiver
1880 fest 400 Gulden). Über vier Jahre lang war er Generalmajor der k.k. Armee für den Unterhalt
als Musiklehrer am Lehrinnenseminar von St. einer mehrköpfigen Familie verdiente. Bruckner,
Anna tätig, mit einem Jahreseinkommen von 540 der stets nur für sich und seine Haushälterin sor-
Gulden. Als er das Amt 1874 unter schwierigen gen musste, suggerierte zwar stets, jener »arme
Umständen aufgab, erfolgte die Übernahme der Organist« zu sein, als den ihn Cosima Wagner
Position des Vizearchivars an der Hofkapelle mit ansah, aber dies entsprach keineswegs den Tatsa-
einem Jahressalär von 100 Gulden. Mit der Über- chen, was von sachkundigen Beobachtern wie Jo-
nahme des Hoforganistenamtes entfiel zwar dieser seph Hellmesberger durchaus bemerkt wurde. (Es
Betrag, er wurde aber durch ein Jahressalär von ist übrigens erstaunlich, dass der Nachlass knapp
600 Gulden ersetzt, zuzüglich 200 Gulden Quar- 17.000 Gulden Barvermögen aufwies, was zwar
tiergeld und, nach der Verleihung des Franz-Jo- gut drei Jahreseinkommen entspricht, jedoch als
seph-Ordens, ergänzt um eine jährliche Ehrengabe vergleichsweise geringer Betrag erscheint, wenn
von 300 Gulden. Der Hofdienst gewährte überdies man die von den Zeitgenossen stets kolportierte
eine quartalsweise gestaffelte Zulage von je 100 sparsame Lebensführung annimmt.)
Gulden. Angesichts des Umstands, dass Bruckner sich
Johannes Brahms erhielt für seine kurze Zeit in selbst gern in der Rolle des musikalischen Außen-
der Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde seiters und des Verfolgten gesehen hat (bei einer
ein Jahresgehalt von 3000 Gulden, die Chormeis- Zahl von etwa 180 belegten Aufführungen seiner
terstelle brachte ihm 600 Gulden. Offenbar Sinfonien zu Lebzeiten ohnehin keine zutreffende
konnte ihm der Kapitalertrag seiner Kompositi- Selbsteinschätzung), sind die finanziellen Rah-
onshonorare sowie die seltener werdenden Kon- menbedingungen, erneut Resultat einer Mischung
zertgagen schließlich ein ähnliches Einkommen höfischer und bürgerlicher Kontexte, bemerkens-
gewähren, weswegen er materiell nicht mehr auf wert. Hinzu tritt noch ein weiterer Umstand.
Stellen angewiesen war. Bruckner, der aus seinen Bruckner bewohnte in Linz eine Dienstwohnung,
Werken schon quantitativ kein Kapital schöpfen während seiner Wiener Zeit vier Wohnungen, die
konnte, muss aber spätestens ab der Mitte der ersten beiden bescheidenen (in der Währinger
1870er Jahre über ein ganz ähnliches Einkommen Straße und am Opernring) gewissermaßen noch
verfügt haben. 1880 kamen an geregelten Jahres- in eigener Verantwortung. Ab dem November
einkünften ungefähr 2.400 Gulden zusammen, 1877 nahm er jedoch den vierten Stock des Hauses
dazu kam private Unterrichtstätigkeit unbekann- in der Heßgasse 7 in Anspruch, direkt neben dem
ten Ausmaßes, für 1871 aber mit gut 2000 Gulden (1881 abgebrannten) Ringtheater, mit freiem Aus-
bezeugt. Mit weit über 4000 Gulden realem Jah- blick über den Schottenring und die Vorstädte bis
reseinkommen (bei kostenloser Wohnung) gehörte zum Kahlenberg (siehe Abbildung 3). Diese Woh-
Bruckner also zum bemerkenswert kapitalträchti- nung, die wenigstens in Teilen dokumentiert ist,
gen Bürgertum Wiens und in der Musikwelt sicher verrät ein sonst von Bruckner gemiedenes reprä-
zu den Spitzenverdienern. Die Situation verän- sentatives Gebaren (ganz im Gegensatz zu Brahms,
derte sich 1890 nochmals, als Bruckner mehrere der seine kleinbürgerliche Herkunft in seiner
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 25

Abb. 3: Blick auf den Schottenring: im Vordergrund das (1881 abgebrannte) Ringtheater, im Hinter-
grund das Haus Heßgasse 7, in dem Bruckner von 1877 bis 1895 eine Wohnung im 4. Stock bewohnte
(undatierte Fotografie aus den 1870er Jahren).

Wohnung an der Karlskirche sozusagen als quer- hend, dann aber auf Lebenszeit. Auch dies geschah
ständiges Markenzeichen kultivierte), konterka- mietfrei, im Sinne einer Ehrenwohnung, auf Ver-
riert jedoch durch die mehrfach bezeugte, auch anlassung des Kaiserhauses, und Bruckner hat eine
auf Fotografien erkennbare spartanische Ausstat- solche Ehrung mit einer wiederum irritierenden
tung (siehe Abbildung 4). Bruckner zahlte aller- Selbstverständlichkeit nicht nur angenommen,
dings keine Miete und hatte sich auch sonst nicht sondern geradezu eingeklagt. Die Wohnung, aber-
um die Administration der Immobilie zu küm- mals in einer der privilegiertesten Lagen Wiens,
mern. Das Haus gehörte seinem Bewunderer und umfasste immerhin neun Räume.
Hörer Anton Ölzelt Ritter von Newin (1854–1925),
dem Widmungsträger der Sechsten, der – als ver-
mögender Unternehmer – das repräsentative
Bleiberecht wie eine Pfründe gewährte und später Habitus und Persönlichkeit
zu den Initiatoren der Wiener Gruppe von Gön-
nern gehörte. Als wegen der sich verschlimmern- Die vielen äußerlich wahrnehmbaren Widersprü-
den Herzerkrankung (die 1885 erstmals bemerkbar che in der Existenz Bruckners lassen sich am Ende
wurde und in den letzten beiden Jahren drama- nicht von seiner habituellen Erscheinung trennen.
tisch verlief ) das Treppensteigen immer qualvoller Mit den Zusammenhängen von Habitus und
wurde – Bruckner ließ sich schließlich auf einem Persönlichkeit ist aber ein Bereich berührt, der im
Sessel tragen –, erhielt er 1895 die Kustodenwoh- Wesentlichen anekdotisch, also vorrangig durch
nung im Belvedere, ursprünglich nur vorüberge- Zweite und Dritte dokumentiert ist. Die Anek-
26 Laurenz Lütteken

Abb. 4: Bruckner in seiner


Wohnung in der Heßgasse
7 (Fotografie von Ludwig
Grillich, 1890, IKO 39b).

dote, eine vor allem aus der Hagiographie be- zur Korpulenz, obwohl er offenbar sehr behände
kannte Darstellungsform, suggeriert Nähe, Ver- und beweglich war, ungeachtet der Tatsache, dass
traulichkeit dort, wo historische oder räumliche er leicht und heftig ins Schwitzen geriet. Seine
Unnahbarkeit gegeben ist. Tatsächlich scheint im Markenzeichen – und bislang ist nicht sicher zu
Falle Bruckners die Undurchdringlichkeit seiner bestimmen, wann er sie zu solchen gemacht hat
äußeren Erscheinung die Kolportierung von An- – waren eine an den Knöcheln zu kurze Hose,
ekdoten in einem ganz erstaunlichen Maße be- seine weite, ebenfalls kurze Jacke, sein weites,
günstigt zu haben, mündend in die Bruckner- kragenloses (mit Umlegekragen dekoriertes)
Biographie von August Göllerich, die von Max Hemd. Sie entfernten sich von den bürgerlichen
Auer durch die in der Bruckner-Rezeption verhee- Gewohnheiten seiner Zeit, ähnlich wie der große
rend wirkende, jeglicher Wissenschaftlichkeit schwarze Schlapphut, das große, bunte Taschen-
trotzende Attitüde ergänzt wurde, den Komponis- tuch und die grotesk anmutenden Stiefeletten,
ten allein im oberösterreichischen Dialekt reden denen er offenbar eine regelrechte Sammelleiden-
zu lassen, ihn also gewissermaßen als weltferne schaft widmete.
Erscheinung vom Lande zu infantilisieren (vgl. Zweifellos arbeitete Bruckner viel, angesichts
Maier 2009, 45). Bruckner war von mittlerer der angehäuften Positionen nicht verwunderlich.
Größe, suggerierte aber gern, aus welchen Grün- Der späte Abend war hingegen einer, auch dies
den auch immer, eine kleinere Erscheinung. Das merkwürdig, bohèmehaften Geselligkeit vorbehal-
kurze geschnittene Haar und der Bart entsprachen ten, in der er sich gesellschaftlich weiter isolierte,
zwar einer zeitgemäßen Mode, die bevorzugte weil er sich im Mittelpunkt einer Gruppe von
Kleidung tat es dezidiert nicht. Bruckner neigte mindestens um eine Generation, wenn nicht noch
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 27

jüngeren Verehrern sah, die ihn bedingungslos, seine erworbenen Kenntnisse herrschen allenfalls
durchaus im Sinne einer Jüngerschar bewunderten Vermutungen, das betrifft sowohl die Musik der
(und seine Selbsteinschätzung des Verfolgten so Vergangenheit (Mozart etwa) als auch der unter-
weit akzeptierten, dass sie sich zu fatalen Eingrif- schiedlichen Schichten seiner eigenen Gegenwart.
fen in sein Werk veranlasst sahen). Da gerade diese In der Forschung ist beispielsweise immer wieder
Verehrer, deren Zuschnitt sich deutlich von den auf die Bedeutung Schuberts (insbesondere der
Bayreuther Pilgern unterschied, an der literarisch- C-Dur-Sinfonie D 944) hingewiesen worden, doch
intellektuellen Welt des Fin de siècle partizipier- die Umstände, unter denen sich Bruckner welche
ten, erstaunt die Konstellation um so mehr. Als Werke aneignete, sind gänzlich unklar. Ob er an
Konservatoriumsprofessor und als Universitätsdo- der in Wien spürbaren Historisierung der Musik
zent gehörte Bruckner nominell dem Bildungs- partizipierte, ob und in welcher Form er Partituren
bürgertum an, am Ende blieb er ihm aber fremd anderer studiert hat, bleibt – bis auf die mehrfach
und hielt sich offenbar auch von ihm fern. Es ist bezeugten metrischen Studien an Beethovens
vollkommen unbekannt, über welche literarische Dritter und Neunter Sinfonie – rätselhaft. An edi-
und sonstige Bildung er verfügte, ob er Neigungen torischen Projekten welcher Art und Dimension
zu Malerei oder Architektur hatte. Dass er eine immer war er nicht beteiligt, in welcher Form er
systematische Pflege solcher Ambitionen aus sei- Unternehmungen wie die Bach- oder die Mozart-
nem Leben in vollem Bewusstsein herausgehalten Ausgabe wahrgenommen hat, lässt sich nicht er-
hat, ist sogar bezeugt. (Die in seinem Nachlass kennen, ja nicht einmal, in welchem Umfang er
befindliche Sammlung teilweise skurriler Devotio- Musikzeitschriften rezipiert hat.
nalien ist an sich kein aussagekräftiges Indiz, ver- Die Geselligkeitsform, die Bruckner pflegte,
bindet ihn aber durchaus etwa mit dem Kaiser war als bloßer Sachverhalt ein Widerspruch zu
selbst.) Es kann als sicher gelten, dass Bruckner seinem Status und seinem Zeitalter. Es kann als
intellektuellen Zirkeln – mit Ausnahme seiner sicher gelten, dass er sich mit seinen jugendlichen
jugendlichen Bewunderer – fernblieb. Er äußerte Bewunderern nicht eigentlich in den Gasthäusern,
sich nicht schriftlich, pflegte keine Freundschaften auch nicht in den Kaffeehäusern, sondern gern an
und Briefwechsel. Die frühe, enge Verbindung den Biertischen der Schankstuben aufhielt. Dort
zum etwas jüngeren Rudolf Weinwurm (1835– erwartete man den Sesshaften, praktisch nie Rei-
1911), später Wiener Universitäts-Gesanglehrer, senden anscheinend regelmäßig, wenn auch über
blieb eine lebenslange Ausnahme, und offenbar die internen Organisationsformen dieser Gesellig-
war sie vor allem dem gesundheitlichen Zusam- keit keine verlässlichen Details bekannt ist, nur
menbruch geschuldet. Dem bürgerlichen Zeitalter dass sie gegen 22 Uhr beginnen konnte. Mit nicht
der Zirkel und Gesellschaften, der Freundschaften selten mehr als zehn Seideln Bier (was mehr als
und Konversationen, der Gespräche und Brief- drei Litern entspricht) war ein erhebliches Maß
wechsel blieb Bruckner, der schon vor Bad Kreu- regelmäßigen Alkoholkonsums erreicht (von dem
zen über Vereinsamung klagte, alles schuldig. Die unbekannt ist, ob es der erste am Tag war), doch
wenigen erhaltenen Texte von ihm zeugen von hat dies Bruckners Arbeitsleistung anscheinend
einer erstaunlichen Formulierungsgabe, dass diese nicht, jedenfalls nicht wahrnehmbar beeinträch-
mit einer aktiven literarischen Erfahrung gekop- tigt. Die demonstrative Zurschaustellung eines
pelt war, erscheint indes unwahrscheinlich. Dort, unnormierten Junggesellendaseins selbst in Zeiten
wo er spät nochmals ein öffentliches literarisches höchster bürgerlicher Arriviertheit – verbunden
Bekenntnis abgelegt hat, in Helgoland, blieb es mit dem ausdrücklichen Verzicht auf alle musika-
aussagekräftig nur in einer, allerdings programma- lischen Gattungen bürgerlicher Partizipation –
tisch anmutenden Hinsicht: in der Wahl eines bleibt ein undurchdringlicher Widerspruch seiner
Gedichts, dem auf geradezu demonstrative Weise gesamten Lebensführung.
sämtliche Merkmale anspruchsvoller Lyrik des Die Ehelosigkeit kann zwar als ein wesentliches
späten 19. Jahrhunderts fehlen. Dieses Defizit wird Distinktionsmerkmal in einer auf Ehe und Familie
nicht gemildert dadurch, dass sich auch Bruckners fixierten bürgerlichen Welt gelten, doch führten
musikalische Bildung nicht erschließen will. Über Junggesellen im Wien der zweiten Hälfte des 19.
28 Laurenz Lütteken

Jahrhunderts keineswegs ein isoliertes Dasein. dürften ungeachtet ihrer wenigstens in Anekdoten
Bruckner hingegen tat es, anscheinend mit Vor- bezeugten Drastik im Gefüge der Stadt nicht wei-
satz, und seine oft kommentierten Versuche, die- ter aufgefallen sein. Gleichwohl ist es nahezu un-
sen Sachverhalt zu ändern, zeugen von einer sol- möglich, sich über seine Religiosität ein verlässli-
chen Unbeholfenheit, dass man nicht annehmen ches Bild zu machen, denn auch dieser Bereich ist
kann, er habe allen Ernstes mit einem Erfolg ge- praktisch nicht durch primäre Überlieferung be-
rechnet. Zweifellos bezeugt sind Heiratsanträge an zeugt. Immerhin, die ostentativ zur Schau getra-
die zwanzig Jahre jüngere Linzer Fleischhauers- gene Frömmigkeit unterschied ihn wohl von allen
tochter Josefine Lang (1866) und an die ebenfalls namhaften Komponisten seiner Zeit und ohnehin
erheblich jüngere Kaufmannstochter Minna von den meisten intellektuellen Zeitgenossen des
Reischl (1891, erneut 1893). Hinzu kam 1894 die Ringstraßen-Wien, insbesondere von seinen ju-
wieder gelöste, als Sachverhalt in jeder Hinsicht gendlichen Bewunderern. Sie ist im Falle Bruck-
unbegreifliche Verlobung mit dem Stubenmäd- ners aber zugleich erkennbar als nachdrückliches
chen des Hotels »Kaiserhof« zu Berlin, Ida Buhz. Einhalten von Normen, die er – und dies ist tat-
(Ob diese Verbindung überhaupt einen Realitäts- sächlich dokumentiert – auf die umständlichste
charakter aufwies, ist bis heute ungeklärt.) Dazu Weise zu umgehen gedachte (wie das freitägliche
kommt eine ganze Reihe von Schwärmereien für Fastengebot). Die neu reklamierte Spiritualität des
durchweg deutlich jüngere Frauen, die aber kei- Reformkatholizismus im Umfeld des ersten Vati-
nerlei Konsequenzen gezeitigt haben (und wahr- kanischen Konzils, die für eine Stadt wie Linz von
scheinlich auch nicht zeitigen sollten). Ob Bruck- hoher Bedeutung war, hat sich in seiner Biographie
ner je ernsthaft über eine Bindung, die Ehe und nicht als Befreiungsschlag ausgewirkt, sondern als
die Gründung einer Familie nachgedacht hat, kompliziertes Geflecht von Regeln, Vorsätzen und
muss mehr als fragwürdig erscheinen. Einmal ist Geboten. Jedenfalls ist nur dieser Aspekt in seinem
er jedoch Gegenstand eines erotischen Skandals Fall wirklich belegt. Die nach außen getragene
geworden. In der Lehrerbildungsanstalt St. Anna Frömmigkeit musste einerseits die Rolle des Son-
kam es 1871 zu einem auch publizistisch aufberei- derlings befestigen, ihn andererseits im bürgerli-
teten Vorwurf, in welchem der Klavierlehrer einer chen Umfeld auch auf einer anderen Ebene, gewis-
erotischen Annäherung an mindestens zwei Schü- sermaßen der des alltäglichen Verhaltens, gänzlich
lerinnen bezichtigt wurde. Das daraufhin eingelei- isolieren. Doch selbst hier gibt es merkwürdige
tete Amtsenthebungsverfahren wurde schließlich Unwägbarkeiten, die sich als Kontrapunkt dazu
eingestellt, Bruckner rehabilitiert – und erstaunli- erweisen. Diese konnten lebensweltliche Aspekte
cherweise hat der Vorgang dem weiteren Aufstieg betreffen wie das Festhalten am Literaten August
in Wien nicht geschadet. Unabhängig von allen Silberstein oder seine zahlreichen jüdischen Be-
denkbaren Hintergründen dieser Geschichte han- wunderer in einem zunehmend antisemitischer
delt es sich um den einzigen bezeugten Fall, in werdenden Umfeld. Sie konnten aber auch Bruck-
dem Bruckners Verhältnis zu Frauen Gegenstand ners Existenz im Innersten berühren, am deut-
einer öffentlichen Wahrnehmung geworden ist – lichsten in zwei Bereichen (abgesehen von dem
mit einem nicht größeren Realitätsgrad allerdings auffälligen Umstand, dass der Solitär Bruckner, so
als im Falle der zunehmend fantastisch anmuten- weit es bekannt ist, nicht einmal ansatzweise er-
den Heiratsanträge. wog, sich ordinieren zu lassen): Die lebenslange
Kaum ein lebensweltlicher Umstand war für Begeisterung für Wagner musste in einem katholi-
Bruckner so bestimmend wie seine Herkunft aus schen Milieu als befremdlich wenn nicht als un-
dem oberösterreichischen Katholizismus, die er im möglich gelten; und die Beschränkung des kom-
urbanen Leben Wiens ebenfalls und zum Befrem- positorischen Schaffens wesentlich auf Sinfonien,
den seines Umfeldes kultiviert hat. Trotz aller also eine Gattung der weltanschaulichen Bekun-
konfessionellen Liberalisierungen blieb der Katho- dungen und ästhetischen Kontroversen, war von
lizismus auch im Wien nach 1860, auch nach dem einer Sphäre intakter Katholizität weit entfernt.
gekündigten Konkordat, tonangebend, und die Das Zwanghafte, das Bruckners Verhältnis zur
von Bruckner gepflegten Frömmigkeitsformen Religion zumindest im wahrnehmbaren Bereich
Bruckners Existenz im 19. Jahrhundert 29

Abb. 5: Bruckners
Gebetsaufzeichnungen
(hier: 10. bis 15. März
1882) mit den Kürzeln für
Vaterunser, Ave Maria,
Salve regina etc. in seinem
Exemplar des Akademi-
schen Kalenders der
Österreichischen
Hochschulen für das
Studienjahr 1882, fol.
123v/124r (Wien, ÖAW,
Arbeitsstelle Anton
Bruckner, Archiv)

auszeichnet (zu seinen täglichen Gebetsaufzeich- Kraft gesetzt: die erfolgreiche Biographie samt
nungen vgl. die Abbildung 5), lässt sich zugleich ihrem materiellen Äquivalent (selbst im angeblich
für etliche Bereiche des täglichen Lebens bezeu- ›immateriellen‹ Bereich der Kunst) nicht als Ga-
gen, ja es scheint, die gesamte Lebensplanung und rant einer intakten Ordnung zu empfinden.
-führung sei davon nicht frei gewesen. Vieles ist Viele, immer wieder kolportierte Eigenarten
ebenfalls nur anekdotisch überliefert, aber doch in sind von solcher Zwanghaftigkeit durchzogen, am
einer hinreichenden, Plausibilität gewährenden deutlichsten der kurios anmutende Wille, sich,
Dichte. Dazu gehören der ›Zählzwang‹, also der zumindest in der frühen Zeit, permanent die eige-
stete Wille, die Welt ordnend zu klassifizieren, nen Fähigkeiten beurkunden zu lassen (später er-
aber auch die Besuche in Festung und Gerichtssaal setzt durch das rastlose Streben nach Ehrungen).
sowie andere Demonstrationen der Anteilnahme Noch die Selbstverpflichtung der akademischen
an Gefährdungen und Verfehlungen. Selbst das Existenz auf den Kontrapunkt-Unterricht, also auf
Streben nach Positionen und Ehrungen, also nach eine handwerkliche Basis des Komponierens, kann
Status-Abbildungen in der Wirklichkeit, sowie die als eine solche Zwanghaftigkeit verstanden wer-
permanente und vollkommen unbegründete Sorge den, und diese reicht bis in die postmortale De-
um das materielle Auskommen, ja sogar die von mutsgeste, die doch naheliegende Beisetzung auf
Verfolgungswahn zuweilen nicht weit entfernte dem Zentralfriedhof zu verhindern. Bruckner war
Klage über fehlende kompositorische Anerken- schließlich schwer herzkrank, und die letzten, stets
nung (auch sie ohne Grundlage) sind Teil eines qualvoller werdenden Jahre waren nicht von einer
gegenweltlichen Komplexes, der Bruckners ge- Abmilderung dieser Attitüde durchzogen, im Ge-
samte Biographie (schon vor dem Aufenthalt in genteil. Bruckner glaubte sich fortwährend Bedro-
Bad Kreuzen) durchzieht. Sie zeigen einen Kom- hungen ausgesetzt, und eine solche Betonung der
ponisten, der die bürgerliche Erfolgsgeschichte Kehrseite der Bürgergesellschaft erweist sich als
nicht als Signal einer weitgehenden Sicherung der auffälligste Querstand zu seinem eigenen Zeit-
verstanden wissen wollte, es vielleicht auch nicht alter und als gänzlich unerwartete innere Verbin-
konnte. Hierin war eines der fundamentalen dung zu den Befindlichkeiten des Wiener Fin de
Grundprinzipien des bürgerlichen Zeitalters außer siècle. Vielleicht ist es die permanente Präsenz
30 Laurenz Lütteken

dieses Unbewussten, dieser Kehrseite, die Bruck- nicht nur am Beispiel des Melodiebegriffs erfolgte,
ner in einem tiefen Sinne vom bürgerlichen Zeit- sondern durch einen Philosophen, der als Student
alter entfremdete. Und vielleicht ist dieser Um- zu den Hörern Bruckners zählte. Die Provokation
stand zugleich der Beweggrund, für die eigene von Bruckners querständiger, rätselhafter Selbstin-
Sinfonik kompositorische Verfahrensweisen zu szenierung im bürgerlichen Zeitalter lag am Ende
reklamieren, die sich vom bürgerlichen Leistungs- darin, dass der von ihm eingeschlagene komposi-
willen einer determinierten kompositorischen torische Weg eine Überblendung von Kunst und
›Arbeit‹ fundamental unterscheiden. Es kann kein Leben im Sinne dieser Bürgerlichkeit nicht mehr
Zufall sein, dass die Grundlegung des modernen, zugelassen hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
tradierte Muster der Kohärenz preisgebenden Bruckner selbst die Endgültigkeit dieses Verlustes
Gestaltbegriffs 1890 durch Christian Ehrenfels geahnt hat.

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31

Bruckner und seine Schüler


von Thomas Leibnitz

Bruckners Lehrer unterrichtet. Diese Unterweisung war für Bruck-


ner so grundlegend, dass er später in seinem eige-
Lernen und Lehren spielen im Leben Anton nen Theorieunterricht Dürrnbergers Lehrwerk
Bruckners eine zentrale Rolle. Hineingeboren in (Elementar-Lehrbuch der Harmonie- und General-
eine Lehrerfamilie, stand auch für ihn frühzeitig baß-Lehre, Linz 1841) als Basis verwendete. Be-
die Entscheidung zum Lehrberuf fest, und wenn wegte sich der bisherige Unterricht noch im Rah-
dieser auch in Form und Inhalt große Verände- men dessen, was angehende Lehrer sich als musi-
rungen erfuhr – aus dem Volksschullehrer wurde kalisches Rüstzeug anzueignen hatten, so setzte
ein Konservatoriumsprofessor und Universitäts- Bruckner in der Folge seine Studien aus eigenem
lektor –, so blieb die Weitergabe von Wissen, das Antrieb fort. Während seiner Anstellung in Kron-
Leben in Lehrer-Schüler-Beziehungen samt den storf nahm er Privatunterricht in Musiktheorie bei
damit etablierten Autoritätsverhältnissen doch Leopold von Zenetti, dem Regens chori und Or-
stets eine Signatur seiner Biographie. ganisten von Enns, daneben in St. Florian Orgel-
Wer den Lehrer Anton Bruckner verstehen unterricht bei Anton Kattinger.
will, muss sich allerdings auch mit dessen eigener Die für Bruckner wichtigste und prägendste
Beziehung zu Lehrern befassen, wobei hier nur Lehrerpersönlichkeit war jedoch zweifellos Simon
von seinen Lehrern auf musikalischem Gebiet die Sechter, der berühmteste Wiener Musiktheoretiker
Rede sein soll. Eine Konstante ist unübersehbar: dieser Zeit. Bruckner legte Sechter 1855 seine Missa
Nie entwickelte sich zwischen Bruckner und ei- solemnis vor und wurde als Schüler angenommen.
nem seiner Lehrer ein kritisch-dialogisches Ver- Es folgten sechs Jahre eines intensiven Selbststudi-
hältnis; stets blieb der jeweilige Lehrer für Bruck- ums, das großteils brieflich, aber auch in Form
ner eine Autorität, der man sich zu fügen hatte. mehrwöchiger Studienaufenthalte stattfand. Die
Ersten Musikunterricht (Singen und Instru- erhaltenen Zeugnisse dokumentieren den Studi-
mentalspiel) erhielt Bruckner durch seinen Vater enfortgang: Musiktheorie (in diesem Fall die von
Anton; diesem folgte als Lehrer 1835–37 Bruckners Sechter vertretene Fundamentalbasstheorie), Har-
älterer Cousin und Taufpate Johann Baptist Weiß, monisierung von Melodien, Beherrschung des
der den Ruf eines der besten Musiker Oberöster- ein- bis vierfachen Kontrapunkts, des Kirchenstils,
reichs besaß. Von ihm erhielt Bruckner in Hör- des Kanons und der Fuge. Wie im Falle Dürrnber-
sching Unterricht im Generalbass und Orgelspiel, gers wurde für Bruckner auch Sechters theoreti-
und zweifellos vermittelte er dem Knaben auch sches Lehrwerk (Die Grundsätze der musikalischen
eine grundlegende Repertoirekenntnis. 1840/41 Komposition, Leipzig 1853/54) zum Standardwerk,
besuchte Bruckner, der sich nunmehr zum Lehr- an dem er in seiner eigenen späteren Lehrtätigkeit
beruf entschlossen hatte, in Linz die »Präparandie« festhielt. Sechter bestand auf strenger Trennung
(Lehrerausbildung) und wurde dort in Theorie von musiktheoretischem Grundlagenwissen und
und Orgelspiel von Johann August Dürrnberger eigenem Komponieren, und auch dieser Grund-
32 Thomas Leibnitz
Bruckner und seine Schüler 33

satz sollte für den späteren Theorielehrer Bruckner auch für eine weitere Verwendung als Musikpäda-
charakteristisch sein. Zweifellos fasste Bruckner in goge gedacht (was dann in Wien ja geschehen ist),
der Schlussphase des Unterrichts bei Sechter be- so dient die Unterweisung bei Kitzler ausschließ-
reits eine eigene Lehrtätigkeit ins Auge; am 20. lich dem Eigenen und dem Schöpferischen im
Oktober 1861 stellte er das Gesuch, am Wiener wesensgerechten künstlerischen Bereich und bei
Konservatorium eine Prüfung ablegen zu dürfen, wachsendem Selbstbewusstsein« (Grasberger 1977,
um »im Befähigungsfall den Titel › P r o f e s s o r 34).
der Harmonielehre und des Contra-
p u n c t e s ‹ mittelst eines Diploms« zu erhalten
(Briefe 1, 26). Um die Verleihung des Professoren-
titels entspann sich eine briefliche Diskussion; die Bruckner als Lehrer
Gesellschaft der Musikfreunde teilte Bruckner
mit, es müsse »von dem Titel eines Professors […] Bruckner hatte in Linz neben seiner Haupttätig-
im vorliegenden Falle Abstand genommen wer- keit als Dom- und Stadtpfarrorganist einige Kla-
den, da die Gesellschaft der Musikfreunde nicht vier- und Harmonielehreschüler unterrichtet,
das Recht hat, einen solchen Titel zu verleihen«. doch nach seiner Übersiedlung nach Wien 1868
(Briefe 1, 27). Bruckner insistierte (allerdings ver- änderte sich seine berufliche Situation: Der Unter-
geblich) auf dem Titel: Die Begebenheit zeigt, dass richt wurde zu seiner Haupttätigkeit. Bruckner
er auf die Zuerkennung von Autorität Wert legte. wurde Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt
Die Prüfung fand schließlich am 19. November und Orgelspiel am Konservatorium der Gesell-
1861 im Musikvereinssaal statt; die Kommission, schaft der Musikfreunde (1868), Klavierlehrer an
der Joseph Hellmesberger, Johann Herbeck und der Lehrerbildungsanstalt St. Anna (1870), Lektor
Simon Sechter angehörten, attestierte Bruckner für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Uni-
außergewöhnliche satztechnische Sicherheit, und versität Wien (1875) und hatte zudem noch einige
es folgte eine Prüfung an der Orgel der Piaristen- Privatschüler. Die Namen seiner Schüler können
kirche. Das Zeugnis (siehe Abbildung 6) fiel laut den Schülerverzeichnissen des Konservatoriums,
einem Bericht der Wiener Zeitung so ehrenvoll den Universitätsakten und den Notizen in seinen
aus, dass Bruckner »dasselbe als einen wahren Taschenkalendern entnommen werden (Bruckner-
Meisterbrief betrachten« könne (Wiener Zeitung, Handbuch 1996, 507–510).
1.12.1861). Seinen Unterricht am Konservatorium der
Selbst nach dem glanzvollen Abschluss des Gesellschaft der Musikfreunde begann Bruckner
Studiums bei Sechter sah Bruckner seine Studien in dem (nicht mehr bestehenden) Gebäude der
noch nicht als abgeschlossen an und nahm in Linz Gesellschaft im Haus »Zum roten Igel« (Tuchlau-
Instrumentations- und Formenlehreunterricht bei ben Nr. 12); mit Beginn des Studienjahres 1868/69
dem Dirigenten und Cellisten Otto Kitzler; diese übersiedelte das Konservatorium in das neue, von
Unterweisung dauerte weitere zwei Jahre und Theophil Hansen entworfene Musikvereinsge-
machte Bruckner mit der zeitgenössischen Mo- bäude. Am Konservatorium fanden sich, vergli-
derne bekannt, vor allem mit den Werken Berlioz’, chen mit Bruckners anderen Wirkungsstätten, die
Liszts und Wagners. Nach Kitzlers Abgang aus Schüler mit dem größten Begabungspotenzial;
Linz wurde der Unterricht bei Ignaz Dorn, eben- fast alle Bruckner-Schüler, die sich in der musika-
falls einem Anhänger der Moderne, fortgesetzt. lischen Welt einen Namen machten, waren Kon-
Zwischen den Studien bei Sechter einerseits und servatoristen: Carl Führich, Cyrill Hynais, Ferdi-
Kitzler und Dorn andererseits ist freilich ein we- nand Löwe, Anton Meißner, Hans Rott, Josef
sentlicher funktioneller Unterschied zu konstatie- und Franz Schalk, Heinrich Schenker und Guido
ren: »War der frühere Kenntniserwerb zumindest Adler.

Abb. 6: Zeugnis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien für Bruckner (22. November 1861); links
neben dem Siegel die Unterschriften von Hellmesberger und Herbeck, unter dem Siegel diejenige von
Sechter (Augustiner-Chorherrenstift St. Florian, Brucknerarchiv, Schachtel 1).
34 Thomas Leibnitz

Um ein Lektorat an der Universität Wien be- Klose, Emil Lamberg, Marie Pohoryles, August
mühte sich Bruckner bereits von Linz aus, doch Stradal, Friedrich Eckstein, Max von Oberleithner
erreichte er dieses Ziel erst 1875. Mehrere diesbe- und Josef Vockner. Friedrich Klose schildert in
zügliche Eingaben an das Ministerium für Kultus seinen Erinnerungen anschaulich den Ablauf einer
und Unterricht scheiterten an den negativen Stel- solchen Unterrichtsstunde in Bruckners Woh-
lungnahmen Eduard Hanslicks, der als Privatdo- nung:
zent an der Universität Geschichte und Ästhetik
der Musik lehrte und die Meinung vertrat, Musik- »Der Unterricht fand an dem tintegeschwärzten Tische
statt. Bruckner saß an dessen Längsseite in einem leder-
theorie sei Sache des Konservatoriums und nicht gepolsterten Lehnstuhl, das Gesicht dem Fenster zuge-
der Universität. Vermutlich auf einen ›Wink‹ des kehrt, zur Rechten des Meisters, an der Schmalseite der
Bruckner wohlgesonnenen Unterrichtsministers Schüler. Zuerst wurden jeweils die mitgebrachten Aufga-
ben einer genauen Durchsicht unterzogen. War etwas
Karl von Stremayr wurde das Ansuchen 1875 be- fehlerhaft, so nahm Bruckner nicht selbst die Korrektur
willigt; Bruckner wurde mit Erlass vom 8. Novem- vor, sondern übertrug sie nach gegebener Anweisung dem
ber 1875 zunächst zum unbesoldeten Lektor für Schüler, den er ruhig sich damit abplagen ließ. Unterdes-
sen mochte es geschehen, dass Bruckner eine eigene Ar-
Harmonielehre und Kontrapunkt bestellt, erst ab beit vornahm, Einzeichnungen in ein Manuskript
1880 erhielt er eine jährliche Remuneration von machte, oder gar ans Klavier ging, um etwas zu probieren,
800 Gulden. Bruckners Hörer an der Universität unbekümmert, ob der Andere dadurch gestört ward. Ich
entstammten allen Fakultäten und bildeten somit will es Bruckner nicht verübeln, dass er sich das Stunden-
geben leicht gemacht hat, war er doch nicht der Kompo-
einen Personenkreis, der keine musiktheoretischen nist, der seine Werke, wie man zu sagen pflegt, aus dem
Vorkenntnisse mitbrachte. Zweifellos wurden viele Ärmel schüttelte, sondern ein Schwer-Schaffender, der
von der eigenwilligen Persönlichkeit des später seinem Gotte den Segen in brünstig heißem Gebete ab-
ringen musste und das Unterrichten des Brotverdienstes
auch im Wiener Musikleben weithin bekannten halber mehr oder weniger als lästige Störung empfand.«
Lektors angezogen. Bruckner trug denselben Stoff (Klose 1927, 94)
wie am Konservatorium vor, würzte diesen mit
drastisch-urwüchsigen Formulierungen, nahm Es wird aus dem Gesagten deutlich, dass Bruckner
aber auf die geringeren Vorkenntnisse seiner Uni- den Unterricht als ›Brotberuf‹ im Sinne der Siche-
versitätsstudenten Rücksicht. rung materieller Lebensgrundlagen auffasste und
Mit einer Demütigung endete für Bruckner der ihn als Weitergabe eines festgefügten Theoriege-
Unterricht an der Lehrerbildungsanstalt St. Anna, bäudes verstand. Kompositionsunterricht im
wo er ab 1870 als Hilfslehrer für Klavier angestellt Sinne einer Tradierung seines eigenen, höchst
war. Bereits 1871 wurde er dort in eine peinliche profilierten sinfonischen Stils fand nicht statt –
Affäre verstrickt: Laut einem Bericht der Linzer und somit konnte es auch nicht, trotz einer unge-
Tages-Post habe er seinen Schülerinnen »den Hof wöhnlich großen Zahl von Schülern, zur Eta-
gemacht« und einzelne Mädchen bevorzugt, eine blierung einer »Bruckner-Schule« im ästhetischen
Schülerin mit »lieber Schatz« angesprochen, eine Sinne kommen. Über den Theorielehrer Bruckner
andere hingegen als »Urschl« beschimpft. Letztere, gab Guido Adler, später Inhaber der Lehrkanzel
die Tochter eines Realschuldirektors, initiierte für Musikgeschichte an der Universität Wien, ein
(vermutlich) ein Disziplinarverfahren gegen nüchtern-kritisches Urteil ab: »Bruckners Unter-
Bruckner, das Berichte in Wiener Zeitungen zur richt in Harmonielehre und Kontrapunkt war
Folge hatte und zur Dienstenthebung am 5. Okto- eine Daguerrotypie seiner bei Simon Sechter er-
ber 1871 führte. Zwar erreichte Bruckner eine offi- haltenen Lehren. Es war keine Brücke zwischen
zielle Rehabilitierung, doch unterrichtete er nicht Lehre und dem Stand der Komposition der neuen
mehr in den weiblichen Klassen; 1874 beendete er Zeit, der er sich langsam, aber entschieden an-
die Tätigkeit an diesem Institut. schloß. Er war sich dieses Mangels wohl bewusst,
Eine nicht geringe Zeitbelastung schließlich aber seine Intelligenz reichte nicht hin, um in der
bedeutete für Bruckner der Privatunterricht, den Didaktik dies zu bewerkstelligen« (Adler 1935, 7).
er – vorwiegend aus materiellen Gründen – bis in Die Bedeutung der Schüler – in manchen Fällen
seine Altersjahre erteilte. Zu den Privatschülern wurden sie später zu Freunden – liegt eher auf
zählten Franz Antoine, Hermann Behn, Friedrich biographischem Gebiet: Ehemalige Schüler bilde-
Bruckner und seine Schüler 35

ten Bruckners engsten, privaten Umgang und den Spott der Wiener Musikkritik hervorrief.
sorgten mit Klavieraufführungen und literarisch Emotionell stand Bruckner Schalk einerseits mit
für ein Bekanntwerden des Komponisten in der Dankbarkeit, andererseits mit skeptischem Vorbe-
musikalischen Öffentlichkeit, schließlich auch für halt gegenüber; charakteristisch für diese von
seinen Durchbruch zu internationaler Geltung; Konflikten keineswegs freie Beziehung ist Bruck-
problematisch freilich wurde ihr Einfluss auf die ners Anrede Schalks als »Herr Generalissimus«, in
Ausformung und Umarbeitung zahlreicher Werke der Anerkennung und zugleich leichte Ironie
Bruckners, besonders fragwürdig schließlich ihr mitschwingen. Josef Schalk gelang es, 1884 Arthur
selbstständiges und unautorisiertes Eingreifen in Nikisch, den Dirigenten des Leipziger Stadtthea-
die Notentexte. Diese Funktion der Schüler und ters, für Bruckners Siebte Sinfonie zu begeistern,
Freunde war seit jeher Thema eines leidenschaftli- und so kam es am 30. Dezember 1884 zur Auffüh-
chen Pro und Kontra in der Brucknerliteratur und rung dieser Sinfonie in Leipzig, womit das Tor zur
erfordert eine ganzheitliche, stets das Biographi- internationalen Bekanntheit Bruckners aufgesto-
sche einbeziehende Betrachtung. ßen wurde.
Zu Josef Schalks jüngerem Bruder Franz
(1863–1931) hatte Bruckner ein sehr herzliches,
geradezu familiäres Verhältnis; getreu seiner Ge-
Die Schüler als Freunde pflogenheit, seine Schüler mit Spitznamen zu
und Wegbereiter versehen, nannte er ihn »Francisce«. Franz Schalk
war von 1878 bis 1881 Musiktheorieschüler Bruck-
Zu den Schülern Bruckners, die sich im zeitgenös- ners am Konservatorium und gehörte dann einige
sischen Musikleben einen Namen machten und in Jahre zu dessen engstem Kreis, bis er 1884 seine
der persönlichen Umgebung Bruckners eine wich- Dirigentenkarriere begann, die ihn in rasch
tige Rolle spielten, zählen insbesondere die Brüder wechselnden Engagements nach Olmütz, Czer-
Franz und Josef Schalk und Ferdinand Löwe, nowitz, Karlsbad, Reichenberg und Graz führten.
weiters einige Privatschüler wie Friedrich Eckstein, Mit Wissen und Wollen Bruckners war er an der
Max von Oberleithner und Friedrich Klose. Umarbeitung der Dritten Sinfonie (Fassung
Mit Josef Schalk (1857–1900) verband Bruckner 1888/89) wesentlich beteiligt; eigenem Antrieb
eine intensive, aber auch ambivalente persönliche hingegen entsprang seine tiefgreifende Uminstru-
Beziehung: Josef Schalk trat Bruckner gegenüber mentierung und Kürzung der Fünften Sinfonie
als der Intellektuelle auf, der sich berufen fühlte, (1892/93), deren Uraufführung in bearbeiteter
einem – aus seiner Sicht – naiven Genie zur öf- Gestalt er am 9. April 1894 in Graz leitete (Bruck-
fentlichen Geltung zu verhelfen. 1877–80 studierte ner musste dem Ereignis krankheitsbedingt
er am Wiener Konservatorium und war hier Schü- fernbleiben). In der Schalk-Fassung wurde die
ler der Musiktheorie bei Bruckner; ab 1884 hatte Sinfonie weltweit bekannt, bis sie 1935 durch die
er eine Professur für Klavier am Konservatorium in der Bruckner-Gesamtausgabe erschienene
inne, ab 1887 war er künstlerischer Leiter des Wie- Originalfassung abgelöst wurde. Franz Schalk
ner Akademischen Wagner-Vereins. Schalks Leis- wurde 1900 Erster Kapellmeister an der Wiener
tungen für Bruckner bestehen zum einen in der Hofoper und leitete dieses Haus im Zeitraum
langjährigen Konfrontation des Wiener Musikpu- 1918–1928 als Direktor (bis 1924 gemeinsam mit
blikums (vor allem des Publikums der Musik- Richard Strauss). Neben Ferdinand Löwe galt er
abende des Wiener akademischen Wagner-Vereins) im frühen 20. Jahrhundert als der authentische
mit Brucknerscher Musik, die von ihm gemeinsam und berufene Bruckner-Dirigent schlechthin; er
mit Ferdinand Löwe oder Franz Zottmann in wurde Ehrenpräsident der Internationalen
Bearbeitungen für Klavier zu vier Händen oder Bruckner-Gesellschaft und genoss das Prestige
für zwei Klaviere präsentiert wurde, zum anderen einer unantastbaren Autorität. Dies sollte sich
im publizistischen Engagement für Bruckner, das allerdings wenige Jahre nach seinem Tod im Zuge
allerdings wegen seiner Neigung zu poetischer der Kontroverse um die Brucknerschen Original-
Metaphorik und wagnernaher Diktion mitunter fassungen tiefgreifend ändern.
36 Thomas Leibnitz

Als exzellentes pianistisches Talent erregte Fer- persönlichen Umgangs mit Bruckner gab Fried-
dinand Löwe (1863–1925) bereits früh das Interesse rich Klose (1862–1942), der 1886 bis 1889 Privatun-
seiner Umwelt; bei Bruckner absolvierte er im terricht bei Bruckner nahm, in dieser Zeit auch
Zuge seiner Unterrichtszeit am Wiener Konserva- dem privaten Kreis um den Komponisten ange-
torium (1877–81) das Studium des Kontrapunkts. hörte und mit Verwunderung das Desinteresse
Wie Josef Schalk war er ab 1884 Professor für Kla- wahrnahm, das Bruckner anderen als musikali-
vier an diesem Institut, verlagerte sein Interesse schen Gegenständen entgegenbrachte:
aber immer mehr auf die Orchesterleitung. Am 9.
»Ein Gasthaus-Abend mit Bruckner allein war übrigens
Juli 1892 trat Löwe mit der Aufführung von keine leichte Sache. Man sollte unterhalten ohne gerings-
Bruckners Dritter Sinfonie (in der Fassung von ten Anspruch auf Gegenleistung, man sollte reden, im-
1889) erstmals als Dirigent an die Öffentlichkeit, merfort reden, ohne die enge Interessen-Sphäre Bruckners
zu verlassen; man sollte ihn, den von musikalischer Arbeit
am 18. Dezember 1895 dirigierte er die Budapester Ermüdeten, zerstreuen, ohne ein Gebiet zu betreten, auf
Erstaufführung der Fünften Sinfonie. Unter seiner dem er sich hätte verloren fühlen müssen. Wo aber, als im
Leitung erklang am 11. Februar 1903 in Wien erst- Fache selbst, und da nur in ganz engen Grenzen, gab’s ein
solches für Bruckner zugängliches Gebiet? – Waren doch
mals Bruckners Neunte Sinfonie, allerdings in Lö- sogar seine musikalischen Literaturkenntnisse und sein
wes eingreifender instrumentaler Umarbeitung. Interesse für das Schaffen anderer äußerst beschränkt, von
Wie im Falle der Brüder Schalk wurden auch ihm einer Befähigung, auf allgemein künstlerische Fragen
postum die unautorisierten Eingriffe in die Bruck- einzugehen, nicht zu reden. Dazu kam ein Mangel an
Sinn für Naturschönheiten, der der Verständnislosigkeit
nerschen Notentexte zum Vorwurf gemacht. für das Außenleben überhaupt völlig die Waage hielt;
Eine wichtige Rolle spielten in Bruckners Um- kurz, es offenbarte sich hier eine Begrenztheit, wie sie
gebung auch dessen Privatschüler, die dem Kom- vielleicht noch bei keiner großen Künstlererscheinung
zutage getreten ist.« (Klose 1927, 115)
ponisten in vielen Fällen freundschaftlich verbun-
den blieben. Friedrich Eckstein (1861–1939) lernte Konsequenterweise vermieden deshalb die Schüler
Bruckner 1879 kennen; ab 1881 entwickelte sich und Freunde die Zweisamkeit mit Bruckner und
ein regelmäßiger und vertrauter Umgang. 1884 zogen es vor, einen Kreis um ihn zu bilden. Auch
wurde der als »Polyhistor« bezeichnete und auf hierfür geben Kloses Erinnerungen anschauliche
vielen Wissensgebieten beschlagene, von Bruckner Beispiele:
scherzhaft »Samiel« gerufene Friedrich Eckstein
Privatschüler Bruckners, in der Folgezeit auch »Wie nicht anders zu erwarten, war es bei der Dürftigkeit
des Konversationsstoffes oft recht unerquicklich, mit dem
dessen »freiwilliger Privatsekretär«. Er unterstützte Meister allein zu sein, was die Freunde bewog, möglichst
den Komponisten sowohl ideell als auch finanziell, zu Mehreren bei den Gasthaussitzungen zu erscheinen.
indem er großteils die Druckkosten für das 1885 Bruckner, der nicht mit Unrecht fürchtete, in größerer
Gesellschaft möchte sich das Gespräch auf einem ihm
bei Rättig erschienene Te Deum übernahm. Als unzugänglichen Niveau bewegen und er dadurch von der
Bruckner-Bearbeiter spielte Eckstein keine Rolle, Unterhaltung ausgeschlossen sein, liebte solchen Massen-
doch trug er zur Bruckner-Literatur bei, indem er zuspruch nicht. ›Jetzt kummt’s olle z’samm daher, und
dann sitz i wieda a paar Tag allani. Könnt’s euch denn net
1923 seine Erinnerungen an Anton Bruckner veröf- verteiln.‹ Mißtrauisch und schlau, wie er war, ahnte er,
fentlichte. Ebenfalls zu den Brucknerschülern, die dass wir uns verabredet hatten. Dies verriet seine anfäng-
ihre Erinnerungen an den Lehrer schriftlich nie- lich meist etwas gereizte Stimmung, die aber jedes Mal
derlegten, zählt Max von Oberleithner (1868–1935), bald einer heiteren Zufriedenheit Platz machte, wenn wir
die Unterhaltung in den gesteckten Grenzen hielten.
der im 20. Jahrhundert als Theaterkapellmeister Entgleisungen wusste dann der Meister mit Humor kurz
und Komponist hervortrat; einen kurzzeitigen und bündig einzurenken. ›Hoch, Herr X‹, rief er, das Glas
Erfolg erzielte seine Oper Der eiserne Heiland erhebend, einmal einem Unglücksmenschen zu, der von
Goethe zu reden begann, ›Hoch, Herr X, und jetzt
(1917). Oberleithner sorgte auch materiell für schnupf ’n ma amal und san wieder lusti.‹« (Klose 1927,
Bruckner, indem er gemeinsam mit Josef Schalk 128)
und Carl Almeroth 1890 in Steyr ein »Consor-
tium« von Mäzenen gründete, das Bruckner die Diese Distanz zur Sphäre des Literarischen und
Dotation am Konservatorium ersetzte und ihm Intellektuellen brachte es mit sich, dass Bruckner
damit mehr Schaffenszeit ermöglichte. nicht die Fähigkeit zur sprachlichen Selbstinter-
Eine sehr lebendige, pointierte Schilderung des pretation besaß – seine wenigen diesbezüglichen
Bruckner und seine Schüler 37

Versuche in Briefen bestätigen diese Feststellung Sinfonie (in zweiter Fassung) am 16. Dezember ein
eher, statt sie zu widerlegen. Er war daher auf die Aufführungsfiasko erlebte, in Wien weiterhin
Hilfe literarisch versierter Freunde angewiesen, musikalisch zu Wort kam – auch wenn es sich
und seine Schüler sprangen willig ein. In seinem meist bloß um Klavieraufführungen der Sinfonien
Bruckner-Artikel von 1884, der in den Bayreuther im Bösendorfersaal handelte. Vor allem Josef
Blättern erschien und den Komponisten erstmals Schalk bewies hier unermüdliches Engagement;
über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt seine Partner waren Franz Zottmann und Ferdi-
machte, machte Josef Schalk aus der Not der Illi- nand Löwe. Dass Bruckner bei solchen Gelegen-
terarität Bruckners eine Tugend und interpretierte heiten keineswegs bloß »kindliche Einfalt« aus-
sie als ein Stück unverbildeter Natur im Kontrast strahlte, sondern sich als sehr kritischer und
zur Scheinwelt der »gebildeten Gesellschaft«, wo- schwieriger Partner erweisen konnte, sollte Schalk
mit er freilich die Grundlage so mancher Klischee- mehrmals erfahren. Im März 1887 wollten er und
bildung der Folgezeit schuf: »Kindliche Reinheit Franz Zottmann Bruckner mit der Klavierauffüh-
und Unbefangenheit, unbegreifliche Ausseracht- rung der Fünften Sinfonie im Bösendorfersaal
lassung und Unkenntnis aller und jeder Le- überraschen. Klose berichtet über Bruckners Re-
benspraxis kennzeichnen ihn als Meister wie als aktion: »Nun befand sich gerade damals der Meis-
Künstler. Ein feuriger Geist, ein tiefes und überaus ter in einer Periode schlechter Laune. Meine Tage-
zartes Gemüth, von jenem starken, goldenen Hu- buch-Notizen, offenbar in der Aufwallung jugend-
mor durchzogen, der als echt deutsch leider so lichen Grimmes geschrieben, nennen Bruckners
selten geworden ist, – so geht er einsam durch’s Benehmen den Freunden gegenüber ›närrisch‹,
Leben. […] Jene Nichtbeachtung äusserer Um- ›rüppelhaft‹, ›unverschämt‹. Diese seine Stimmung
gangsformen, der Mangel jenes Surrogates, das war wohl auch der Grund, dass er, als Schalk ihn
man heute ›allgemeine Bildung‹ nennt, vermöge zur erwähnten Veranstaltung einlud, vermeinend,
dessen aber jeder eigentlich nur bemüht ist über ihm damit eine Freude zu bereiten, in Wut geriet
das zu plaudern, wovon er gerade am wenigsten und erklärte, man hätte ihn erst um Erlaubnis
versteht, und vor Allem das Vermissen äusserer fragen müssen; da dies nicht geschehen, verbiete
Erfolge, dem Trotz zu bieten die eigene Ueberzeu- er die Aufführung« (Klose 1927, 140). Schalk ge-
gung nicht stark genug war, entfremdete ihm die lang es, einen Kompromiss zu erreichen: Die
Allermeisten bald genug, die ihm ein rasch ent- Aufführung sollte verschoben, zusätzliche Proben
zündetes Interesse geschenkt hatten« (Schalk unter Bruckners Leitung sollten eingeschoben
1884). Was Schalk hier als »Unkenntnis aller und werden. Bei diesen Proben kehrte Bruckner den
jeder Lebenspraxis« bezeichnete, fiel auch anderen »Lehrer« im Sinne der Autoritätsperson ostentativ
Schülern auf, etwa August Stradal, der mehrmals heraus und machte deutlich, dass er – analog zu
Gelegenheit hatte, Bruckner und Brahms im Ge- seiner eigenen Devotion Autoritäten gegenüber –
spräch zu beobachten: von seinen (auch ehemaligen) Schülern Unterwer-
fung verlangte. Klose berichtet über den Fortgang
»Manchesmal wenn ich mit Bruckner im Restaurant Igel
nachtmahlte, kam Brahms und setzte sich zu uns. Ich der Ereignisse: »Bruckner, beleidigt, dass man für
getraute mich natürlich nicht zu reden und beobachtete die Veranstaltung nicht ausdrücklich seine Einwil-
nur. Es wurde nie zwischen den beiden Männern von ligung eingeholt, hatte sich mit dem Eigensinn des
Musik gesprochen, meistens drehte sich das Gespräch um
Alltägliches, auch oft wurde über die Lieblingsspeisen oberösterreichischen ›Mostschädels‹ vorgenom-
beider debattiert. Brahms war gegenüber Bruckner sehr men, alles schlecht zu finden, lediglich um Recht
herablassend und kühl bis ins Herz hinein, während zu behalten, dass ohne ihn eine Aufführung des
Bruckner in kindlicher Einfalt sein Herz preisgab und
sogar so unvorsichtig war, vor Brahms über Hanslick sich
Werkes in seinem Sinne nicht zustande kommen
zu beklagen! Ärgerlich war ich stets, dass Bruckner gegen- könne. Die Partitur auf dem Schoß saß er in der
über dem verschlossenen Brahms so sehr devot war und ersten Reihe und unterbrach unaufhörlich bald
ihm auch einmal, wie ein Kellner, das Bier vom Schank mit der Behauptung, eine thematische Mittel-
holte.« (Stradal 1932, 860)
stimme komme zu wenig heraus, oder, er höre
Es war vor allem das Verdienst der Schüler und diese oder jene Figuration überhaupt nicht, bald
Freunde, dass Bruckner nach 1877, als die Dritte mit der Erklärung, bei so verschwommenem Vor-
38 Thomas Leibnitz

trag könne kein Mensch das kontrapunktische Seitenblick auf öffentliche Wirkung lautete Josef
Gefüge verstehen. Dabei vermochten ihm die Schalks höchst private, brieflich seinem Bruder
Spieler bei den Fortestellen nie genug zu tun, Franz mitgeteilte Gesamtwertung der Person An-
wenngleich sie sich fast die Finger blutig schlugen ton Bruckners: »Wir dürfen uns wahrlich glücklich
und am Ende ihrer Kräfte waren« (Klose 1927, preisen, der einzigen, letzten Riesengestalt unserer
142). Entspannung brachte erst die Aufführung Kunstgeschichte so innig vertraut und nahe zu
vom 20. April 1887: Das Publikum reagierte mit stehen« (Leibnitz 1988, 18). Nähe, Unterstützungs-
anhaltendem Beifall, was Bruckner bewog, sich bereitschaft, aber auch Eigenmächtigkeit Bruckner
bei seinen Interpreten zu bedanken. gegenüber bestimmen schließlich auch das hei-
Eine ähnliche Erfahrung machte Josef Schalk kelste und historisch wichtigste Kapitel dieser
bei der Vorbereitung der von ihm geleiteten ersten Schüler-Lehrer-Beziehung, die Frage der Eingriffe
konzertanten Aufführung der f-Moll-Messe im in Bruckners Notentexte.
Großen Musikvereinssaal am 23. März 1893. Wie-
der hatte Bruckner an den Proben teilgenommen
und sich dabei so verhalten, dass Schalk auch noch
nach der erfolgreichen Aufführung in seinem Brief Die Schüler als Bearbeiter
an seinen Bruder Franz mit Verbitterung erfüllt der Werke Bruckners
war: »Bruckner freilich hat mir die Hölle heiß
genug gemacht und in den letzten Proben mich Die Einflussnahmen der Schüler Anton Bruckners
derart gequält, dass nur eine Stimme allgemeiner auf das Kompositionswerk ihres Lehrers manifes-
Empörung gegen ihn herrschte. Es ist wirklich tierten sich in drei unterschiedlichen Bereichen: in
unmöglich in seiner Gegenwart weiter etwas für Gespräch und Diskussion um die Ausführung
ihn zu leisten« (Leibnitz 1988, 177). bestimmter Stellen, in Bearbeitungen, von denen
Zerwürfnisse wie diese konnten zwar beigelegt Bruckner wusste und die er auch billigte, und
werden, hinterließen aber Spuren. Bruckner, für schließlich in Bearbeitungen der Schüler, die ei-
den der Kreis der Schüler und Freunde das einzige genmächtig und ohne sein Wissen stattfanden. In
soziale Bezugsfeld darstellte, suchte einerseits allen drei Bereichen kommen charakteristische
menschliche Nähe und Gesellschaft, wollte aber Aspekte der Schaffensweise Bruckners und seiner
andererseits den Autoritätsstatus des ehemaligen psychosozialen Disposition zum Tragen.
Lehrers nicht aufgeben. Dadurch kam es in der Es dürfte sicherlich in der Musikgeschichte nur
Beziehung zu seinen Schülern zu einer Kette von selten vorgekommen sein, dass ein Komponist
Annäherungen und Entfremdungen, die bis in von Rang in einem Ausmaß, wie Bruckner es tat,
sein hohes Alter hinein anhielt. Im Jänner 1893, seine Umgebung in den Prozess des künstlerischen
nunmehr fast siebzig Jahre alt, beklagte sich Schaffens einbezog, um Rat bat und auch Rat
Bruckner bei August Göllerich über seine Verein- annahm. Insbesondere mit der romantischen Ge-
samung: »Ich fühle mich total verlassen! Niemand nieästhetik, die im frühen 19. Jahrhundert aufkam,
will kommen, oder doch höchst selten. Der Wag- scheint ein solches Verhalten nur schwer vereinbar
ner-Verein ist ihnen alles! Selbst Oberleithner ist zu sein, und auch noch im 20. Jahrhundert be-
nur dort! H.[err] Schalk scheint ihn ins Garn ge- stärkte diese Ästhetik bei manchen ›Verteidigern‹
zogen zu haben« (Göll.-A. 4/3, 527). Sicherlich Bruckners wie etwa Robert Haas die Tendenz, die
mag bei Bruckner auch Eifersucht eine Rolle ge- Partizipationsvorgänge um Bruckner als brutale
spielt haben, da insbesondere Josef Schalk ab 1887 Manipulation durch eine ehrgeizige Schülerclique
Hugo Wolf »entdeckte« und sich für ihn im zu interpretieren, die dem Komponisten ihre An-
Wagner-Verein intensiv engagierte. Andererseits sichten aufgezwungen und ihn gewissermaßen
wurde Ferdinand Löwe als einer der drei Zeugen unter Kuratel gestellt habe. Eine solch schroffe
für Bruckners Testament herangezogen, und eben- Interpretation hält den historischen Fakten freilich
falls auf Bruckners Wunsch erfolgte die Bestellung keineswegs stand. Zum einen ist kaum zu leugnen,
von Löwe und Josef Schalk als Sichter seines dass die Anstöße zur Partizipation in den meisten
Nachlasses (Doebel 2001, 129). Und ohne jeden Fällen von Bruckners selbst ausgingen, und zum
Bruckner und seine Schüler 39

anderen berechtigt nichts zu der Annahme, dass der Werke festgelegt wurde. […] Es ist gewiß, daß
die Schüler und Freunde, die in ihrem Engage- die genannten Dirigenten Bruckner Ratschläge,
ment für Bruckner durchaus persönliche Opfer mindestens zu Instrumentationsänderungen ga-
brachten, von selbstsüchtigen Motiven geleitet ben, auch zu Änderungen der Tempo- und Stärke-
worden wären. Dass sie in manchen Fällen über bezeichnungen« (Leibnitz 1988, 274). Welche Än-
das Ziel hinausschossen, braucht deshalb nicht derungen das Ergebnis dieser Beratungsgespräche
geleugnet zu werden. darstellen, wird sich nie exakt feststellen lassen.
Die Einflussnahme blieb überdies nicht auf Dokumentiert sind bloß einige Einzelfälle, die im
den Kreis Löwe-Schalk beschränkt. Bereits 1867, Briefwechsel der Brüder Schalk erwähnt werden.
so Max Auer, zeigte sich Bruckner für Rat und Ein berühmtes Beispiel stellt etwa der umstrittene
Urteil seines früheren Schülers Karl Waldeck emp- Beckenschlag im Adagio der Siebten Sinfonie dar
fänglich. Er spielte diesem eine Version des Incar- (vgl. dazu die Abbildung 10 auf S. 194); Josef
natus seiner im Entstehen begriffenen f-Moll-Messe Schalk schrieb am 10. Jänner 1885 an seinen Bruder
vor und bat um Waldecks Meinung; als dieser re- Franz: »Neulich haben ich u. Löwe mit Bruckner
serviert reagierte, improvisierte Bruckner den Teil die Partitur der 7. durchgegangen bezüglich eini-
neu. »Auf Bruckners Frage: ›Wie gefällt dir nun ger Änderungen u. Verbesserungen. Du weißt
dieses ›Incarnatus‹? erwiderte Waldeck: ›Das ist vielleicht nicht dass Nikisch den von uns ersehn-
freilich etwas anderes, herrlich!‹, worauf Bruckner ten Beckenschlag im Adagio (C dur 6/4 Akkord)
erklärte: ›Nun gut, dann soll’s so bleiben‹« (Auer sowie Triangel und Pauken durchgesetzt hat, was
1947, 207). Eine sehr ähnliche Begebenheit schlägt uns unbändig freut« (Leibnitz 1988, 274). Im Falle
den Bogen zu Bruckners Spätwerk: »Im Frühjahr der Achten Sinfonie schloss sich Josef Schalk dem
1889 besuchte Bruckners erwählter Biograph Au- ablehnenden Urteil Hermann Levis über die Erst-
gust Göllerich den Meister in seiner Wohnung. fassung an und riet zur Umarbeitung, die offen-
Bruckner spielte mit ihm Teile des ersten Satzes sichtlich wieder in engem Kontakt mit dem Bera-
der ›Neunten‹, und zwar den Diskant. Der Meister terkreis erfolgte: »Bruckner ist vorgestern mit der
legte darauf dem Freunde noch ein zweites Thema neuen Bearbeitung der VIII. fertig geworden. Der
vor und fragte ihn, ob ihm dieses oder das ur- erste Satz schließt nunmehr nach unser aller
sprüngliche, in die Oktave herabstürzende Thema Wunsch pianissimo« (Leibnitz, 1988, 274). Und
besser gefalle. Göllerich entschied sich sofort für einer der eindeutigsten Belege für Bruckners
das ursprüngliche, wuchtige Thema mit der Triole, Wunsch nach Beratung ist Josef Schalks Brief vom
worauf Bruckner erwiderte: ›Na, ’n Herrn Gölle- 26. November 1888: »Als ich neulich abends in der
rich zu lieb soll’s so bleiben!‹« (Auer 1947, 480). ›Kugel‹ mit ihm zusammensaß, wurde er nicht
In keinem der beiden Fälle kann wohl behaup- müde, von dir und seiner herzlichen Neigung zu
tet werden, der jeweilige Dialogpartner hätte sich dir zu sprechen, so dass ich ganz gerührt war. Jede
›eingemischt‹ oder Bruckner seine Meinung ›auf- der vielen Änderungen, die er jetzt mit außeror-
gezwungen‹. Der ehrliche Respekt, den die Brüder dentlich angestrengtem Fleiße an der 8. od. 3.
Schalk in ihrem privaten Meinungsaustausch vornimmt, wünschte er vor allem dir und deinem
Bruckner gegenüber bekunden, lässt auch in ih- Urtheil zu unterbreiten« (Leibnitz 1988, 275).
rem Fall den Vorwurf wenig plausibel erscheinen, Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt zur
sie hätten sich als Schüler dem verehrten Lehrer nächsten Stufe der Partizipation: zu selbstständig
gegenüber eine Beraterrolle angemaßt; alles spricht durchgeführten, aber von Bruckner gebilligten
dafür, dass auch hier die Initiative von Bruckner Änderungen. Ein exemplarischer Fall für eine
ausging. Jedenfalls hätte dieser Diskussionen um solche Verschränkung von Authentizität und
kompositorische Details genau so energisch unter- Fremdeingriff liegt bei der Fassung der Vierten
binden können, wie er andere, ihm nicht genehme Sinfonie von 1887/88 vor. Am 9. Mai 1887 schrieb
Gesprächsthemen abblockte. Das Gegenteil war Josef Schalk seinem Bruder, Löwe habe die »Ro-
der Fall; Friedrich Eckstein berichtet: »Ich weiß, mantische in vielen Theilen, sehr vortheilhaft und
wie in überlangen Besprechungen Bruckners mit mit Bruckners Zustimmung uminstrumentiert«
Josef und Franz Schalk und mit Löwe jede Note (Leibnitz 1988, 127). Das heißt: Bruckner akzep-
40 Thomas Leibnitz

tierte hier prinzipiell eine Umarbeitung von frem- Schüler, die man aber vor Bruckner nicht geheim-
der Hand. Die Stichvorlage des Erstdrucks, die hielt: Er wurde bei der Aufführung vor »vollendete
1939 im Besitz Hans Löwes, des Sohnes Ferdinand Tatsachen« gestellt, und der Aufführungserfolg –
Löwes, aufgefunden wurde, zeigt, dass Bruckner eine für den Komponisten durchaus bedeutende
sie nicht nur sah, sondern auch mehrmals durch- Kategorie – sollte ihn von der Sinnhaftigkeit der
arbeitete. Das späteste Datum in dieser Abschrift Eingriffe überzeugen. So geschah es etwa im Falle
ist der 18. Februar 1888 (am 22. Jänner des Jahres der Aufführung der f-Moll-Messe 1893, in deren
war das Werk erstmals in der Löwe-Bearbeitung Orchestersatz Josef Schalk Änderungen anbrachte,
aufgeführt worden und hatte großen Erfolg er- die Bruckner – aus Schalks Sicht – durch Schwei-
zielt). Die Sinfonie erschien nach etlichen Verzö- gen legitimierte: »Am meisten freute mich natür-
gerungen im Jahr 1889; Bruckner hätte also Zeit lich, dass sich die Bearbeitung des Orchesters so
gehabt, seine Meinung zu ändern und auf dem gut bewährte. Bruckner thut als hätte er nichts
Druck seines Originals zu bestehen. Tatsache ist, bemerkt und sagt gar nichts über diesen Punkt, ist
dass dies nicht der Fall war, dass er die Veröffent- mir ganz recht« (Leibnitz 1988, 278). Josef Schalk
lichung der Löwe-Bearbeitung bewusst zuließ. kooperierte bereits 1891 mit Max von Oberleithner
Dieses Faktum dürfte ausschlaggebend dafür ge- bei der Drucklegung der Achten Sinfonie und regte
wesen sein, dass die Fassung von 1888 im Jahr 2004 eine Reihe von nicht sehr eingreifenden, aber mit
auch in der Bruckner-Gesamtausgabe erschien, Bruckner nicht abgesprochenen Instrumenta-
nachdem sich diese bisher stets scharf von den tionsänderungen an. Dabei fielen in der Korres-
»verfälschten« Erstdruckfassungen distanziert pondenz mit Oberleithner die bemerkenswerten
hatte. Benjamin Korstvedt, der die »Löwe-Fas- Sätze: »Bitte treiben Sie nur den Verleger wegen
sung« edierte, merkte im Vorwort an: »Die Partitur der Correcturen. Wenn Bruckner bei einer Probe
der IV. Sinfonie, die für die Aufführung im Jänner aus der geschriebenen Partitur mitlesen müsste,
1888 eingerichtet wurde, mag sicher einige Zusätze wären alle unsere guten Absichten vereitelt und
enthalten, die von Löwe und den Brüdern Schalk wir würden uns statt seines Dankes vielleicht gar
betrieben wurden, jedoch Bruckners eindeutige seinen Fluch verdienen« (Leibnitz,1988, 276).
Billigung dieses Textes, seine sorgfältige Durch- Von hier aus führte nur noch ein kleiner, aber
sicht nach der Uraufführung und seine Entschei- bedeutender Schritt zur Praxis der selbstständigen
dung zur Drucklegung zeugen von ihrer Authen- Neubearbeitung ganzer Werke, wie sie im Falle der
tizität« (NGA IV/3, XV). Ein ähnlicher Fall liegt Fünften Sinfonie von Franz Schalk, im Falle der
bei der dritten Fassung der Dritten Sinfonie von Neunten Sinfonie von Ferdinand Löwe durchge-
1888/89 vor, an deren Endgestalt Franz Schalk führt wurde. Franz Schalk sah während seiner
entscheidenden Anteil hatte. Bruckner verwendete Kapellmeisterzeit in Graz 1893 die Möglichkeit,
für die ersten drei Sätze die Bögen des Erstdrucks, Bruckners Fünfte Sinfonie, die bisher in Orchester-
in denen er seine Änderungen eintrug, das Finale gestalt noch nicht erklungen war, erstmals aufzu-
hingegen stammt von der Hand Franz Schalks, führen. Nach Durchsicht der Originalpartitur
der an drei Stellen Kürzungen vornahm und neue kam er zu der Ansicht, dass das Werk einer ein-
Übergänge einführte. Die ersten beiden Kürzun- greifenden Bearbeitung bedürfe, die er im Laufe
gen akzeptierte Bruckner, die dritte ersetzte er des Jahres 1893 auch durchführte; die Änderungen
durch eine Neukomposition, wobei die von Schalk betrafen die Form, die Instrumentation, die Mo-
stammenden Überleitungstakte bestehen blieben. tivik im Detail und die Dynamik. Im Finale der
Dies bekräftigt der Brief Josef Schalks an seinen Sinfonie erfolgte der markanteste Eingriff: Schalk
Bruder vom 10. Juni 1888: »Deine Striche und kürzte es um insgesamt 123 Takte, wobei vor allem
Übergänge sind übrigens beibehalten worden« die Reprise des Haupt- und des Seitenthemas
(Leibnitz, 1988, 268). wegfiel und die Durchführung somit direkt in die
Parallel zu diesen gemeinsam mit Bruckner Coda mit ihrer großen Schluss-Steigerung über-
durchgeführten Umarbeitungen, die freilich mit ging. In der Instrumentation und der dynamischen
langwierigen Diskussionen verbunden waren, kam Gewichtung kommt Schalks klangliche Orientie-
es immer wieder zu selbstständigen Eingriffen der rung an Wagner zum Ausdruck; die Klangentfal-
Bruckner und seine Schüler 41

tung der Blechbläsergruppe wurde eingedämmt, mächtig verunstaltet und durch Publikation dieser
besonders Posaune und Tuba häufig reduziert. In Bearbeitungen ein falsches Bild Bruckners eta-
allen vier Sätzen wurde dem Instrumentarium bliert. Dieser öffentliche Angriff, der das Bild des
eine dritte Flöte beigefügt, im Finale das Kontra- Brucknerkreises in der Musikforschung der fol-
fagott und beim Schlusschoral außer dem erhöht genden Jahrzehnte unter ein negatives Vorzeichen
aufzustellenden zweiten Bläserchor auch Triangel stellte, hinderte Haas freilich nicht daran, als Edi-
und Becken. Der zusätzliche Bläserchor in der tor ebenfalls eigenmächtig vorzugehen: Er gab im
Coda war die einzige Änderung, die mit Zustim- Rahmen der Alten Gesamtausgabe die von Bruck-
mung Bruckners erfolgte. ner stammenden Fassungen der Zweiten und der
In dieser Bearbeitung wurde die Sinfonie am 9. Achten Sinfonie nicht als eigenständige Entwick-
April 1894 in Graz uraufgeführt und errang großen lungsschritte separat heraus, sondern kompilierte
Erfolg. Die Brüder Schalk hatten nicht vor, diese diese jeweils zu »Idealfassungen«, die in dieser
Fassung vor Bruckner geheim zu halten, sondern Form ebenfalls Bearbeitungen darstellten (AGA II
planten eine Aufführung in Wien in Bruckners [1938]; AGA VIII [1939]).
Beisein, zu der es aus bloß organisatorischen Ein aus Sicht der Gegenwart skizziertes Bild
Gründen nicht kam. Daraus kann abermals auf des Kreises um Bruckner wird zwar weiterhin
die Intention geschlossen werden: Bruckner sollte kritische Vorbehalte anbringen, den Bruckner-
durch einen Aufführungserfolg überzeugt werden. schülern aber zubilligen, dass sie von gutem Willen
Nach Bruckners Tod bearbeitete Ferdinand Löwe und von Begeisterung für das Werk ihres Lehrers
die Neunte Sinfonie, und auch in diesem Fall trat motiviert waren. Wenn sie auch nicht immer den
das Werk seinen weltweiten Siegeszug in einer Punkt erkannten, wo ihre Hilfsbereitschaft in Ei-
nicht von Bruckner selbst stammenden instru- genmächtigkeit umzuschlagen drohte, stehen sie
mentalen Einkleidung an und wurde auch in die- dennoch in keiner Phase ihres Engagements für
ser Gestalt gedruckt. Bruckner im Verdacht, ihr eigenes Prestige auf
Zu einer großen Kontroverse über die Frage, Kosten des Komponisten im Auge gehabt zu ha-
ob die Originalfassungen oder die von Schülern ben. Über die instrumentalen Einkleidungen, mit
stammenden Erstdruckfassungen der Sinfonien der sie zwischen Bruckners Werk und der zeitge-
Vorrang haben sollten, kam es in den 1930er Jah- nössischen Öffentlichkeit zu vermitteln trachteten,
ren. Robert Haas, der Editionsleiter der Bruckner- hat die Geschichte ihr Urteil gesprochen, wenn-
Gesamtausgabe, richtete 1936 schwere Angriffe gleich dieses Kapitel weiterhin ein überaus interes-
gegen den Kreis um Bruckner: Man habe den santes Feld der Rezeptionsforschung darstellt.
Komponisten entmündigt, seine Werke eigen-

Literatur

Adler, Guido: Wollen und Wirken. Aus dem Leben eines Klose, Friedrich: Meine Lehrjahre bei Bruckner. Erinne-
Musikhistorikers. Wien 1935. rungen und Betrachtungen. Regensburg 1927.
Auer, Max: Anton Bruckner. Sein Leben und Werk. Leibnitz, Thomas: Die Brüder Schalk und Anton
Wien 1947. Bruckner. Dargestellt an den Nachlassbeständen in
Doebel, Wolfgang: Bruckners Sinfonien in Bearbeitun- der Musiksammlung der Österreichischen National-
gen. Die Konzepte der Bruckner-Schüler und ihre bibliothek. Tutzing 1988.
Rezeption bis Robert Haas (= Publikationen des In- Oberleithner, Max von: Meine Erinnerungen an Anton
stituts für österreichische Musikdokumentation 24). Bruckner. Regensburg 1933.
Tutzing 2001. Schalk, Josef: Anton Bruckner. In: Bayreuther Blätter,
Eckstein, Friedrich: Erinnerungen an Anton Bruckner. Oktober 1884, 1–6.
Wien 1923. Stradal, August: Erinnerungen aus Bruckners letzter
Grasberger, Franz: Anton Bruckner zwischen Wagnis Zeit. In: Zeitschrift für Musik 99 (1932), H. 10, 853–
und Sicherheit. Linz 1977. 860.
42

Bruckner und die Orgel


von Andreas Jacob

Bruckners musikalischer Werdegang war über Ausbildung und erste Anstellungen


lange Jahrzehnte hinweg mit dem Orgelspiel ver-
knüpft. Zunächst und in erster Linie erlebte Bruckner wurde früh ans Orgelspiel herangeführt,
Bruckner die Orgel als funktional gebundenes wenn er in Ansfelden – folgt man den Ausführun-
Musikinstrument im kirchlichen, liturgischen gen bei Göllerich-Auer – »schon mit zehn Jahren
Rahmen. Als konzertierender Organist jenseits des während des [Hoch-] Amtes spielen durfte«
kirchenmusikalischen Kontexts trat Bruckner vor (Göll.-A. 1, 83). (Dies stellt im Übrigen zwar einen
allem während seiner Wiener Jahre in Erschei- erwähnenswerten, jedoch noch keinen herausra-
nung, also als bereits etablierter Professor unter genden Umstand dar, bedenkt man das sicherlich
anderem für das Fach Orgel. Hierbei waren es vor nicht überzogene Erwartungsniveau vor Ort.)
allem seine Leistungen als fesselnder Improvisator, Den Beginn einer professionellen Ausbildung
auf die sich seine Reputation stützte, und weniger bilden auch in Hinblick auf den Umgang mit der
sein Repertoire im Literaturspiel oder spieltechni- Orgel die Jahre bei Johann Baptist Weiß in Hör-
sches Virtuosentum. Insofern lässt sich sagen, dass sching (1835–37). Doch sollte man sich von dem,
die Orgel beruflich wie künstlerisch lange Zeit was Bruckner hier an Literatur wie Spieltechnik
einen zentralen Stellenwert für den Musiker ein- kennenlernen konnte, keine übertriebenen Vor-
nahm, ohne dass er zu jener Zeit als Orgelkompo- stellungen machen: Wie Othmar Wessely nach-
nist oder als Konzertorganist prominent hervorge- wies, waren zu jener Zeit in den österreichischen
treten wäre. Dem entspricht zum einen das sehr Ländern klavieristische Elemente weit in die Or-
schmale Orgelœuvre Bruckners, zum anderen – gelpraxis vorgedrungen, so dass es »zu einer Art
beim transitorischen Charakter der zuvörderst Gemeinschaftsliteratur für Orgel und Klavier
gepflegten Improvisation nicht überraschend – die kam« (Wessely 1994, 61). Insofern stellen auch die
relative Ungenauigkeit des Bildes, das man sich sogenannten Hörschinger Präludien (WAB 127,
von seinen Fähigkeiten als Organist machen kann. 128), deren Echtheit überdies mehr als zweifelhaft
Vieles, was sich über das Verhältnis von Bruckner ist, vor allem einen Beleg für die Praxis präludie-
zur Orgel aussagen lässt, darf als kennzeichnend render Stücke mit Kadenz etwa bei Joseph Preindl
für die zeitgenössische kirchenmusikalische Praxis einerseits, für Ausprägungen des Toccatentypus in
in Oberösterreich angesehen werden. Somit lassen Nachfolge von Albrechtsberger oder Michael
sich sozialgeschichtliche Einblicke in die regiona- Haydn andererseits dar. Wie ebenfalls Wessely
len Bedingungen des Berufsmusikertums gewin- zeigte, waren derartige Formen im direkten Um-
nen, bei denen nicht unbedingt Anspruch auf feld des Hörschinger Schulmeisters Weiß anzu-
künstlerische Autonomie oder ein gesteigertes treffen, nämlich bei dessen Onkel Anton Weiß
Kunstideal erhoben wurde. (Wessely 1994, 73).
Vertieften Einblick ins Orgelspiel gewann
Bruckner daraufhin während seiner Zeit als Sän-
Bruckner und die Orgel 43

gerknabe im Stift St. Florian (1837–40) bei Anton Orgeln und Orgelbauer
Kattinger, der einen ausgezeichneten Ruf als Or- um Bruckner
ganist und insbesondere als Improvisator genoss.
Kattingers Unterricht ist es wohl zu verdanken, Während jener frühen Jahre und auch noch in
dass Bruckner der Orgel allmählich den Vorzug Linz konnte Bruckner vor allem Orgeln des im
vor der Violine zu geben begann. Auch gewann späten 18. Jahrhundert wirkenden Orgelbauers
der Heranwachsende offenbar zunehmend an Si- Franz Xaver Chrismann kennenlernen: Chris-
cherheit im Pedalspiel. mann-Orgeln standen nicht nur im Stift St. Flo-
Während seiner ersten Anstellung in Windhaag rian (ein dreimanualiges Instrument mit 51 Regis-
1841–43 gehörte das kirchliche Orgelspiel bereits tern aus dem Jahr 1774), sondern unter anderem
zu Bruckners Pflichten als Lehrgehilfe. Diesbezüg- auch in Steyr, wohin Bruckner von Kronstorf aus
liche Förderung erfuhr er daraufhin in seinen zum Üben gelangen konnte (das 1778 gebaute
Kronstorfer Jahren (1843–45), wofür Bruckner Instrument mit zwei Manualen und 21 Registern
dem in Enns als Chorregent wirkenden Leopold bezeichnete Bruckner als sein damaliges Lieblings-
Edlen von Zenetti zeitlebens dankbar blieb. Als instrument) sowie schließlich im Alten Dom in
Bruckner 1845 die Schlussprüfung für Oberlehrer Linz (diese Orgel von 1788 – drei Manuale mit 31
an Hauptschulen absolvierte, wurde ihm nunmehr Registern – war aus Engelszell transferiert und von
immerhin »im praktischen Orgelspiel die erste Chrismann für Linz adaptiert worden). Bruckner
Klasse mit Vorzug« attestiert (Göll.-A. 1, 314). wuchs somit mit nachbarocken Instrumenten des
Zurückgekehrt nach St. Florian, wo er bald österreichisch-süddeutschen Typs auf, die über
darauf auch das Amt des Stiftsorganisten von sei- mehrere grundtönige Register verfügten. Nichts-
nem ehemaligen Lehrer Kattinger übernahm (al- destoweniger sprach sich Bruckner für das zeitge-
lerdings nie definitiv, sondern lediglich »proviso- nössische, sinfonische Klangideal und ebenso für
risch«), unternahm Bruckner weitere Anstrengun- Umbauten derartiger älterer Instrumente aus. In
gen, sich an der Orgel zu vervollkommnen: einem Brief an seinen Freund Rudolf Weinwurm
einerseits in der Improvisation, andererseits auch vom 8. März 1868 formulierte Bruckner selbst
in spieltechnischer Hinsicht, vor allem im Um- seine Vorliebe für volle Klanglichkeit von Orgeln:
gang mit dem Pedal. Verschiedene Gutachten der »Mein Spiel ist aber leider nur für größere Orgeln
Jahre in St. Florian bescheinigen Bruckner in angepaßt. Bei kleinen Orgeln geht der ganze Effect
diesem Sinne Geschick in verschiedenen Diszipli- flöten u wird sogar oft lächerlich [...]« (Briefe 1,
nen des improvisierenden bzw. prima-vista-Spiels, 80).
vom Generalbass über das Präludieren bis hin zum Ein prominentes Beispiel für die Erweiterung
Stegreifspiel kontrapunktischer (Fugen-) Sätze. vorhandener Orgelwerke von historischem Rang
Diese Mühen wurden schließlich mit dem Erfolg im Sinne einer neueren Ästhetik liefert eben jene
beim 1855 durchgeführten Probespiel um die – er- Linzer Domorgel (siehe Abbildung 7), deren etap-
neut zunächst provisorisch besetzte – Stelle des penweisen Umbau durch Josef Breinbauer bis zum
Dom- und Stadtpfarrorganisten in Linz belohnt. Jahr 1867 Bruckner bald nach Dienstantritt veran-
(Allerdings war die Konkurrenz in Gestalt des lasste. Interessanterweise wurde dabei aber zwar
Normalschullehrers Engelbert Lanz sowie des die Trakturführung geändert, nicht jedoch dafür
Unterlehrers Raimund Hain vielleicht auch nicht Sorge getragen, dass die Windführung für ein
gerade übermächtig.) Die gestellte Aufgabe be- gleichzeitiges Spiel aller Register ausgelegt würde.
stand laut Angaben der berichtenden Linzer Zei- Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf Bruckners
tung vom 15. November 1855 darin, ein ad hoc Praxis der Registrierung, für die zwar Plenoklänge
gegebenes Thema »nach streng contrapunctischen belegt sind, Tuttispiel jedoch offenbar nicht unbe-
Grundsätzen in einer vollständigen Fuge durchzu- dingt gewünscht wurde. Einen grundlegenden
führen« (vgl. Wessely 1994, 95), gehörte also erneut Umbau durch den von Bruckner sehr geschätzten
der Sphäre der Improvisation an. Orgelbauer Matthäus Mauracher d.Ä. erfuhr 1875
darüber hinaus die große Orgel in der Stiftskirche
St. Florian (nunmehr mit vier Manualen und 78
44 Andreas Jacob

Abb. 7: Linz, Alter Dom,


Orgelempore (Wien,
ÖAW, Arbeitsstelle Anton
Bruckner, Archiv)

Registern), zu deren Einweihung Bruckner spielte. fessor für »Generalbaß, Kontrapunkt und Orgel«
Und auch beim Umbau der Chrismann-Orgel in ans Konservatorium Wien berufen wurde, unter-
Steyr 1895 durch Josef Mauracher (nunmehr mit nahm er nicht allein Anstrengungen, sein Prestige
34 Registern) war Bruckner maßgeblich beteiligt. als Musiktheoretiker durch einen Lehrauftrag an
der »k.k. Universität« Wien zu festigen, sondern
bemühte sich auch um das Amt des »k.k. Hofor-
ganisten«. 1868 wurde ihm dieser Titel »exspectie-
Konzerttätigkeit an der Orgel: rend« und 1878 »wirklich« zugesprochen (siehe
Improvisation und Literaturspiel Abbildung 8). Zwar musste sich der Komponist
die Ehre dieses Titels mit anderen, heute unbe-
Bruckner scheute sich auch als installierter Dom- kannteren Musikern teilen (Ludwig Rotter, Pius
und Stadtpfarrorganist von Linz nicht, sich ver- Richter und Rudolf Bibl). Auch scheint es, als
schiedenen Prüfungen hinsichtlich seines organis- habe Bruckner als Organist der Hofkapelle nicht
tischen Könnens zu unterziehen. So wurde er 1858 unbedingt die höchste interne Wertschätzung er-
in der Wiener Piaristenkirche im Generalbass- und fahren, denn die besagten Kollegen wurden – an-
Orgelspiel, 1861 erneut in der Piaristenkirche ders als Bruckner – im Laufe der Jahre sämtlich
(dann an der neuen, von Carl Friedrich Ferdinand zum Titularvizekapellmeister oder gar (im Falle
Buckow erbauten dreimanualigen Orgel) in Lite- Pius Richters 1893) zum Vizehofkapellmeister er-
raturspiel sowie Improvisation von Fuge und freier nannt. Doch ging es ihm bei dieser zutage treten-
Fantasie examiniert. Als Bruckner 1868 zum Pro- den Umtriebigkeit offenbar nicht zuletzt darum,
Bruckner und die Orgel 45

Abb. 8: Wien, Hofburg-


kapelle, Orgelempore
(Wien, ÖAW, Arbeitsstelle
Anton Bruckner, Archiv)

seine Position im Wiener wie im internationalen Schauräumen zu spielen (hier improvisierte


Musikleben zu stärken. So bekam Bruckner bereits Bruckner über Themen aus seiner Ersten Sinfonie,
1869 die Gelegenheit, als österreichischer (und – im Publikum saß unter anderem Camille Saint-
wie sich bald herausstellte – als einziger nicht- Saëns). Aber auch an der Cavaillé-Coll-Orgel in
französischer) Vertreter bei einer festlichen Kon- Notre-Dame konnte sich der Österreicher produ-
zertreihe an der neuen, von der Firma Merklin & zieren, wobei ein großer Zuspruch der Pariser
Schütze erbauten Orgel in der Basilika St. Epvre Komponistenelite – nicht selten selbst als Orga-
in Nancy mitzuwirken. nisten tätig – zu verzeichnen war (unter anderem
Typischerweise stellte sich Bruckner dem inter- sollen César Franck, Charles Gounod, Daniel-
nationalen Publikum mit Improvisationen vor, François-Esprit Auber oder Ambroise Thomas
unter anderem über das Kaiserlied (»Gott erhalte anwesend gewesen sein).
Franz den Kaiser«), das er bei vielen derartigen Ermutigt von diesem Erfolg, bewarb sich
Auftritten als Ausgangspunkt verwendete. Der Bruckner um die Entsendung als österreichischer
Erfolg war so groß, dass ihn die Orgelbaufirma – Vertreter zu Londoner Konzerten im Crystal Pa-
die sich in Konkurrenz zu dem renommierten lace und in der Royal Albert Hall im Jahr 1871. Auf
Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll positionieren dem Programm für das Konzert an der großen
wollte – nach Paris einlud, um dort in deren Orgel der Royal Albert Hall (110 Register, damals
46 Andreas Jacob

die größte Orgel der Welt) am 2. August 1871 rende Stegreifwerke einen festen, häufig notierten
standen Bachs Toccata F-Dur (BWV 540), eine Bestandteil von Bruckners Darbietungen an der
Bachsche Fuge in E-Dur (vermutlich aus dem Orgel dar. Wenn er auch hier bestimmte Themen,
Wohltemperierten Clavier II BWV 878), eine d- etwa aus Wagners Ring oder das »Kaiserlied« be-
Moll-Fuge von Händel sowie Improvisationen vorzugt verwandte (so dass zeitgenössische Artikel
über englische Lieder, eine »Originalimprovisa- von der »Ring-Fuge« oder der »Kaiserfuge« spra-
tion« im Bruckner-Stil sowie eine Improvisation chen), dürfte es nahe liegen anzunehmen, dass
über die just davor gespielte Toccata von Bach. sich die ausgeprägten und bewährten Formen im
Derartige Improvisationen (bzw. Paraphrasen) Laufe der Jahre zunehmend verstetigten.
über Kompositionen, die Bruckner im gleichen Ein Beispiel dafür, wie Bruckner seine Impro-
Konzert unmittelbar zuvor spielte – neben Werken visationen anlegte, liefert jene Skizze, die 1890
von Bach und Mendelssohn bot sich hier auch anlässlich der Hochzeit der Kaisertochter Erzher-
wiederholt Händels »Halleluja«-Chor an – waren zogin Maria Valerie entstand: Bruckner musste für
charakteristisch für seine organistische Praxis, dieses am 31. Juli 1890 in Ischl gefeierte Großereig-
blieben aber nicht unkritisiert. So hält eine bei nis, bei dem er die Orgel spielte, die aufzuführende
Göllerich-Auer wiedergegebene Londoner Rezen- Musik beim Obersthofmeisteramt einreichen, was
sion fest, die Fantasie sei zwar originell und vor er in Form jenes auf drei Seiten eines Doppelbo-
allem in der kontrapunktischen Arbeit sehr ge- gens festgehaltenen Entwurfs tat (der als Anhang
schickt, dagegen könne man insbesondere über in die Ausgabe der Orgelwerke in der NGA aufge-
große Kompositionen nicht gewinnbringend im- nommen wurde: NGA XII/6, 18 ff.). Hierbei treten
provisieren: »Große Komponisten erschöpfen ihr im Prä- bzw. Postludium das Haupt- bzw. Seiten-
Thema. Nichts kann man zum Hallelujachor thema des Finalsatzes der Ersten Sinfonie in Er-
hinzufügen, nichts zur Tokkata von Seb. Bach« scheinung, die Bruckner zu jener Zeit gerade
(vgl. Göll.-A. 4/1, 156 f.). überarbeitete (ein Gedanke, der allerdings von
Nichtsdestoweniger erwiesen sich die Konzert- offizieller Seite als »nicht passend« zurückgewiesen
improvisationen Bruckners als überaus wirkungs- wurde; vgl. Horn 2001, 155). Typisch ist das Ein-
voll und trugen dazu bei, seinen Ruf als Organist flechten des Händelschen »Halleluja«-Chores, von
bei weiten Teilen des Publikums zu vergrößern. dem das Kopfmotiv als Fanfare eingesetzt und
Insbesondere fanden nunmehr häufig zeitgenössi- dessen Fugenthema (»Und er regiert von nun an
sche Themen Verwendung: Neben Motiven aus auf ewig«) zu einem eigenen Fugato herangezogen
eigenen Werken (wie der f-Moll-Messe, dem Finale wurde. Doch auch der mögliche (und schließlich
der Ersten Sinfonie oder den jeweils gerade kompo- tatsächlich erfolgende) Einsatz des »Kaiserlieds«
nierten Sinfonien) waren es immer wieder Stellen war vorgesehen. Bemerkenswert ist darüber hin-
aus den Musikdramen von Richard Wagner, die aus, dass auch in jener Skizze Taktanzahlen von
Bruckner zugrunde legte – insbesondere die Spät- achttaktigen Gruppen eingetragen sind, wodurch
werke Götterdämmerung und Parsifal boten sich kein Zweifel an der möglichst ebenmäßigen An-
hierbei an. Beispielsweise wurde das Requiem für lage selbst von Improvisationen aufkommen
Franz Liszt in der Bayreuther Schlosskirche am 4. kann.
August 1886 mit einer Fantasie über den »Verhei- Verschiedentlich wurde über den etwaigen
ßungsspruch und das Glaubensthema« (vgl. Göll.- Zusammenhang von Bruckners Organistentätig-
A. 4/2, 494) aus Parsifal beschlossen. keit (insbesondere als Improvisator) und seinem
Besondere Bewunderung riefen die kontra- orchestralen Schaffen spekuliert, etwa wenn Erwin
punktischen Improvisationen Bruckners hervor, Horn auf »[o]rgelgemäße Strukturen in der Sinfo-
bei denen er seine handwerkliche Versiertheit im nik Anton Bruckners« hinweist (so der Titel von
fugierten bzw. imitierenden Tonsatz zeigen konnte. Horn 1988) oder Karl Schütz umstandslos behaup-
Unabhängig davon, ob alles, was das Publikum tet, Bruckners Sinfonien entsprächen »großange-
des 19. Jahrhunderts als »Fuge« bezeichnete, die- legten Orgelimprovisationen« (Schütz 1975, 272).
sem musikalischen Terminus im strengen Sinne Nun gibt es neben der Größe der Klangkörper
entsprochen haben mag, stellten derartige fugie- und teilweise vielleicht der zeitlichen Ausdehnung
Bruckner und die Orgel 47

einzelner Sätze wenig evidente Gemeinsamkeiten oder Liszt gewesen zu sein – wenngleich bei Göl-
zwischen den auskomponierten Sinfonien und lerich-Auer der Vergleich mit Franz Liszt bemüht
Improvisationen, selbst wenn diese Themen von wird (Göll.-A. 4/1, 172). Im Hinblick auf die von
Sinfonien aufgreifen. Immerhin mögen aber ei- ihm einstudierten Werke waren es vor allem we-
nerseits Improvisationen am Tasteninstrument nige Kompositionen mittleren Schwierigkeitsgra-
(neben der Orgel auch der heimische Bösendorfer- des von Bach und Mendelssohn, die er regelmäßig
Flügel sowie das Pedal-Harmonium) beim Finden in Konzerten spielte (im Einzelnen: Toccata F-Dur
von motivischen, harmonischen oder eventuell BWV 540, Toccata d-Moll BWV 565 sowie Men-
sogar formalen Ideen eine Rolle gespielt haben. delssohns Orgelsonate f-Moll op. 65/1). Die von
Andererseits kann die Vorstellung eines orchestra- Hermann J. Busch analysierten Gebrauchsspuren
len Klangbildes ihrerseits beim Orgelspiel leitend in Bruckners Ausgaben von Bachs Orgelwerken
gewesen sein (unter Umständen eher als andershe- deuten darüber hinaus auf vertiefte Beschäftigung
rum). So darf durchaus gemutmaßt werden, dass mit einigen weiteren Stücken (z. B. mit Präludium
Bruckner in der Improvisation an der Orgel eine und Fuge a-Moll BWV 543) hin (Busch 1975, 11 f.).
erfüllende Aufgabe gesehen hat und dass er sich in Auch forderte Bruckner von seinen Orgelschülern
dieser Funktion auch gerne im Konzert vor inter- das Einstudieren Bachscher Fugen, ohne jedoch
nationalem Publikum präsentierte (etwa als erster intensiver auf Fragen der Interpretation einzuge-
Organist eines Orgelkonzerts an der neuen Wal- hen. Nach heutigen Maßstäben deutet also wenig
cker-Orgel im Leipziger Gewandhaus im Dezem- auf Bruckner als einen herausragenden Orgelin-
ber 1884). Weniger schlüssig scheint hingegen die terpreten, so dass die teilweise enthusiastischen
Vermutung, Bruckner habe seine künstlerischen diesbezüglichen Einschätzungen seiner Zeitgenos-
Leitideen schlichtweg von der Orgel auf das Or- sen vor der Folie eines damals anzunehmenden
chester übertragen: Verortete er das Instrument mediokren Niveaus des Orgelspiels in Österreich
Orgel zunächst vor allem in liturgischen Zusam- gelesen werden müssen. Bruckner bedachte die
menhängen (was seine starke Hinwendung zur Orgel auch nicht mit größeren eigenen Werken –
Improvisation mit erklärt), so scheint gerade die wie im Fall des Klaviers dominieren hier Gelegen-
Haltung von künstlerischer Autonomie, wie sie heitskompositionen (allerdings für Anlässe, die
durch die Institution des Konzertsaals verkörpert sich von denen der Klavierwerke stark unterschei-
wird, einen wichtigen Impuls für sein späteres den). Dies spricht für die These, dass er sie nicht
Schaffen geliefert zu haben. als das primäre Instrument seiner künstlerischen
Die durchaus ambivalente Haltung, die Bruck- Selbstbestätigung als Komponist ansah: Bleiben-
ner in künstlerischer Hinsicht gegenüber der Orgel des zu schaffen, große Werke im Sinne des Opus-
einnahm, lässt sich weiterhin an den Restriktionen gedankens und des Idealbildes einer autonomen
ersehen, denen sein Literaturspiel unterworfen künstlerischen Praxis, war für das weitgehend li-
blieb: Weder besaß Bruckner offenbar ein beson- turgisch definierte Instrument Orgel nicht vorge-
ders breites Repertoire, noch scheint er ein tech- sehen.
nisch exzellenter Virtuose im Sinne eines Paganini

Literatur

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48 Andreas Jacob

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Orgelsachverständiger. Ein Beitrag zur Entwick- tion, Rezeption« anläßlich der Gewandhaus-Festtage
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haus-Symposium »Anton Bruckner – Leben, Werk, Orgeln. Tulln-Langenlois-Krems. In: Othmar Wes-
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haus-Festtage 1987 (= Dokumente zur Gewandhaus- reichischen Akademie der Wissenschaften zum 150.
geschichte 7). Leipzig 1988, 74–89. Geburtstag von Anton Bruckner. Wien 1975, 162–
–: Anton Bruckner – Genie an der Orgel. In: Bruckner- 169.
Jahrbuch 1994/95/96, 211–222. Schütz, Karl: Von der Orgelimprovisation zur Sympho-
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Bruckner als Organist. In: Renate Grasberger/Andrea ners. In: Othmar Wessely (Hrsg.): Bruckner-Studien.
Harrandt/Uwe Harten/Elisabeth Maier/Erich Wolf- Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissen-
gang Partsch (Hrsg.): Zum Schaffensprozeß in den schaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner.
Künsten (= Bruckner-Symposion 1995). Linz 1997, Wien 1975, 271–284.
111–138. Wessely, Othmar: Der junge Bruckner und sein Orgel-
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zertes im Neuen Gewandhaus zu Leipzig – Anton
Bruckner. In: Bruckner-Jahrbuch 1987/88, 87–92.
49

Bruckners musikalische Herkunft


von Gerhard J. Winkler

Anton Bruckner repräsentiert in der Musikge- -improvisator ebenso wie vom Komponisten einer
schichte des 19. Jahrhunderts den nahezu einzigar- Landmesse zum Schöpfer der großen Figuralmes-
tigen Fall, dass eine Komponistenbiographie im sen der Linzer Zeit.)
Schullehrer-, Organisten- und Kirchenmusikmi- Diesen Werdegang des Schullehrersohnes An-
lieu der Provinz ihren Ausgang nimmt, um mit ton Bruckner im Medium der musikalischen Tra-
dem Status eines Sinfonikers im Rang musikali- ditionen, deren Kenntnis er sich im Laufe des
scher Weltliteratur zu enden. Dieser Werdegang Lebens aneignete, nachzuvollziehen heißt auch
bedeutet nicht nur den Wechsel zwischen musika- gleichzeitig, eine Art Schichtenprofil der Bruck-
lischen Gattungen, wie sie zu Bruckners Lebzeiten nerschen Komponistenphysiognomie zu erstellen.
verschiedener kaum sein konnten; die beachtli- Dass man dabei von »unten« nach »oben« verfährt,
chen Distanzen über die unterschiedlichsten Tra- bei der Basis, den gleichsam mit der Primärsozia-
ditionskontexte hinweg implizieren nicht nur die lisation mitgelieferten Schichten beginnt und bei
Überwindung erheblicher ästhetischer Niveaustu- jenen musikalischen Traditionen endet, die sich
fen, sondern auch den Sprung weit über die Sphäre Bruckner erst in fortgeschrittenem Lebensalter zu
der musikalischen Sozialisation hinaus. Es handelt eigen gemacht hat, ergibt sich gleichsam von
sich um die Wegstrecken vom Milieu des Kirchen- selbst.
innenraums zu dem des Konzertsaals, von funk- Das gewählte Bild eines Schichtenprofils greift
tionaler gottesdienstlicher Gebrauchsmusik zur jedoch vor allem in einem Punkt zu kurz: Es sind
autonomen sinfonischen Literatur, von österrei- naturgemäß die »obersten« Schichten der später
chisch-katholischer Musikpraxis in die Sphäre der angeeigneten musikalischen Traditionen, die am
Königsgattung der »heiligen deutschen Tonkunst«. besten dokumentiert und nachweisbar sind, wäh-
Diese Distanzen decken sich mit der Wegstrecke rend die elementaren Mechanismen der musikali-
eines Aufstiegs von der Peripherie ländlicher ober- schen Primärsozialisation Bruckners im Dunkeln
österreichischer Provinz über die Provinzhaupt- bleiben, nicht zuletzt auch deshalb, weil dem
stadt Linz in die Metropole Wien mit ihrer musi- musikalischen Umfeld österreichischer Landorga-
kalischen Kultur und ist getragen von beispielloser nisten von der Forschung weit weniger Aufmerk-
Lernbegierde und dem Aufstiegswillen eines aus samkeit geschenkt worden ist als dem großen
ländlichen Verhältnissen stammenden gottes- Sinfoniker. Wie in der sozialen Sphäre wird der
fürchtigen habsburgischen Untertans, der sich aus Habitus eines Musikers von elementaren Verhal-
dem ursprünglichen Kreis seiner Sozialisation tensweisen bestimmt. Bis ins hohe Alter nämlich,
systematisch emporarbeitet, bis er sich um sein wo Bruckner sich seinen Platz in der sinfonischen
vierzigstes Lebensjahr an die Sinfonie heranwagt. Weltliteratur schon erobert hatte, bewahrte er sich
(Dem korrespondiert der »Aufstieg« innerhalb der die Verhaltensweisen des österreichischen Unter-
Musiktraditionen selbst: vom Landorganisten zum tans, die nicht in das Bild eines freien Künstlers
international anerkannten Orgelvirtuosen und des späten 19. Jahrhunderts passen wollen. In
50 Gerhard J. Winkler

gleicher Weise sind Techniken und Verfahren eines den umfänglichen und flächendeckenden Traditi-
Organisten bis in die Sinfonik nachweisbar, und onskontext geprägt: den des »Lehrerorganisten«
es ist der früh in Fleisch und Blut übergegangene (Aschauer 2009, 1 ff.; vgl. auch Slapnicka/Zinn-
Sinn für das Handwerkliche, die Satzlehre und hobler/Wessely/Zamazal 1994), der das übliche
Kontrapunktik, der bewirkte, dass Bruckner für Resultat der Ausbildung eines österreichischen
die »literarischen« Komponenten des »neudeut- Landschullehrers darstellt. Mit »Milieu« ist die
schen« Komponierens, dessen Techniken er sich umfassende Einheit aus musikalischer Praxis,
auf das Eifrigste einverleibte, gleichsam verloren Musiktheorie, musikalischer Elementarpädagogik
war. und deren gemeinsame Verwurzelung im katholi-
schen Gottesdienst und der Kirchenmusik be-
zeichnet.
Der junge Bruckner, der beruflich zunächst in
Musikalische Herkunft: die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters trat,
das Milieu des österreichischen war zum Schullehrer bestimmt. Ein Schullehrer
»Lehrerorganisten« hatte neben dem Unterricht der Volksschüler auch
das Singen und die Orgel im Gottesdienst zu be-
Wenn man über Bruckners Werdegang als Musi- dienen, gegebenenfalls auch eine kurze Messmusik
ker spricht, hat man zweifellos ein Erlebnis an den zu gestalten. Schon Bruckners Vater Anton war als
Beginn zu setzen, das als musikalische »Urszene« Schullehrer des Geburtsortes Ansfelden zugleich
gelten kann: die Klangerfahrung des Innenraums Organist und Regens chori der Kirche und hatte
der Stiftskirche von St. Florian, die der junge auch bei weltlichen Festen für die musikalische
Bruckner wohl schon vor seiner ersten Lehrzeit als Untermalung zu sorgen.
Sängerknabe im nahen Stift (1837–40) bewusst Der Beruf des Schullehrers war in Österreich
wahrzunehmen Gelegenheit hatte. nach einem kaiserlichen Erlass von 1805 mit dem
des Kirchenmusikers verknüpft. Er sah neben
»Der Aufenthalt in St. Florian, die enormen Dimensio-
nen des Bauwerkes, der Eindruck der Großzügigkeit und Messnerdiensten vor, »dass der Kirchendienst
Weite, die im Stift gepflegten geistigen Interessen und vor überall, wo thunlich, mit dem Schuldienst ver-
allem die musikalischen Möglichkeiten haben Leben und bunden seyn soll« (zitiert nach Wagner 1983,
Denken Bruckners entscheidend geprägt. [...] Der monu-
mentale prachtvolle Barockbau, 1686 von Carlo Antonio 29).
Carlone begonnen, 1715 von dem St. Pöltener Baumeister
»[…] Dies sicherte eine kontinuierliche allgemeine Lehr-
Jakob Prandtauer beendet, verfügt in seiner ebenso groß-
wie Musiklehrtradition, gleichgültig, ob von staatlicher,
artigen Kirche über drei Orgeln. [...] Die gewaltige Größe
kirchlicher oder privater Seite. Auch aus finanziellen
und die berühmte orchestrale Wirkung dieser später so
Gründen arbeiteten Schule und Kirche zusammen.
genannten Bruckner-Orgel haben nicht nur Bruckners
Ebenso bestand bezüglich der Lehrpläne eine enge Ko-
Orgelspiel wesentlich gefördert, sondern auch und vor
operation. Beispielsweise wurden alle musiktheoretischen
allem seiner Klangvorstellung die Richtung gewiesen.«
Lehrwerke der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
(Steinbeck 2000, Sp. 1038)
Kirchenmusikern verfasst, die gleichzeitig als Lehrer tätig
waren. Auch garantierte die kirchliche Ausbildung einen
Vermutlich ist das »Misterioso« der Anfänge der Lehrer, der als Staatsbürger ein obrigkeitstreuer, der herr-
Dritten und der Neunten Sinfonie, wenn vielleicht schenden Tradition ergebener Untertan war, was bei den
auch durch das Erlebnis von Beethovens Neunter Landlehrern, die in Wien bzw. Linz ausgebildet wurden,
oder Wagnerscher Orchestermusik gleichsam eine nicht unwesentliche Komponente des Berufsbildes
darstellte.« (Wagner 1983, 29)
»überschrieben«, aus dieser elementaren Klanger-
fahrung gespeist worden. Gleichzeitig garantierte die enge Verknüpfung von
Der Musiker Anton Bruckner hat seine Wur- Schule und Kirche einen über alle habsburgischen
zeln zweifellos in der Kirchenmusik. Damit ist Kernländer hinweg gleich hohen Standard der
jedoch Bruckners musikalisches Herkunftsmilieu Musikausbildung und stellte in diesem Punkt ei-
nur ungenau bezeichnet. Bruckners musikalische nen größtmöglichen Gleichstand zwischen Zen-
Primärsozialisation wird durch einen mit der Kir- trum und Peripherie sicher, d. h. die Musikausbil-
che zwar in enger Verbindung stehenden, aber dung in den Provinzen wurde auf städtisches Ni-
weit in den außerkirchlichen Bereich ausstrahlen- veau gebracht oder dort gehalten.
Bruckners musikalische Herkunft 51

Mit dieser Herkunft wurzelt Anton Bruckner tist Schiedermayr (1779–1840), der gleichzeitig als
ganz stark im 18. Jahrhundert und den Theresiani- Komponist liturgischer Gebrauchsmusik, Musik-
schen Schulreformen, damit aber auch im Milieu lehrer und Theaterkapellmeister in Linz wirkte
des österreichischen Katholizismus mit seiner und übrigens später, 1855, bei der Bestellung
Frömmigkeit, Heiligen- und Marienverehrung, Bruckners als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist
der sog. Pietas Austriaca in den Ländern des Hau- ein gewichtiges Wort mitzusprechen hatte (vgl.
ses Österreich (vgl. Mayer 2009). Zamazal in: Bruckner-Handbuch 1996, 386).
Pauschal gesagt hatten die Aufenthalte in St. Nichts kennzeichnet die Einheit aus Musikpraxis
Florian auf den jungen Bruckner und dessen mu- und Lehre besser als die Tatsache, dass jene Perso-
sikalische Vorstellungen kaum zu überschätzende nen, deren kirchenmusikalische Produktionen das
Auswirkungen, nicht nur was das Urerlebnis der unmittelbare Umfeld des jungen Bruckner domi-
Klangerfahrung betrifft, sondern auch darin, dass nierten, in diesem Umfeld auch als Theoretiker
das Stift lange eine bestimmende institutionelle wirkten. Sie bereiteten den Nährboden für die
Relaisstelle im »Milieu« der musikalischen Ausbil- »Vorliebe Bruckners für die theoretische Lehre«
dung des Komponisten blieb. Die Nähe des Ge- (Wagner 1983, 31), die ihn dazu bewog, ab 1855 bei
burtsortes zum Stift, dem schon aufgrund seiner Simon Sechter (1788–1867), dem namhaften Or-
kulturellen Bedeutung eine intensive Musikpflege ganisten, Komponisten, Musiktheoretiker und
zu eigen war, garantierte vom Disziplinenkanon Professor am Konservatorium der Gesellschaft der
wie von seiner Ausstrahlung her eine intensive Musikfreunde in Wien, Musiktheorie zu studieren
kirchenmusikalische Praxis, die auf der Musikthe- und Prüfungen abzulegen. (Bruckner trat 1868
orie dieser Zeit fußte (vgl. Wagner 1983, 31). Über- Sechters Nachfolge am Wiener Konservatorium
dies verbrachte Bruckner neben seinen zwei Auf- an.) Dessen Lehrbuch Die Grundsätze der musika-
enthalten im Stift selbst (1837–40 und 1845–55) lischen Komposition (1853/54), wovon ein Exemplar
insgesamt 21 Jahre im unmittelbaren institutionel- mit Annotationen Bruckners existiert, bildete die
len Einflussbereich des Stiftes: Die Geburtsge- Basis des Unterrichts (dazu Maier in: Bruckner-
meinde Ansfelden sowie die beiden Berufsstand- Handbuch 1996, 392 f.), der Fundamentalbassthe-
orte des jungen Lehrers, Windhaag (1841–43) und orie, das Harmonisieren von Melodien, ein- und
Kronstorf (1843–45), waren Florianer Pfarren mehrfachen Kontrapunkt, Kirchenstil, Kanon
(Bruckner-Handbuch 1996, 379). und Fuge umfasste.
Damit wird Bruckner also in eine Welt hinein- In dieselbe Reihe kontrapunktischer Traditio-
geboren, die musikalisch eben nicht umstandslos nen fällt die Beschäftigung mit Johann Sebastian
als »tiefste Provinz« bezeichnet werden konnte. Bach: Angeblich hat Bruckner bereits in Hör-
Gerade die »strikte und konsequent durchgeführte sching (1835/36) bei seinem Cousin und Paten,
Kombination Lehrer - Kirchenmusiker« (Wagner dem Schullehrer Johann Baptist Weiß, im Unter-
1983, 31) vermittelte Bruckner schon seit der frü- richt einzelne Fugen Bachs kennengelernt und in
hesten Jugend einen musikalischen Standard, der Windhaag die Kunst der Fuge studiert. Eine wich-
ihn befähigte, später die Stufen zum sinfonischen tige Station nimmt auch in diesem Punkt wie in
Parnass zu erklimmen. der Rezeption des klassischen Repertoires (siehe
unten) der Ennser Domorganist Leopold von
Zenetti (1805–1892) ein, den Bruckner während
Musiklehre, Kontrapunkt, Figurenlehre
der Kronstorfer Zeit dreimal die Woche besuchte.
Manfred Wagner hat in seiner Bruckner-Mono- Bei Zenetti dienten Bachs Orgelchoräle und das
graphie auf die zahlreichen Musiklehren, Choral- Wohltemperierte Klavier als Grundlage intensiver
lehren und »Generalbass«-Schulen, verfasst von Studien. In seiner St. Florianer Zeit fertigte Bruck-
Organisten und Geistlichen, hingewiesen, die im ner Abschriften Bachscher Fugen an, die zum
unmittelbaren Ausbildungsumfeld des jungen Übungsrepertoire des Organisten zählen. Ein
Bruckner erschienen sind, allen voran die Theore- spezifischer Reflex Bachs ist jedoch in Bruckners
tisch-practische Chorallehre (Linz 1828) des Linzer Werk kaum nachweisbar (vgl. Fuchs in: Bruckner-
Organisten und Domkapellmeisters Johann Bap- Handbuch 1996, 78); Bruckner scheint, was die
52 Gerhard J. Winkler

Anwendung kontrapunktischer Techniken betrifft, Blatt, auf dem beide Stücke notiert sind, ist dem
durchaus aus den österreichischen Lehrtraditionen Chorregenten des Stifts St. Florian, Ignaz Trau-
zu schöpfen. mihler, gewidmet und müsste auf dessen erste
Jedenfalls konnte bei dieser Basisausbildung Chorregentenzeit 1842/43 vordatiert werden, in
auch die gute Kenntnis der barocken Figurenlehre welche Zeit auch Bruckners intensive Studien bei
und der rhetorischen Figuren gewährleistet wer- Leopold von Zenetti fallen.
den, die nicht nur in seine Kirchenmusik einfließt, Der international bedeutende Organist Bruck-
sondern auch in seiner späteren großen Orchester- ner hat zwar keinerlei größere Orgelwerke hinter-
musik greifbar ist (Krones 1999). lassen, aber das Instrument Orgel hat sich und
seine Strukturen zunächst den Brucknerschen In-
strumentalkompositionen der sinfonischen Früh-
Orgelspiel, Präludierkunst, Improvisation
zeit durchaus eingeschrieben. Man kann die Beob-
Seine erste Anleitung im Orgelspiel hatte Bruck- achtung machen, dass Bruckner seine frühen Or-
ner schon durch seinen Vater in Ansfelden erhalten chesterpartituren sehr stark »von der Orgel her«
und als Zehnjähriger bereits im Gottesdienst mit- einrichtet. Dies zeigt sich sehr deutlich in den
gewirkt. In allen weiteren Ausbildungsstufen, die Frühfassungen der ersten Sinfonien, besonders
der junge Bruckner bis zur Ablegung der Prüfun- natürlich der Erstfassung der Dritten. Bruckner,
gen als Organist in Wien absolvierte, waren Orgel der im Gegensatz zu vielen seiner Komponisten-
und Generalbass-Spiel inkludiert, auch bei der kollegen »nicht im Orchester aufgewachsen« war
Ausbildung zum Schulgehilfen an der Präparandie und dessen »Orchesterpraxis bis zu seinem 40.
in Linz. Lebensjahr nahezu nur als Ergebnis lerntheoreti-
Das theoretische und praktische Rüstzeug eines scher Arbeit vorhanden war« (Wagner 1981, 18),
Organisten umfasste nicht nur die Kenntnis von greift zur Überbrückung der fehlenden Orchester-
Generalbass, Harmonielehre und Kontrapunkt, praxis begreiflicherweise zunächst auf seine Erfah-
sondern vor allen Dingen auch die Kunst des Ex- rungen als Organist zurück. Dieses Element seiner
temporierens: das gelegentliche Präludieren auf musikalischen »Sozialisation« schlägt sich vor al-
der Orgel und das Gestalten kleiner sogenannter lem in zwei Komponenten nieder: der Komposi-
Versetten zur Überbrückung der verschiedenen tion in Klang-«Blöcken« unter Berücksichtigung
Zwischenabläufe des katholischen Gottesdienstes. eines Nachhalls in einem mitgedachten imaginä-
Schließlich gehörte auch das Improvisieren über ren Kircheninnenraum und dem stufenförmigen
ein gegebenes Thema zu den Aufgabenstellungen Aufbau der Orchesterinstrumentation im Parti-
Bruckners bei seinen Prüfungen zum Organisten turbild ähnlich der Registrierung einer Orgel.
in Wien.
»Es fällt auf, dass die Pausenstruktur in allen ersten Fas-
Immerhin konnte neuerdings von zwei Orgel- sungen eine wesentliche Rolle in der [Form-] Gestaltung
stücken aus der Frühzeit Bruckners ein charakte- spielt: jene Unterbrechung von Klangblöcken, die auf-
ristisches Schlaglicht auf dessen weiten Weg bis grund des Registerwechsels dem Organisten zwingend
sind, die internalisiert auch eine andere Klangphysik an-
zum gefeierten Improvisator geworfen werden. sprechen, als dies bei integrativeren Verbindungen einzel-
Wie andere angehende Organisten auch, hat ner Abschnitte der Fall ist. […] Prallkontraste, die keine
Bruckner in seiner Anfangszeit zur Improvisation überleitenden komponierten Nachhallklänge oder Ein-
schwingvorgänge aufweisen, prägen die Grundstrukturen
Modelle benutzt, die ihm die Organistendidaktik der ersten Fassungen […].« (Wagner 1981, 20 f.)
bereitgestellt hat: Es konnte der Nachweis geführt
werden, dass Bruckner für das Nachspiel in d-Moll Bezeichnenderweise gelten diese Beobachtungen
(WAB 126) die Exposition einer Fuge von Gottlieb eben für die frühen, nie aber für die späteren Fas-
Muffat von 1726 als Modell benutzt, die er in sungen:
verdoppelten Notenwerten notiert, um sie zu ei-
nem Fugato auszuweiten, und dass das Andante »Der Orchesterklang der ersten Fassungen kennt einen
WAB 130 auf einen Improvisationsleitfaden des fundamentalen Streicher-, Blechbläser-, Holzbläser- und
Oberstimmensatz, wobei als Oberstimme Flöte und erste
Wiener Kapellmeisters Joseph Drechsler von 1834 Geigen fungieren, die tieferen Holzbläser sich in einer Art
zurückgeht (Aschauer 2009, 4). Das autographe akkordischen Registratur zusammenschließen. In den
Bruckners musikalische Herkunft 53

zweiten Fassungen ist diese Blocksituation aufgehoben setzen, wo wäre eine »Quer-Beeinflussung« durch
zugunsten einer Durchdringung des Streichersatzes mit die Kirchenmusik Franz Liszts zu vermuten (dazu
Hilfe des […] Bläsersatzes.« (Wagner 1981, 20 f.; vgl. dazu
auch Schütz 1975 sowie Horn 1988) Floros 1982, 1982, 41 f., 167 ff., sowie Stephan 1989
und Kantner 1989)? Mit diesen Fragen bewegt
man sich in diesem Bereich auf unsicherem Ter-
Kirchenmusik rain. Wenn sich Bruckners Bildungsweg in der
Das Chorsingen, die musikalische Gestaltung ei- Kirchenmusik in kleinerem Format abbildet, so
nes Gottesdienstes und die gelegentliche Kompo- sind auch in dieser Gattung für die Interpretation
sition einer Landmesse gehören zu den im Berufs- die größten Unschärfen gegeben.
feld eines österreichischen Lehrerorganisten einbe- Es ist wiederum bezeichnend, dass Bruckner
griffenen Tätigkeiten. Dass der Musiker und dem Cäcilianismus durchaus fernstand, obwohl
Komponist Anton Bruckner in der Gattung Kir- sich in seinem Linzer Umfeld bedeutende Vertre-
chenmusik wurzelt und dass die kirchenmusikali- ter dieser Bewegung zur Kirchenmusikreform
sche Praxis seine Bemühungen während der ersten vorfanden (vgl. Floros 1982, 52 ff. sowie Biba 1988).
vierzig Lebensjahre begleitet, wo es ihm um den Dies scheint eine indirekte Folge seiner starken
Erwerb des Rüstzeugs für die Gestaltung formal Verwurzelung in der österreichischen Kirchenmu-
großer Werke ging, scheint eine selbstverständli- sik zu sein. In der Wiener Hofmusikkapelle war
che Feststellung. Der Ausbildungsgang des Kir- der sogenannte Palestrina-Stil aufgrund des Fort-
chenmusikers Bruckner vom Komponisten von wirkens der Fuxschen Hofmusiktraditionen gän-
Landmessen, der Windhaager und der Kronstorfer gige Praxis und brauchte nicht eigens »erneuert«
Messe (1842 bzw. 1845), über weitere Kirchenmusik zu werden (Biba 1988, 127).
bis zu den großen Figuralmessen der Linzer Zeit
– die ja auch als »Konzertmessen« fungieren kön-
nen –, bildet die anfangs skizzierte Wegstrecke des
Komponisten Bruckner vom funktionalen Bereich Traditionen
zur ästhetisch eigenständigen Form in der Gattung
Wiener Klassik
Kirchenmusik selbst in kleinerem Format ab.
Dieser Weg ist jedoch nur pauschal nachzuvollzie- Auch in diesem Punkt befindet man sich in einer
hen und im Detail auch schlecht greifbar, weil Grauzone. Ein konkreteres Wissen darüber, wie
nähere Untersuchungen zu diesem spezifischen sich der spätere Sinfoniker Anton Bruckner in
musikalischen Milieu fehlen. seiner Jugend die Kenntnis der Standardwerke der
Für Bruckner können seit seiner ersten Sänger- Wiener Klassik angeeignet hat, wäre zweifellos
knabenzeit im Stift St. Florian eingehende Erfah- wünschenswert. Bruckner konnte in St. Florian
rungen mit der liturgischen Choralpraxis voraus- das Kirchenmusikrepertoire der Wiener Klassik,
gesetzt werden (Praßl 1999). Zahlreiche seiner wie es in jeder Kirche Österreichs, und vor allem
kirchenmusikalischen Kompositionen gehen von auch in den großen Klosterkirchen, vertreten war,
der entsprechenden Choralintonation aus (Maier kennenlernen: die Messen Haydns und Mozarts,
1988); Bruckner konnte zweifellos über eine intime vor allem aber auch die Kirchenmusik Johann
Kenntnis des kirchenmusikalischen Repertoires Michael Haydns.
und der örtlichen Praxis verfügen. Was sind jedoch Aber auch die Instrumentalmusik der Wiener
z. B. die jeweils örtlich wechselnden liturgischen Klassiker war in den Klosterbibliotheken Öster-
Kriterien zur Komposition einer Landmesse (vgl. reichs sehr gut verbreitet; ja, die Überlieferung in
die Repertoire-Übersicht bei Flotzinger 1988)? den Klöstern hatte z. B. im 18. Jahrhundert zu den
Welche spezifischen liturgischen Gegebenheiten Hauptverbreitungswegen der Sinfonik Joseph
hatte man als Komponist zu berücksichtigen? An Haydns gehört. Auf diese Weise konnte die In-
welchen Stellen ist die Vorbildwirkung der großen strumentalmusik der Wiener Klassik an den jun-
Werke des klassischen Repertoires auf dem Gebiet gen Bruckner gleichsam still »mitgeliefert« werden.
der Kirchenmusik – Haydns und Mozarts Messen Es war vor allem Haydn, der nicht nur im Wien
oder der Beethovenschen Missa solemnis – anzu- des 19. Jahrhunderts, sondern auch in der St. Flo-
54 Gerhard J. Winkler

rianer Klosterbibliothek und durchaus auch in der in Umrissen rekonstruiert werden konnte (Maier/
oberösterreichischen Provinz, also in Bruckners Zamazal 1980, 210 ff.).
Jugendjahren, sehr präsent war. Trotzdem ist we- Einen besonderen Stellenwert in Bruckners
nig bekannt, »welche Werke Haydns Bruckner im Klassikrezeption nimmt Joseph Haydns sogenann-
Laufe seines Lebens dezidiert gehört und kennen tes Kaiserlied »Gott erhalte«, die offizielle Staats-
gelernt hat« (Petermayr 2009). Wenn auch exakte hymne des Österreichischen Kaiserstaats bis 1918,
Aufzeichnungen oder Anhaltspunkte zu fehlen ein, über die der Organist Bruckner seit seinen
scheinen, kann man mit einiger Sicherheit anneh- Ausbildungsjahren (nachgewiesenermaßen seit der
men, dass Bruckner früh Kenntnis der Sinfonik Kronstorfer Zeit, ca. 1845) zu improvisieren liebte;
Haydns und Mozarts erhalten hat. Wahrscheinlich es war sogar sein »bevorzugtes Improvisations-
kann sogar von einer dezidierten Haydn-Rezeption thema« (Horn in: Bruckner-Handbuch 1996, 225).
im engsten Bruckner-Umfeld ausgegangen wer- Diese Vorliebe dürfte aber bei Bruckner weniger
den. So finden sich etwa in der Klosterbibliothek zur Klassikrezeption gehören, sondern eher in das
von St. Florian neben zahlreichen Kirchenmusik- Kapitel seines glühenden österreichischen Patrio-
werken Haydns (die allerdings nicht in Original- tismus fallen.
fassungen gespielt wurden) auch Abschriften von
Kammermusikwerken und Sinfonien (Lindner/
Männerchorwesen
Jahn 2005, 71 ff.). Nicht nur die St. Florianer Lehr-
zeit (1845–55), sondern auch schon der erste St. Wenn dieser Punkt bei Bruckner auch nur peri-
Florianer Aufenthalt als Sängerknabe (1837–40) pher sein mag: Nicht nur mit der geistlichen
stellen in diesem Punkt wichtige Perioden in der Chormusik, sondern mit dem weltlichen Chorwe-
Jugend Bruckners dar. sen war Bruckner schon in St. Florian in Berüh-
Die Kenntnis der Wiener Klassiker und der rung gekommen, kompositorisch war er damit als
von diesen gepflegten Formen dürfte bei Bruckner Archivar der Liedertafel »Frohsinn« jedoch erst
schon früh, jedenfalls lange vor den Linzer Lehr- seit den Linzer Jahren in Verbindung. Es handelt
zeiten bei Ignaz Dorn und Otto Kitzler angelegt sich dabei um ein Genre, das sich neben seiner
worden sein. Bruckner könnte auf diese Weise Funktion der musikalischen Geselligkeit unter
bereits in Ansfelden mit den Instrumentalformen bürgerlichen Männerrunden nicht zuletzt auch
der Wiener Klassik in Berührung gekommen sein. der politischen Situation der 1850er und 1860er
Immerhin sind unter Johann Baptist Weiß Auf- Jahre zu verdanken hat. Bestimmte politische
führungen von Werken Mozarts belegt. Haydns Anlässe, besonders der ideologische Sog im Vor-
Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten, feld der Gründung des Zweiten Kaiserreiches
auch die Oratorienfassung der Sieben letzten Worte 1870, förderten die Entstehung von Werken
sollen Bruckner ebenso zum Unterricht gedient deutschnationaler Gesinnung. Bruckners Germa-
haben wie die f-Moll-Variationen für Klavier Hob. nenzug für vierstimmigen Männerchor, Soloquar-
XVII:6. Diese besaß Weiß im Erstdruck, den er tett und Bläserbegleitung von 1863 oder sein spä-
seinem Cousin Bruckner als Geschenk überließ. teres Helgoland für vierstimmigen Männerchor,
Eine zentrale Stellung, wenn nicht sogar die Bläser, Pauke, Becken und Streicher (1893) sind
Schlüsselposition nimmt dabei aber einmal mehr aus diesem Milieu erwachsen (Harrandt in:
der Ennser Domorganist Leopold von Zenetti ein, Bruckner-Handbuch 1996, 118 f.).
der Bruckner während dessen Kronstorfer Zeit
Unterricht gab: »Er war nicht nur der gediegene
Lehrer der Frühzeit, sondern darüber hinaus der
Vermittler der Tradition, insbesondere der Musik Sinfonische Vorbilder
Haydns und Mozarts, und seinem Einfluss dürfte
Mendelssohn Bartholdy
auch der Anstoß zum Erwachen des Schöpferi-
schen im jungen Bruckner zuzuschreiben sein« Unter den immer wieder in der Literatur auftau-
(Maier/Zamazal 1980, 126). Zenetti besaß eine chenden Namen von Komponisten, die auf das
umfangreiche musikalische Privatbibliothek, die Komponieren Bruckners einen Einfluss ausgeübt
Bruckners musikalische Herkunft 55

haben könnten, ist zunächst vor allem Felix Men- Schubert


delssohn Bartholdy zu nennen. Wichtige Teile des
musikalischen Werkes von Mendelssohn gehörten Der Komponist Schubert war Bruckner zweifellos
im 19. Jahrhundert zum selbstverständlichen kom- vertraut und wurde von diesem zeitlebens sehr
positorischen Reservoir, aus dem Bruckner in den geschätzt (dazu Partsch in: Bruckner-Handbuch
ersten Jahrzehnten seines Schaffens Anregungen 1996, 388 f.). Bruckner dürfte auch ziemlich früh
schöpfte. in Linz, Enns und Steyr mit Schuberts Musik in
»Den unmittelbarsten Zugang zur Musik Men- Berührung gekommen sein (vgl. Zamazal 1999,
delssohns hatte Bruckner durch sein Orgelspiel« 117–176, bes. 149 ff.), besonders aber in St. Florian
(Märker 1999, 178), und es können zahlreiche (zur dortigen Schubert-Pflege vgl. Buchmayr
Belege dafür angeführt werden, dass Bruckner 2008). In St. Florian widmete er sich als Klavier-
eine stattliche Reihe Mendelssohnscher Werke begleiter gemeinsam mit dem Tenor Ludwig Eh-
gekannt hat (Wessely 1975). Bruckner hat sich z. B. renecker dem Liedschaffen Schuberts, und zwar
zwei Stellen aus Mendelssohns Oratorium »Pau- so, dass »sich dabei immer ein kleines Publikum
lus«, das in Linz bereits 1847/48 aufgeführt worden auf der Straße ansammelte« (Göll.-A. 1/1, 66). In
war, notiert, und im Studienbuch des Unterrichts seiner Wiener Zeit war er nachgewiesenermaßen
bei Kitzler finden sich einschlägige Hinweise auf bei Schubert-Aufführungen anwesend. Bruckners
Mendelssohns Lieder ohne Worte, die der Klavier- Lieblingslied war »Gute Nacht« aus dem Lieder-
lehrer Bruckner auch in seinem eigenen Unterricht zyklus Winterreise. In seinem Nachlass befanden
verwendet hat. Bei näherem Hinsehen erweisen sich außer Liedern die Klaviersonaten a-Moll
sich jedoch die meisten genannten Hinweise auf (D 845) und B-Dur (D 960). In seinen Tonsatz-
konkrete Spuren Mendelssohns in Bruckners Vorlesungen brachte Bruckner wiederholt Passa-
Komponieren als undifferenziert und wenig stich- gen aus Werken Schuberts, um dessen avancierte
haltig, und wenn man von wenigen thematischen Harmonik zu demonstrieren. Er bezeichnete ihn
Anklängen oder sonstigen Konvergenzen absieht, diesbezüglich als »Vorläufer« Wagners, als dessen
führt auch der detaillierte Nachweis, welche Werke »Johannes der Täufer«. Nach den Erinnerungen
Mendelssohns Bruckner nachweislich gekannt des Liszt-Schülers August Stradal habe Bruckner
habe, nicht weiter in der Frage, wie stark der Ein- in der h-Moll-Sinfonie »schon Spuren des kom-
flussfaktor Mendelssohns beim Komponisten menden ›Tristan‹ gefunden« (Stradal 1932, 972).
Bruckner tatsächlich gewesen ist. (Letztere allerdings hat Bruckner in seiner Ent-
Es zeigt sich, dass man bei der Frage nach ei- wicklungsphase noch nicht kennen können, da sie
nem möglichen Einfluss Mendelssohns auf Bruck- erst 1865 in Wien durch Johann Herbeck uraufge-
ner das Augenmerk nicht so sehr auf die Formu- führt wurde.) Zu den sinfonischen Schlüsselwer-
lierung thematischer Gedanken oder Bezüge zwi- ken zählte für Bruckner die große C-Dur-Sinfonie
schen bestimmten Werkbereichen wie etwa den Schuberts, die ja in der sinfonischen Literatur des
Psalmvertonungen, sondern »auf komplexere 19. Jahrhunderts auch für das zeitgenössische Ur-
musikalische Gestaltungsweisen und Gestaltungs- teil eine entscheidende Position einnimmt.
ergebnisse zu richten« hat, also auf das »Aufgreifen Trotzdem muss festgestellt werden, »[...] daß
musikalischer Techniken, die bei Mendelssohn im Vergleich zu Beethoven oder Wagner der Kom-
neu ausgearbeitet oder zumindest erneuert er- ponist Schubert eine offensichtlich geringe Rolle
scheinen« (Märker 1999, 182–186): Dies betrifft für Bruckner spielte. So findet sich in dessen zahl-
den Einbau instrumentaler Choralzitate in die reichen Briefen kaum sein Name; in den Taschen-
Orchesterfaktur, die Einfügung von Cantus-fir- notizkalendern erscheint er exakt dreimal [...]«
mus-Passagen in einen differenzierten, kontra- (Partsch 1999, 83). Diesem Manko bei Bruckner
punktisch durchbrochenen Satz und bestimmte selbst steht in der Literatur ein immer wieder be-
Techniken der vokalen Fuge mit Orchester. haupteter enger Zusammenhang zwischen Schu-
bert und Bruckner gegenüber. Es geht dabei nicht
um einen manifesten »Einfluss« des einen auf das
Komponieren des anderen, sondern um die Veror-
56 Gerhard J. Winkler

tung beider in einem gemeinsamen mentalitätsge- Beethoven


schichtlichen Milieu, in dem sie durch ihre Her-
kunft und Sozialisation auch in ihrer Musik Bruckners Beethovenrezeption muss durchaus in
gleichsam subkutan wie durch kommunizierende einem Sonderkapitel behandelt werden, denn sie
Röhren in Verbindung stehen. Immer wieder wird fällt gänzlich aus seiner Aneignung der Wiener
– bezeichnenderweise seit 1918 – Bruckner im Klassik heraus und gehört höheren, bewussteren
Zusammenhang mit einer Tradition des »Österrei- Schichten der künstlerischen Auseinandersetzung
chischen« in der Musik genannt, genauer gesagt mit den musikalischen Traditionen an. Bruckner
einer spezifisch österreichischen Sonderlinie in der bestätigt mit seiner Person gleichsam den heraus-
Geschichte der Sinfonie im 19. Jahrhundert, die ragenden Status, den Beethovens Sinfonik für die
von Schubert über Bruckner zu Mahler führt (zur Komponisten des 19. Jahrhundert hatte. Beetho-
Kritik dieses Deutungskonzepts vgl. Partsch 1996, ven gehört nicht zur »österreichischen« Musiktra-
77–82, sowie Hinrichsen 1996, 111 ff.). Es handelt dition, sondern ist die beherrschende Gestalt der
sich dabei um ein Deutungsmuster, das aus neuen, »heiligen deutschen Tonkunst«, er nimmt in der
aus der Wirkungsgeschichte erwachsenen Perspek- Musikanschauung der deutschen Geistesgeschichte
tiven a posteriori zu neuen Entdeckungen in der eine zentrale Position ein. Ob Bruckner damit das
Sache selbst führte. Dies beginnt bei gemeinsamen Beethovenbild der sogenannten »Neudeutschen«
Stilmerkmalen, die im mentalitätsgeschichtlichen (siehe unten) in vollem Umfang teilte, bleibe da-
Fundus der lokalen österreichischen Traditionen hingestellt. Immerhin aber teilte Bruckner durch-
wurzeln: Anspielungen auf das Volksmusikidiom, aus und unausgesprochen das neudeutsche Ge-
Ländlermelodik etwa in den Scherzi, und leitet schichtsbild, wonach Beethoven nicht Teil einer
weiter zu stilistischen Charakteristika, die den »klassischen Trias«, sondern ein Phänomen eige-
Aufbau und die formale Gestaltung der Sinfonie- nen Rechts sei, mit dem eine neue Ära der Musik
sätze betreffen. Unter dem Terminus des »Öster- (eben die »neudeutsche«) beginne. Wie aus den
reichischen« wurde für Schubert und Bruckner Erinnerungen von Carl Hruby hervorgeht, hatte
eine dem prozesshaft-thematischen Komponieren, Beethoven für Bruckner den Stellenwert, der ihm
für das idealtypisch Beethoven steht, entgegenge- in der Einschätzung der Musikwelt entsprach: Er
setzte Tendenz zum »Epischen«, »Expansiven« und war für ihn die »Incarnation alles Großen und
»Monumentalen«, bei bloßer »Beiordnung« der Erhabenen in der Tonkunst«; man fühle sich be-
Themen, konstatiert. Dies gipfelte etwa bei Ha- sonders vor der Neunten so gering »wie ein ganz
rald Kaufmann in der Bestimmung des »Paratak- kleines Hunderl« (zitiert nach Floros 1982, 55 f.).
tischen« für das »Österreichische« in der Musik Bruckner setzte sich während seines Unterrich-
überhaupt (Kaufmann 1970, 30 ff.). tes in Linz bei Otto Kitzler zu Beginn der 1860er
Während heute die ideologischen und musik- Jahre intensiv mit der Beethovenschen Sonaten-
politischen Implikationen dieses Ansatzes weitge- hauptsatzform und Formgestaltung in den Sinfo-
hend dahingestellt bleiben können, wird die nien auseinander. Im Kitzlerschen Studienbuch ist
größte materiale Gemeinsamkeit auf dem Gebiet auch die von Bruckner instrumentierte Exposition
der Harmonik und ihrer Funktion im sinfonischen des Kopfsatzes der c-Moll-Klaviersonate op. 13
Gefüge gesehen. Bruckner stehe »mit gewichtigen (»Sonate pathétique«) erhalten. Weiterhin bemer-
Merkmalen seiner formbildenden Harmonik in kenswert ist, dass Bruckner 1878 in seinem Ta-
einer Entwicklungslinie der Sonatenform« (Hin- schen-Notizkalender von 1876 metrische Studien
richsen 1999, 114), die von Schubert ihren Ausgang an Beethovens Dritter und Neunter Sinfonie einge-
nimmt und in die auch Franz Liszt einzureihen ist. tragen hat, gefolgt von ähnlichen Untersuchungen
Dies betrifft im speziellen verschiedene Anwen- an dessen Vierter, mit Schwergewicht auf den
dungsweisen der Enharmonik (dazu Jackson 1995), Schlussbildungen, die Bruckner bezeichnender-
und zwar spezifisch deren Einsatz als großformales weise besonders interessiert haben (dazu Fuchs in:
Gestaltungsmittel in der tonalen Disposition einer Bruckner-Handbuch 1996, 85 f.).
sinfonischen Sonatensatzform. Eines der auslösenden Erlebnisse für Bruckners
eigenes sinfonisches Schaffen war Beethovens
Bruckners musikalische Herkunft 57

Neunte Sinfonie, die er in einer Wiener Auffüh- hard Marx so formuliert hat: »Durch Nacht zum
rung am 22. März 1867 durch Johann Herbeck Licht. Durch Kampf zum Sieg« (Marx 1859, Bd. 2,
vermutlich zum ersten Mal hören konnte. Sie hat 66). Diese Deutung wird sogar für Bruckners
deutliche Reflexe in Bruckners eigenem sinfoni- Achte Sinfonie mit ihrem in der letzten Fassung
schen Werk hinterlassen, zunächst in der unmit- geschaffenen Schluss des ersten Satzes (»Todesver-
telbar danach komponierten d-Moll-Sinfonie, der kündigung«) noch unterstrichen (Floros 1982,
sogenannten Annullierten (WAB 100), und zwar 208 f.). Bruckners Rezeption des »neudeutschen«
zunächst in der Coda des Kopfsatzes dieser Sinfo- Beethoven wäre auf diese Weise durchaus im Spie-
nie, wie auch später an der entsprechenden Stelle gel des Sinfonisch-Handwerklichen, der Handha-
der Dritten Sinfonie in derselben Tonart d-Moll bung von technischen Komponenten zu sehen:
(dazu Floros 1982, 57 ff., sowie Lederer 1996). Be- der Arbeit am Finalproblem, der Lösung von
sonders angetan hatte es Bruckner der geheimnis- Problemen, die großformale sinfonische Konzep-
volle Anfang mit den leeren Quinten, den Bruck- tionen mit sich bringen.
ner in allen seinen drei Sinfonien, die in d-Moll,
der Tonart von Beethovens Neunter, stehen, auf
Neudeutsche Schule, »Musikalischer
verschiedene Weise paraphrasiert, der Annullier-
Fortschritt«, Wagner
ten, der Dritten und der Neunten Sinfonie, wobei
der Beginn der Dritten und jener der Neunten mit Die »oberste« Schicht von Bruckners Ausbildungs-
der religiös konnotierten Satzangabe »misterioso« gang repräsentiert als bestdokumentierte Phase
bezeichnet sind (vgl. Bockholdt 1999). In allen auch gleichzeitig jenen Bereich, der am meisten
drei Sinfonien ist dieses Erlebnis von Beethovens von der unmittelbaren Wirkungsgeschichte des
Neunter verarbeitet und transformiert, wobei Brucknerschen Werks präjudiziert ist. Denn der
Bruckner erst in der eigenen Neunten zu einer Sinfoniker Bruckner geriet im Wien des ausgehen-
Version gelangt, die Beethoven am nächsten ist. den 19. Jahrhunderts nicht nur selbst zwischen die
Als ein weiteres wichtiges Moment wird neben Fronten der musikpolitischen Auseinandersetzun-
anderem die »Rückblendetechnik« auf frühere gen um den musikalischen »Fortschritt«, sondern
Themen des Werks genannt, die Bruckner analog trat nicht zuletzt durch die Vermittlung seiner
zu Beethovens Einleitung in das Chorfinale der Schüler in die Wahrnehmung der unmittelbaren
Neunten in den Finalsätzen seiner Sinfonien, z. B. Nachwelt auch als »Neudeutscher« ein (vgl. insge-
in der Erstfassung der Dritten, anwendet, aller- samt Bruckner-Symposion 1984/1986).
dings mit einem charakteristischen Unterschied: Die sogenannte »neudeutsche Schule« reprä-
Es gilt bei Bruckner nicht, den Einsatz des Chores sentierte in Deutschland die musikalische Avant-
und der Vokalstimmen zu motivieren, sondern garde, die von Liszt angeführte, auch als »Zu-
sein Verfahren steht im Interesse der Finallösung kunftsmusik« bezeichnete »Fortschritts-Bewe-
einer Großform – nämlich zu Beginn der Coda, gung«, und es ist bezeichnend für Bruckner, dass
die nicht mehr Abschlusspartie eines Einzelsatzes, er sich in seinem Ausbildungsgang zum Sinfoniker
sondern Schluss des gesamten Werkes sein will, auch an den neuesten und avanciertesten Verfah-
die Themen des Werkes nochmals zusammenzu- rensweisen geschult hat und bestrebt war, sie sich
fassen. Vielfach wurden in der Forschungsliteratur einzuverleiben. In Bruckners »Rezeption der Neu-
auch deutliche Spuren Beethovens in der Form deutschen« (Winkler 1999) hat man deutlich zwei
von Bruckners Scherzi festgestellt. getrennte Phasen zu beobachten, die auch zwei
Es wäre schließlich auch zu fragen, inwieweit allgemeinen Rezeptionswellen der Bewegung
die insgesamt ebenfalls nicht weniger als drei in selbst entsprechen: die Linzer Studienzeit bei Ig-
der Tonart c-Moll stehenden Sinfonien Bruckners naz Dorn (dazu Maier in: Bruckner-Handbuch
(Erste, Zweite, Achte Sinfonie) mit ihren Final- 1996, 134 f.) und die Wiener Zeit mit ihrem eige-
schlüssen in C-Dur nicht implizit an dem Ideen-, nen spezifischen Milieu des musikalischen »Fort-
Deutungs- und Rezeptionsmuster der Fünften schritts«. Der Linzer Theaterkapellmeister Ignaz
Sinfonie Beethovens (»Schicksalssinfonie«) teilha- Dorn, der Bruckner 1863 mit Wagners Tannhäuser,
ben (dazu Winkler 1999, 193 f.), das Adolph Bern- wahrscheinlich auch mit Berlioz’ Symphonie fan-
58 Gerhard J. Winkler

tastique und dessen Instrumentationslehre bekannt Achten Sinfonie, das auf Wagners Fliegenden Hol-
machte und mit ihm Liszts Faust-Symphonie stu- länder zurückverweist (Floros 1982, 64 ff.). Einen
dierte, war als Komponist zweifellos ein »Neu- Sonderstatus innerhalb dieses Kontextes nehmen
deutscher« der ersten Stunde und fungierte als beim komponierenden Wagnerianer Bruckner die
erster Vermittler des musikalischen »Fortschritts« zahlreichen Anspielungen und Allusionen an
in dessen erster, durch Liszt dominierten Weima- Wagnersche Werke ein, vor allem in der Dritten
rer Phase. Dorns eigenes Orchesterwerk Characte- Sinfonie, die geradezu als »Wagner-Sinfonie« gilt,
ristische Symphonie »Labyrinth-Bilder« (Maier nicht nur weil sie diejenige ist, die die Widmung
1989) ist durchaus als eine aus dem Geiste der an Wagner trägt, sondern weil der Kopfsatz in der
Lisztschen Sinfonischen Dichtung geborene, in ersten Fassung tatsächlich eine Reihe von musika-
freier Form gehaltene charakteristische Tondich- lischen Verweisen als Hommage an das Idol auf-
tung zu bezeichnen. Im Wien der 1870er Jahre weist. Es handelt sich dabei um keine wörtlichen
geriet Bruckner allerdings bereits ins Fahrwasser Zitate (vgl. dazu Voss 1996, Reiter 1997, Hinrich-
der zweiten Phase des musikalischen »Fortschritts« sen 1999 und Winkler 1999), sondern mehr um
in dessen spezifisch Wiener Ausprägung mit sei- Anspielungen, mit denen Bruckner das Vorbild
nem ideenpolitischen Umfeld und seinen wissens- ins Visier nimmt und doch Distanz zu ihm hält.
soziologischen Komponenten (vgl. Winkler 2008, Obwohl die meisten von ihnen schon in der zwei-
231 ff.). In Wien hatten sich allerdings die inneren ten Fassung einer Straffung des Satzverlaufes zum
Schwergewichte des musikalischen »Fortschritts« Opfer fielen, sind sie doch sowohl idiomatisch
wesentlich verschoben: Wagner und die Faszina- auffällig als auch deutlich genug postiert und ha-
tion, die von Bayreuth ausging, hatten die »The- ben ausreichend Beziehungsdichte, um ein Ver-
menführerschaft« übernommen; Franz Liszt, der weisungsverhältnis zu konstituieren. Sie stehen in
in der deutschen Öffentlichkeit kaum noch in Konstellation mit zahlreichen Passagen, die nicht
Erscheinung trat, war weit in den Hintergrund als kontrovers gelten und in allen drei Fassungen
getreten. Wenn Bruckner in Wien in die Front- der Sinfonie beibehalten worden sind.
stellung des Parteienstreits zwischen »Wagneria- Trotzdem sind es bei Bruckner eine Reihe von
nern« und »Brahminen«, den Verfechtern der entscheidenden Charakteristika und Auffälligkei-
»Fortschrittspartei« und der sogenannten »absolu- ten, die dem Bild eines »Neudeutschen« krass wi-
ten« Musik geriet, dann ist er eher als »komponie- dersprechen: Bruckner hat kein Werk der neu-
render Wagnerianer« zu bezeichnen denn als deutschen Kerngattungen – weder eine Sinfoni-
»Neudeutscher« Lisztscher Prägung. sche Dichtung Lisztscher Prägung, noch eine
Die Frage, ob Bruckner ein »absolut-musika- Programmsinfonie à la Berlioz, auch keine »cha-
lisch« komponierender oder ein »programmatisch« rakteristische Sinfonie« in der Art der Labyrinth-
komponierender Musiker sei, wurde in jüngerer Bilder seines Linzer Lehrers Ignaz Dorn – geschrie-
Zeit sehr kontrovers diskutiert (vgl. Floros 1982 ben, sondern »reine« Instrumentalsinfonien, die
und Dahlhaus 1988). Sie ist in ihrer Begrifflichkeit aus der Sicht der neudeutschen Schule nicht nur
zu sehr dem musikpolitischen Milieu der Parteien- als überwundener Standpunkt gelten mussten,
spaltung des 19. Jahrhunderts verhaftet und in sondern Bruckner erweist sich damit sogar aus der
ihrer Ausschließlichkeit kaum adäquat zu beant- Sicht des Späteren geradezu als ein Mitbegründer
worten (Williamson 2004), geht es doch viel eher eines »zweiten Zeitalters« der Sinfonie (Dahlhaus
darum, welche Elemente Bruckner im Detail aus 1980, 230 ff.). Es existieren zwar programmatische
seiner »neudeutschen« Ausbildung angenommen Skizzen oder Erläuterungen zu einzelnen Passagen
hat und welche nicht. von ihnen, die Bruckner zumeist nachträglich ge-
Bruckners Werke – darauf hat Constantin liefert hat: zum Kopfsatz der Vierten, zur Achten
Floros eindringlich aufmerksam gemacht – tragen Sinfonie (ausführlich dargestellt bei Floros 1982,
einerseits vielfach Spuren einzelner Passagen aus 171–229) oder zum Seitensatz im Finale der Dritten
Werken von Berlioz, Liszt und Wagner, von ima- Sinfonie (dazu Winkler 2008, 223 ff.), aber sie
ginären Chorälen à la Pilgermarsch aus Harold en bleiben angesichts der ungeheuren Kompaktheit
Italie bis zum Hauptthema des Kopfsatzes der seiner Musik punktuell und peripher (Steinbeck
Bruckners musikalische Herkunft 59

2000, Sp. 1094). Sie begründen keine »Erzählung«, Prinzip der Orgelregistrierung aus: nirgends, ide-
die das gesamte Werk umfasst wie etwa in Joachim altypisch gesagt, die berühmte Wagnersche »Kunst
Raffs 1872 komponierter Sinfonie Nr. 5, Leonore, des Übergangs«, sondern kyklopische Tableaus, in
op. 177 (Winkler 1999, 192 f.). Es ist ein neuer scharfkantigen Blöcken gegeneinander gesetzt
musikalischer Gehalt, der sich erweiterte Dimen- (siehe oben den Abschnitt »Orgelspiel, Präludier-
sionen sucht (und hier dem Schubertschen Paral- kunst, Improvisation«). Erst in den späten Fassun-
lelbeispiel näher ist als dem neudeutschen Deu- gen wird Bruckner unter dem Anpassungsdruck
tungsmuster), kein ›poetischer‹ Inhalt, der sich seines Werkstattumfelds die Zäsuren verschleifen,
darin musikalisch repräsentiert finden will. Auch den Satz »wagnerianischer« machen, ohne aller-
findet man in Bruckners Sinfonien keinerlei An- dings seine Grundstruktur zu verändern. Sein
haltspunkte für Formverschachtelungen und an- Wiener Umfeld aber war es primär, das Bruckner
dere Experimente, wie sie Liszts berühmte h-Moll- als »Neudeutschen« an die Nachwelt lieferte: Der
Sonate oder auch die Faust-Symphonie, die Bruck- erste Biograph, August Göllerich, war Liszt-
ner ja nachweislich bei Ignaz Dorn studiert hatte, Schüler; das ›wagnerianischste‹ Erscheinungsbild
aufweisen. weisen die Brucknerschen Partituren in den Fas-
Nicht nur passte Bruckner mit seiner »österrei- sungen der Brüder Schalk, seiner Schüler, auf,
chischen« Sozialisation und seinem sozialen Habi- unter denen mehrere der Sinfonien zunächst an
tus wie auch seinem Lebensalter so ganz und gar das Licht der Öffentlichkeit gelangten (dazu Leib-
nicht in die Gruppe der Wiener »Neudeutschen« nitz 1988 sowie Fuchs 1986).
und Wagner-Anhänger, die ja – wie Hugo Wolf, Der Sache nach also scheint der neudeutsche
Gustav Mahler oder die Gebrüder Schalk – der »Einschlag« bei Bruckner auf Handwerklich-
Generation der um 1860 Geborenen angehören Technisches hinauszulaufen, etwa dahingehend,
und teilweise tatsächlich seine Schüler gewesen dass der sinfonische Anspruch es erfordere, auch
sind, sondern es blieben ihm offensichtlich auch technisch auf dem neuesten Stand zu sein. Es ist
die intellektuellen Komponenten der Bewegung, sehr bezeichnend, dass Bruckner sowohl an Schu-
an der er teilnahm, gänzlich fremd. Nach glaub- berts h-Moll-Sinfonie in Vorläuferschaft zu Wag-
haften Schilderungen seiner Zeitgenossen soll er ners Tristan ausdrücklich den Aspekt der Harmo-
nicht fähig oder willens gewesen sein, Liszts Tasso nik würdigte, denn der avancierte Gebrauch der
oder Wagners Tristan anders denn als reine Or- Harmonik und besonders der Einsatz von Enhar-
chesterstücke, unabhängig vom poetischen oder monik wurde zum materialen Kern des musikali-
dramatischen Zusammenhang, anzuhören: schen »Fortschritts« im 19. Jahrhunderts gezählt.
Oder noch elementarer: Vielleicht ist es der »ko-
»Trotz allem gelang es auch Stradal nicht, Bruckners
Anerkennung für Liszts Schaffen im allgemeinen zu ge- lossale Aufbau«, den Bruckner neben der kühnen
winnen. Als absoluter Musiker konnte er es nicht begrei- Harmonik an Liszts Faust-Symphonie rühmte
fen, daß eine poetische Idee die formale Anlage eines (Stradal 1932, 973), die Monumentalität, die er-
Kunstwerks bestimmen könne. So war er der Idee der
Symphonischen Dichtung abhold. Die meisten der dies- weiterten Zeitdimensionen der Wagnerschen
bezüglichen Werke Liszts waren ihm, da sie in Wien da- Musik, das komponierte »Misterioso«, sozusagen
mals übergangen wurden, nicht bekannt«. (Göll.-A. 4/2, ein mit dem Erlebnis von Beethovens Neunter
168)
Sinfonie und Wagners »mystischem« Orchester
Vollends muss die Kenntnis der Erstfassung gerade überschriebenes Urerlebnis des St. Florianer Kir-
der Dritten Sinfonie aber auch den Glauben an cheninnenraums, das Bruckner mit den avancier-
den Wagner-Einfluss sehr erschüttern. Bruckner testen Mitteln seiner Zeit zu reproduzieren beab-
geht in dieser frühen Version, was den Orchester- sichtigte.
satz betrifft, sowohl horizontal wie vertikal vom
60 Gerhard J. Winkler

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62

Bruckners Musik
von Giselher Schubert

Das Skizzieren von Grundzügen der Musik Anton »großer romantischer Oper« Tannhäuser 1863 in
Bruckners sieht sich mit einer Fülle von antago- Linz, doch verschrieb sich Bruckner mit der Kom-
nistisch aufeinander bezogenen ästhetischen und position vor allem von Sinfonien dann einer Gat-
kompositionstechnischen Kriterien konfrontiert, tung, die nun gerade Wagner seit Beethovens
die sich bei keinem anderen großen Komponisten Neunter Sinfonie als abgelebt empfand und über
in dieser Weise finden und die eine Einsicht in die die er das ›geschichtsphilosophische‹ Verdikt des
Eigenheiten seiner Musik erheblich erschweren, definitiven ›Endes‹ verhängte. Zudem besaß
zum Teil sogar geradezu unterlaufen. Die Konfi- Bruckner weder literarische Interessen noch war er
guration dieser schroff wechselnden Kriterien, die literarisch gebildet, während für die Neudeutschen
zur möglichst ungeschmälerten Darstellung der um Wagner und Liszt, denen sich Bruckner zuge-
musikalischen Faktur bemüht werden müssen, hörig fühlte, deren Nähe er suchte und die er über
fordert geradezu zur Revision von musikhistori- alles verehrte, die musikalische Bildung und die
schen Einsichten heraus, die in der Regel nur wi- Musikauffassung immer auch literarisch vermittelt
derspruchsfreie Eindeutigkeit gelten lassen. waren und sich einerseits in ihren zahlreichen
Bruckners Musik erhält jedoch ihre unverwechsel- Schriften, andererseits etwa in der Gattung der
bare Physiognomie durch eine Komplexität voller Sinfonischen Dichtung niederschlug. Bruckner
verwirrender Widersprüche, die festzuhalten und hat weder substanzielle Schriften verfasst noch
so weit als möglich verständlich zu machen sind. Sinfonische Dichtungen komponiert. Er soll sogar
etwa Wagners Musikdrama Tristan und Isolde nur
mithilfe eines Klavierauszuges ohne Singstimmen
und Text studiert haben. Bruckner machte sich
Musik zwischen Gegensätzen zunächst als überragender Organist und Orgelim-
provisator auch international einen Namen, aber
Völlig zu Recht nannte Leopold Nowak Bruckner nennenswerte Orgelmusik hat er nicht kompo-
ein »Genie zwischen Gegensätzen«, das es voll- niert, und die Sinfonien schrieb er außerhalb jener
brachte, sie »zur Einheit zu führen« (Nowak 1973, Institutionen, in denen er als Organist wirkte.
144 f.) – wie immer auch solche »Einheit« beschaf- Doch erkannte man in seinen Sinfonien in der
fen sein mag. Bruckner unterwarf sich strengster Ausgestaltung der blockhaft-kontrastreichen, re-
langjähriger, ebenso zäh wie geduldig und erfolg- gisterhaften Instrumentierung in homogenen
reich absolvierter kompositionstechnischer Schu- Instrumentengruppen (Holzbläser, Blechbläser,
lung, und doch erfolgten die Entfesselung und der Streicher), im fast schon konsequenten Aussparen
Durchbruch seiner originären kompositorischen bestimmter Instrumente (Harfe bis auf die Achte
Schaffenskraft ebenso plötzlich wie unvorherseh- Sinfonie, Englisch Horn, Es-Klarinette, Bassklari-
bar und unerwartet. Ausgelöst wurde dieser nette, Kontrafagott) und Instrumentengruppen
Durchbruch durch das Erlebnis von Wagners (Schlagzeug unbestimmter Tonhöhe bis auf Be-
Bruckners Musik 63

cken und Triangel), in der mitunter schroff wech- onen regelmäßig wiederkehrenden Formdispositi-
selnden Dynamik oder in manchen Zügen einer onen wuchsen den Brucknerschen Formenwelten
scheinbar assoziativen Formentwicklung grund- gewissermaßen statisch-architektonische, schablo-
sätzliche Einflüsse von Orgelmusik und -improvi- nenhafte Züge zu, die er durch die von ihm sehr
sation wieder. Bruckner besaß denn auch keine sorgsam in den Partituren kontrollierte, rhyth-
Hemmungen, in seinen Orgelimprovisationen misch-metrisch möglichst völlig regelmäßige,
Themen aus Wagners Musikdramen oder aus sei- ›quadratische‹ Taktgruppengliederung hervor-
nen eigenen Sinfonien zu nutzen. Werden seine kehrte und intensivierte, und doch drängt sich
Sinfonien auch als ›Messen‹ für den Konzertsaal ebenso der gewaltige Impetus des Musikablaufs in
gedeutet, so gelten umgekehrt seine drei großen mächtigen Steigerungswellen auf, die den Ein-
Messen, in denen sogar ›theatralische‹ Züge spür- druck von grundsätzlicher architektonischer ›Sta-
bar werden, auch als ›Sinfonien‹ für die Kirche tik‹ ebenso sinnfällig wie seltsam dynamisch-
(Floros 2004, 91). Gattungsspezifische Unter- stringent ergänzen, so dass sich fast schon im
schiede lassen sich in der Musik Bruckners denn Sinne von modernen Zeitmodi von ›rasendem
auch kaum ausmachen: Die Messen, das Te Deum Stillstand‹ sprechen ließe. Bruckner war sogar be-
und der 150. Psalm tragen unverkennbar sinfoni- reit, etwas von seiner über die von ihm geschaffene
sche Züge, in den Sinfonien machen sich, wie er- Musik verfügenden Autonomie als Komponist
wähnt, Einflüsse von Orgelmusik bemerkbar, das abzutreten und die jeweils aufzuführende Werkge-
Streichquintett als das einzige substanzielle Kam- stalt den Dirigenten verständnisvoll anheimzustel-
mermusikwerk wirkt orchestral erfunden, und die len, um seine eigene Fassung zuversichtlich »spä-
geistliche Musik a cappella bedient sich als ›Ge- teren Zeiten« und einem »Kreis von Freunden und
brauchsmusik‹ charakteristischerweise der Stilko- Kennern« anzuvertrauen (Briefe 2, 114). Unerbitt-
pie, ohne freilich epigonal zu wirken. lich verlangte er im Kompositionsunterricht von
Solche Antagonismen reichen weiter bis in den seinen Schülern die Beachtung und Respektierung
Habitus und bis in kompositionstechnische Ein- traditionell sanktionierter Satzregeln, doch gegen
zelheiten der Brucknerschen Musik hinein. Die Eingriffe seiner Schüler in seine Werke wehrte er
feierlich-erhabene Monumentalität seiner Musik, sich kaum. So wenig Bruckner je eine Sinfonie
die sich dem Hörer in den glanzvollen, bezwin- aufgrund von Aufträgen oder auf eine Aussicht auf
genden, ja überwältigenden Aufgipfelungen der Aufführung hin komponierte – nach August Halm
Musik als ein So-und-nicht-anders-Sein der Werke rage eine Zuhörerschaft gar nicht in Bruckners
aufdrängt, scheint alles Ephemere und Zufällige Vorstellungen hinein (Halm 1978, 178), und für
auszuschließen, und doch hat Bruckner die meis- Peter Gülke sind Bruckners musikalische Mittel
ten seiner Sinfonien zum Teil sogar mehrfach sogar auf eine Dimensionierung hin angelegt, »der
überarbeitet, so dass ihrer Faktur in jeder Fassung unsere einordnende Erfahrung kaum gewachsen
ein Moment von Kontingenz, also von bedeu- ist« (Gülke 1989, 136) –, so unmittelbar können
tungsvoller Zufälligkeit eingeschrieben bleibt. Das sich kompositorische Maßnahmen jedoch auch
jeweilige Werk wirkt im Hörerlebnis ›endgültig‹, aus der banalen Lebenswelt herleiten bis hin zu
ohne dass die Musik in einer ›endgültigen‹, defini- jenen Zeiten, in denen er als Dorfschullehrer mit
tiven Fassung in den jeweiligen Werken vorzulie- einer Geige zum Tanz aufspielte, um seine küm-
gen scheint. In allen Sinfonien lassen sich die merliche Besoldung aufzubessern (Eckstein 1923,
gleichen Formdispositionen wiederfinden, die 22). Ernst Decsey überlieferte, dass sich Bruckner
freilich nicht zu einer wachsenden Souveränität über die Gleichzeitigkeit von Tanz und Choral im
oder Routine in ihrer Anwendung bei Bruckner Finale der Dritten Sinfonie mit den Worten äu-
führten, sondern eher die Überarbeitungsvorgänge ßerte: »Sehen Sie, hier im Haus großer Ball – da-
stimulierten oder doch erleichterten. Zudem neben liegt der Meister auf der Totenbahre! So ists
schränkten sie die musikalische Erfindung keines- im Leben und das habe ich im letzten Satz meiner
falls ein oder lähmten sie, sondern sie forderten sie dritten Symphonie schildern wollen: die Polka
heraus und entfesselten sie, indem sie ihr eine bedeutet den Humor und Frohsinn in der Welt –
Grenze setzten. Durch solche auch in allen Revisi- der Choral das Traurige, Schmerzliche in ihr«
64 Giselher Schubert

(nach Kurth 1925, 866). So unbeholfen und trivial sche Michel und reitende Kosaken aufgeboten
Bruckners programmatische Äußerungen zu seiner werden; er entzog sich im monumentalen, gleich-
Vierten und Achten Sinfonie wirken, so prägnante, sam geschichtslosen Habitus der Werke, die wie
vielschichtige musikalische Ausdruckscharaktere ein »Naturereignis« wirkten (Dahlhaus 1980, 228),
und -formen führte er nicht nur durch Anweisun- seiner Zeit und wusste sich dem Alltag seiner Le-
gen wie »misterioso« oder »feierlich«, durch volks- benswelt durchaus noch verpflichtet. Die Ausein-
musikalische Anklänge, Ländler, Märsche, Trauer- andersetzung mit solchen Antagonismen, auf die
märsche, Choräle, prägnante Bläsersignale und sich eine Charakterisierung der Brucknerschen
-fanfaren, Vogelrufe, Zitate oder musikalische Musik einzulassen hat, muss um so mehr an die
Anspielungen auf eigene oder fremde Werke, Geschichte der kompositionstechnisch akzentu-
sondern auch durch sich spontan mitteilende ierten Bruckner-Deutungen anschließen, als ent-
Raumwirkungen (Nähe, Ferne, Höhe, Tiefe) oder sprechende authentische Schriften Bruckners
Bewegungsformen (schnell, langsam, bedächtig, fehlen, denen im Sinne einer Entwicklung seines
zögernd) in seine Musik ein. So synkretistisch Selbstverständnisses zunächst und in einer ersten
solches Komponieren wirken mag, welches das Instanz zu folgen wäre. Der Zugang zur Faktur der
Aufspüren und Rekonstruieren von – womöglich Brucknerschen Musik lässt sich, zumindest teil-
auch noch vielsagend-verschwiegenen – außermu- weise, über die Geschichte ihrer Deutung finden,
sikalischen Programmen zu stimulieren scheint, so der hier, angeleitet von grundsätzlichen Fragen
sehr gelingt es Bruckner, sie in eine ›reine‹ Musik wie der Identität der Musik und der Vielzahl der
zu verwandeln, an deren Authentizität, Originali- Werkfassungen und Überarbeitungsvorgänge oder
tät, Reichtum, Differenziertheit und Ausdrucks- der Schematisierung der Werkanlagen und der
gewalt keine Programme – vor allem auch diejeni- Werkindividualität in Auszügen nachgespürt
gen nicht, die er selbst in Briefen zu suggerieren wird.
trachtete – heranreichen.
Bruckners seit 1863 komponierte originäre
Musik, so lässt sich pointierend zusammenfassen,
wurde durch ein ursprüngliches Musikerlebnis Werke und Werk
entfesselt, an das er mit eigenen Werken aber
kaum unmittelbar anschloss. Er verschränkte in Über der Standardisierung und Schematisierung
seinen Werken Musikarten und musikalische der Formanlagen scheinen die Sinfonien Bruck-
Ausdruckscharaktere, die unvereinbar scheinen; er ners, in denen sein Œuvre zweifellos kulminiert,
gab ihnen einen rigiden Werkcharakter und ge- nicht nur einen bestimmten Sinfonietypus in im-
langte zu einem Werkbegriff, der sich in den mer neuen Varianten auszuprägen, sondern auch
Werkfassungen aufzulösen scheint. Bruckner un- sich zu einem einzigen Werk zu gruppieren, das
terwarf sie einer geradezu pedantischen rhyth- den Inbegriff der Brucknerschen Musik um-
misch-metrischen Kontrolle und standardisierte schreibt. Der Komponist Hans Pfitzner meinte
die Formdispositionen, doch setzte solche nachge- etwa, Bruckner habe nicht neun (von ihm ge-
rade zwanghafte Kontrolle zugleich auch seine zählte) Sinfonien sondern nur eine komponiert,
schöpferische Fantasie frei; er verschachtelte seine weil sie sich alle gleichen (Nowak 1973, 157). Au-
grundsätzlich architektonisch-statisch wirkende gust Halm veröffentlichte 1913 seine Bruckner-
Formgestaltung mit dynamisch ausladenden, un- Monographie demonstrativ mit einem Titel in der
gemein stringenten Steigerungsanlagen; er gab Singular-Form Die Symphonie Anton Bruckners;
einigen Werken durchaus programmatische Züge, man erfährt in diesem Buch noch nicht einmal,
die aber nicht zum Status von zuverlässig ausfor- wie viele Sinfonien Bruckner überhaupt geschrie-
mulierten Programmen fanden, die ohnehin hin- ben hat. Und Peter Gülke hob auf eine hinter allen
ter der Ausdrucksgewalt der Musik zurückstehen Sinfonien Bruckners liegende imaginäre, unhör-
und an die noch so suggestive sprachliche Vermitt- bare »Hauptmusik« ab, welche den Werken Indi-
lungsversuche auch dann nicht heranzureichen vidualität und Eigenständigkeit raube (Gülke
scheinen, wenn Majestäten und Könige, der deut- 1989, 101). Demnach wäre herauszufinden, welche
Bruckners Musik 65

Eigenschaften einer Musik zugesprochen werden, Gegenwart. So teile sich in den Anfängen der
bei der es offenbar schwer fällt, zwischen dem Sinfonien Bruckners etwas »Unzeitliches« mit:
Allgemeinen der Musik und dem Besonderen der »Wir spüren es: hier beginnt nicht ein Musikstück,
Werke zu differenzieren. sondern die Musik selbst hebt an«, oder: »Bruck-
Die konstanten, regelmäßig wiederkehrenden, ner fängt mit dem an, was geschehen musste, da-
schematisch-schablonenhaften Züge der Bruck- mit es Geschichte gäbe« (Halm 1913, 42). In
nerschen Musik hatte Bruckners Schüler Franz Bruckners Themen der ersten Hauptgruppe der
Schalk hervorgehoben und zugleich indirekt als Kopfsätze herrsche
ephemer heruntergespielt:
»ganz oder zunehmend der Wille zum Folgenden, der
»In der Tat gibt es nichts Primitiveres als die Brucknersche Geist der Zukunft; es ist die dramatische Gruppe. Ihr
Form. Kaum je ist einer von den Großen mit dem Form- folgt die zuständliche, die idyllische oder lyrische; das
problem sorgloser umgegangen als Bruckner. Er hat sich Sich-selbst-Genügen des Melodischen gibt erst das Ge-
ein sehr einfaches Schema für seine Sätze zurecht gelegt, fühl der Gegenwart. […] Ueberall finden wir in der
darüber offenbar niemals spekuliert und in all seinen dritten Hauptgruppe die Musik wieder in Gang, mehr
Sinfonien ganz gleichmäßig festgehalten. Hauptthema, noch in Zug oder gleichsam in Flug gekommen, und so-
hier und da eine Art Introitus vorher, Seitensatz, den er mit im Gegensatz zur zweiten befindlich, von der ersten
stets sehr charakteristisch mit dem Wort Gesangsperiode aber unterscheidet sie sich doch sehr merklich durch den
bezeichnete, und Schlußperiode für die Ecksätze. Seine gelösteren Stil.« (Halm 1913, 47 f.)
Adagios sind alle dreiteilig: Hauptthema, zweites Thema
(Gesangsperiode), von denen das erste zweimal irgendwie Halm erkennt in Formgliedern Brucknerscher
variiert wiederkehrt, während das zweite nur eine Reprise Musik ein »Streben im Gewand der Ruhe« oder ein
erfährt. Seine engsten und geschlossensten Sätze sind stets »Verharrenwollen im Habit der Hast«; sie können
die Scherzi, in denen allein das rhythmische Element den
›Gesang‹ überwiegt oder ganz verdrängt.« (Schalk 1935, auch die Charaktere von »Ruhezeit«, »Vorzeit«
89 f.) oder auch »Zwischenzeit« annehmen. Auf diese
Weise gelingt es Halm, den Schematismus Bruck-
Schalks Bemerkungen provozieren durch eine nerscher Formen nicht nur als einen individuellen
Verharmlosung des Formproblems, die von Igno- Prozess differenziert erfahrbar zu machen, sondern
ranz nicht mehr zu unterscheiden ist. auch Form als ein musikalisches Zeiterleben zur
Sprache zu bringen, ohne etwa außermusikalische
Programme bemühen zu müssen.
Freilich bleibt das Erlebnis solcher Zeitmodi in
Erlebnis der Form der Brucknerschen Musik in letzter Instanz an die
verständnisvolle Einsicht des Hörers gebunden
Den selbst von Bruckners Schülern hervorgehobe- und lässt sich, wie Halm selbst erkannte, kaum
nen rohen Schematismus der Brucknerschen ›objektivieren‹; er könne, so Halm, nicht »bewei-
Formenwelt differenzierte August Halm an- sen, dass es Bruckner gelungen ist, grosse Organis-
spruchsvoll und subtil durch seine Auffassung der men von Sätzen und Symphonien zu schaffen
Brucknerschen Musik als einer nachdrücklichen […]. Ersehen lässt sich Bruckners Wille zur Form
Zeitkunst, der er im Sinne eines »Erlebnisses der […]. Der Erfolg dieses Willens aber lebt nur im
Form« originell auf die Spur zu kommen ver- Eindruck« (Halm 1913, 80 f.). Halms einsichtvolle
suchte. Ihm geht es im Kontext einer Phänomeno- und geistreiche Beobachtungen wirken mehr oder
logie musikalischer, thematisch oder formal fun- weniger plausibel, ohne nüchtern ›bewiesen‹ wer-
dierter »Kulturen« um das Sinnverstehen musika- den zu können oder sich in benennbare komposi-
lischer Zeitgestaltung. Seine Bruckner-Analysen tionstechnische Kategorien Brucknerscher Musik
gründen in der Erkenntnis, dass der Modus der zu verwandeln. Entsprechend wuchs das Bedürf-
musikalischen Zeit im Erlebnis der Form durch nis, ein kompositionstechnisches Verständnis der
die jeweilige Art der musikalischen Erscheinung Brucknerschen Musik zu entwickeln und seine
differenziert wird. In der Gegenwart des musikali- unbestreitbare kompositorisch-handwerkliche
schen Erlebens sei Vergangenes aufbewahrt und Souveränität und Meisterschaft, den irritierenden
Zukünftiges antizipiert. Gegenwart, so Halm, sei Schematismus der Formen und eine musikalische
immer, aber in der Musik erleben wir nicht immer Entwicklungslogik, welche Kürzungen, Erweite-
66 Giselher Schubert

rungen, den Austausch oder den Wegfall einzelner und die rhythmischen Modelle oder Muster regu-
Formglieder zulässt, aufeinander zu beziehen und lative Funktionen; sie stiften Zusammenhang und
wechselseitig zu erhellen. Kontinuität, während die Harmonik, die Melodik,
die Kontrapunktik oder die Satztechnik variative
Aufgaben übernehmen: eine Harmonik, die sich
als leittönig-gleitende Klangverwandlung voller
Kompositionstechnische überraschender, unvorhersehbarer Wendungen
Charakterisierungen von konstruktiven Beziehungen weitgehend
emanzipiert, eine Melodik, die Bruckner in der
Von solchen erkenntnisleitenden Interessen zeigen von ihm so genannten »Gesangsperiode« des Sei-
sich die eindringlichen Analysen Brucknerscher tenthemenkomplexes der Ecksätze zur Doppelme-
Musik getragen, die Werner Korte bot: »Was den lodie erweitert und intensiviert, eine Kontrapunk-
Zeitgenossen schablonenhaft und schematisch tik, die weitgehend zu einem Mittel thematischer
vorkam, ist in Wirklichkeit das Ordnungsverfah- Darstellungen verwandelt wird, und eine Satz-
ren einer schöpferischen Notwendigkeit« (Korte technik, die vor allem in gewaltigen Klangflächen
1963, 46). Dieses »Ordnungsverfahren« entwi- oder in den machtvollen Steigerungsabläufen
ckelte Korte als System der Brucknerschen The- dann auch alle Satzglieder gleichartig vereinheitli-
menbildung und ihrer variativen Verarbeitung in chen und aufeinander zu beziehen vermag. Korte
Reihungsformen, die eine eingreifende Neugestal- fasst zusammen: »Die Teile sind als komplexe
tung des Tradierten einschließen. Korte charakte- Stücke miteinander verbaut, und ruckweise springt
risierte die Brucknerschen Hauptthemen als pri- der Ablauf von Gruppe zu Gruppe. Eine freie,
mär rhythmisch, weniger melodisch-intervallisch vegetative Entfaltung der sich fortzeugenden Sub-
geprägte, relativ kurze Tonkonfigurationen, die in stanz – wie bei Schumann oder Wagner – ist für
sich geschlossen wirken und weder einen melodi- Bruckner ganz unmöglich« (Korte 1963, 39). So
schen »Antrieb« noch überhaupt einen »Entwick- rückt Bruckner wohl die deutlich voneinander
lungstrieb« gewissermaßen von sich aus besitzen. abgehobenen Formglieder addierend oder reihend
Er nannte eine solche in sich geschlossene, an- in einer Art aneinander, die auf dem Hintergrund
triebslose thematische Konfiguration als Haupt- der traditionellen Formen schablonenhaft-sche-
thema »thematische Kernzeile«, die Bruckner matisch wirkt, doch verwandelt sich ihr traditio-
syntaktisch halbsatzartig durch variierte Wieder- neller Formsinn: Durch die Art der beschriebenen
holung weiterführt. Unverändert wiederholt wird Themenaufstellungen, die bereits variative Verfah-
fast nur die Rhythmik der »Kernzeile«, variiert ren nutzen, erhält der traditionelle Formteil der
hingegen werden die Intervalle und die Harmo- Exposition in Sonatensätzen etwa einen Durch-
nik. Entscheidend ist nun die Einsicht, dass diese führungscharakter, und die Teile der Durchfüh-
Konfiguration von Kernzeile und variierter Wie- rung und der Reprise erweisen sich als »aufberei-
derholung in der Themenaufstellung in veränder- tende Wiederholung« der Exposition im Sinne
ten, gesteigerten und monumental erweiterten einer freieren Behandlung der ursprünglichen
Dimensionen auch die großformalen Zusammen- Abfolge der Formglieder (Durchführung) oder der
hänge der Brucknerschen Musik prägen. Dabei Beibehaltung ihrer Abfolge (Reprise):
lassen sich zwei Typen von Formgestaltung unter-
»Exposition, Durchführung und Reprise sind aufgereihte
scheiden: die »Addition«, bei der Gleiches (vari- Durchführungsgruppen. Die ›Exposition‹ ist die erste
iert) wiederholt wird, und die »Reihung«, die Selbstdurchführung einer Groß-Gruppe, die ›Durchfüh-
Verschiedenes in einen unmittelbar spürbaren rung‹ ist die zweite Durchführung dieser Groß-Gruppe
Zusammenhang rückt. Zudem kann Bruckner (wobei mit ihrer inneren Struktur freier verfahren wird),
und die ›Reprise‹ stellt deren dritte Durchführung dar
zwischen verschiedenen thematischen Konfigura- (wobei wiederum die alte Abfolge der Glieder eingehalten
tionen rhythmische, intervallische und melodische wird)«. (Korte, 51)
Beziehungen knüpfen.
In diesem addierenden oder reihenden Form- In solchem Formsystem, das von der Themenauf-
konzept übernehmen die ›quadratische‹ Metrik stellung bis zur Gesamtform der Sätze und Werke
Bruckners Musik 67

die Musik Bruckners prägt, gibt es keine themati- Wendung zur Individualität
sche Logik, die aus prozesshaft-stringenter moti- der Werke
visch-thematischer Arbeit erwächst. Die schwei-
fende Harmonik mit ihren alterierten Klängen, So sehr Korte mit kompositionstechnischen Krite-
chromatischen Fortschreitungen, harmonischen rien die Einsicht in die Faktur der Brucknerschen
Rückungen ermöglicht unvorsehbare, schroffe Musik grundsätzlich gefördert hat, so unbefriedi-
Richtungswechsel. Die Polyphonie streng geführ- gend bleibt seine Folgerung, dass für das »Ganze«
ter, obligater Stimmen verwandelt sich in eine der jeweiligen Sätze und Werke, für die nach-
Kontrapunktik, die Themen wie »Bausteine« in drückliche »Notwendigkeit« ihrer jeweiligen Fak-
ihren verschiedenen Formen (Umkehrung, Eng- tur grundsätzlich keine Kriterien entwickelt wer-
führung, Verkleinerung, Vergrößerung) kombi- den können. Denn: So sehr sich durch einen
niert. Die Instrumentierung färbt diese Bausteine Vergleich der Fassungen nur eine »relative Not-
und Formglieder prägnant durch individualisie- wendigkeit« der Werke aufdrängen mag, so absolut
rende, blockhafte Klanggestaltung ein und spart notwendig wirken die Werke in der Situation einer
den klanglich nivellierenden orchestralen Misch- gelungenen Aufführung. Das nötigt dazu, genera-
klang eher aus. Und zudem lassen auch die glie- lisierende Analysen der Musik von spezifischen
dernde Dynamik, die Tempogestaltung, die Arti- Analysen der jeweiligen Werke wenn nicht zu
kulation, die Satzart und die Satzdichte oder auch trennen, so doch abzuheben und zu unterschei-
die markanten Einschnitte und Zäsuren Bruckners den. Entsprechend wendete sich die Einsicht in
addierendes und reihendes Formsystem hervortre- die Musik Bruckners vom Allgemeinen des Œuv-
ten. Bruckner kehrt nicht nur seine Komposi- res zum Besonderen des jeweiligen Werkes: durch-
tionsmittel nach außen und verschmäht den aus im Sinne einer paradox anmutenden allgemei-
Schein von ›geheimnisvoller‹ musikalischer ›Na- nen Theorie des Besonderen.
turwüchsigkeit‹, sondern setzt geradezu auch die Solch eine Wendung bereitete Carl Dahlhaus
Materialität seiner Kompositionsmittel – das rein mit einer Arbeit zu Bruckners Harmonik vor
Harmonische, Rhythmische, Melodische oder (Dahlhaus 2003). Die Dialektik von Allgemeinem
Klangliche – eindrucksvoll ins Werk. Die monu- der Musik und Besonderem der Werke erschließt
mental-machtvollen Dimensionen der Bruckner- Dahlhaus über einen Vergleich der Deutungen
schen Musik, die das hergebrachte Maß hinter Brucknerscher Harmonik durch Korte und Halm.
sich zu lassen scheinen, behalten deshalb immer Korte charakterisiert, wie erwähnt, Bruckners
auch einen gewissen ›musikantischen‹ Zug, der Harmonik als »leittönig-gleitende Klangverwand-
wesentlich zur »überwältigenden Selbstverständ- lung«, die auch dann ›ziellos‹ wirkt, wenn sie am
lichkeit« der »symphonischen Monumentalität« Ende eines Formteiles ein tonales Zentrum befes-
seiner Musik beiträgt (Dahlhaus 1980, 225), die tigt. Solche Harmonik besitzt nach Korte mit ihrer
dann auch als »intellektlos« und »naturhaft« be- Mehrdeutigkeit und Umdeutbarkeit keine ›kon-
schrieben wurde (Bekker 1918, 55). Solches Gestal- struktive‹ Bedeutung und entspricht damit genau
ten ermöglicht es Bruckner zudem, der Musik in der »antriebslosen«, in sich abgeschlossenen
gewissen Grenzen immer auch eine andere Fas- »Kernzeile« als dem Grundelement der Bruckner-
sung zu geben: schen Thematik, die mit den offenen Verfahren
der Addition oder der Reihung variativ entfaltet
»Das Parataktische dieser Bauweise bringt das Auswech-
selbare oder Eliminierbare der Glieder notwendig mit. werden muss, ohne eine bestimmte Entwicklungs-
Diese Glieder sind nicht absolut und notwendig mitein- tendenz von sich aus zwingend vorzugeben. An-
ander verknüpft, es besteht eine nur relative Notwendig- ders Halm, der die »kreisende« Harmonik als ein
keit der Bindung zwischen ihnen. Eine aus der Struktur
ableitbare syntaktische Konsequenz zur Bildung des Mittel Bruckners beschreibt, die unterschiedlichen
›Ganzen‹ ist nicht nachweisbar.« (Korte 1963, 54) »Zeiten« der Form im Erlebnis der Musik spürbar
zu machen. Beide Deutungen verfahren damit
generalisierend: Korte fasst die Harmonik als
Äquivalent der thematischen Konfiguration, Halm
als Artikulation musikalisch differenziert zu erle-
68 Giselher Schubert

bender Zeit in einer bestimmten Formsituation nierte Grundtypen kompositorischer Gestaltung


auf. Korte setzt demnach die Harmonik zur Satz- zu eigen, an denen er wie an unveränderbaren
technik in eine enge Beziehung, Halm hingegen Grundprinzipien festhielt wie etwa an der Art der
zur Form. Dahlhaus bezieht beide Deutungen, die Bildung von Themen, der variativen Themenent-
›abstrakt‹ oder ›allgemein‹ bleiben und in gewis- wicklung, der Anzahl der Themengruppen und
sem Sinne normative Festschreibungen mit sich der Sätze, der Disposition der Formteile, der har-
führen, aufeinander, um zur Einsicht in die Not- monisch-tonalen Klangtechnik, der quadratischen
wendigkeit einer triftigeren und entscheidbaren Syntax, der thematisch zu fundierenden Kontra-
Analyse der Brucknerschen Harmonik zu gelan- punktik, an bestimmten musikalischen Satz- und
gen; denn über die Bedeutung oder den Sinn der Ausdruckstypen oder -charakteren wie der Fuge,
Brucknerschen Harmonik kann offensichtlich nur dem Choral, dem Marsch, dem Ländler usw. Sol-
werkspezifisch, aber nicht mithilfe generalisieren- ches Komponieren schließt wohl immer auch
der Annahmen über ihre satztechnische und die Traditionelles durchaus eklektisch, losgelöst von
formale Bedeutung entschieden werden: historisch-stilistischen Erwägungen oder von ei-
nem historisch verpflichtenden ›Stand des Materi-
»Die ›Zeiten der Form‹, die ›entwickelnde Variation‹ der als‹ ein, doch mehr noch schafft es sich auf diese
Themen und die ›harmonisch-tonalen Charaktere‹ müs-
sen immer von neuem – und das heißt: unter den wech- Weise seine eigene Tradition, die in den generali-
selnden Bedingungen der kompositionsgeschichtlichen sierenden Verständnissen der Musik Bruckners
Lage einerseits und der Formidee des individuellen Wer- ›idealtypisch‹ auf den Begriff gebracht wird. In der
kes andererseits – in eine ästhetisch-kompositionstech-
nisch zwingende Relation zueinander gebracht werden.« notwendigen Differenzierung solchen generalisie-
(Dahlhaus 2003, 716) renden Verständnisses der Musik durch die Werke
lässt sich dann nicht nur der irritierende Schema-
Nicht, dass mit solchen Überlegungen der Nutzen tismus der Brucknerschen Musik als ihre durchaus
und der Sinn generalisierender Analysen der eigene und unverwechselbare, ja zwingende Form
Brucknerschen Musik grundsätzlich bezweifelt von Tradition auffassen, die sie sich selbst gab,
wird; vielmehr geht es darum, ihre Geltung zu sondern sie macht auch die Entwicklung seines
erkennen, zu bestimmen und sie damit in einer Komponierens transparenter.
Art nutzen zu können, die abweichende individu-
elle Ausgestaltungen keinesfalls normativ als wo-
möglich ›vorläufig‹ oder ›defizitär‹ ausweisen.
Solche Überlegungen führten denn auch dazu, Musik und Werk
die allgemeinen Züge der Brucknerschen Musik
noch differenzierter und zudem auch in ihrem In das Zentrum der Erkenntnis und des Verständ-
Verhältnis zur Musikgeschichte, zur »kompositi- nisses der Musik Bruckners rückten deshalb auch
onsgeschichtlichen Lage« aufzufassen. So schloss ganz konsequent Werkmonographien, deren spe-
wohl Bruckner mit seiner Musik grundsätzlich vor zifische Einsichten nun kaum mehr verallgemei-
allem an Beethoven und Schubert, in Einzelheiten nert werden können und die Annahme einer vir-
seiner Kompositionstechnik auch an Wagner und tuellen, unhörbaren »Hauptmusik« hinter den
Liszt, aber auch an religiöse Prunkmusik von Ber- Sinfonien Bruckners, die den Einzelwerken ihre
lioz (Te Deum; Grande messe des morts) an, doch Eigenständigkeit raube, unnötig macht. Die
komponierte er gänzlich unbelastet von den ästhe- »Hauptmusik« hinter den Sinfonien ist nichts
tischen und kompositionstechnischen Problemen, anderes als Bruckners ganz eigene, von ihm selbst
welche die nach-Beethovensche Sinfonik von geschaffene musikalische Tradition. Entscheidend
Schumann, Mendelssohn bis Brahms prägten ist die genannte argumentative Wendung vom
(Hansen 1987, 140). Es gab für Bruckner keine Allgemeinen der Musik zum Besonderen der
historische Kontinuität in der sinfonischen Musik, Werke unter musikhistorischen Aspekten. So geht
in die er seine Werke stellte und in die er sich hätte es etwa in einer Arbeit von Rudolf Stephan über
eingliedern wollen oder können (Gülke 1989, 106). die Fassungen der Dritten Sinfonie nicht mehr um
Vielmehr machte sich Bruckner historisch sanktio- die Faktur einer Kompositionstechnik, welche
Bruckners Musik 69

verschiedene Werkfassungen einer Musik ermög- wissermaßen ›ausgelegt‹ wird, wie umgekehrt auch
licht, ohne dass sich ihre Identität gänzlich zu das Hauptthema als ›Text‹ aufgefasst werden kann,
verflüchtigen beginnt, sondern um dasjenige, was der durch die harmonisch-tonale Formgestaltung
sich in diesen Fassungen durchaus auch im Sinne eine ›Explikation‹ erhält. Hinrichsen entscheidet
einer Entwicklung seines Komponierens substan- sich für die »Auslegung« der Form durch die Ge-
ziell ändert: in diesem Fall um die Steigerung des schichte des Themas:
thematischen Zusammenhangs im Sinne der In-
»Vergleicht man den Abschluss der ganzen Sinfonie mit
tensivierung einer motivisch-thematischen Logik dem Beginn des Kopfsatzes, vor allem aber mit dessen
der Musik; es geht um eine »Thematisierung des Ende in der zweiten Fassung, dann wird die Entwicklung
musikalischen Geschehens«: »Bruckner hat die von der chromatisch gepressten über die rhythmisch re-
duzierte zur diatonisch befreiten Erscheinungsform des
nichtthematischen Partien seiner Sinfonie durch Hauptthemas als ein Grundzug der Werkidee evident.«
thematische ersetzt, er hat also bloß harmonisch (Hinrichsen 2004, 232)
und metrisch bestimmtes Tönen durch thematisch
bedeutungsvolles musikalisches Geschehen er- Auf diese Weise gelingt es Hinrichsen überzeu-
setzt« (Stephan 1985, 79). Allerdings werden solche gend, aus dem Werkkontext heraus die Bedeutung
Einsichten von einem von der Immanenz des auch jener kompositionstechnischen Maßnahmen
Werkes ablenkenden musikhistorischen Verständ- Bruckners gänzlich individuell zu begründen, die
nis stimuliert, das, zumindest latent, die komposi- an sich bekannt sind, also zum ›Idealtypus‹ seiner
tionstechnische Entwicklung als »Problemge- Sinfonik zu zählen wären und darüber hinaus
schichte des Komponierens« fast schon teleologisch auch ein allgemeines kompositionstechnisch-sti-
in Schönbergs Idee einer thematischen Logik listisches Merkmal in der Musik der Zeit repräsen-
kulminieren lässt, die den Verlust von harmonisch- tieren. Beschrieben werden also nicht nur die
tonaler Logik sowie von rhythmisch-metrisch re- Mittel, sondern auch die unterschiedlichen Be-
gelmäßiger, erkennbarer Ordnung in zwölfton- deutungen, die ihnen durch die jeweilige beson-
technisch fundierter atonaler Musik auszugleichen dere Anwendung in den Werken zuwachsen kön-
hat. Freilich geht aus solchen Analysen eher her- nen. Das gilt auch für die Deutung der Bruckner-
vor, dass Bruckner zu dieser Kompositionsge- schen Harmonik, deren werkspezifische
schichte mit seiner Musik dann doch nur allzu Differenzierung Dahlhaus im Anschluss an die
Marginales beigetragen hat. generalisierenden Bestimmungen durch Halm
Eine Konzentration auf die Immanenz des und Korte angeregt hatte. Hinrichsen spürt gera-
Werkes und der Werkidee, wie sie Hans-Joachim dezu eine subtile »tonale Dramaturgie« in der
Hinrichsen in seinem Vergleich der beiden Fas- Satzfolge der Sinfonie auf, die in der »Kernzeile«
sungen der Achten Sinfonie bietet, kommt denn des Hauptthemas der Sinfonie in gewisser Weise
auch zu gänzlich anderen Ergebnissen. Auch Hin- vorgebildet ist und welche die Höhepunktgestal-
richsen geht vom ›Idealtyp‹ der Brucknerschen tungen der Sätze vor allem als eindringliche und
Sinfonik aus mit ihrer »auf die Schlussapotheose beziehungsreiche harmonisch-klangliche Ereig-
zielende[n], gestufte[n] Überbietungsdramaturgie« nisse, weniger als »thematische Durchbrüche«
(Hinrichsen 2004, 224), die er kompositionstech- wirken lässt. Die konventionelle, häufig verwen-
nisch als Transformationen des Hauptthemas aus dete, von Wolfram Steinbeck zuerst beschriebene
dem Kopfsatz, also gewissermaßen als ›Geschichte‹ Klangprogression übermäßiger Quintsextakkord
dieses Themas beschreibt. Die Musik der Achten – Dur-Quartsextakkord in C-Dur (Steinbeck 1993,
Sinfonie mit ihren beiden Fassungen erschließt 41), durch welche solcher klanglich fundierter
sich ihm über die Beziehung von Form und ›Durchbruch‹ im Adagio der Sinfonie (1. Fassung)
Thema, welche die Dialektik von Allgemeinem erreicht wird, erhält eine werkspezifisch besonders
und Besonderem in einer ganz anderen Art wider- ausgewiesene, unverwechselbare Bedeutung:
spiegelt: Die thematisch-harmonisch nachdrück-
lich gestaltete Form des Werkes kann wie ein »In ihm [im C-Dur] erfolgt die Verknüpfung des harmo-
nisch exterritorialen Adagiosatzes mit der Dur-Tonika der
vorgegebener ›Text‹ wirken, der durch die ›Ge- gesamten Sinfonie. Mit der Fokussierung des Adagio-
schichte‹ des Hauptthemas aus dem Kopfsatz ge- Höhepunktes auf die Tonika der Sinfonie ist in der ersten
70 Giselher Schubert

Fassung der Achten das dramaturgische Höhepunkts- onspunkt des Satzes. In den Finalsätzen modifi-
und Durchbruchskonzept gegenüber den vorausgegange- ziert Bruckner diese Sonatenhauptsatzform gegen-
nen Sinfonien also erheblich gestrafft worden, indem es
nicht nur auf die […] Final-Idee hin ausgerichtet, son- über den Kopfsätzen durch eine spürbare Synthese
dern nun auch auf klanglich-harmonischer Ebene zu lü- von architektonisch-formaler Symmetrie und
ckenloser Konsequenz geschlossen wird.« (Hinrichsen prozessualer Zielgerichtetheit des Musikablaufs;
2004, 234)
zudem sind die Themen nicht nur mit denen des
Kopfsatzes verwandt, sondern Themen aus vorste-
Die ausführlichste Werkmonographie auf dem henden Sätzen, vor allem aus dem Kopfsatz, kön-
Hintergrund generalisierender Einsichten in die nen im Sinne von zyklisch abrundender Formdis-
Musik Bruckners für ihre »Satzprinzipien« und für position als Zitate wiederkehren. In den langsamen
das »Schema der Sätze« liegt mit Wolfram Stein- Sätzen verändert Bruckner die Sonatenhauptsatz-
becks Arbeit über die Neunte Sinfonie vor (Stein- form mit drei »Abteilungen«: einer ersten Abtei-
beck 1993, 18 ff.). Steinbeck fasst das ›Schematische‹ lung als Exposition zweier Themen, einer zweiten
in der Brucknerschen Musik als »Außenseite« einer als Durchführung, die Bruckner als ein variiertes
sinfonischen Idee auf, die in jedem Einzelwerk Wiederaufnehmen der Themen der Exposition
ihre spezifische Erfüllung und Ausgestaltung fin- ausführt, sowie einer dritten als Reprise, die weni-
det (Steinbeck 1993, 17). Und für die Charakteri- ger zu den Themen der Exposition zurück kehrt,
sierung dieser »Außenseite« nutzt er, anders als als sie vielmehr gesteigert wieder auftreten lässt,
Halm oder Korte, die traditionellen Kategorien wobei er jedoch das zweite Thema ausspart. Die
der Formenlehre, die das Traditionelle der Gestal- Coda ist im Gegensatz zu denjenigen in den Rah-
tung und zugleich den Unterschied zu ihr – zu- mensätzen ruhig-abklingend gehalten. In den
mindest indirekt – erhellen. Steinbeck charakteri- Scherzosätzen schließlich reduziert Bruckner die
siert den Typ eines jeden Formteiles der Sonaten- Thematik auf kurze rhythmische Floskeln; dabei
hauptsatzform und eines jeden Satzes. Die beiden tragen die Scherzo- und die Trio-Teile analoge
Rahmensätze jeder Sinfonie tragen jeweils die dreiteilige Reprisenformen mit einem durchfüh-
Sonatenhauptsatzform, die immer die Abschnitte rungsartigen Mittelteil.
von Exposition, Durchführung, Reprise und Coda Solche von Steinbeck sehr differenziert be-
aufweisen. Die Exposition umfasst immer drei schriebene allgemeine Faktur der sinfonischen
Themenkomplexe: einen Hauptthemenkomplex, Musik Bruckners verhilft ihm zu ebenso charakte-
eine dreiteilige »Gesangsperiode« als Seitenthe- ristischen wie individualisierenden Einsichten in
menkomplex mit zwei melodischen Linien, von die Musik der Werke – hier der Neunten Sinfonie
denen fast schon jede die Hauptstimme sein –, die sonst kaum erreichbar wären, die nun ganz
könnte, sowie die dritte Themengruppe, die bei im Sinne der paradoxen allgemeinen Theorie des
struktureller Ähnlichkeit mit dem »Gesangsthema« Besonderen die Plausibilität solcher generalisie-
die rhythmische Prägnanz des Hauptthemas er- renden Analysen ebenso voraussetzen wie schmä-
hält. Sie bricht auf der Dominante ab, und es lern und damit zugleich das Problem der allgemei-
schließt sich ein viertes »Feld« als eine Art Über- nen Charakterisierung der Musik Bruckners wi-
leitung zur Durchführung mit thematischem derspiegeln, um die sich der vorliegende Beitrag
Freiraum für Choralanklänge, Akkordketten oder bemüht.
Zitate an. Der Durchführung mit vier bis fünf
Abschnitten gibt Bruckner, so Steinbeck, regelmä-
ßig die größte Steigerungsbewegung (Steinbeck
1993, 32). Die Reprise schließlich, die ihre innerli- Verständnis der Musik
che formale Legitimation durch den ›fertigen‹ und
›wiederholbaren‹ Charakter der Themen besitzt, Die adäquate Auffassung und das Verständnis der
wird gegenüber der Exposition teils kontrapunk- Musik Bruckners lassen sich nicht ein für alle Mal
tisch erweitert, teils formal gerafft; zudem fällt das festschreiben, sondern beides verändert sich histo-
vierte »Feld« der Exposition weg. Die Coda reprä- risch; und bestenfalls halten sich die historischen
sentiert den letzten und gewaltigsten Kulminati- Erkenntnisgewinne und -verluste, die sie mit sich
Bruckners Musik 71

führen können, die Waage. Es steht auch nicht auch diese zeitgenössische Musik einen Zeitkern
fest, inwieweit über die jeweilige »kompositions- besitzt, der sie vor allem unter den ästhetischen
geschichtliche Lage«, die Dahlhaus als ein Krite- Prämissen eines notwendigen musikalischen Fort-
rium ins Spiel brachte, der Zugang zur Musik schritts alsbald veralten lässt. Deshalb wäre es auch
Bruckners zu finden ist und die historische ›Stim- kaum mehr sinnvoll oder geboten, etwa die skiz-
migkeit‹ der Einsichten ausweist und sanktioniert. zierten synkretistischen Züge der Brucknerschen
Die Thematisierung des musikalischen Gesche- Musik mehr als nötig hervorzuheben, um sie zur
hens, die Rudolf Stephan an Bruckners Revisionen Musik etwa Gustav Mahlers in Beziehung setzen
der Dritten Sinfonie hervorhob, kann sich, wie zu können, weil diese gegenwärtig fast schon den
beschrieben, zumindest latent von einem be- Inbegriff sinnvoll möglicher Musik zu repräsentie-
stimmten musikhistorischen Konzept getragen ren scheint und sich auf diese Weise die fortwäh-
fühlen, das musikalische Logik mit Schönberg vor rende ›Aktualität‹ Brucknerscher Musik mühelos
allem als Logik stringent ›entwickelnder‹ moti- erweisen ließe. Der beträchtliche Einfluss Bruck-
visch-thematischer Arbeit auffasst. Wird dagegen nerscher Musik auf diejenige von Mahler und
auf die klanglich-harmonischen Durchbrüche, auf Mahlers nachhaltiger Einsatz für Bruckner stehen
die »harmonisch-tonale Dramaturgie«, auf das zudem fest und brauchen nicht dazu herzuhalten,
»motivfreie Klanggeschehen«, auf das »bloße har- Bruckners Musik irgendeine ganz besondere Zeit-
monisch und metrisch bestimmte Tönen« in genossenschaft zu verschaffen. Gerade unter den
Bruckners Musik abgehoben, so ließe sich mit ästhetischen Prämissen des musikalischen Synkre-
gleicher Berechtigung Bruckners Musik in eine tismus wird es immer zweifelhafter, welche Musik
musikhistorische Entwicklung eingliedern, die in unsere eigene Gegenwart authentisch zu repräsen-
Franz Schrekers mit Schönbergs Ideen zeitgleicher tieren vermag. Cages Arbeiten werden mittlerweile
Akzentuierung des »reinen Klanges, ohne jede dem abgelebten Neodadaismus zugeordnet (Dahl-
motivische Beigabe« zu sich selbst findet (Schreker haus 1970, 46), und die serielle Musik ist mit den
1919, 6 f.). Bruckners Musik scheint beiden musik- musikalischen Denkformen, durch welche sie
historischen Eingliederungen gleichermaßen ausgebildet wurde, gänzlich verblasst, so dass
standzuhalten, ohne dass sie substanziell etwas zur durch die genannten musikhistorischen Verknüp-
Charakterisierung seiner Musik beitragen. Man- fungen, wenn man sie als triftig gelten lassen will,
fred Wagner glaubte sogar, Bruckners »Stille« in der Musik Bruckners kaum noch eine spezifische
gewisser Weise auf John Cages Pausenstück 4’33 Modernität oder Zeitgenossenschaft zuzusprechen
für beliebige Besetzung beziehen zu können oder wäre oder umgekehrt von Bruckners Musik aus
in Bruckners Idee der durch Schichtendenken noch ein Licht auf Cage oder die serielle Musik
gekennzeichneten musikalischen Architektur Ent- fällt oder gefallen ist. Bruckners Musik ist aber
sprechungen in den Modellen der späteren seriel- auch nicht mit Schönberg, Schreker, Cage oder
len Musik aufzuspüren (Wagner 1983, 398). Solche der seriellen Musik »veraltet«. Vielmehr scheint
gewiss geistreich-originellen Überlegungen verab- Bruckners Musik auch dadurch »klassische« – vor-
solutieren immer nur eine zeitgenössische Musik, bildliche – Züge gewonnen zu haben, dass sie
deren Züge auf die Musikgeschichte projiziert mühelos solche musikhistorischen ›Fortschritte‹
werden, ohne genügend zu berücksichtigen, dass überstand oder hinter sich lassen konnte.

Literatur
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Berlin 1918. Wien 1923.
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sammelte Schriften. Bd. 6: 19. Jahrhundert III. Hrsg. u. a. 1989.
von Hermann Danuser u. a. Laaber 2003, 705–716.
72 Giselher Schubert

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chen 1913 (21923). Linz 1973.
–: Anton Bruckner. In: ders.: Von Sinn und Form der Schalk, Franz: Anton Bruckner. Betrachtungen und
Musik. Hrsg. von Siegfried Schmalzried. Wiesbaden Erinnerungen [1921/28]. In: ders.: Briefe und Be-
1978, 176–181. trachtungen, hrsg. von Lili Schalk. Wien/Leipzig
Hansen, Mathias: Anton Bruckner. Leipzig 1987. 1935, 87–92.
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Sinfonie c-Moll. Reductio ad abstractum oder die Anbruch 1 (1919), 6 f.
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Joachim Hinrichsen/Laurenz Lütteken (Hrsg.): nie d-Moll (= Meisterwerke der Musik 60). München
Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der 1993.
Musik. 14 Werkporträts. Kassel u. a. 2004, 220–237. Stephan, Rudolf: Zu Anton Bruckners 3. Sinfonie. In:
Korte, Werner F.: Bruckner und Brahms. Die spätro- ders.: Vom musikalischen Denken. Hrsg. von Rainer
mantische Lösung der autonomen Konzeption. Tut- Damm und Andreas Traub. Darmstadt 1985, 70–79.
zing 1963 Wagner, Manfred: Bruckner. Mainz/München 1983.
Kurth, Ernst: Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925 (Repr. Hil-
desheim 1971).
73

Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise


von Thomas Röder

Quellenlage und Überlieferung seine handschriftlichen Hinterlassenschaften an


die Hofbibliothek gegeben hat, und zwar durchaus
Von Anton Bruckners kompositorischer Hinterlas- als Referenz für noch herzustellende Druckausga-
senschaft ist der größte Teil in Eigenschrift erhal- ben.
ten. Lediglich etwa der zehnte Teil der Titel liegt
ausschließlich als Abschrift vor, und die verschol-
Quellen bis zum Ende der ›Lehrzeit‹ (1863)
lenen Werke lassen sich an den Fingern einer Hand
aufzählen. Allerdings ist in einer solchen Rechnung Die frühen Orgelstücke, noch aus der Hörschinger
weder das qualitative noch das quantitative Ge- Zeit, müssen nicht Bruckner zugeschrieben wer-
wicht der Kompositionen berücksichtigt. Denn den, um dennoch signifikant für den Komponis-
für alle Hauptwerke existieren autographe Partitu- ten zu sein. Allein ihr Auftauchen im Zusammen-
ren, partiell sogar in alternativen Versionen; dar- hang mit der Erforschung von Bruckners Leben
über hinaus finden sich häufig auch Abschriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutet auf das
mit autographen Eintragungen. Bei diesen Eintra- Gemenge von Abschriften, simplen Kadenznota-
gungen handelt es sich nicht immer nur um ledig- ten, ad-hoc-Sätzen zur Intonation, Überarbeitung
lich korrigierende Eingriffe; Abschriften dienten von Vorgefundenem, also auf Spuren aus dem
auch als Basis zur Weiterentwicklung einer Kom- mutmaßlichen musikalischen Alltag des jungen
position (wie etwa im Fall der Achten Sinfonie). Bruckner, die gewiss erste Prägungen bei dem
Heranwachsenden setzten. Wenn die bei Nowak
wiedergegebene Skizze (Nowak 1973, 18) tatsäch-
Handschriften und Drucke
lich von der Hand Johann Baptist Weiß’ stammt,
Zu Bruckners Lebzeiten lagen die wichtigsten dann darf dem Cousin Bruckners durchaus ein
Kompositionen der Wiener Zeit im Druck vor. Einfluss auf den Schriftduktus des Schülers Anton
Hierbei fehlt jedoch fast völlig der etwa bei Brahms zugesprochen werden. Fast alle frühen Kompositi-
geläufige Typ des Handexemplars mit Autorkor- onen sind noch autograph erhalten. Die kleineren
rekturen. Auf Bruckners Indifferenz gegenüber Arbeiten sind, soweit damals zugänglich und in
Fragen der Druckpublikation geht ja letztlich die Partiturform notiert, in der Monographie von
Frage nach der authentischen Fassung zurück: Göllerich/Auer faksimiliert. Die dort abgedruckte
Bruckners »letzte Hand« ist in seinen gedruckten Kantate Vergißmeinnicht (WAB 93, 1847) kann als
Musikalien nicht mehr zu erspüren. Mangels sol- frühes und schönes Beispiel einer vom Komponis-
cher Spuren treten Bruckner-Forschung und -Pu- ten angefertigten Widmungspartitur angesehen
blikum selbst den zu Lebzeiten veröffentlichten werden (Göll.-A. 1/1, 283–300). Freilich verschwin-
Partituren (immerhin sieben Sinfonien) bestenfalls den in diesem Fall die individuellen Merkmale
mit Vorbehalten gegenüber. Gewiss findet diese von Bruckners Schreib- und Notenschrift hinter
Einstellung Unterstützung darin, dass Bruckner dem Bemühen um eine möglichst normative Ge-
74 Thomas Röder

staltung. So erscheinen die Notenköpfe, vor allem was (dann allerdings nicht mehr erhaltene) Skiz-
die hohlen Charaktere, etwas zierlicher geschrie- zen in Bleistift nicht ausschließt. Bleistifteinträge
ben als in der Gebrauchsschrift des Komponisten. stehen vor allem am Anfang korrigierender Ein-
Das Beispiel zeigt auch, dass Bruckner nicht zu- griffe; gelegentlich werden diese dann mit Tinte
letzt durch seine Lehrerausbildung ein großes nachgezogen (Hawkshaw 1985, 40 ff.). Nur aus-
Repertoire schriftförmlicher Ausdrucksmittel zur nahmsweise – im ersten Satz der f-Moll-Sinfonie
Verfügung hatte und darauf auch immer wieder – sind größere Partien im Zusammenhang als
zurückgreifen konnte. Spätestens seit seiner Dom- Bleistiftskizze angelegt.
organistenzeit bezog der Komponist die Hilfe von Möglicherweise als Reflex der vielfältigen älte-
bezahlten Kopisten mit ein: Die auf den 10. Juli ren Partituranordnungen, die sich gewiss in den
1857 datierte Abschrift der Kantate WAB 61a, recte St. Florianer Musikalienbeständen befinden, ver-
b (»Auf, Brüder! auf zur frohen Feier«) stammt von fährt Bruckner bis 1863 in dieser Hinsicht unein-
Bruckners Linzer Lieblingskopisten, dem Musik- heitlich. Die Partitur des Magnificat (von 1852,
lehrer und Hornisten Franz Schimatschek, und ist WAB 24) und vor allem diejenige von Psalm 146
vermutlich die früheste erhaltene Kopistenab- (WAB 37) sind nach »deutscher« Art eingerichtet
schrift einer Brucknerschen Komposition (Hawk- (mit Trompeten und Pauken in den obersten Sys-
shaw 1993). Bruckners enge Zusammenarbeit mit temen), während etwa im Requiem (WAB 39) und
Schimatschek zeigt sich in etlichen ›kooperativen‹ in der Missa solemnis (WAB 29) die Violinen (nach
Reinschriften, bei denen Komponist und Kopist »italienischer« Art) an der Spitze der Akkolade
sich die Arbeit aufteilten (Hawkshaw 1993, 29 f.). stehen. Daneben finden sich noch seltsame Abar-
In den Jahren 1862 und 1863, am Ende seiner ten, die sozusagen von der Sopranstimme aus
›Lehrzeit‹, ließ Bruckner die ›Abschlussarbeiten‹ ›abstrahlen‹ (vgl. einige Teile des Requiem sowie
Marsch (d-Moll, WAB 96), Orchesterstücke (WAB das Fragment einer Messe in Es-Dur, WAB 139):
97), Ouvertüre (WAB 98) und f-Moll-Sinfonie Hier folgen (von oben nach unten) auf die Posau-
(WAB 99) von einem weiteren der sechs bei nen Viola, 2. und 1. Violine, daran anschließend
Hawkshaw aufgelisteten Linzer Kopisten in Rein- der Chor (so im Requiem). Es scheint, als ob
schrift bringen. Die Kompositionsmanuskripte Bruckner spätestens beim Unterricht mit Kitzler
hiervon befinden sich in dem von Bruckner (also 1861–63) zur heute noch gebräuchlichen
1861–63 angelegten sogenannten »Kitzler-Studien- Partituranordnung gefunden habe mit der Aus-
buch« (eigentlich ein nachträglich gebundenes nahme, dass die Pauken traditionellerweise stets
Konvolut). als Bass der Trompetengruppe verstanden und
Bruckner verwendete fast ausschließlich indus- unmittelbar unter der Trompetenzeile notiert
triell gefertigtes Papier; auf einem erhaltenen werden.
Handelsumschlag ist der Aufdruck »Josef Eiden- Etwas früher, vermutlich 1861, gab Bruckner
berger Rastrier-Anstalt in Linz« zu lesen, und die Notation der Chorstimmen in alten Schlüsseln
vermutlich verwendete Bruckner Notenpapier lo- auf und verwendete nur noch Violin- und Bass-
kaler Provenienz (Hawkshaw 1985, 20 f.). Sein be- Schlüssel (prominente Ausnahme ist die d-Moll-
vorzugtes Format war das Doppelblatt (ein zusam- Messe von 1864 mit nach wie vor alten Schlüsseln).
menhängender »Bogen«) im Querformat, vielfach Zuvor schon notierte Bruckner den G-(Violin-)
mit zwölf, für größere Vokalwerke auch mit 16 bis Schlüssel in Liedkompositionen, bei nicht weiter
20 Notensystemen rastriert. Zur St. Florianer und zu differenzierenden ›Singstimmen‹, und wohl
Linzer Zeit wurden häufig noch zwei dieser Dop- auch schon in Männerchorsätzen (so etwa 1846 im
pelblätter zu einem kleinen Faszikel zusammenge- Ständchen WAB 84, für Männerquartett mit
fügt; größere Kompositionen waren auf mehreren Brummstimmen und Tenorsolo). Während der
solcher Faszikel untergebracht. In der Folgezeit Studien bei Simon Sechter (1858–61) beschrieb
ging Bruckner jedoch mehr und mehr dazu über, Bruckner über 600 Seiten mit Satzübungen, wäh-
das Doppelblatt (also vier Seiten) zur kleinsten rend derer sich die Schreibform seines Violin-
Einheit seiner handschriftlichen Texte zu machen. schlüssels wandelte (Hawkshaw 1993, 227).
Das bevorzugte Schreibgerät war die Tintenfeder,
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 75

die der Notenstecherei eingereicht wurde und in


Quellen nach 1863
der die Hersteller des Drucks ihre Spuren hinter-
Ob die für die letzen beiden Sinfonien signifikant lassen haben (Seiten- und Akkoladeneinteilung).
anwachsende Zahl der erhaltenen Skizzen auf ein Hierzu konnte das Autograph verwendet werden,
zunehmend schwieriger gewordenes Komponie- vor allem in kleineren Kompositionen wie etwa
ren, auf einen Wechsel der Arbeitsmethode oder dem Graduale Os justi (WAB 30), aber auch im
auf unbekannte Wege der Überlieferung hindeu- Fall der Siebten Sinfonie. Gelegentlich wurde unter
tet, muss offen bleiben (vgl. die nur in den Ziffern, Bruckners Augen eine Abschrift als Stichvorlage
nicht in der Tendenz überholte Übersicht bei angefertigt (Erstdruck der Dritten), doch fand sich
Röthig 1978, 384). Was die materiellen Kompo- der Komponist in den letzten zehn Jahren seines
nenten des Komponierens betrifft, wächst vor al- Lebens zunehmend genötigt, Schüler mit der
lem der Umfang des für die Sinfonien benutzten Anfertigung der Stichvorlage und der Endredak-
Notenpapiers von 14 Zeilen (so noch bei der Erst- tion zu beauftragen. Schließlich existieren kom-
fassung der Vierten) über 18 Zeilen bis zu dem plette Abschriften aus der Endphase eines Projekts,
hochformatigen 24-zeiligen Papier der Firma die darauf hindeuten, dass Bruckner dadurch ei-
Eberle, das zuletzt noch, für die Neunte, von nen bestimmten Stand der Komposition fixiert
Bruckners Sekretär Meißner mit Taktstrichen und haben wollte (etwa im Fall der Ersten, Dritten und
Instrumentenvorsatz präpariert wurde. Für Skizzen Achten Sinfonie).
kam noch das überkommene querformatige, bis Die Stimmen treten in ihrer Bedeutung für den
20 Zeilen umfassende Papier zur Verwendung. Werktext hinter das an erster Stelle stehende Au-
Schon mit dem ersten größeren Orchesterwerk tograph und die von diesem abhängigen Abschrif-
nach der ›Lehrzeit‹, der d-Moll-Messe (WAB 26), ten zurück. Dass ihr Notentext sich den Werkre-
bildete sich das typische Überlieferungsschema visionen kontinuierlich anpasst, ist nicht zu erwar-
aus, das sich bei der Mehrzahl der Sinfonien beob- ten; der Fall der f-Moll-Messe, bei dem die Stimmen
achten lässt (und das freilich als allgemein nahelie- eine etwa 15-jährige Aufführungstradition doku-
gend für die arbeitsteilige Produktion von Musik mentieren, ist eine Ausnahme (Hawkshaw 2004,
anzusehen ist): Neben das Arbeitsmanuskript des 95 ff.). Freilich bewahren sie gelegentlich Formu-
Komponisten tritt das Aufführungsmaterial in lierungen, die sich sonst nirgends finden, wie Teile
Form einer Partiturabschrift sowie von Einzel- des Finales der Dritten Sinfonie kurz vor der Um-
stimmen. Zuweilen ist noch das Widmungsexem- arbeitung zur 2. Fassung oder den kohärenten
plar erhalten, eine Kopistenreinschrift mit Bruck- Text, der bei der Erstaufführung der Ersten Sinfo-
ners Signatur samt einem pompösen Widmungs- nie verwendet wurde. Die ›vorzeitige‹ Erstellung
blatt; im Fall der Siebten und der Achten erfüllte der Stimmen ergab zuweilen unangenehme Dif-
der Erstdruck diese Funktion. Kam kein Dirigat ferenzen zu einer Dirigierpartitur mit revidier-
zustande (wie im Fall der Dritten und der Vierten tem Notentext, so etwa bei der Vierten und auch,
Sinfonie) oder war eine Aufführung für den Mo- postum und aufgrund fremder Redaktion, bei der
ment nicht im Bereich des Möglichen (wie im Fall Sechsten Sinfonie. Dieser letztgenannte Fall veran-
der Ersten), nahm Bruckner die beginnende Ände- lasste übrigens 1919 den Dirigenten Georg Göhler,
rungsarbeit in den Abschriften vor oder gab, in das ›Fassungsproblem‹ als aufführungspraktisches
späterer Zeit, diese fort, um eine Hilfsperson dazu Problem publik zu machen.
zu animieren, Verbesserungsvorschläge einzutra- Da die Philologie der musikalischen Bruckner-
gen. Über kurz oder lang konnte aus dieser Praxis Überlieferung lange Zeit auf den Autor fixiert war
das Problem der Pflege und Synchronisierung und überdies bis in das letzte Viertel des 20. Jahr-
dieser Änderungen in allen Manuskripten (zuwei- hunderts keine institutionelle Basis hatte, war die
len nämlich sogar der Stimmen) erwachsen, und systematische Erkundung des materialen Kontexts
Bruckner legte eine der Partituren beiseite oder von Bruckners Handschriften dem jeweiligen
fertigte eine neue an. Zu den letzten Stufen der Teilziel, etwa einer Edition, verpflichtet. Lediglich
handschriftlichen Werkausformung gehört die die Bemühungen von Paul Hawkshaw galten der
sogenannte Stichvorlage, also jene Handschrift, Erschließung eines breiten Szenarios, nämlich der
76 Thomas Röder

gesamten auf Bruckners Wirken in Linz bezoge- münster bis heute zu den Hauptverwahrungsstät-
nen Überlieferung (Hawkshaw 1984). Von Hawk- ten Brucknerscher Musikhandschriften zu zählen
shaw stammt auch eine kurze Abhandlung zu den ist. Ein eigener Bereich der Spekulation um Verlo-
Linzer Kopisten (Hawkshaw 1993). Die ansatz- renes ist, ferner, mit dem Finale der Neunten Sin-
weise Erkundung der Kopistenfrage führt zu dem fonie verknüpft; hauptsächlich gab hier Bruckners
Ergebnis, dass überraschend viele Mitarbeiter an Arzt Dr. Richard Heller Auskunft. Hellers Bericht
Bruckners kompositorischen Projekten beteiligt kam wiederum nur über einen Aufsatz Max Auers
waren, wenn die gesamte Produktion überblickt an die Öffentlichkeit. Demnach hätten sich sofort
wird, und dass Bruckner bereits in Linz Wiener nach Bruckners Tod »Befugte und Unbefugte wie
Kopisten beschäftigte, wie etwa den auch für die Geier auf seinen Nachlaß« gestürzt (Auer 1924,
Brahms tätigen Franz Hlawaczek. Demgegenüber 35). Heller erklärte sich und der Nachwelt zumin-
griff er in Wien immer wieder auf Linzer Kopisten dest, warum er nicht mehr in den Besitz des von
zurück, wie etwa Carda (nur der Nachname ist Bruckner vor seinen Augen konzipierten und ihm
bekannt) für die Zweite und Dritte oder einen versprochenen Dankchorals kam: Es wurde näm-
Anonymus für die Sechste Sinfonie (Hawkshaw lich »sofort alles geschlossen und versiegelt« (Auer
1993, 227). Überdies zog er im Lauf der Jahre zu- 1924, 35). (Der Dankchoral hat sich bis heute nicht
nehmend eigene Schüler und Freunde zu diesem gefunden.) Somit ist es, nach anderen Interpreta-
Dienst heran, wie etwa Friedrich Eckstein, der die tionen, Bruckners Nachlassverwalter Theodor
Stichvorlagen zu drei Motetten anfertigte, oder Reisch, der den Letzten Willen Bruckners, näm-
den St. Florianer Musiklehrer Karl Aigner, dem lich die »Originalmanuscripte« an die Hofbiblio-
Bruckners besonderes Vertrauen galt und der zu- thek zu geben, allzu eng verstanden habe und,
sammen mit dem Steyrer Gemeindebeamten Leo- indem er, mit Einwilligung der Erben, verschie-
pold Hofmeyer unter anderem an der Ausarbei- dene Manuskripte an Privatpersonen und Institu-
tung der Achten Sinfonie mitwirkte. tionen, die mit Bruckner verbunden waren, zur
Verwahrung gegeben hatte, für die Streuung der
Überlieferung, ja, sogar den Verlust wichtiger
Streuung
Manuskripte (vor allem zur Neunten Sinfonie)
Bruckners persönliches Archiv ist nicht mehr zu verantwortlich sei. In der Tat ist es bedauerlich,
umreißen. Es ist aber anzunehmen, dass der Kom- dass Reisch kein Inventar hat anfertigen lassen.
ponist sehr zurückhaltend im Vernichten früherer Zweifellos verlaufen die Hauptstränge der
Arbeiten war, und der Hinweis Max Auers, Bruck- Bruckner-Überlieferung neben den genannten
ners letzter Adlatus Anton Meißner habe, vor dem Orten über die Nachlässe des designierten Biogra-
Umzug nach Belvedere im Frühsommer 1895, eine phen August Göllerich und einiger Bruckner-
»Sichtung der in hohen Stößen aufgestapelten Schüler wie der Brüder Schalk und Ferdinand
Noten« vorgenommen und »vieles auf Befehl des Löwe. Ferner kaufte der Bruckner-Pionier Max
Meisters dem Feuer übergeben« müssen, klingt Auer einen Restbestand von Bruckners Schwester
zum einen wie eine Überblendung von Elementen Rosalie Hueber in Vöcklabruck (Göll.-A. 4/3,
aus Beethovens und Brahms’ Biographie, dient 608 ff.). Die bibliographische Erfassung der ge-
jedoch zum anderen als jederzeit einsetzbarer samten Bruckner-Überlieferung, die Erforschung
spekulativer ›Joker‹ (Göll.-A. 4/3, 512 f.). Dass die ihrer Provenienz ist noch Zukunftsmusik. Spätes-
Menge der Gesamtüberlieferung in Bruckners tens seit den 1930er Jahren erhielt die Österreichi-
späteren Jahren zunimmt, muss jedenfalls nicht sche Nationalbibliothek zahlreiche Handschriften
mit einem willkürlichen ›Aussieben‹ erklärt wer- aus dem Besitz der Biographen zurück; ebenfalls
den. Denn Bruckner hat offenbar überaus gerne in jener Zeit begannen die bis heute anhaltenden
obsolet gewordene Manuskripte als Souvenir fort- Bemühungen, die der Bibliothek anvertrauten
gegeben, und zwar vor allem einzelne Bögen, an Bruckneriana auch durch Ankauf zu vermehren
deren Stelle neu geschriebene traten; insbesondere und ihre Zerstreuung so weit wie möglich zu ver-
der Freund P. Oddo Loidol erhielt so viel Material, ringern.
dass das Archiv seines heimatlichen Stifts Krems-
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 77

Der Komponist als Arbeiter ganisieren. Auch die Manuskriptstruktur – die


schon erwähnte Konstitution eines Werktextes aus
Heutigen Vorstellungen entsprechend war Bruck- aufeinandergelegten, also voneinander unabhängi-
ner ein ›Freizeitkomponist‹. Das klingt paradox, gen Doppelblättern – könnte dem Arbeiten in
war er doch wie kein anderer ein Mann des Meti- Zeitfragmenten entgegengekommen sein oder
ers, früh schon auf die eigene Professionalisierung dieses konsolidiert haben, vielleicht gar in man-
bedacht, zunehmend bestrebt, das ganze Leben chen Fällen dazu beigetragen haben, das Arbeits-
auf die Verwirklichung des Werks zuzurichten. pensum konkret einzuteilen. Der letzte, wenn
Diesem Ziel galt freilich auch Bruckners wie auch auch spekulative, Schritt wäre es, die ›Zerstückt-
immer motivierter Wunsch nach materieller Absi- heit‹ oder ›Stückhaftigkeit‹ – will man diesen Be-
cherung; an staatliche Stellen gerichtete Bittschrei- fund überhaupt anerkennen – der Brucknerschen
ben um Subvention seiner künstlerischen Tätigkeit Kompositionen auf den zerstückten Wiener Alltag
durchziehen Bruckners Biographie ebenso wie die ihres Autors zurückzuführen.
Berichte von einer Arbeitsbelastung, die aus der
Wahrnehmung von Lehraufgaben am Konservato-
Arbeitsschritte
rium und an der Universität herrührte, durch den
Dienst an der Hofkapelle vermehrt und schließ- Bruckner verwendete eine eigene Nomenklatur,
lich noch durch Privatschüler bis an den Rand des um spontan und unsystematisch die einzelnen
Zumutbaren gesteigert wurde. Den Aufzeichnun- Arbeitsschritte des Komponierens in seinen Ma-
gen von 1878 zufolge war Bruckner an sechs Tagen nuskripten zu dokumentieren, und erachtete fol-
in der Woche für etwa 30 Stunden durch Unter- gende vier Stufen für relevant: Skizze – Streichmu-
richt okkupiert; dazu kam der Dienst in der Hof- sik – Instrumentation – Nuancierung. So ist etwa
musikkapelle, der von Elisabeth Maier implizit am Ende des ersten Satzes der Vierten Sinfonie in
mit knapp zehn Wochenstunden veranschlagt erster Niederschrift zu lesen:
wird (Maier 1980, 206 f.). Offenbar teilten sich die
»Wien 24 Jänner 1874. / Scitze in Partitur / Streich: 10.
Hoforganisten den Dienst wochenweise auf, doch Feber / Instrumentiert 21. März 1874 / Nuanciert
bleibt Bruckners Arbeitswoche durchaus fragmen- 26.3.874.«
tiert. Vermutlich fielen demnach die ergiebigsten
Arbeitsperioden mit der sommerlichen Ferienzeit Am Beginn der Partitur ist das bekannte erste
zusammen. Datum der Komposition folgendermaßen no-
Es wird berichtet, dass Bruckner bei Kerzen- tiert:
schein bis in die Nacht an seinen Kompositionen
»Wien, 2. Jänner scitz.«, sowie daruntergesetzt: »Partit. 7.
gesessen habe. Ebenso notorisch ist allerdings auch [Jänner] 874.«
sein regelmäßiger abendlicher Wirtshausbesuch;
den Nachtsitzungen konnte also durchaus an- Man könnte die These vertreten, dass in Bruckners
strengendes Speisen und nicht zuletzt Trinken mittlerer Schaffenszeit das genuine, angemessene
vorausgehen. Da aber diese Berichte seiner Schüler Procedere des Komponisten gerade auch in der
erst in die 1880er Jahre zu datieren sind, scheint es Ungeduld der frühzeitigen Partiturnotation am
durchaus plausibel zu sein, dass gerade das überaus reinsten hervortritt, das heißt: Ein Skizzieren ist
produktive erste Wiener Jahrzehnt eben nicht mit auf das Notwendigste beschränkt, eine Art ›ins
dieser anstrengenden Verzahnung von beruflicher Unreine schreiben‹, gewiss auch auf eigens dafür
Verpflichtung, schöpferischer Spannung und ge- bereitliegenden Blättern bewerkstelligt. Was je-
sellschaftlicher Entspannung zu kennzeichnen doch zählt, ist die Skizze in der Partitur, in jener
ist. Form, die Friedrich Eckstein in der Zeit, als die
Immerhin könnten die zahlreichen Datierun- Siebte Sinfonie entstand, so plastisch beschrieb:
gen und »NB«-Vermerke in den Eigenschriften
darauf hindeuten, dass Bruckner durchaus inten- »Diese Entwürfe waren merkwürdig genug. In der Regel
war nur die oberste Zeile der Holzbläser oder die Geigen-
sive Sorge dafür zu tragen hatte, die Arbeit an stimme ausgefüllt und ganz unten jene der Bässe; dazwi-
seinen Kompositionen in rationeller Weise zu or- schen aber eine gähnende Leere, die erst einer späteren
78 Thomas Röder

Niederschrift der Noten für die übrigen Orchesterstim- einanderfaltung, Durchführung und Kombinie-
men harrte.« (Eckstein 1992, 149) rung. Es ist der Abschnitt, die Passage, es sind
Bruckners oben mitgeteilte Auskunft am Anfang verschiedene Klangräume, vegetative Fernbezüge,
und Ende der Partitur der Vierten könnte folgen- günstige Momente in der Verkleidung melodischer
dermaßen gelesen werden: Sechs Tage nach Auf- oder harmonischer Prägungen. Mancher Inspira-
zeichnung erster Ideen stand der Verlauf des ersten tionsmythos diente wohl der biographischen
Satzes fest und wurde während der nächsten an- Einbettung eines solchen günstigen Moments, wie
derthalb Wochen eingetragen, vielleicht noch in etwa die merkwürdige Hilfe, die Ignaz Dorn im
Bleistift, vielleicht schon in der Oberstimme oder Traum bei der Findung des Finalethemas der
im Bass mit Tinte fixiert. Nach ungefähr noch Vierten gegeben haben soll (Göll.-A. 4/1, 345 f.),
einmal derselben Zeit war am 10. Februar mit der die therapeutische Epiphanie des Benedictus-
»Streichmusik« der ›Kern‹ der Komposition for- Themas der f-Moll-Messe an Weihnachten 1867
muliert (»Streichmusik« unabgekürzt findet sich oder, einen Monat zuvor, der durchaus improvisa-
z. B. am Ende der Dritten; vgl. Nowak 1973, 170). torische Wurf des »Et incarnatus« zur selben
Auch hier darf man annehmen, dass bereits mit Messe, wie es bei Göllerich und Auer geschildert
Tinte gearbeitet wurde und dass überdies auch wird:
schon das thematisch essenzielle Horn niederge-
»Bruckner stürmte eines Tages [...] in Waldecks Zimmer,
schrieben war. Ursprünglich notierte Bruckner das ohne vorher angeklopft zu haben. Er [...] begann zu
Horn in Es; hiervon findet sich noch ›unter‹ der spielen, ohne Waldeck [...] gegrüßt [...] zu haben. [...]
endgültigen ersten Phrase (T. 3–5) der mit Tinte ›Das ist das Credo zu meiner neuen Messe. Gefällt’s dir?‹
›Wunderbar!‹ war die Antwort. Nun spielte Bruckner
geschriebene und sodann radierte Eintrag. Über weiter, er war bis zum ›Et incarnatus est‹ gekommen. Als
einen Monat brauchte Bruckner sodann für das er diesen Teil zu Ende gespielt hatte, fragte er wieder
Anbringen der »Instrumentation«, das heißt, der Waldeck, der stumm blieb: ›Wie gefällt dir dies?‹ Waldeck
erwiederte: ›Nicht so gut wie das frühere.‹ ›Nun also,
zum Streichersatz hinzutretenden Bläser, während machen wir’s anders‹, fällt Bruckner ins Wort. Da begann
(nimmt man das Partizip »nuanciert« als Indiz für er von neuem diesen Teil und improvisierte eine ganz
die Vollendung) schon drei Tage später, am 26. neue, originelle Fassung dieser Komposition. Waldeck
März, mit der »Nuancierung«, also mit dem »letz- war [...] beim Vorspielen [...] ganz verblüfft und zu Trä-
nen gerührt. ›Wie gefällt dir jetzt das ›Et in carnatus‹?
ten Schliff« der Artikulationszeichen und Vor- [sic] frägt Bruckner. ›Das ist freilich etwas ganz anderes;
tragsangaben, die Komposition des ersten Satzes herrlich!‹ ›Nun gut, dann soll es so bleiben‹ replizierte
abgeschlossen war. Das nächste Datum steht am befriedigt Bruckner. Und so ist es auch geblieben [...].«
(Göll.-A. 3/1, 472 f.)
Ende des zweiten Satzes; dieser war demnach wohl
am 10. April fertig in der Partitur skizziert (immer- In der Tat ist eine nicht weiter verwendete Skizze
hin lag zwischen den beiden Terminen, am 5. zum »Et incarnatus« erhalten (Hawkshaw 2004,
April 1874, das Osterfest) und wurde erst knapp 40 und 274).
zwei Monate später, am 7. Juni, beendet. Mit dem frühzeitigen Notat in Partitur wollte
Bruckner offenbar einen möglichst ausgedehnten
Zusammenhang fixieren. Und auch dies mag ei-
Skizze und Ausarbeitung
nen Bezug zu der gerne als evidente Tatsache
Es ist »wahrscheinlich [...] nicht zufällig, daß die hingestellten These von der Affinität Bruckner-
Brucknerschen Skizzen eher die Arbeit am gesam- schen Komponierens zur Improvisation stiften:
ten Verlauf des Werkes belegen und nicht die der Möglichst rasch wird ein Zeit-Raum eröffnet und
Formulierung des Einfalls« (Wagner 1997, 69). grob strukturiert, und um den Moment-Raum zur
Bruckners Themen haben großen Anteil am All- Verfügung zu haben, wird ebenso schleunig das
gemeinen, stehen, überspitzt formuliert und einen Feld der mehrlinigen Partitur aufgesucht. Dieser
Gedanken August Halms abwandelnd, als »ein- Produktionsstil ist auch dann noch wirksam, wenn
fachste Aussageform von dem, was Musik ist, von ein kompliziertes Thema wie dasjenige der Siebten
Anfang an fest« (Wagner 1997, 72). Es ist etwas Sinfonie vermutlich nicht ohne Anstrengung und
anderes, was die Brucknersche Sinfonie ausmacht, Vorarbeit hingeschrieben wurde – das Schriftbild
als die Thematik und deren musiklogische Aus- der ersten Seite verrät, dass Bruckner auch in der
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 79

gültigen Partitur einiges am Thema geändert hatte Beispiele erhalten, nämlich Entwürfe im zwei- und
(vgl. die Abbildung bei Haas 1934, 141). dreisystemigen Particell zum Chorsatz von Kyrie
Vermutlich von Anfang an erhielten die nach- und Gloria der f-Moll-Messe (Hawkshaw 1995 so-
einander beschriebenen Partiturbögen ihre Num- wie Hawkshaw 2004, 259 ff.). Der 1868 festgelegte
merierung und damit ihre festgelegte Reihenfolge. Vokalsatz ist dann bezeichnenderweise als Kern
Selten wurde diese geändert (wie etwa in der der Komposition so gut wie unberührt durch alle
Überarbeitung des Finales der Dritten Sinfonie zur nachfolgenden umfangreichen Revisionen hin-
2. Fassung); was geändert werden konnte und durchgegangen (Hawkshaw 2004, 13).
wovon Bruckner reichlich Gebrauch machte, war Wie schon erwähnt, erfolgte die Ausarbeitung
der Austausch der einzelnen Bögen durch eine unter der ständigen Option, dass ein Manuskript-
aktualisierte Version. teil durch einen neuen ausgetauscht werden kann.
Es ist nicht erforscht und möglicherweise auch Freilich ist die Menge der erhaltenen Bruckner-
nicht erforschbar, wie groß die Arbeitsquanten der schen Arbeitspartituren nicht auf die Fragestellung
Verlaufsskizzierung waren. Nicht einmal für die hin untersucht worden, inwieweit ihr noch Teile
zumeist postulierte Folge Bleistift (Verlaufsskizze) der ›ersten Niederschrift‹ angehören. Ein Arbeits-
– Tinte (fixierende Überschreibung) – Ausarbei- manuskript Bruckners tendiert nach dieser ersten
tung (Einsetzen weiterer Stimmen) lassen sich Niederschrift zur Anmutung eines Palimpsests,
Beispiele finden, an denen diese Brucknersche eines radier- und überschreibbaren Stoffs. Bruck-
Standardmethode zuverlässig verifizierbar ist. ner ›erprobte‹ die Belastbarkeit des Papiers und
Doch zeigen die Satzverlaufsentwürfe zum Finale machte mit Änderungen auch vor Hauptthemen
der Neunten Sinfonie alle Facetten einer langen nicht Halt, wie etwa im oben erwähnten Fall der
vorhergehenden Praxis, dazu noch die stellenweise Siebten oder im Fall des Adagiothemas aus der
Emanzipierung des Komponisten von der frühe- Dritten, dessen ›Vorläufervariante‹ noch unter
ren Gewohnheit, zunächst im Streichersatz die dem abgeschabten Papier zu erkennen ist (siehe
kompositorische Grundschicht darzustellen. Ob Abbildung 9).
die vorausgehenden Particelle, also Verlaufsent-
würfe auf zwei, drei oder vier zusammengefassten
Notensystemen, überhaupt als »Skizzen« anzu- Instrumentation und Nuancierung
sprechen sind, wäre dann anzuzweifeln, wenn man
»War Bruckner am ›Instrumentieren‹ einer seiner Sym-
unter »Skizze« die Arbeit am isolierten Detail phonien, da begann ein gar gewaltiges Ringen [...] in der
verstehen will. Im Fall der späten Arbeiten (das Seele des Meisters; da schlug er dann manchen Akkord
gilt auch für die Überarbeitungen der Ersten und zehn- bis zwanzigmal an und in seinem Kopfe ging dabei
die Wahl der Instrumente vor, denen er die einzelnen
Dritten) notierte Bruckner solche Details gleich- Töne zuteilen wollte. [...] Peinliche Genauigkeit, jedem
sam unmittelbar ›am Weg‹ mit Bleistift in unbe- Ton den richtigen Klang zu geben, das war ihm ›peinli-
schriebene Systeme der Partitur. Was für Bruckner cher‹ Hochgenuß.« (Göll.-A. 2/1, 304)
jedenfalls als eigentliches Stadium der »Scitze«
galt, war der Verlaufsentwurf. Mit diesen Worten schildert der Steyrer Groß-
Allerdings dürfte es die Regel gewesen sein, kaufmann Carl Almeroth, ein durchaus glaubhaf-
dass Bruckner bei kontrapunktischen Abschnitten ter Zeuge aus dem engeren Zirkel Bruckners und
die Themen vorab auf ihre Verwendbarkeit prüfte. höchstwahrscheinlich aus der Zeit nach 1880 be-
Dies illustriert etwa eine erhaltene, mit »Thema« richtend, von dem für jeden Orchesterkomponis-
überschriebene Skizze zur Gloria-Schlussfuge aus ten entscheidenden Arbeitsgang, nicht ohne noch
der e-Moll-Messe, bei der eine textierte (und später anzufügen:
nicht benutzte) Variante sowie Umkehrung und
»War Bruckner beim ›Komponieren‹ oder ›Skizzieren‹
recto-Form des Themas beieinander stehen (vgl. seiner Werke, da ging es viel schneller, aber auch ruhiger
die Abbildung bei Hawkshaw 1995, 150). Und ein zu.« (Göll.-A. 2/1, 304)
gewisses Gewicht wuchs der Verlaufsskizze zu,
wenn anspruchsvolle Satzaufgaben zu lösen waren. Aus dem Kontext der sukzessiven Arbeit heraus
Hiervon sind nicht von ungefähr ausgedehnte lässt sich unter ›Instrumentation‹ bei Bruckner das
80 Thomas Röder

Abb. 9: Aus dem ausgeschiedenen Material zur Dritten Sinfonie (Österreichische Nationalbibliothek,
Musiksammlung, Mus. hs. 6013, fol. 28): Beginn des Adagios (Ausschnitt). Unter anderem ist im System
der 1. Violine (T. 2–3) noch der ursprüngliche Verlauf als Radierspur zu erkennen: eine getilgte
Halbenote g’, ein später eingetragenes es’, durch Viertelpause ersetzt (T. 2, zweite Hälfte), sowie die
absteigende Viertonskala es’’-b‘ in Takt 3 (erste Note punktiert).

Umwandeln der ›abstrakten‹ Satzgrundlage in die ners ›reguläre‹ Instrumentationsarbeit gewährt ein
Interaktion der Orchestergruppen und Einzelin- ausgeschiedener Bogen zum Finale der Sechsten
strumente verstehen. Zuweilen schwebte Bruckner (T. 210–248): Demnach führte die ›Instrumenta-
von Anfang an die Art und Weise der Interaktion tion‹ nicht nur zur Färbung des Streichersatzes,
vor, etwa ein Holzbläsereinwurf, wie er im alten, sondern auch zu neuen, zusätzlichen oder alterna-
zurückgelegten Scherzo der Ersten Sinfonie (T. 37– tiven Stimmen wie etwa der ›Schattenstimme‹
39) mit dem Stichwort »Harmonie« im Particell (Klarinette, T. 217 ff.), die in Umkehrung zu einer
vermerkt wurde (Backes 1997, 1/52). Bemerkens- Stimme des Streicher-Kernsatzes geführt wird
wert an Almeroths Bericht ist, dass Bruckner dar- (Backes 1997, 54 f. sowie Beispiel 11).
über hinaus auch den Einzelklang sorgfältig ausin- Was Bruckner unter »Nuancieren« versteht, ist
strumentierte und nicht nur auf Instrumente nicht gänzlich klar, doch wird darunter, neben
verteilte, obwohl sich der Eindruck nicht ganz einer Vorstellung von ›letztem Schliff‹, das An-
abwehren lässt, dass Bruckner durchaus nach ei- bringen oder die Vervollständigung der Spielan-
nem eigenen Schema vorging, beispielsweise weisungen, vielleicht auch die Überprüfung ihrer
Tutti-Akkorde um einen ›Blech-Kern‹ herum Systematik zu verstehen sein. Häufig zeigen die
gruppiert, der die eingestrichene Oktave ohne Stärke des Federstrichs und die Situierung im
Konkurrenz besetzt, wobei die Holzbläser eine fertig geschriebenen Umfeld, dass Legatobögen
›Klangkrone‹ nach ›oben‹ hin bilden, wie etwa oder verbale Anweisungen erst im Nachhinein
(um nur ein Beispiel von vielen möglichen zu angebracht wurden. Die großzügige, raumgrei-
nennen) im Adagio (T. 27) der Siebten Sinfonie fende Platzierung der breit zwischen die Notenzei-
(vgl. Oeser 1939, 46 ff.). Die Erstfassungen, insbe- len geschriebenen Crescendo-Anweisungen, die
sondere der Dritten und der Vierten Sinfonie, Suggestivität einer unter allen Systemen wieder-
künden freilich mit ihrer Gestaltenvielfalt in allen holten fff-Vorschrift, die über sämtlichen Noten-
Orchesterschichten noch von einem enthusias- köpfen einer Passage mit starker Feder hingesetz-
tisch-sorglosen Umgang mit der Materie, und ten Akzentzeichen strahlen eine skriptural-perfor-
Bruckner bekannte ja im Fall der Vierten einige mative Anmutung (um nicht zu sagen einen
Jahre später, dass die »Instrumentation hie u. da zu »Einschreibungscharakter«) aus, die sich nicht in
überladen u. zu unruhig« sei (an Wilhelm Tappert, der modernen normierten Partitur darstellen
12.10.1877; Briefe 1, 175). Einen Einblick in Bruck- lässt.
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 81

Kontrolle, Überarbeitung Kompositionsprozess an ziemlich früher Stelle


eingebunden worden sein. Drei abgelegte Doppel-
Mit zunehmender Erfahrung als Komponist von blätter zum Finale der Sechsten Sinfonie zeigen, wie
Sinfonien erscheint Anton Bruckner nicht etwa ein musikalischer ›Doppelpunkt‹ (hier vor dem
selbstsicherer, lässiger und demnach also mit zu- »Gesangsthema«) über die rhythmische Analyse
nehmendem ›Augenmaß‹ gerüstet, sondern mehr mit anschließender Taktvermehrung (Verdopp-
und mehr misstrauisch gegenüber der ersten For- lungen und Einsetzen eines Pausentaktes) austa-
mulierung oder, anders gesagt, auf unbedingte riert wurde (NGA VI, Revisionsbericht 1986, 30
Korrektheit im Hinblick auf eine selbsterforschte und 54).
Wahrheit bedacht. Verhältnismäßig spät, nämlich um 1888, und
Früh schon scheint der Komponist auf eine ohne die tiefgreifenden Konsequenzen wie bei der
gewisse Proportionierung der Teile geachtet zu Kontrolle der Taktrhythmik, begann Bruckner,
haben; in etlichen Arbeitsmanuskripten findet seinen Orchestersatz systematisch auf Oktavparal-
sich am Ende jeder Zeile die momentan erreichte lelen zu untersuchen. Auch hier ging ein Studium
Taktsumme, wie etwa im Entwurf zum Kyrie der klassischer Meisterwerke, insbesondere von Mo-
f-Moll-Messe zu sehen (Hawkshaw 2004, 260–264). zarts Requiem, voraus. Zuerst nämlich, um 1877,
Diese Zählungen treten in späteren Manuskripten analysierte Bruckner das Stimmführungsverhältnis
nicht mehr auf. zwischen Vokal- und Orchestersatz im Hinblick
Dafür begann Bruckner spätestens im Jahr auf die Unabhängigkeit der Stimmen, um die Er-
1876, den Bau seiner Kompositionen im Hinblick gebnisse zur Revision der f-Moll-Messe anzuwen-
auf deren Taktgruppengliederung und die damit den (Jackson 2001, 36–45). Bei der späteren
korrespondierenden harmonischen Fundament- Übertragung dieses Problembereichs auf Orches-
progressionen zu untersuchen; voraus gingen termusik waren die späteren Revisionen der Vier-
entsprechende Analysen von Sinfonien Beetho- ten, Dritten und Ersten betroffen sowie die Achte
vens. Berühmtes Kennzeichen für diese Kontrolle und Neunte. Erneut lässt sich aus den Manuskrip-
sind die als »metrische Ziffern« bekannten Zah- ten zum Finale der Neunten ersehen, dass diese
lenreihen am Fuß der Partitur (Grandjean 2001). Prüfung späterhin bereits in der Entwurfsphase
Die Überprüfung der Periodizität des bis dahin durchgeführt wurde. Kennzeichen hierfür sind
entstandenen Œuvres gehört zur ersten großen zahlreiche, am Rand der Partitur vermerkte und
Revisionsphase, ist vielleicht sogar ursächlich mit mit Tonbuchstaben notierte, zuweilen auch mit
dieser verbunden. Die 1881 abgeschlossene Sechste den betreffenden Instrumentenbezeichnungen
Sinfonie war die erste, bei der die rechte Taktgrup- markierte Fortschreitungsverhältnisse. Bruckner
penorganisation von vornherein ins kompositori- bezog bei dieser Arbeit gelegentlich Helfer mit ein,
sche Kalkül mit einbezogen wurde. Die Ziffernrei- so etwa St. Florianer Schüler; von Seiten seiner
hen blieben selbstverständlich Teil der autographen Wiener Freunde fand er nur wenig Verständnis für
Partituren oder wurden in Partiturabschriften diese Maßnahme, und auch spätere Zeiten übten
eingetragen, denn Bruckner hatte weiterhin die Kritik an dem Opfer, das ein kompositorisches
Richtigkeit des Niedergeschriebenen peinlich zu Ethos von einer ursprünglich »geradlinigen«, »ru-
prüfen. An den Skizzen zum Finale der Neunten higen« Stimmführung forderte (Oeser 1950, IV).
Sinfonie lässt sich ersehen, dass es einerseits keine Sporadische Beischriften in früheren Manuskrip-
lediglich nur vorgezählten Partiturseiten ohne In- ten, etwa in der Kompositionspartitur der Dritten
halt (und sei dieser auch nur spärlich) gibt, ande- Sinfonie von 1873, lesen sich bereits als Anmerkun-
rerseits jedoch gelegentlich ein Stück weit ausgear- gen zu Fragen des Stimmführungsaspekts, wie
beitete Seiten ohne Ziffern, darüber hinaus aber etwa im ersten Satz (bei Takt 397 der 1. Fassung,
auch Particelle mit Ziffern. (Bei der Rekonstruk- entspricht Takt 367 der 2. Fassung): »NB Streicher
tion dieses Finales spielten die Ziffernreihen keine haben variiertes Unisono mit dem Thema.«
geringe Rolle für die Bestimmung der richtigen Weitere Kontrollen, etwa jene der Fundament-
Reihenfolge der Kompositionsfragmente.) Diese fortschreitung, fanden hin und wieder ihren Nie-
Kontrollprozedur dürfte also seit etwa 1878 in den derschlag in eingestreuten Tonbuchstaben oder
82 Thomas Röder

anderen schriftlichen Anmerkungen, gewiss nicht der ›Einheit des Werks‹, der ›Werkidentität‹, er-
an eine weitere prüfende Instanz gerichtet, son- schweren. Die terminologische Frage – wo wird
dern wohl aus arbeitsökonomischen Gründen, aus einer ›Variante‹ eine ›Fassung‹? – könnte viel-
nämlich um einen Sonderfall für die spätere leicht zur Klärung beitragen, weil ihre Beantwor-
Durchsicht zu kennzeichnen. tung zu einem Kriterienkatalog zwingt, der die
Für eine letzte Überprüfung existieren immer- Entscheidung eindeutig macht; zugleich erschöpft
hin zwei Zeugnisse in Bruckners Kalendern: sich dann das Problem in selbstgenügsamer Scho-
Bruckner scheint nach Fertigstellung der Partitur lastik. Die Frage, wieso Bachs Johannespassion nur
eine Komposition satzweise »wiederholt«, vermut- unter einer einzigen Werkverzeichnisnummer ge-
lich also in ihrem Ablauf rekapituliert zu haben. führt wird, wo doch vier ›Fassungen‹ eruiert wer-
Im Fall der Achten Sinfonie notiert er wenige Tage den können, während die Matthäuspassion zwei
nach deren Fertigstellung, nämlich am 14. März Einträge erhält, kann wohl nur damit beantwortet
1890: »letzte auswendige Wiederholung v. 1. Satz werden, dass für das letztgenannte Werk zwei
der 8. Sinf« (Maier 2001, 1/381). Dass dieser Vor- vollständige Partituren bekannt sind, während die
gang mehrfach erfolgte und auch auf Ausschnitte Versionen der Johannespassion nicht auf so einfa-
beschränkt sein konnte, bezeugt eine Eintragung, che Weise konstruiert werden können. Das Krite-
die kurz vor dem Abschluss der Revision der Ersten rium des Aufführungstexts (bei der Johannespas-
Sinfonie getätigt wurde: »14. 4. [1891] Dienst: sion) steht gegen jenes des Überlieferungstexts,
vormitt<ags> gründlich 5 u 6. Bogen wiederholt. wobei auch im Fall der Matthäuspassion weitere
[...] 7. Bogen 14. 15. u 16 April 3 mal u noch oft Differenzierungen gemäß der bekannt geworde-
wiederholt« (Maier 2001, 1/429). Ob sich hier nen Aufführungen getroffen werden können.
noch ein Befund ergeben konnte, aus dem Konse- Im Folgenden soll das Problem der Fassungen
quenzen hätten erwachsen können, muss freilich Brucknerscher Werke vor allem im Hinblick auf
offen bleiben. die Entscheidungen des Autors angegangen wer-
Gleichwohl ist festzuhalten, dass ein derartig den; die Frage der arbeitsteilig hergestellten Publi-
prüfender Blick sich mehr und mehr in den Habi- kationsbearbeitungen wird im Zusammenhang
tus des Komponisten einwuchs, so dass es nicht mit Bruckners Schülern behandelt (vgl. auch das
Wunder nehmen darf, wenn jede Vornahme eines Kapitel Bruckner und seine Schüler im vorliegenden
älteren Werks zu erneuten Eingriffen Anlass gab. Handbuch).
Vielleicht, so lässt sich spekulieren, war die Beauf-
tragung der Schüler mit der Druckvorbereitung
Systematik der Autorfassungen
auch ein wenig von der Hoffnung motiviert, die-
sem Korrekturzwang zu entgehen. Aus den zahlreichen bekannten Arbeitsgängen
lassen sich mehrere Punkte isolieren, die unter
bestimmten Bedingungen in einen Überarbei-
tungszirkel führen. Solche Bedingungen können
Das Problem der Fassungen sein:
− Ein Werk wird mehrfach zur Aufführung ange-
Dass die Wahrnehmung von Anton Bruckners
boten, aber nicht angenommen.
Œuvre von einem ›Fassungsproblem‹ dominiert
− Ein Werk wird mehrfach aufgeführt, aber nicht
wird, ist aus der Sache selbst heraus eigentlich
gedruckt.
nicht verständlich. Musikalische Werke konnten,
− Ein Werk bleibt unbearbeitet liegen und
seit sich Aufführungsgeschichte nachvollziehen
kommt erst nach einer gewissen Zeitspanne zur
lässt (also seit Beginn des Opernzeitalters im 17.
Aufführung oder zum Druck oder zu beidem.
Jahrhundert), in stets abgeänderter Form an die
Öffentlichkeit treten. Je besser ein Werk hinsicht- Aufführung und Druck sind die beiden Instanzen
lich seiner Spielvorlagen und Realisierungen do- der musikalischen Öffentlichkeit, die eine eindeu-
kumentiert ist, desto höher steigt die Chance, dass tige Werkdefinition fordern, wobei durch eine
Textdifferenzen die Antwort auf eine Frage nach Drucklegung dem Geschäft der philologischen
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 83

Dokumentation traditionell am weitesten entge- dieses Werk überlebte daher im Kokon des Bruck-
gengekommen wird. nerschen Archivs und zeitigte keine weitere ›Vari-
Alle drei oben angeführten Fälle lassen sich in ante‹ oder gar ›Fassung‹. Die 1876 beendete Fünfte
Bruckners musikalischer Produktion feststellen. Sinfonie wiederum wurde umgehend gemäß der
Hinzu kommt noch der besondere Umstand, dass seinerzeit neu gewonnenen Erkenntnisse überar-
Bruckner offensichtlich bestrebt war, »ein ›perfek- beitet und mit einer Basstubastimme versehen;
tes‹ Werk zu schaffen, und dazu gehörte vor allem beides machte keine neue Partitur nötig, vielmehr
die theoretische Richtigkeit, die ›wissenschaftliche‹ wurden die beiden Abschriften, die auch von der
Fundierung der Komposition« (Grandjean 2001, Fünften gemäß dem Brucknerschen ›Standard‹ –
13). Dies ist die sachliche Lesart eines Phänomens, Dirigierpartitur und Widmungspartitur – ange-
bei dem häufig auf den Wortschatz der Psychopa- fertigt worden waren, einfach ergänzt. Das Werk
thologie zurückgegriffen wurde (»Zählzwang«, blieb gleichwohl aus eigentlich unbekannten
Relikte einer »Nervenkrise«). Die Rede ist von der Gründen liegen; vielleicht hielt es Bruckner selbst
Überprüfung und Ordnung der Taktgruppenor- für zu schwierig, um zum damaligen Zeitpunkt
ganisation seiner Werke, die Bruckner 1876 und einen Dirigenten dafür zu interessieren, und
1877 vornahm. Doch ist es nicht ganz abwegig, schlug die Werbetrommel nur verhalten.
diese Maßnahme in ein Ensemble weiterer Verfah- Für die Wagner-Sinfonie sowie die Romantische
ren einzureihen wie: liegen noch komplette Erstfassungen vor, im Fall
der Dritten gar mit zusätzlicher Dirigier- sowie
− Korrektur und Änderung der Instrumenta-
Widmungspartitur (die zur Aufführung vorgese-
tion,
henen Zweitschriften der Vierten gingen verloren).
− Neudisposition der Form bis hin zur
In beiden Fällen bemühte sich Bruckner vergeb-
− Neukomposition
lich um Aufführungen, und für beide Werke, fast
Letzten Endes war es die enttäuschende Akzeptanz parallel, suchte er offensiv nach der Lösung des
des Sinfonikers Bruckner in Wien, die ihn zu Ur- Problems. Dies konnte nur bedeuten, die Sinfo-
sachenforschung und den daraus sich ergebenden nien umzuarbeiten mit dem Ziel, sie »fasslicher«
mühevollen Konsequenzen nötigte. Korrektheit zu strukturieren. Dank der Mehrsträhnigkeit der
des Tonsatzes konnte demnach nicht ausschließ- Überlieferung (die Umarbeitung wurde nicht mit
lich die Umarbeitung motivieren: Hinzu kam das allen Manuskripten ›synchronisiert‹) sind hier also
Ziel, ein Werk »fasslich« zu gestalten, damit ein Werkstufen erhalten, die potenziell abgeschlossen
Publikum zu erreichen und selbst vor der Dimen- waren. Wäre das Wort nicht ideologisch belastet,
sion der ›Popularität‹ nicht zurückzuschrecken. könnten die somit erhaltenen Notentexte als Ur-
Mündliche Überlieferung und Briefe bezeugen fassungen angesprochen werden. Ihr Reiz liegt in
wiederholt, dass Bruckner diese Rezeptionsorien- der Unmittelbarkeit des Fantasiestroms, den man
tierung alles andere als fremd war. zu erkennen glaubt, in der Herausforderung (zu-
mal für heutige Dirigenten und Klangkörper) ei-
nes »unpraktischen«, also nicht an den einengen-
Autorfassungen vor 1877 (I): Annullierte und
den Bedingungen des damaligen zeitgenössischen
Fünfte; Dritte und Vierte Sinfonie
Orchesterspiels orientierten Gestaltens, somit in
So gut wie alle Kompositionen, die für Bruckner der Manifestation eines in 100 Jahren gewachse-
von Bedeutung waren und die vor 1877/78 abge- nen orchestertechnischen Fortschritts. Vielleicht
schlossen vorlagen, wurden, wie oben erwähnt, besteht ein zusätzlicher Reiz für heutige Rezipien-
auf ihre Taktgruppenorganisation geprüft (»rhyth- ten darin, dass eine Abgrenzung dieser Klang-
mische Regulierung«). Diese Prüfung konnte Utopien zu gewissen Vorstellungen von Genialität
Eingriffe auf allen Ebenen nach sich ziehen, nicht und Novität, wenn nicht gar zirzensischer Sensa-
nur auf der Ebene der Periodizität der Takte. tion nicht deutlich zu treffen ist. – Übrigens teilt
Die Ablehnung der d-Moll-Sinfonie von 1869 die nicht ganz so monströse Annullierte Sinfonie
(der späteren Annullierten) muss der Komponist die Eigenschaften dieser Gruppe, nur dass es hier
als besonders traumatisch empfunden haben; beim ›ersten Wurf‹ blieb.
84 Thomas Röder

gleichmäßig bemessener Gruppen, Musik über


Autorfassungen vor 1877 (II): Erste und Zweite
lateinische liturgische Prosa nicht des regelmäßig
Sinfonie
alternierenden Schwer-Leicht-Pendels der Takte.
Nach der Aufführung der Ersten Sinfonie in Linz Blieb die d-Moll-Messe weitgehend so, wie sie war,
und der zuvor durchgemachten Krise wandte sich so wurde die e-Moll-Messe doch an etlichen Punk-
Bruckner zunächst mit der d-Moll-Sinfonie (An- ten durch behutsame Eliminierung oder Hinzufü-
nullierte, WAB 100) einer anderen Art der sinfoni- gung einzelner Takte am Maß rhythmischer Kor-
schen Komposition zu und legte die Erste beiseite. rektheit ausgerichtet; die ursprüngliche Lesart von
Gleichwohl wurde auch diese 1877 revidiert. 1890 1866 ist gesondert in der Gesamtausgabe zugäng-
schließlich entschied sich Bruckner – eine Auffüh- lich (NGA XVII/1). Die f-Moll-Messe wurde von
rung dieser einer seiner »besten«, aber auch 1868 an bis mindestens 1883 kontinuierlich fort-
»schwierigsten« Sinfonie (Brief an Siegfried Ochs entwickelt; hierzu gehören geringfügige Eingriffe
1892; vgl. Briefe 2, 168) war schon in Vorbereitung in den Taktbau sowie erste Stimmführungskorrek-
– für eine gründliche Überarbeitung der Ersten; turen aufgrund des Studiums von Mozarts Re-
Ziel war nicht nur eine Aufführung, sondern auch quiem (Hawkshaw 2004, 15). Die von Hofkapell-
die Druckpublikation. Auch hier könnte man den meister Hellmesberger als »unaufführbar« zurück-
Notentext, der 1868 zur Aufführung kam und nur gewiesene Partitur von 1868, sozusagen ein
noch in seinen Einzelstimmen vorliegt, als ›Urfas- Pendant zu den ›Urfassungen‹, ist als Widmungs-
sung‹ deklarieren oder zumindest von einer ›gene- partitur überliefert. Sie wurde nicht im Rahmen
tischen Fassung‹ sprechen. der Gesamtausgabe publiziert, da Bruckner sie
Komplizierter liegt der Fall bei der Zweiten »nie als eine aufführbare Version betrachtete«;
Sinfonie. Das liegt zum einen daran, dass es ver- singuläre Partien können im Revisionsbericht
hältnismäßig bald sogar zu zwei Aufführungen studiert werden, teilweise im Faksimile (Hawk-
kam (Oktober 1873 und Februar 1876), deren je- shaw 2004, 13).
weiliger Notentext an verschiedenen Punkten
differierte. Zum anderen hinterließ die »rhythmi-
Autorfassungen nach 1877: Achte Sinfonie;
sche Regulierung« der Jahre 1876 und 1877, also
Streichquintett; Te Deum
nach diesen beiden Aufführungen, noch ihre Spu-
ren. Der von Bruckner überwachte Erstdruck von Ebenso wie die Fünfte konnte auch die Sechste
1892 ist demgegenüber recht unproblematisch: Er Sinfonie von ihrem Schöpfer nicht in befriedigen-
entspricht weitgehend der Fassung von 1877. der Weise lanciert werden; immerhin erklangen
Zusammenfassend gilt für alle vor 1877 ent- ihre Mittelsätze im Februar 1883. Bruckner griff
standenen Sinfonien, dass ihre frühen Formulie- jedenfalls bei beiden Sinfonien nicht mehr ein,
rungen noch weitgehend erhalten sind. Streng um dem Ziel einer Aufführung näher zu kommen
genommen dürften diese frühen Fassungen nur (um so mehr hingegen, extrem im Fall der Fünf-
für ein Publikum von Interesse sein, das Bruckners ten, die Bearbeiter des Erstdrucks). Und bekannt-
Stilentwicklung verfolgen möchte. Im Fall der lich lief bei der Siebten alles bestens; spätestens seit
Fünften und der Annullierten fallen Früh- und deren zweiter Darbietung in München kann von
vom Autor definierte Endfassung, wenngleich aus einem ›Durchbruch‹ des Sinfonikers Bruckner im
verschiedenen Gründen, zusammen. deutschsprachigen Raum und den an ihn grenzen-
den Gebieten gesprochen werden. Und als Bruck-
ner dem Dirigenten der Münchner Aufführung
Autorfassungen vor 1877 (III): Messen
der Siebten, dem Königlich Bayerischen Hofka-
Alle drei Messen, die Bruckner als gültige Beiträge pellmeister Hermann Levi, 1887 die Partitur der
zur Gattung erachtete, die Messen in d-Moll, e- Achten Sinfonie übersandte, rechnete er gewiss
Moll und f-Moll, unterzog er der Überprüfung nicht mit dessen Vorbehalten. Doch anstatt auf
des Taktgruppenbaus, ohne dass daraufhin sub- die erste Aufführung der Sinfonie anderswo oder
stanzielle Eingriffe getätigt wurden. Textgebun- gar in Wien hinzuarbeiten oder auf ein zuneh-
dene Musik bedarf nicht unbedingt der Stütze mendes Interesse der Musikwelt zu hoffen, begann
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 85

Bruckner 1889 – erst nach etwa anderthalb Jahren Evidenz einer ›Autor-Authentizität‹, sondern auch
– mit der Überarbeitung der Partitur, und nur in der Interpretation von Bruckners Testament,
schwerlich lässt sich nachvollziehen, wo Bruckner dass nämlich die autographen Partituren von des-
an Levis Kritikpunkten angeknüpft haben sollte. sen Kompositionen in die damalige Hofbibliothek
Vielmehr scheint es, als ob der Komponist sein zu verbringen seien, wo sie als Referenz für noch
eigenes musikalisches Konzept noch schärfer her- ausstehende Druckveröffentlichungen dienen
ausarbeitete (vgl. Korstvedt 2000, 70; Hawkshaw sollen.
2009, 18). Die Reihe der seinerzeit abgelieferten Partitu-
Die erste Fassung der Achten ließ ihr Kompo- ren war allerdings nicht unproblematisch (zum
nist kopieren und – das ist hervorzuheben – somit Beispiel war die Dritte Sinfonie nur mit ihrem Fi-
für die Nachwelt erhalten. Sie ist von Leopold nale, die Achte mit einer schwer durchschaubaren
Nowak 1972 herausgegeben worden und seitdem Werkstufen-Mixtur, die f-Moll-Messe überhaupt
dem Studium zugänglich. Allmählich ist sie auch nicht vertreten), doch gab es zahlreiche Neben-
im Repertoire präsent. quellen, die der ambitionierten Bruckner-Philolo-
Gelegentlich wird von einer ›1. Fassung‹ des Te gie nach 1929, dem Gründungsjahr des Unterneh-
Deum gesprochen. Hierbei handelt es sich um ei- mens ›Gesamtausgabe‹, eine gute Grundlage auch
nen vor allem im Vokalteil recht weit gediehenen, zur Erforschung der Skizzen und genetischen
aber unvollständigen und 1881 zurückgelegten Fassungen gab. Mit dem Konzept der ›ersten Nie-
Entwurf, der zwei Jahre später erneut aufgegriffen derschrift‹ (als Ergebnis aus Skizze und Entwurf )
und zur bekannten Form ausgearbeitet wurde. lieferte Leopold Nowak im Nachhinein die editi-
Im Fall des Streichquintetts ist zwar kaum von onsphilologische Grundlage für die Einbeziehung
verschiedenen »Fassungen« die Rede; doch wurde genetischer Fassungen in die Gesamtausgabe, wie
Bruckner vom designierten Primarius der geplan- sie im Fall der Ersten bereits von Nowaks Vorgän-
ten ersten Aufführung bekanntlich dazu genötigt, ger Robert Haas verwirklicht wurde (Nowak 1985,
ein »spielbares« Scherzo zu liefern. Das nachkom- 35).
ponierte Intermezzo (WAB 113) ist in den Zusam- Gerade hier zeigen sich aber schon die Tücken
menhang des Satzzyklus zu stellen und konstituiert des Verfahrens: Es gibt Spielraum bei der Bestim-
dadurch eine alternative Fassung, die in dieser mung der autographen »Partitur, die das letzte
Form allerdings selten erklingt. Stadium der Kompositionsentwicklung enthält«.
So kam etwa im Zusammenhang mit Bruckners
Legat das mit Daten von 1890/91 versehene Manu-
Fassungen als editorisches Problem
skript der Ersten Sinfonie an die Hofbibliothek. In
»Die kritische Gesamtausgabe der Werke Anton Privatbesitz befand sich darüber hinaus ein typi-
Bruckners [...] bietet in den von ihr veröffentlich- sches Arbeitsmanuskript der Ersten, aus dem sich
ten Partituren den Notentext der Symphonien so, nur mithilfe weiterer Abschriften ein Notentext
wie er vom Meister niedergeschrieben wurde«; herstellen lässt, der um 1877 ausgeformt war und
hierfür maßgebend ist »die Partitur Bruckners, die bis weit in die 1880er Jahre hinein Gültigkeit be-
das letzte Stadium der Kompositionsentwicklung saß. Allerdings war diese ›Gültigkeit‹ nur potenzi-
enthält« (Nowak 1973, 141). Die Anfertigung einer ell: Sowie Aufführung und Publikation des Werks
neuen Partitur, und sei es durch Beauftragung ei- in Aussicht standen, begann Bruckner eine sorg-
nes Kopisten, signalisiert den Fassungswechsel; fältige Revision, die schließlich zur oben genann-
kleinere Modifikationen, die etwa zu dem ange- ten zweiten, der »Wiener« Fassung von 1891,
sprochenen »letzten Stadium« führen, erzeugen als führte. Der Text der Linzer Uraufführung hinge-
Varianten (oder »Zustände«, wie Nowak es formu- gen ist in einem Stimmensatz überliefert – gleich-
lierte) noch keine neue Fassung. sam ein Zeuge ersten Ranges, wenn auch nicht
Dieses ganz an der Handschrift des Autors von Bruckners eigener Hand. Weshalb Haas die
orientierte Konzept ist bei der Benutzung und Stimmen nur im Kritischen Bericht dokumen-
Bewertung der Bruckner-Gesamtausgabe zu be- tierte und nicht zur Grundlage seiner Edition einer
denken. Seine Begründung liegt nicht nur in der »Linzer Fassung« machte, ist nicht erklärt.
86 Thomas Röder

Noch problematischer ist der Fall der Zweiten den Finale-Schlüsse im Streichquintett) im Basis-
Sinfonie, der hier nur gestreift werden soll. Robert Notentext einer einzigen Ausgabe unmittelbar
Haas postulierte drei Fassungen, zwei im Rahmen nacheinander zur Darstellung (vgl. NGA XIII/2,
der beiden Aufführungen 1873 und 1876 und eine 67–69); die Überfrachtung eines gegebenen No-
Überarbeitung von 1877. Er publizierte im 1938 tentextes mit diakritischen Zeichen (um Varianten
erschienenen Band II der Gesamtausgabe (AGA) zu verdeutlichen) wird vermieden. In neuerer Zeit
die 3. Fassung, griff aber, »durch die innige Versen- wurden auch einzelne Sätze, die eine wichtige ge-
kung in Bruckners ursprüngliche geistige und netische Stufe in der Entwicklung eines Einzelsat-
klangliche Welt« geleitet, »gegen die Spielregeln zes darstellen, in gesonderten Bänden herausge-
einer geistlosen Scheinphilologie in vielen Einzel- bracht wie das Finale der Vierten Sinfonie von
heiten auf die 1. Fassung zurück« (Haas 1938, 66*). 1878, das Adagio der Dritten von 1876, die Früh-
Diese offenbar durch das Urheberrecht motivierte fassung von Adagio und Scherzo der Ersten sowie
›Quellenmischung‹ (die 3. Fassung war der Druck- die Frühfassung des Scherzos der Neunten. Das
ausgabe von 1892 allzu ähnlich) machte Leopold Finale 1878 der Vierten veröffentlichte schon 1936
Nowak in der revidierten Ausgabe des Gesamtaus- Robert Haas im Kritischen Bericht des damaligen
gabenbandes rückgängig (soweit drucktechnisch Gesamtausgabenbandes, und mit Recht fragte
möglich). Neue Aspekte taten sich auf, als in den man sich auch später, ob Zwischenfassungen ein-
Jahren 2005 und 2007 mit den Bänden II/1 und zelner Sätze nicht besser in einen Kritischen Be-
II/2 die Zweite erneut im Rahmen der Gesamtaus- richt kommen sollen. Solche Unsicherheiten ge-
gabe (NGA) erschien. Hierbei legte der Her- hören aber wohl zu einem lang dauernden und
ausgeber William Carragan mit der Fassung von sich dementsprechend fortentwickelnden an-
1872 einen Notentext vor, der schon zur ersten spruchsvollen Projekt wie der Ausgabe von Bruck-
Aufführung keine Gültigkeit mehr besaß; Carra- ners Sämtlichen Werken. Allerdings hat sich
gans Ziel war es, »die Symphonie in ihrer frühesten gezeigt, dass der zu einer Kritischen Ausgabe not-
Konzeption vorzulegen« (NGA II/1, VI). Der wendige Kritische Bericht tendenziell vernach-
zweite Band bringt das Werk in einer Form, wie lässigt wurde. (In einem Kritischen Bericht werden
sie offenbar kurz vor dessen Drucklegung 1892 die Wege dargelegt, die zu dem bestimmten edi-
bestand, schließt jedoch eine Passage aus vorange- tierten Notentext führen; des weiteren werden,
henden Versionen ein. Nicht publiziert ist hinge- und hierin leistete die unter Robert Haas und Al-
gen die Form, in der das Stück uraufgeführt fred Orel geführte ältere Bruckner-Ausgabe gar
wurde. methodische Pionierarbeit, auch Skizzen und
Die Bestimmung des ›richtigen‹ Manuskripts Vorstufen wiedergegeben, schließlich auch wich-
ist im Fall der Zweiten Sinfonie durchaus schwie- tige Varianten bis hin zu Alternativsätzen.) Die
rig. Als Signet der Bruckner-Gesamtausgabe ist Vermehrung der edierten Versionen entspricht
jedoch die editorische Methodenpluralität hervor- einer Tendenz zur Differenzierung, und zwar ent-
zuheben, die bereits im Übergang von der Alten gegen der gelegentlich laut gewordenen Forderung
zur Neuen Gesamtausgabe festzustellen ist und nach Vereinheitlichung oder gar nach dem metho-
nach dem Tod Nowaks erst recht an das Werk disch zwar vielleicht begründbaren, aus der histo-
herangetragen wird. rischen Wirklichkeit der Werke jedoch überhaupt
nicht ableitbaren Konstrukt einer ›Idealfassung‹.
Darstellungsfragen
Fassungen in der Rezeption
Umfang und Charakter der einzelnen Fassungsdif-
ferenzen machten es erforderlich, dass jede Fassung Das Problem der Fassungen bei Bruckner lässt sich
in einem einzelnen Teilband innerhalb der Ge- in den Zusammenhang der Rezeption seiner
samtausgabe publiziert wurde. Das setzt freilich Werke stellen. Der erste Höhepunkt einer Bruck-
voraus, dass die Textdifferenz hinreichend groß ist, ner-Rezeption – markiert von den Monographien
um den Aufwand zu rechtfertigen. Nur selten eines Ernst Kurth, August Halm, auch Alfred
kommen kleinere Differenzen (wie etwa die bei- Orel, Karl Grunsky und anderen – wurde noch
Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise 87

gänzlich von den verfügbaren gedruckten Partitu- fassungen« – rückgängig gemacht und schließlich
ren und Klavierauszügen getragen, und nur in – mit der 3. Fassung der Dritten Sinfonie – die
Fachkreisen war deren Differenz zu Bruckners Brüder Schalk wieder durch die Hintertür einge-
Manuskripten gerüchteweise bekannt. Der Kult lassen wurden. Vor allem im angelsächsischen
um Bruckner ließ jedoch in den 1930er Jahren den Raum empfand man das stillschweigende Ver-
philologischen ›Angriff‹ auf die gedruckten No- schwinden von Haas’ verdienstvollem Namen als
tentexte zum Glaubenskrieg eskalieren, der noch merkwürdig, als eine fortwährende und unausge-
dadurch an Schärfe zunahm, dass Robert Haas, sprochene Verdächtigung (Gault 1996, 18). Bis
der Herausgeber der Gesamtausgabe, Bruckners heute werden zuweilen Haas- und Nowak-
Opferrolle überpointierte; in seinen editorischen ›Fassungen‹, vor allem der Achten (1890), gegen-
Entscheidungen reagierte er auf jeden Verdacht einander ausgespielt.
einer Fremdbeeinflussung Bruckners. Auf lange Dass schließlich um 1996 die Erstdruckfassun-
Sicht war jedoch die methodische Grundlinie der gen als Formulierungen, die immerhin den Vorzug
Gesamtausgabe – die Bevorzugung der authenti- der Zeitgenossenschaft aufweisen können, als
schen Handschriften – unmittelbar verständlich, ernstzunehmende alternative Aufführungsvorlagen
und es war nur eine Frage des Generationenwech- ins Spiel kamen, mag nicht verwundern, bedeutete
sels, dass die Erstdruckfassungen von der Bildflä- dies doch die Öffnung der Bruckner-Philologie
che verschwanden. Bemerkenswerterweise wurde hin zu modernen Paradigmen der Editionstheorie
und wird das Label »Originalfassung«, das sich auf und ihrem Zweifel am einsamen schöpferischen
das Gegenstück bezieht, nämlich auf die inkrimi- Genie. Immerhin kam es in diesem Zusammen-
nierten Erstdruckfassungen, gelegentlich noch bis hang zur Neuedition der Erstdruckfassung der
in die jüngste Zeit verwendet. Vierten Sinfonie im Rahmen der Gesamtausgabe
Weitere Irritation entstand dadurch, dass Leo- – selbstverständlich primär an der Stichvorlage
pold Nowak, der 1945 Robert Haas im Amt ab- orientiert. Somit liegen nunmehr, zusammen mit
löste, eine Revision der Gesamtausgabe durch- der schon 1959 publizierten Stichvorlagenfassung
führte, bei der zum Teil lediglich Druckfehler be- der Dritten, zwei Notentexte von Werken Bruck-
seitigt wurden, zum Teil aber auch Haas’ ners in der Gesamtausgabe vor, bei denen Mitar-
editorische Entscheidungen – Stichwort: »Misch- beiter bezeugt sind.

Literatur
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Wien 1992. Harten/Elisabeth Maier/Erich Wolfgang Partsch
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88 Thomas Röder

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Nowak, Leopold: Anton Bruckner. Musik und Leben. (= Bruckner-Symposion 1995). Linz 1997, 67–72.
Linz 1973 (31995).
WERKE
90

Bruckner als Sinfoniker


von Hans-Joachim Hinrichsen

Die Entwicklung des Komponisten Anton Bruck- handwerklich-schulmeisterlich aufgefasst, eine


ner zielt keineswegs von Anfang an, doch mit Konstante seines Selbstverständnisses bleiben und
merkwürdiger Konsequenz auf die Sinfonie; sie ist schließlich in den erstaunlichen Entschluss des
fast identisch mit dem ebenso langwierigen wie Mittdreißigers münden, sich der gezielten profes-
zielstrebig verfolgten Weg des biographischen sionellen Unterweisung (erst bei Simon Sechter,
Subjekts Bruckner nach Wien. Für die Urkunde dann bei Otto Kitzler) auszusetzen. All die zahl-
zur Ehrenpromotion der Wiener Universität stellte reich angestrebten Ämter – auch schon der in der
Bruckner im Herbst 1891 ausdrücklich seine Titu- Jugend ausgeübte Lehrerberuf – erscheinen zu-
lierung »als Symphoniker« sicher, »weil darin stets nehmend diesem Endzweck gegenüber funktiona-
mein Lebensberuf bestand« (Briefe 2, 153). Mit lisiert. Freilich zerfällt die Gesamtentwicklung,
Nachdruck betonte der fast Siebzigjährige, er sei auch in Bruckners Selbstwahrnehmung, deutlich
»ja doch nur ausschließlich Symphoniker, d a f ü r in eine Phase vor und eine nach dem Unterricht
habe ich mein Leben eingesetzt, u auch meine bei Kitzler, und erst die zweite dieser Phasen hat,
Auszeichnungen erhalten« (Briefe 2, 354). Erreicht nicht zuletzt durch die überwältigende Begegnung
wurde dieses Ziel nach langer Mühe: erst jenseits mit Wagners Tannhäuser im Februar 1863, jenen
der Vierzig und damit, wenngleich aus ganz ande- kreativen Schub erzeugt, den Bruckner selbst als
ren Gründen, ähnlich spät wie bei seinem ebenfalls entscheidend neue Qualität seiner professionellen
nach Wien ausgreifenden Generationsgenossen Existenz wahrgenommen hat: »Jetzt [...] trat die
und späteren Konkurrenten Johannes Brahms. Kompositionszeit ein!«, heißt es später im Rück-
Die Plötzlichkeit dieses späten Ziel-Einlaufs in- blick auf die im Juli 1863 erfolgte »Freisprechung«
dessen täuscht, andererseits kommt sie auch nicht durch Kitzler (Göll.-A. 3/1, 203; Graf 1901/02,
von ungefähr. Komponieren muss Bruckner schon 300). Ein Gesuch um Gehaltserhöhung an das
in sehr jungen Jahren als eine mögliche Bestim- Linzer Bischöfliche Ordinariat begründet der be-
mung empfunden haben. Ob sich hingegen bereits reits über Vierzigjährige damit, dass er sich »durch
der junge Lehrer auf einem frühen Autograph der seine absolvierten Studien die Komposition zu
Kronstorfer Zeit selbstbewusst als »Comp[onist]« einer Hauptaufgabe seines Lebens gestellt« habe
bezeichnet, wie vielfach angenommen wurde (Briefe 1, 74), und in einer Ähnliches bezwecken-
(Bruckner-Handbuch 1996, 63; Faksimile des den Bittschrift an den Wiener Unterrichtsminister
Titelblatts: ebd., 40), oder ob nicht eine alterna- ist 1873 nachdrücklich von »dem seit vielen Jahren
tive Lesart dieses Titelblatts, etwas nüchterner mich leidenschaftlich erfüllenden Drange zum
und weniger ambitioniert, »Anton Bruckner/ Componieren« die Rede (Briefe 1, 136).
Comp[osuit]« lauten sollte, muss vorerst offen- Zwischen diesen beiden Briefen liegt die end-
bleiben. Immerhin wird das Komponieren, wenn gültige Gewissheit des gelungenen Durchbruchs:
auch zunächst wohl eher als selbstverständlicher Die Sinfonie hat sich als die von langer Hand an-
Bestandteil der österreichischen Lehrerausbildung gezielte Zentralgattung von Bruckners Œuvre aus
Bruckner als Sinfoniker 91

dem Umkreis der anlassbezogenen liturgischen lich wahrgenommen, meist aber als Verstoß gegen
Komposition emanzipiert; sie, als die öffentliche das Originalitätsgebot des 19. Jahrhunderts emp-
Gattung schlechthin, ist aber andererseits auch in funden und daher in ihrer werkerschließenden
einer nicht leicht bestimmbaren Weise direkt aus Funktion kaum begriffen worden ist.
jener hervorgegangen. Die geradezu teleologische
Beziehung beider Bereiche ist als kompositorischer
Entwicklungsweg alles andere als selbstverständ-
lich und daher in Bruckners Epoche auch ohne »Schema«, »Schablone«
weiteres Beispiel. Diese zielgerichtete Verschrän- und »Form«
kung der beiden Gattungen, die sich im Tonsatz
der drei großen Messen und der ersten Sinfonien, Diese generische Dimension, vor deren Hinter-
später noch einmal in jenem des Te Deum und der grund erst jedes Einzelwerk seinen konzeptionel-
Siebten Sinfonie, durchaus abbildet (siehe unten), len Sinn preisgibt, ist selbst von wohlmeinenden
hat die Rezeption auch der späteren Sinfonien von Zeitgenossen von Anfang an als »Schema« miss-
Anfang an und dauerhaft in einer Weise gesteuert, verstanden worden. Auf den ersten Blick scheint
deren Sachdienlichkeit sich füglich bezweifeln durchaus nachvollziehbar, was Bruckners Schüler
lässt. Die fehlschlüssige und unbegründbare Un- Franz Schalk ein gutes Vierteljahrhundert nach
terstellung, dass Bruckner liturgische Intentionen dem Tod des Komponisten glaubte entschuldigen
in den Konzertsaal getragen habe, kann man in zu müssen:
polemischen wie apologetischen Zusammenhän-
»In der Tat gibt es nichts Primitiveres als die Brucknersche
gen bis heute lesen. Form. Kaum je ist einer von den Großen mit dem Form-
Bruckners sinfonisches Œuvre, das neben zwei problem sorgloser umgegangen als Bruckner. Er hat sich
gewichtigen Studienarbeiten neun durch den ein sehr einfaches Schema für seine Sätze zurecht gelegt,
darüber offenbar niemals spekuliert, und in all seinen
Komponisten autorisierte, bei Einbeziehung der Sinfonien ganz gleichmäßig festgehalten. Hauptthema,
Fassungen als autonomer Werkgestalten sogar hier und da eine Art Introitus vorher, Seitensatz, den er
siebzehn Werke umfasst, kann ohne Übertreibung stets sehr charakteristisch mit dem Wort Gesangsperiode
bezeichnete, und Schlußperiode für die Ecksätze. Seine
als das größte und konsequenteste Projekt seiner Adagios sind alle dreiteilig: Hauptthema, zweites Thema
Art nach Beethoven gelten. Brahms, dem zwar in (Gesangsperiode), von denen das erste zweimal irgendwie
der Gattungsgeschichte eine ähnliche Bedeutung variiert wiederkehrt, während das zweite nur eine Reprise
zukommt, hat aber die ebenfalls spät erreichte erfährt. Seine engsten und geschlossensten Sätze sind stets
die Scherzi, in denen allein das rhythmische Element den
Sinfonik nach vier extrem individualisierten Wer- ›Gesang‹ überwiegt oder ganz verdrängt.« (Schalk 1935,
ken bewusst wieder in die Geschichte entlassen; 89 f.)
über andere zeitgenössische Sinfoniker, teils sogar
noch fruchtbarer als Bruckner wie der seinerzeit Diese Wahrnehmung einer Bruckner-Sinfonie –
hochgeschätzte Joachim Raff, hat die Nachwelt ihr schon allein der Umstand, dass man sie idealty-
Urteil gesprochen. Zum Projektcharakter von pisch im Kollektivsingular glaubte erfassen zu
Bruckners immensem sinfonischen Œuvre trägt können, spricht Bände – entsprach um diese Zeit
seine planvolle Herausschälung aus der kirchlich einer communis opinio, und sie war sogar schon zu
gebundenen Komposition ebenso bei wie seine Bruckners Lebzeiten in einer Weise geäußert wor-
auffallend systematische Gesamtdisposition, durch den, die den Komponisten zutiefst erschüttert
die erst jedes Einzelwerk als autonomer Beitrag hatte: Hermann Levi hatte bekanntlich auf die
zur Gattungsgeschichte und als individuelle Werk- Übersendung der Achten Sinfonie (1. Fassung) mit
gestalt begriffen werden kann. Mehr, ja sogar erheblicher Irritation reagiert und, zunächst ge-
fundamental anders als bei anderen Sinfonikern genüber Josef Schalk, vor allem »die große Aehn-
der Epoche präsentiert sich bei Bruckner das Ein- lichkeit mit der 7ten, das fast Schablonenmäßige
zelwerk im Kontext eines werkübergreifenden der Form«, kritisiert (Briefe 2, 21).
Gesamtkonzepts. Es ist diese zum Verständnis Vom »Schablonenmäßigen der Form« und vom
unabdingbare generische Dimension, die von »Schema« der Bruckner-Verehrer ist es nicht mehr
zeitgenössischer wie von späterer Kritik zwar deut- weit zu dem ebenso maliziösen wie verständnisar-
92 Hans-Joachim Hinrichsen

men Dictum der Bruckner-Verächter, der Kompo- Durchschlagskraft dieses neuartig-dynamischen


nist habe eigentlich nur eine Sinfonie komponiert, Sinfoniekonzepts: Für Kurth ist die Größe der
diese aber neunmal. Keineswegs einfach aus der »Außenränder«, also die äußere Dimension, nichts
Luft gegriffen, bezeugen all diese Urteile ein iden- anderes als ein Indiz für die Kraft der Integration
tisches Wahrnehmungsmuster, das an der Oberflä- »im Innern der Form« (Kurth 1925, 247). Als fun-
che von Bruckners Sinfonien auf das Identische damentales Brucknersches Gestaltungsprinzip
im Aufbau der Einzelsätze reagiert – auch wenn es identifiziert Kurth den »symphonischen Strom«,
heute nicht leicht zu verstehen ist, wie dieses aus- zu dessen Realisierung alle noch so selbstständig
gerechnet am Vergleich der Siebten mit der Achten erscheinenden Teilgestalten funktional zusam-
Sinfonie, so ja bei Levi, ins Auge springen konnte. mentreten: »Wie Bruckner neue Kriterien fordert,
Der Fehlschluss besteht nur darin, dieses struktu- so auch neue formtechnische Begriffe. Auch das
rell Identische – die drei typisierten Themen der Thema ist nicht mehr in altem sondern durchgrei-
Ecksätze etwa oder den Aufbau der Adagio-Sätze fend geändertem Sinne Formkeim, ebenso ge-
– vorschnell mit Bruckners Formdenken zu iden- winnt die Teilgruppe andere Bedeutung; alles
tifizieren. Wenn also ein auf diese Äußerlichkeit ordnet sich einem zu neuer Bedeutung hervortre-
fixierter Formbegriff fast zwangsläufig in den tenden Formelement unter: der K r a f t w e l l e als
Vorwurf des Schematischen münden musste, so dynamischem Einheitsvorgang des symphoni-
lag es nahe, gegen diese für das Urteil über Bruck- schen Gestaltens« (Kurth 1925, 249). Kurths ge-
ner verheerende Auffassung das offensive Konzept schichtsmächtig gewordenes Bruckner-Bild wird
einer »inneren« Form in Stellung zu bringen. emphatisch in deutlich expressionistisch gefärbter
Das geschah nicht zufällig durch zwei Musik- Prosa beschworen, der gegenüber jegliche auf
publizisten, die der Lebensphilosophie nahestan- formale Schematik pochende Beckmesserei sich
den. Beide markieren in der Bruckner-Rezeption wie ein klassizistischer Domestizierungsversuch
eine Epochenschwelle. August Halm wies 1913 die ausnehmen muss:
schematische Bruckner-Analyse und den aus ihr
»Bruckner entströmt alles Formen, vom Erstansatz bis zu
resultierenden Vorwurf mit dem Argument zu- seinen symphonischen Riesenwogen, als ein Werden,
rück, bei Bruckner sage das unbestreitbar vorhan- Schwellen und Vergehen in der Unmittelbarkeit seines
dene Schema »an sich nicht viel, oder vielmehr es Weltgefühls. Daher überall das Naturereignis eines bei-
spiellos starken Seelenatems, wie er durch die wehende
sagt das Beste nicht laut, versteckt es«: »Bruckner, Stofflosigkeit der Töne streicht; Grundvorgänge sind die
der die überlieferte Form so respektierte, hat ihren musikalische Kraftregung, ihre Verdichtung, Zusammen-
tiefsten Sinn gerade entdeckt, ihren Geist befreit; ballung, Auslösung und verstreichende Wiederlösung.«
(Kurth 1925, 251)
den Geist, den zu suchen manche der ›Form‹ ab-
sagen zu müssen wähnten« (Halm 21923, 52). Es Bruckner musste also nicht nur nicht gegen An-
blieb dann freilich der ein Jahrzehnt später er- griffe verteidigt werden, sondern er konnte im
schienenen monumentalen Bruckner-Monogra- Gegenteil – das verstand Kurth durchaus als Pro-
phie Ernst Kurths vorbehalten, für diesen von vokation der Musikwissenschaft seiner Zeit – of-
Halm beschworenen »Geist« der Form plastischere fensiv zur Durchsetzung eines völlig neuen Form-
Formulierungen zu finden und für die Wahrneh- begriffs verhelfen, der unter der verdinglichten
mung von Bruckners Sinfonik einen Paradigmen- Oberfläche der Umrisse und Formabschnitte das
wechsel einzuleiten. Aus der Überzeugung heraus, in der Tiefe wirkende dynamische Gestaltungs-
»beim Begriff ›Form‹ in etwas anderm die Haupt- prinzip wahrzunehmen in der Lage war. An Kurths
sache zu sehen als in den äußeren Umrissen«, konkreten Analysen hat viele Kritiker dann freilich
sprach Kurth statt von »Form« von einem »Form- die oft nur metaphorische Fassbarkeit des Ge-
vorgang« (Kurth 1925, 234 f.) und sah dementspre- meinten verstört, später auch der stilistische Tribut
chend in Bruckners Sinfonik, quer zur eingebür- an den Schreibstil der Epoche. Man kann das
gerten Rezeptionsweise, nicht architektonische durchaus als Symptom für einen – behebbaren –
Statik, sondern energetische Dynamik walten Mangel verstehen. Über der zeitbedingt lebens-
(Kurth 1925, 250). Auch die oft gerügte vermeint- philosophischen Einfärbung des Form- und For-
liche »Länge« Brucknerscher Sätze bezeugt die mungskonzepts ist nämlich bei Kurth, natürlich
Bruckner als Sinfoniker 93

beabsichtigt, das von Levi und Schalk in die Dis- liche Ausschließung der zwischen der Ersten und
kussion gebrachte »Schablonenmäßige der Form« der Zweiten entstandenen Annullierten Sinfonie
gänzlich aus dem Blick geraten. Zugleich verloren aus dem Kreis der gültigen Werkgestalten gehört.
gegangen ist dabei freilich dessen hoher heuristi- Selbstverständlich folgt diese Logik keinem starren
scher Erkenntniswert, der sich dann fruchtbar Dogma, sondern einem flexiblen generativen
machen lässt, wenn man das in seiner Existenz Prinzip. Bestes Indiz dieser Flexibilität ist ein
vernünftigerweise kaum bestreitbare »Schema«, mehrmaliger Wandel des Konzepts: von seiner
wie es Schalk 1921 skizziert hatte, tatsächlich kon- erstmaligen Fixierung und Stabilisierung in der
zediert. Die Individualität jedes Einzelwerks (die Zweiten und Dritten Sinfonie bis hin zu seiner ge-
in den nachfolgenden Besprechungen der Sinfo- zielten Durchbrechung oder Aufhebung in der
nien ausreichend zur Sprache kommen wird) Neunten. Das erst wäre der auf seinen eigentlichen
entfaltet sich nämlich bei Bruckner auf dem Begriff gebrachte wahre Kern jenes maliziösen
Grundriss eines stets wiederkehrenden Bauplans, Dictums von der neunmal je anders komponierten
den man aber nicht als monoton repetiertes identischen Sinfonie.
»Schema« disqualifizieren, sondern als immer Es gehört daher zur distinktiven Charakteristik
wieder neu durchgespieltes, dabei zunehmend ra- von Bruckners Sinfonien, dass sie bestimmte Ver-
tional organisiertes und im Verlauf der Entwick- fahrensweisen typisieren, also geradezu modellhaft
lung kontinuierlich optimiertes dramaturgisches ausbilden. In dieser Eigenschaft sind Bruckners
Modell begreifen sollte. sinfonische Verfahren in einem radikalen Sinne
von der individuellen Gestalt des Einzelwerks
unabhängig und beziehen ihre Rechtfertigung in
erster Linie aus jenem übergeordneten Konzept,
Gibt es »die« Bruckner-Sinfonie? dessen schlüssige Formulierung vor allem den
Bruckners sinfonisches System zahlreichen Bruckner-Analysen Wolfram Stein-
becks zu verdanken ist (am konzisesten: Steinbeck
Daher wird man Bruckner am besten dadurch 1993, 7–49). Ein Hauptthema, eine Gesangsperi-
gerecht, dass man das als Grundlage seiner Sinfo- ode oder ein Schlussgruppenthema teilen physio-
nik wirksame Allgemeine – also das alle Einzel- gnomische Gemeinsamkeiten über alle Sinfonien
werke übergreifende Modell, den sinfonischen Bruckners hinweg; und doch gehört jedes dieser
Archetyp, dessen äußerlich sichtbare Symptome Themen unaustauschbar nur ›seiner‹ Sinfonie an.
selbst von verehrungsbereiten Rezipienten wie Für die Satzcharaktere auf der nächsthöheren
Levi und Schalk als »Schablone« oder »Schema« Ebene des Zyklus gilt genau dasselbe. Unter Be-
empfunden wurden – in seiner konstitutiven Be- mühung strukturalistischer Terminologie könnte
deutung erkennt. Man muss sich vor Augen füh- man also formulieren, dass in Bruckners rationaler
ren, in welchem Ausmaß dies tatsächlich nur für Konzeption der Sinfonie jeder Satzcharakter und
Bruckner gilt; bei Beethoven, Schubert oder jede thematische Einzelgestalt ihre auf der syntag-
Brahms, auch später bei Mahler, Sibelius oder matischen wie auf der paradigmatischen Achse
Schostakowitsch wäre das schwer vorstellbar. genau definierte Stelle im System erhält. In diesem
Selbst die in unterschiedlichen Schaffensphasen präzis strukturalistischen Sinne von einem hoch-
entstandenen Fassungen von Bruckners Sinfonien organisierten ›sinfonischen System‹ Bruckners zu
lassen sich in ihrer Eigenart auf diese Weise am sprechen, wird einem kompositorischen Großpro-
angemessensten verstehen: als unablässige Suche jekt gerecht, dem in beispielloser Weise die kon-
nach der idealen Realisierungsform eines einheit- zeptionelle Integration ausgeprägter Individuen
lichen sinfonischen Konzepts. Nur so wird Bruck- gelingt. August Halm hat dies schon früh in die
ners Sinfonik auch wirklich als ebenso systema- schöne Formel gefasst, es lasse sich »zwar große
tisch wie linear verfolgtes Gesamtprojekt erkenn- physiognomische Verschiedenheit unter den Sym-
bar, und nur so lässt sich die strenge innere Logik phonien Bruckners, aber doch ein wesentlich
in der Aufeinanderfolge der einzelnen Sinfonien konstantes Ideal von Symphonie in ihnen wahr-
begreifen, zu der nicht zuletzt auch die nachträg- nehmen« (Halm 21923, 63).
94 Hans-Joachim Hinrichsen

Mittlere Ebene: Die einzelnen Sätze wieder gleicher Weise. Käme indessen die Wahr-
nehmung über das »Schablonenmäßige« dieses
Dieses sinfonische Ideal ist dezidiert auf den »Wil- Verfahrens nicht hinaus, hätte sie das eigentliche
len zur Monumentalität« gegründet (Steinbeck Anliegen dieser perfekt funktionierenden Drama-
1993, 18) und erweist sich somit als eine genuine turgie weit verfehlt.
Realisierungsform zielgerichteter ästhetischer Ge-
schlossenheit. In Bruckners Gattungsverständnis
Sonatenform
wird solche Integration durch eine alle Einzelsätze
überspannende und diese dadurch zum Zyklus im Alle Sätze der Sinfonie, am leichtesten erkennbar
emphatischen Sinne zusammenschließende Dra- die Ecksätze, folgen bei Bruckner stets dem Denk-
maturgie erreicht. Sein über sämtliche Werke modell der Sonatenhauptsatzform, auch wenn
hinweg mit frappierender Konsequenz verfolgtes man bei deren Verifizierung, um mit Ernst Kurth
sinfonisches Monumentalkonzept gehört damit zu sprechen, zunächst auf nicht viel mehr als auf
zweifellos zu den ambitioniertesten Entwürfen die »äußeren Umrisse« stößt (Kurth 1925, 234 f.).
ästhetischer Sinnstiftung, die das 19. Jahrhundert Diese erhalten jedoch im Kontext des Bruckner-
hervorgebracht hat. Das strukturelle Grundprin- schen »Durchbruchs«-Konzepts eine ganz beson-
zip dieser auf zyklische Integration zielenden sin- dere und nur im Rahmen dieses Konzepts sinn-
fonischen Idealkonzeption ist – mit einer hier gut volle Funktion zugewiesen. Da auch die Mittel-
anwendbaren Kategorie, die eigentlich Adorno für sätze am besten, wenngleich in sehr unterschied-
Mahler geprägt hat – das des »Durchbruchs« licher Weise, als individuelle Ausprägungen der
(Steinbeck 1993, 24). Solche Durchbrüche ereig- Sonatenform aufzufassen sind, ist die Behauptung
nen sich als langfristig vorbereitete Ereignisse im kaum übertrieben, dass Bruckners Sinfonik aus-
Laufe jedes Satzes, und sie wiederholen sich auf nahmslos auf diesem durch eine lange Tradition
der übergeordneten Ebene des gesamten Zyklus. nobilitierten Formprinzip beruht.
Mit zwingender Logik ergibt sich daraus eine Bruckner, der den Terminus »Sonatenform«
strikte Teleologie sowohl des Einzelsatzes als auch selbst so gut wie nie benutzt (mit einer Ausnahme
des Gesamtwerks: Der finale Durchbruch muss aus der Studienzeit bei Kitzler: Briefe 1, 32), ver-
der spektakulärste sein, seine Wirkung darf nicht wendet indessen in seinen Manuskripten oder in
zu früh vorweggenommen, muss aber andererseits der Korrespondenz sehr wohl Begriffe aus der
sorgfältig, in Etappen, vorbereitet werden. Die zeitgenössischen Kompositions- und Formenlehre.
sorgsam disponierte Abfolge der Durchbrüche Das kantable zweite Thema der Ecksätze wie auch
erzeugt eine auf die Schlussapotheose zielende das zweite Thema der langsamen Sätze findet sich
gestufte Überbietungsdramaturgie, die damit als häufig als »Gesangsperiode« bezeichnet, und die
origineller Beitrag zur Lösung des mit Beethovens großformalen Abschnitte der (von ihm nicht so
Sinfonik exponierten ›Finaleproblems‹ gelten darf. genannten) Sonatenform tragen bei Bruckner den
Durchbrüche ereignen sich, wie häufig in den Namen »1.« und »2. Teil«, häufig auch »1.« oder »2.
Adagio-Sätzen, als überwältigende Klangereig- Abteilung«. All diese Termini stammen bezeich-
nisse, oder sie sind, wie in den Ecksätzen der Fall, nenderweise aus dem Umkreis der Kompositions-
thematischer Natur (als Epiphanie des Hauptthe- lehre von Johann Christian Lobe, die Bruckner
mas am Satzschluss wie dann wieder am Ende der besaß (vgl. Briefe 1, 37) und die wohl auch als
Sinfonie): »Die Satzhöhepunkte schleudern ihre Grundlage des Unterrichts bei Otto Kitzler ge-
Themen geradezu eruptiv heraus. Sie sind oft das dient hat. Sie sind deshalb hier erwähnenswert,
Ergebnis einer mächtigen Kraftanstrengung, die weil ihre Verwendung bei Bruckner einen tiefen
gekrönt wird durch das, was den Satz wesentlich Einblick in sein Formverständnis erlaubt; er ver-
steuert: durch die Themen in ihrer unversehrten steht nämlich die Termini geradezu wörtlich und
Gestalt oder in ihrem substantiellen Kern« (Stein- substanziell (was sie bei Lobe nicht unbedingt
beck 1993, 24). Die Dienstbarkeit in diesem sinfo- sind). Die »Gesangsperiode« trägt bei Bruckner in
nischen Konzept prägt sowohl die Form der Sätze der Tat ihren Namen mit vollem Recht (während
als auch den Charakter ihrer Themen in immer Lobe generell den – oft genug auch nicht kantab-
Bruckner als Sinfoniker 95

len – Seitensatz der klassischen Sonatenform im Bruckners Harmonik hat in erster Linie »lokale«
Auge hat). Bruckners zweite Themen sind in allen und nicht »globale« Bedeutung (Steinbeck 1993,
Sätzen (nur die Scherzi sind weitgehend monothe- 20). Indessen ist es aufschlussreich, jene Formstel-
matisch konzipiert) stets innige, weit ausschwin- len ins Auge zu fassen, an denen Bruckner den-
gende Kantilenen, Beruhigungszonen der Form noch einen wohlkalkulierten Tribut an die Kon-
– und der ihr zugedachten dramaturgischen Funk- ventionen der früheren Formbildungsfunktion
tion nach können sie auch gar nicht anders sein. entrichtet: Seine Expositionen enden in den Eck-
Die konsequente Vermeidung der Begriffe »Expo- sätzen und den Scherzi stets, und sei es manchmal
sition«, »Durchführung« und »Reprise« hingegen auch erst in den allerletzten Takten vor dem Dop-
ist vor dem Hintergrund der (auch von Lobe noch pelstrich, in der nach dem tradierten Muster zu
vertretenen) zweiteiligen Sonatenformauffassung erwartenden Tonart (also in Dursätzen in der
zu verstehen, gegen die sich die dreiteilige, propa- Dominante, in Mollsätzen in der Durparallele
giert von Adolph Bernhard Marx und Hugo Rie- oder der Moll- oder Durdominante). Die einzige
mann, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch- Ausnahme bildet hier das – ohnehin von der for-
setzte. Dass aber von Bruckner Durchführung malen Norm auffällig abweichende – Finale der
und Reprise unter dem begrifflichen Dach der »2. Siebten Sinfonie. Dieser scheinbare Konventions-
Abteilung« zusammengefasst werden, hat für seine rest fällt um so mehr auf, als er anders als im
Formauffassung gravierende Konsequenzen, denn klassischen Modell ganz unabhängig ist von den
er macht damit durchaus kompositorischen Ernst: Tonarten des Expositionsverlaufs, etwa jenen der
Im Kopfsatz der Dritten Sinfonie etwa ermöglicht Gesangsperioden, die nicht zwingend in der ›rich-
diese Auffassung die Gestaltung des Durchfüh- tigen‹ Tonart auftreten müssen und manchmal
rungshöhepunkts mit dem Eintritt des Hauptthe- sogar in Exposition und Reprise ganz regelwidrig
mas in der Tonika (die also keineswegs bis zum dieselbe Tonart aufweisen (Finale der Achten Sin-
Reprisenbeginn aufgeschoben werden muss), und fonie). Im Extremfall kann sogar die Schlussgruppe
in den Ecksätzen der späten Sinfonien, eigentlich der Exposition nochmals in der Tonika einsetzen
seit dem Finale der Siebten, wird es zunehmend (Kopfsatz der Neunten Sinfonie). Doch mag diese
schwierig, den Übergang von der Durchführung Dimension der harmonischen Großarchitektur
in die Reprise als distinkte Zäsur zu bestimmen. auch nicht mehr die traditionelle Formbildungs-
Schon in den Kopfsätzen der Sechsten und der funktion haben: Bruckners Tonartenpläne, seien
Siebten Sinfonie ist der Repriseneintritt als solcher sie konventionell oder ungewöhnlich, entheben
zwar erkennbar, aber durch Verschränkung mit niemanden bei der Einzelanalyse einer Sinfonie
dem Ende der Durchführung kunstvoll verschlei- von der Suche nach den Gründen für die jeweilige
ert; diese Verschränkung wird dann in den Kopf- harmonische Disposition.
sätzen der Achten und der Neunten zum Teil des Zwar würden sich die Merkmale von Bruckners
Konzepts. Das Ende der Exposition hingegen ist Umgang mit der Sonatenform durchaus in einem
bei Bruckner immer außerordentlich klar: Bis auf Typenkatalog von »sonata deformations« (Darcy
wenige Ausnahmen wird es in der Partitur stets 1997) versammeln lassen, aber angesichts der pejo-
durch einen Doppelstrich markiert. Die konven- rativen Konnotation dieses Begriffs ist es zweifellos
tionelle Wiederholung der Exposition gibt es aller- angemessener, von satztypischer Neudeutung oder
dings nur noch in der im Unterricht bei Kitzler sogar von konzeptbezogenen Varianten der Sona-
entstandenen Studiensinfonie f-Moll (WAB 99). tenform zu sprechen. Entscheidend ist nämlich in
Die Harmonik hat, anders als im klassischen der Tat die Einsicht in die präzis kalkulierte Rolle,
Sonatensatz, nur noch eingeschränkt formbil- die diese hochgradig typisierten Umdeutungen in
dende Funktion (Dahlhaus 1984). Alles andere Bruckners sinfonischem Konzept zu spielen ha-
würde der avancierten chromatischen Alterations- ben. Wie ausschließlich sie mit der Sinfonik und
harmonik auf dem Entwicklungsstand der Nach- ihrer spezifischen Idee von Monumentalität ver-
Tristan-Ära auch eine Rolle zumuten, die sie weder knüpft sind, beweist denn auch nichts besser als
erfüllen kann noch erfüllen will (sehr instruktiv der Umstand, dass Bruckners einziges autorisiertes
dazu bereits Erpf 1927, 131–133 und 156–164). Kammermusikwerk, das Streichquintett in F-Dur,
96 Hans-Joachim Hinrichsen

wie schon Robert Haas bemerkte, ganz im Sinne Die von Bruckner selbst so genannte »Gesangs-
bewusster Gattungsreflexion »eine starke, ja völlige periode« bildet den zweiten Themenkomplex, der
Abkehr von der in der Symphonie festgelegten aber selten infolge einer zielführenden modulie-
Sonatenform« vollzieht (Haas 1934, 135). renden Überleitung eintritt, sondern eher als
Neuansatz nach dem – manchmal sogar durch die
Zäsur einer Generalpause abgesetzten – Abebben
Kopfsatz
des Hauptthemas nach dessen erstem Klangaus-
Die Formbildung erfolgt nicht primär über die bruch. Meistens sind die Gesangsperioden, deren
Harmonik, sondern über die Themen. Diese sind Entwicklung sich durch Sequenzierungen, Varia-
in Bruckners sinfonischem Konzept die eigentli- tionen und Wiederholungen vollzieht, als Dop-
chen Protagonisten des auf den »Durchbruch« zie- pelkantilenen geführt: eindrucksvolle Beispiele
lenden Geschehens. Im Kopfsatz (und meist auch Brucknerscher Kontrapunktik. Bei allem Eigen-
im Finale) disponiert jede Brucknersche Exposition recht und aller Schönheit, die den Brucknerschen
drei im Charakter so individuelle wie in der Funk- zweiten Themen eignet, darf doch ihre Funktion
tion typisierte Themen, die, gegeneinander scharf innerhalb des Satzganzen nicht übersehen werden:
abgegrenzt, ihre je eigenen Zonen oder »Felder« Beruhigungszone nach dem ersten Höhepunkt
(Steinbeck 1993, 26) beanspruchen. Eine langsame des Hauptthemas zu sein und die Erwartung nach
Einleitung begegnet nur in einem einzigen der au- Wiederaufnahme des dynamischen Satzprozesses
torisierten Werke: in beiden Ecksätzen der Fünften zu wecken. Der Spannungsabbau ist die Kehrseite
Sinfonie (und schon früher einmal, im Finale der des zu erwartenden Anlaufs zu neuer Spannung.
Annullierten Sinfonie). Bruckner verzichtet also sehr Diese tritt mit dem dritten Themenfeld ein,
konsequent auf sie. Dabei ist gerade die Auskom- dessen Charakteristika zu seiner Bezeichnung als
position des sinfonischen Beginnens eine unver- »Unisono-Thema« (Steinbeck 1993, 30) geführt
wechselbare idiomatische Eigentümlichkeit Bruck- haben. Seine Funktion ist integrativ: Die bisher
ners (wahrscheinlich unter dem Eindruck von exponierten Gegensätze werden buchstäblich
Beethovens Neunter Sinfonie). Das markante aufgehoben, indem das dritte Themenfeld gewisse
Hauptthema tritt stets piano ein, meistens nach Eigenschaften (oft, aber nicht zwingend, auch
einem mehrtaktigen Klangflächen-Vorspann der motivische Anteile) der beiden vorigen Gruppen
tremolierenden Streicher, und es wird nicht nur weiterführt: die sequenzierende und manchmal
einmal, sondern stets doppelt exponiert: beim auch kontrapunktische Satztechnik aus dem »Ge-
zweiten Mal mit dem Ziel einer gewaltigen klang- sangsthema«, die rhythmische Prägnanz aus dem
lichen und dynamischen Steigerung, die sich als Hauptthema. Mit dem Unisono-Thema wird der
erster Vorgriff auf den später zu erwartenden Satz- Expositionshöhepunkt herbeigeführt, der also
höhepunkt verstehen lässt. Freilich ist diese erste nun, nach dem Hauptthema, einen zweiten Vor-
Steigerung in jeder Sinfonie höchst individuell ge- griff auf die finale Satzsteigerung markiert. Er fällt
staltet; zudem gibt es in der Dritten Sinfonie ein allerdings bezeichnenderweise nie mit dem Expo-
eigenes Thema für diesen ersten Höhepunkt, und sitionsschluss zusammen, denn auf ihn folgt im-
in der Vierten entfällt der zweite Anlauf des Haupt- mer eine Abbau- und Beruhigungszone, die man
themas ganz und wird durch ein eigens für den eigentlich als vierte Themengruppe ansprechen
Höhepunkt geschaffenes Thema ersetzt. Auch bil- könnte, wenn ihre Funktion nicht so vollständig
den sich diese generischen Züge der Hauptthema- von derjenigen der drei vorigen Themenfelder
Exposition erst mit der Entwicklung von Bruckners abwiche.
Konzept allmählich heraus, das sich um die Zweite Der durch das dritte Thema herbeigeführte
Sinfonie herum zu stabilisieren beginnt (zu Details Expositionshöhepunkt, das ist für sein Verständnis
vgl. das folgende Kapitel über die frühen Sinfo- entscheidend, bricht stets abrupt ab: Öffnung für
nien). Und ob ein Hauptthema die Tonika als klare noch Kommendes, gespannter Abbruch. Nur
Setzung einführt (Vierte Sinfonie) oder sie erst ausnahmsweise tritt bereits an dieser Stelle das
mühsam aufsucht (Achte Sinfonie), hängt natürlich Hauptthema wieder hervor (nur in der 2. und 3.
wiederum von der individuellen Werkidee ab. Fassung der Dritten Sinfonie); ansonsten gehört
Bruckner als Sinfoniker 97

gerade der Aufschub des krönenden Hauptthema- – lang erwarteten – krönenden Durchbruch des
Durchbruchs bis zum Schluss des Satzes zum auf seinen Motivkern reduzierten Hauptthemas
Konzept. Der Sonderstatus der hierauf noch fol- bringt: Inbegriff thematischer Erfüllung und sin-
genden vierten Themengruppe wird daraus kennt- fonischer Monumentalität zugleich.
lich, dass diese in der Reprise nicht wieder vor- Wie wandlungsfähig diese schematisierte Kon-
kommt, also am Expositionsende eine dezidiert zeption im Einzelnen ist, zeigt nicht nur die Tat-
lokale Funktion zu erfüllen hat; nur in einigen sache, dass sie erst im Verlauf der Arbeit an den
frühen Sinfonien vor der endgültigen Stabilisie- frühen Sinfonien entsteht, sondern dass sie sich
rung des Konzepts begegnet die vierte Gruppe auch später gravierend verändert. Bestes Doku-
ausnahmsweise auch in der Reprise wieder (An- ment dafür ist die Neunte Sinfonie, die für die
nullierte Sinfonie, Kopfsatz; Zweite Sinfonie, beide Steigerungsanlage eine weitere Zuspitzung dispo-
Ecksätze; Vierte Sinfonie, Finale der 1. Fassung). niert und ein dafür eigens zugerichtetes Haupt-
Diese gezielt auf das Expositionsende gerichtete thema einsetzt: Dieses ist zweiteilig (T. 63–70,
lokale Funktion des vierten Themenfelds liegt ei- T. 71–75) und wird, anders als sonst, nur einmal
nerseits im Spannungsabbau, der Platz schaffen exponiert: allerdings nach langer steigernder Vor-
soll für den in der »2. Abteilung« neu in Gang bereitung gleich im dreifachen Fortissimo wie
gesetzten Prozess. Andererseits können gerade in früher das Thema im zweiten Anlauf. An dem mit
dieser – thematisch ›freien‹ – Zone Materialien ins dem Durchführungsschluss überblendeten Repri-
Spiel gebracht werden, denen man den gleichsam seneintritt wird nur seine erste Hälfte zu monu-
›von außen‹ erfolgenden Eintritt offenbar anmer- mentalem Durchbruch gebracht (T. 333 ff.); auf
ken soll: »Zitate« etwa (wie die Tristan-Anklänge die wiederum ins Monumentale vergrößerte
im Kopfsatz der Zweiten Sinfonie oder die Kyrie- zweite Hälfte (und damit den Eindruck von fina-
Zitate aus der eigenen f-Moll-Messe in deren Finale, lem Durchbruch und endgültiger Erfüllung syn-
oder auch die Anspielungen auf die »Miserere«- thetisierend) muss man bis zum unmittelbaren
Rufe der d-Moll-Messe im ersten Satz der Dritten Satzabschluss warten (T. 548–567).
Sinfonie) oder, als besonders eindrucksvolles Bei- Zum Verständnis der groß dimensionierten
spiel, jener »Choral«, mit dem Bruckner in der Gebilde Brucknerscher Kopfsätze, die den Zeitge-
Fünften Sinfonie eine singuläre Finale-Idee gestal- nossen oft genug in unvereinbare Einzelereignisse
tet hat. auseinanderbrachen, ist es unabdingbar, bisher
Im Formverlauf der Exposition überlagern sich nicht gekannte Kategorien in das Repertoire form-
also die Gestaltungsprinzipien bogenförmiger bildender Maßnahmen aufzunehmen. Genau
Symmetrie (mit der »Gesangsperiode« als ihrer diesen Umstand haben August Halm und Ernst
ruhigen Mitte) und linearer Steigerung (die vom Kurth erkannt. Sachverhalte wie Auf- und Abbau
ersten Hauptthema-Höhepunkt über das »Ge- von Spannung, die auch über die »Löcher« von
sangsthema« hinweg bis in den Klangausbruch des Generalpausen hinwegreichen kann, lassen sich
dritten Themas reicht). Man versteht daher die schwer mit nur technischen Kategorien beschrei-
Suggestion von Ernst Kurths metaphorisch be- ben; sie sind eher physikalischer oder sogar psy-
schworener »Kraftwelle«, die darin besteht, dass chologischer Natur. Doch ist alles, was Bruckner
alle durch lange Beruhigungszonen voneinander an Klang, Dynamik, Schroffheit der Kontraste
separierten Steigerungen einander bis zum Ende und Proportionen aufbietet, in einem präzisen
hin übergipfeln. Das gilt denn auch nicht nur für technischen Sinne auf die Erzielung dieses wellen-
die Exposition, sondern für den gesamten Satz: förmig verlaufenden Steigerungs- und Spannungs-
Durchführung und Reprise (»2. Abteilung«) haben effekts hin kalkuliert. Tatsächlich lässt sich also
die gemeinsame und in jeder Sinfonie auf andere sagen, dass das »Schema« (Schalk) und die »Kraft-
Weise realisierte Aufgabe der weiteren Steigerung; welle« (Kurth) zwei Seiten derselben Medaille
nach dem Ende der Reprise setzt dann, mit der sind, die sich zu einem Gestaltungskonzept von
Coda, der für Bruckners Formkonzept entschei- unerhörter Schlagkraft und Plausibilität zusam-
dende Vorgang ein (der nur in der 2. Fassung des menschließen. Warum man diese Zurichtung des
Kopfsatzes der Achten Sinfonie entfällt), der den Sonatensatzes, die in Wahrheit unter der scheinbar
98 Hans-Joachim Hinrichsen

intakt gebliebenen Oberfläche praktisch sämtliche weise zum Auftritt kommt. Anders aber als im
entscheidenden Parameter der klassischen Sona- Kopfsatz ist dieser von langer Hand vorbereitete
tenform neu organisiert und umfunktioniert, als und das Ziel des Satzes bildende Durchbruch im
konventionell und wenig innovativ empfinden Adagio nicht thematischer, sondern in erster Linie
konnte, bleibt eigentlich rätselhaft. Offenbar klanglicher Natur. Er ist sogar, eben damit seine
nahm man – das beweist ja die oben zitierte Pas- primär aufs Klangliche zielende Natur beweisend,
sage von Franz Schalk – das »Schema« für die Sa- über viele Brucknersche Adagio-Sätze hinweg be-
che selbst. merkenswert einheitlich gestaltet: als Ausbruch
auf der Basis eines über zahlreiche Takte hinweg
gehaltenen Dur-Quartsextakkords, der sich aus
Langsamer Satz
der vorbereitenden Dissonanz eines übermäßigen
Das Adagio ist nach August Halms schöner Cha- Quintsextakkords (oder einer funktional äquiva-
rakterisierung »für Bruckner der zentrale Satz, das lenten Variante) befreit und auf diese Weise gera-
Heiligtum, dessen Vorhof in der melodischen dezu als strahlende Epiphanie inszeniert wird, für
Gruppe des ersten Satzes uns empfangen hatte« die Bruckner in der Siebten Sinfonie nachträglich
(Halm 21923, 121). Bruckners langsame Sätze fol- sogar die Verstärkung durch Beckenschlag und
gen der traditionellen Dreiteiligkeit, wie sie Franz Triangel erwogen hat. Zusätzliches Indiz dieser
Schalk in seiner Skizzierung des »Schemas« unter- erstaunlichen Einheitlichkeit ist die Tatsache, dass
stellte, nur scheinbar. Vielmehr gilt es zu erkennen, der Quartsextakkord-Durchbruch sich in vielen
wie sie diese Dreiteiligkeit tiefgreifend umorgani- Sätzen unabhängig von der Satztonika in der Ton-
sieren und in den Dienst des neuen sinfonischen art C-Dur ereignet, wohl dem Inbegriff des Reinen
Konzepts stellen. und Strahlenden schlechthin (Dritte, Vierte, Siebte
Spätestens nach der Vierten Sinfonie lautet ihre und 1. Fassung der Achten Sinfonie).
Bezeichnung »Adagio«, von der Sechsten an (und Die äußerliche Symmetrie der Dreiteiligkeit
auch schon in der Zweiten und der Dritten) mit wird also in Wahrheit überlagert von einer in
dem Zusatz »feierlich«. Obwohl sie ihrem über- Wellen vollzogenen, jeweils vom Hauptthema des
kommenen Charakter nach der Innerlichkeit, der Satzes ausgehenden Steigerung. Es liegt eben keine
Versenkung und der Beruhigung nach dem gewal- symmetrische Bogenform vor. Die Abweichungen
tigen Höhepunkt des Kopfsatzes gewidmet sind, vom Umriss der Sonatenform sind indessen eben-
folgen auch sie der für Bruckners Sinfoniekonzept falls im Auge zu behalten. Da ist zunächst einmal
grundlegenden Steigerungsdramaturgie. Für die- der Tonartenplan: Jede Abteilung mit dem Zweck
sen Zweck wird die scheinbar traditionelle Drei- der steigernden Wiederkehr des Hauptthemas
teiligkeit so gravierend umgedeutet, dass sich zu- setzt – wie im Sonatenrondo – in der Regel in der
treffender von einer speziellen Zurichtung der Tonika an (eine Ausnahme bildet nur der lang-
Sonatenform sprechen lässt. Jeder der drei Teile same Satz der Vierten Sinfonie). Und die letzte, auf
(Bruckner selbst spricht auch hier bisweilen von die Klang-Epiphanie des Durchbruchs zustre-
»Abteilungen«) beginnt mit dem expressiven, bende Wiederkehr des Hauptthemas stellt keine
tiefgründigen Hauptthema, dem in den ersten die Symmetrie der Form garantierende Reprise dar
beiden Teilen ein kontrastierendes Thema meist – dagegen spricht schon die Abwesenheit oder al-
sehr innigen Tons (auch hier wäre von »Gesangs- lenfalls marginale Bedeutung des gesanglichen
periode« zu sprechen) entgegengestellt wird. Die Kontrastthemas in diesem dritten Teil. Seine of-
eigentliche, auf den Durchbruch zielende Ent- fenkundige Entbehrlichkeit an dieser Stelle ent-
wicklung vollzieht sich jedoch, am Beginn jeder hüllt retrospektiv seine dramaturgische Funktion:
Abteilung auf einem gesteigerten Energieniveau Es erklingt in den ersten beiden Abteilungen des
ansetzend, nahezu ausschließlich mithilfe des Satzes eben »nicht um seiner selbst willen, sondern
Hauptthemas; sie erreicht ihr logisches Ziel in der um die Wiederkehr des Hauptgedankens weiter
letzten, der dritten Abteilung, in der denn auch zu vertiefen« (A. Nowak 1988, 163). Am angemes-
das gesangliche Kontrastthema gar nicht mehr sensten zur Bezeichnung dieser Formidee ist daher
oder nur noch in höchst sekundärer Erscheinungs- zweifellos der von Steinbeck vorgeschlagene Be-
Bruckner als Sinfoniker 99

griff »strophische Sonatenform« (Steinbeck 1993, Durchbruch ist nun zum ersten Mal ein dezidiert
39). thematischer. Der Klanghöhepunkt ist identisch
Doch ist auch dieses Satzkonzept nicht starr; mit dem Ausbruch des Hauptthema-Kerns
erkennbar bleibt es indessen auch durch seine (T. 199 ff.), und er ereignet sich nicht mehr als
Varianten hindurch. Eine Ausnahme von der Epiphanie des Dur-Quartsextakkords, sondern
strengen Konsequenz der Adagio-Schematisierung auf der spektakulärsten Dissonanz von Bruckners
scheint beispielsweise die Dritte Sinfonie in ihrer gesamtem Œuvre. Dass diese neue Konzeption
letzten Fassung zu bilden. Aber gerade sie bestätigt Folgen auch für andere Teile des Satzes hat (so
bei näherem Zusehen die Regel: Hier hat Bruck- bezieht sich etwa der Beginn der dritten Abteilung
ner durch radikale Kürzung der ersten Fassung die nicht wie sonst auf das Haupt-, sondern auf das
gesamte zweite Abteilung mit der ersten steigern- Kontrastthema), beweist die Wandlungsfähigkeit
den Wiederkehr von Haupt- und Kontrastthema- des Konzepts. Und dass das Adagio nun, wie auch
tik entfernt, so dass in den beiden späteren Fas- schon in der Achten, an dritter Position des Zyklus
sungen von 1877 und 1889 ein Satz übrigbleibt, der steht, dürfte für diese neue Konzeption kaum be-
– wenn auch merkwürdig unproportioniert – die deutungslos sein. Dass sich in ihm aber der
Dreiteiligkeit der konventionellen Bogenform Durchbruch nicht als Erfüllung, sondern als Kata-
suggeriert. Weitere Varianten bieten die langsamen strophe ereignet, lastet auf dem unvollendeten
Sätze der Vierten und der Sechsten Sinfonie, weil in Werk als Hypothek: Die lang ausschwingende
ihnen die zweite Abteilung unter Auslassung der Beruhigungszone, die auf ihn hier noch folgt,
»Gesangsperiode« mit dem Hauptthema allein dient in Bruckners Sinfonie-Konzept immer auch
bestritten wird (in beiden Fällen bei Buchstabe E) der Rücknahme der Spannung für den Eintritt des
und zudem das Adagio der Sechsten innerhalb der letzten Satzes, in dem erst alle Widersprüche zur
ersten Abteilung noch ein trauermarschartiges Lösung kommen. Dem heutigen Hörer hingegen
drittes Thema exponiert, das in der letzten Abtei- muss ihre tiefe Friedlichkeit zugleich das nicht
lung wiederkehrt. Dennoch gilt auch hier das mehr vollendete Finale ersetzen.
Steigerungsprinzip, dem gemäß der dritte Einsatz
des Hauptthemas nicht als Reprise einer Bogen-
Scherzo
form erscheint, sondern in gesteigerter Wiederkehr
auf den klanglichen Höhepunkt des Satzes zielt Bruckners Scherzi sind ebenfalls als satzspezifische
(siehe die Übersicht über alle Sätze bei Steinbeck Ausprägungen der Sonatenform zu verstehen. In
1984, 310). Es ist allerdings bezeichnend für Bruck- dieser Eigenschaft knüpfen sie an entsprechende
ners Adagio-Formauffassung, dass mit dem Adagio Sätze bei Haydn, Beethoven oder Schubert an
der Sechsten gerade jener Satz, der sich die weites- (ohne dass sich über Bruckners Vorbilder präzise
ten Abweichungen vom Brucknerschen Adagio- Auskünfte machen ließen). Wie dort konzentrie-
Schema erlaubt, gerade in dieser Abweichung die ren sie sich auf ein einziges Thema, was sie von
Matrix der ›regulären‹ Sonatenform durchscheinen den anderen Brucknerschen Satztypen scharf un-
lässt, weil man den Satz auch als Abfolge von tri- terscheidet, und erzielen ihre satzspezifische Stei-
thematischer Exposition, knapper, auf das Haupt- gerung durch rhythmische Prägnanz und Obses-
thema gestützter Durchführung (bei Buchstabe E) sion. Die erste Abteilung moduliert in die Domi-
und durchführungsartig variierter Reprise (bei G) nante (oder, in Mollsätzen, in die Durparallele)
hören kann, in der die beiden Seitenthemen ganz und wird fast stets durch einen Doppelstrich be-
regelkonform in der Tonika beginnen (bei I und grenzt, die zweite Abteilung entfaltet eine knappe
bei K). Durchführung und eine tonal ausgeglichene Re-
Vor diesem Hintergrund – der enormen Flexi- prise, die mit der größten klanglichen und dyna-
bilität bei grundsätzlicher Einheitlichkeit des mischen Steigerung des Satzes zusammenfällt. Das
Adagio-Modells – wird auch die gewandelte Kon- Scherzo ist der einzige Satz einer Bruckner-Sinfo-
zeption der Neunten Sinfonie greifbar. Ihr Adagio nie, in der der Höhepunkt mit dem Schluss des
folgt zwar weiterhin der in drei Stationen bzw. Satzes strikt zusammenfällt; im Unterschied zum
Abteilungen realisierten Steigerungsidee, aber sein ebenfalls finalen Höhepunkt der Ecksätze wird er
100 Hans-Joachim Hinrichsen

weder als thematischer Durchbruch inszeniert nie erweist), dann muss das Finalethema diese
noch über eine lange Zeitstrecke hinweg ausgehal- Wiederkehr ermöglichen. Dazu erhält es subtil
ten: Wesentliches Kennzeichen ist vielmehr seine kalkulierte Gestalt- und Motivähnlichkeiten mit
enorme Dichte und Konzision, vor allem aber – dem Hauptthema des Kopfsatzes (am besten er-
spätestens seit der Dritten – der überraschende kennbar im Finale der Siebten Sinfonie), dem es ja
und harmonisch kaum voraussehbare Eintritt des bei seinem letzten Auftritt in der Coda des Satzes
schließenden Tonikaklangs. Kaum erreicht, bricht weichen muss: »Alle Hauptthemen der Finalsätze
er auf dem höchsten Niveau der Dynamik ab und sind unmittelbar verwandt mit denen der Kopf-
bildet damit gleichsam einen Doppelpunkt für das sätze« (Steinbeck 1993, 37). Ähnlich verfährt, trotz
nun vom Finale zu Erwartende (nur in der Zweiten ihrer sehr speziellen Finale-Idee, sogar die Fünfte
Sinfonie und in der 2. Fassung der Dritten fügt Sinfonie. Bei späteren Umarbeitungen hat Bruck-
Bruckner dem Scherzo noch eine nach dem »da ner auch frühere Werke seiner für die reifen Sinfo-
capo« zu spielende Coda hinzu). nien gültigen Durchbruchsidee nachträglich ange-
Adagio und Scherzo teilen sich also im Inneren passt, so etwa im Finale der Vierten Sinfonie (3.
der Sinfonie die Aufgaben, ihrerseits zwar Höhe- Fassung) und – zwar nicht im Finale, aber immer-
punkte anzustreben, diese aber nicht in Konkur- hin innerhalb des Kopfsatzes – in der späten
renz mit den Ecksätzen thematisch zu organisieren. »Wiener Fassung« der Ersten Sinfonie.
Zelebriert das Adagio auf seinem Höhepunkt die Die zyklische Funktion des Finales kommt
Epiphanie des Klangs, so das Scherzo diejenige des besonders klar an jenen Stellen zum Ausdruck, an
Rhythmus. Zwischen seine beiden stets durch »da denen Bruckner – stets außerhalb der streng ›the-
capo« verlangten und damit völlig identischen matischen‹ Felder der Form – zur Steigerung der
Auftritte integriert es ein im Prinzip gleich gebau- Schlusswirkung thematische Rückblicke auf den
tes, aber charakterlich scharf kontrastierendes bisher absolvierten Weg disponiert. Am deutlichs-
Trio. ten außerhalb der ›eigentlichen‹ Sonatenform liegt
dieser thematische Rückblick in der Fünften Sinfo-
nie, denn hier bestimmt er, wohl nach dem Modell
Finale
von Beethovens Neunter Sinfonie, die Schluss-
Im Prinzip ist die formale Matrix des vierten Sat- zone der langsamen Einleitung (Finale, T. 11–28).
zes dieselbe wie die des ersten. Und doch wird Ansonsten ist dies am unmittelbaren Satzschluss
niemand je einen Brucknerschen Final- mit einem der Fall, also immer erst nach der Absolvierung
Kopfsatz verwechseln können. Das liegt an seiner von Exposition, Durchführung und Reprise: so in
besonderen Funktion im Werkganzen, und diese der Zweiten (Finale, zwischen Y und Z) und auch
bildet sich unmittelbar im Charakter der Thema- in der 1. Fassung der Dritten Sinfonie (Finale,
tik ab. Weil Bruckners sinfonische Konzeption T. 675–688). Hier, in der Dritten, lässt Bruckner,
eine durch und durch finale ist, obliegt dem letz- zudem durch Generalpausen überdeutlich geglie-
ten Satz die Organisation des größten und wich- dert, wichtige Themen der vorangegangenen Sätze
tigsten Durchbruchs-Höhepunkts der gesamten in ihrem originalen Tempo Revue passieren und
Sinfonie. Dieser wiederum wird in Bruckners generiert damit den Eindruck einer nochmaligen
Konzept spätestens seit der Dritten Sinfonie ge- Konzentration der gesamten Sinfonie in perspek-
krönt durch die triumphale Wiederkehr des tivischer Verkürzung, bevor dann in den Takten
Kopfsatz-Hauptthemas (bzw. seines motivischen 689 ff. im »Tempo des Finales« und fortissimo die
Kerns) am Satzschluss, und das hat für die Gestalt zu erwartende Schlussapotheose beginnt. Bezeich-
des Finale-Themas unmittelbare Folgen. Denn nenderweise wird in dieser Retrospektive der
wenn im Finale der endgültige Höhepunkt anders Kopfsatz durch die »Gesangsperiode« und nicht
als im Kopfsatz nicht durch die Wiederkehr seines durch sein Hauptthema repräsentiert; dieses Letz-
eigenen Hauptthemas erfolgt, sondern eben durch tere wird natürlich für den anschließenden Final-
Herbeiführung des Kopfsatzthemas (das sich da- durchbruch aufgespart.
mit strenggenommen als das Hauptthema nicht Insgesamt sind die Formanlagen der Finalsätze
nur des ersten Satzes, sondern der gesamten Sinfo- sehr viel flexibler und ›freier‹ als die der Kopfsätze,
Bruckner als Sinfoniker 101

vor allem in der Behandlung der Reprisen. Hier ist sich auf der übergeordneten Ebene des Werkzyklus
es nützlich, sich noch einmal Bruckners Auffas- zu einem die gesamte Sinfonie überwölbenden
sung der »2. Abteilung« des Sonatensatzes in Erin- Steigerungsverlauf. Darauf zielt Steinbecks Vor-
nerung zu rufen, in der sich gegebenenfalls die schlag, die Charaktere und die Funktionen der
Abschnitte Durchführung und Reprise zu einem einzelnen Sätze als Projektionen der drei Themen-
gestrafften Ablauf zusammenfassen lassen, der im charaktere des Kopfsatzes auf die höhere Etage des
Finale sehr viel rascher als im Kopfsatz auf das Zyklus zu verstehen (Steinbeck 1993, 48 f.): Der
lang erwartete finale Höhepunktereignis zustrebt. hauptthematische Kopfsatz wird aus diesem Blick-
So entfällt etwa in der dritten Fassung der Dritten winkel gefolgt von einem Adagio als großer »Ge-
Sinfonie das Hauptthema am Beginn der Reprise, sangsperiode«, und das ganz auf rhythmische
und in der letzten Fassung der Vierten wird in der Prägnanz abgestellte Scherzo reproduziert den
Reprise nach der Gesangsperiode das dritte The- Charakter des Unisono-Themas aus dem ersten
menfeld zugunsten eines unmittelbaren Übergangs Satz. Dem Finale kommt damit eine integrative
in die Coda übersprungen. Am ungewöhnlichsten Sonderstellung zu, die es durch die Organisation
verfährt wohl das Finale der Siebten Sinfonie; hier des finalen Hauptthema-Durchbruchs und seiner
wird in der Reprise die Reihenfolge der Themen Potenzierung zum Höhepunkt der gesamten Sin-
so vertauscht, dass das zuletzt auftretende Haupt- fonie erfüllt.
thema die finale Apotheose des Kopfsatz-Haupt- Hieraus ließe sich auch verständlich machen,
themas unmittelbar vorbereiten kann (L. Nowak warum Bruckner von der Achten Sinfonie an mit
1985; zu einer konträren Deutung dieser Formidee der Umstellung der Mittelsätze experimentiert.
vgl. aber Darcy 1997, 266–270). Die bereits zu Ursprünglich noch in der alten Satzfolge entwor-
Bruckners Lebzeiten entbrannte und weit ins 20. fen, reiht schon die erste Fassung der Achten das
Jahrhundert hineinreichende Debatte um die an- Scherzo an zweiter Stelle ein. Dem Adagio kommt
geblichen formalen Mängel der Finalsätze hinge- damit die Funktion einer letzten tiefen Beruhi-
gen kann man nur bedingt auf diese größere (und gung vor dem finalen Anlauf des Schluss-Satzes
für jede einzelne Werkidee gut begründbare) zu. Die besondere Monumentalität der Finalkon-
Formfreiheit zurückführen; sie ist vielmehr dem zeptionen der Achten (und, soweit aus dem erhal-
Umstand geschuldet, dass Bruckners Schüler als tenen Material erkennbar, auch der Neunten)
Bearbeiter der Erstdrucke gerade an den Finalsät- bringt in der Tat eine neue Dimension in die Fi-
zen die größten Verstümmelungen vorgenommen nale-Idee.
haben (so Ferdinand Löwe an der Vierten oder Das Finale der Achten Sinfonie – für Bruckner
Franz Schalk an der Fünften Sinfonie). Jahrzehnte- »der bedeutendste Satz meines Lebens« (Briefe 1,
lang waren sie überhaupt nur in dieser Gestalt 272) – lässt mit seiner abschließenden Themen-
bekannt. schichtung aber auch deutlich die ästhetischen
Grenzen des Konzepts am Horizont erscheinen:
Sinfonische »Monumentalität«, am Ende zu extre-
mer Künstlichkeit gesteigert (Hinrichsen 2004,
Oberste Ebene: 236 f.), hätte sich im Finale der Neunten mögli-
Der sinfonische Zyklus cherweise in einem gegenüber der Achten noch
potenzierten thematischen Kombinationsverfah-
Bei Bruckner zielt also der viersätzige sinfonische ren niedergeschlagen, wie Max Auer einem heute
Zyklus auf die Bündelung aller Sätze und aller verschollenen Blatt aus dem Materialkonvolut
Einzelereignisse zu einer übergreifenden Drama- dieses unvollendeten Satzes hat entnehmen wollen
turgie, der ein ausgefeiltes Regiekonzept aus An- (Auer 21934, 348). Um sich diese auch nur ansatz-
läufen, Stauungen, Abbrüchen, Neuansätzen, weise vorzustellen, fehlt freilich jeglicher Rückhalt
Ballungen und Entladungen zugrunde liegt. Was im überlieferten Entwurfsmaterial der Neunten.
jeder Einzelsatz innerhalb seiner Grenzen leistet
– seinen spezifischen Beitrag zur Realisierung
dieser sinfonischen Prozessualität –, reproduziert
102 Hans-Joachim Hinrichsen

Unterste Ebene: Die Themen aus einer »Themazeile« herausgebrochenen und


und ihre Verarbeitung scheinbar frei permutierten Zellen absolviert wer-
den, und in der Regel reicht der Motivkern eines
Schon um die vorige Jahrhundertwende war sich Themas, manchmal sogar die Reduktion auf sei-
die Bruckner-Kritik darin einig, dass man die nen Rhythmus, zur Höhepunktgestaltung aus.
Entwicklungsprozesse seiner Sinfonien nicht mit Am Hauptthema der Achten lassen sich die
der geläufigen Vorstellung der klassischen ›moti- Grundlagen von Bruckners Verfahren exempla-
visch-thematischen Arbeit‹ erfassen könne. Frei- risch und auf einer reifen Entwicklungsstufe zeigen
lich wurde daraus rasch das Verdikt des nicht or- (siehe das Notenbeispiel): Eine viertaktige erste
ganisch Entfalteten und bloß Zusammengestück- Zeile (T. 3–6) wird wiederholt bzw. sequenziert
ten – ein Vorwurf, den Ernst Kurth, auf der (T. 7–10), danach folgt eine neue viertaktige Zeile
Grundlage seines dynamischen Musikbegriffs (T. 11–14) und wird ihrerseits sogleich sequenziert
verständlich, zurückführte auf »den Fehler, mit (T. 15–18), woraufhin – mit dem letzten Takt die-
der Lupe zu schauen, wo das Fernrohr anzusetzen ser zweiten Sequenz überblendet – eine sequenzie-
wäre« (Kurth 1925, 250). Dennoch ist das Ansetzen rende Kette von mehreren Eintaktern folgt, die
der Lupe keineswegs verfehlt – geht es doch das Thema zum Abschluss bringen (T. 19–22).
darum, das Gefüge von Bruckners sinfonischen Danach wird, nunmehr im Fortissimo, das ganze
Sätzen auf jeder, auch der untersten, Ebene und in Thema sofort wiederholt. Das gesamte 20-taktige,
jeder, auch der kleinsten, Dimension in seiner anders also als bei Wagner ganz »quadratisch«
hierarchischen Schichtung zu verstehen. Eine (8+8+4) strukturierte Gebilde besteht mithin aus
gleichsam mikroskopische Analyse von Bruckners drei Gruppen, die intern durch Sequenzierung
Themen- und Motivtechnik hat lange auf sich strukturiert sind; an den Grenzen von Gruppe zu
warten lassen: Sie ist, zunächst seltsam unbeachtet Gruppe wird jeweils ein Motiv aus der vorigen
geblieben, 1963 in einer kleinen Monographie von Gruppe übernommen und in die Fortsetzung
Werner Korte vorgelegt worden, in einer geradezu integriert: Erst geht der rhythmisch scharf ge-
bestechenden Nüchternheit, durch die sich der spannte Sechzehntel-Auftakt von der ersten an die
Blick auf Bruckner allmählich, aber nachhaltig zweite Gruppe über, dann die Viertel-Triole aus
verändert hat. der zweiten an die dritte. Das Verfahren dieser
Charakteristisch für sämtliche Themen Bruck- internen substanziellen Assoziierung – von Korte
ners ist demnach ihre Abgeschlossenheit, die zu als »Mutation« bezeichnet (Korte 1963, 25) – er-
betonen so wichtig ist, weil gerade ihre Exposition zeugt im Satzbau des daraus hervorgehenden
organisches Wachstum und allmähliche Entwick- Themas eine »Kettenstruktur« (Korte 1963, 29).
lung suggeriert. Doch ist es, in diametralem Un- Entscheidend an dieser neuen Terminologie ist die
terschied zu Motiv- und Themenbildungen Ri- Absicht, eingebürgerte Begriffe wie »motivisch-
chard Wagners, die »zeilenhafte Begrenztheit«, die thematische Arbeit« oder »entwickelnde Variation«
Bruckners Themen als »fest proportionierte Werk- als für Bruckner unzuständig abzuweisen, und
stücke« erscheinen lässt: »Diese thematischen zwar unabhängig davon, ob den Hauptthemen
Kernzeilen Bruckners sind ›fertige‹ Gebilde, die Bruckners – in Kortes Begrifflichkeit – das Prinzip
ihren melodischen Antrieb mit dem letzten Ton der »Addition« (Zweite, Vierte und Fünfte Sinfo-
einstellen. Sie sind außerordentlich plastisch, doch nie), der »Reihung« (Dritte und Sechste Sinfonie)
fehlt ihnen alles Transitorische, aus sich selbst oder der »Kettenbildung« (seit der Siebten Sinfo-
Herausführende« (Korte 1963, 25). Das verhindert nie) zugrunde liegt (Korte 1963, 30 f.).
indessen nicht, dass diese Kernzeile »eine unge- Es ist wichtig zu erkennen, dass die Pointe von
ahnte Befähigung zu flexibler Mehrdeutigkeit und Kortes Diagnose – die Betonung des »Abgeregel-
Umdeutbarkeit« (ebd.) aufweist, mit der sie den ten« und in sich Geschlossenen der einzelnen
ihr von Bruckner zugedachten Zweck perfekt er- »Werkstücke« einerseits, des Unvorhersehbaren
füllt. Denn eine steigernde Satzentwicklung kann, und Unbegrenzten ihrer Mutationsmöglichkeiten
wie vor allem das Adagio der Neunten auf vielfäl- andererseits – keineswegs der Behauptung einer
tige Weise demonstriert, mit scheinbar willkürlich übergreifenden sinfonischen Dynamik, wie sie die
Bruckner als Sinfoniker 103

Analytische Darstellung des Hauptthemas der Achten Sinfonie (1. Satz, T. 3–22) nach Korte
(Korte 1963, 27)

11
7

cresc. 3
15

3
[ ]
3
19

[ ]
3
3
20

dim.
21 3

dim.
22 3

Bruckner-Deutungen Kurths prägt, widerspricht. Einerlei, ob man die Analyse von oben nach unten
Alle Steigerungen und dynamischen Entladungen oder in umgekehrter Richtung verfolgt, also in
sind zwar »in der Wirkung stufenlose Crescendi«, Kurths Sinne »das Fernrohr« oder aber »die Lupe«
aber in ihrer Bauweise »ruckweise in gruppierter ansetzt: Bruckners dynamisches sinfonisches Kon-
Anordnung entwickelt« (Korte 1963, 41). Die or- zept erscheint als ein auf jeder Ebene aus eigen-
ganische Wirkung, der von Kurth emphatisch so tümlich geschlossenen Bestandteilen paradox ge-
genannte »symphonische Strom«, die energetische fügtes, diese Paradoxie konsequent auf jeder Ebene
»Kraftwelle«: Sie verdanken sich bei näherem Zu- wiederholendes, also im Wortsinn rekursives Sys-
sehen »einer Technik des abgeregelten Einpassens tem. Nicht zuletzt in dieser Eigenschaft – eben im
und Zusammenordnens seiner zellenfesten Werk- Systemcharakter – liegt das Geheimnis seiner
stücke« (Korte 1963, 42). Damit werden nunmehr Überzeugungskraft und Geschlossenheit. Auf
Bruckners Sinfonien, schon auf der untersten Monumentalität und Überwältigung zielend, ist
Ebene der Motivbildung ansetzend, als span- doch das Ganze akribisch durchkalkuliert. Dazu
nungsvolle, aus den Polen von Mechanik und gehört auch die präzise Rechenschaftslegung über
Organik hervorgehende, wenn man so will also die metrische Position jedes einzelnen Taktes jeder
dialektische Gefüge erkennbar. Denn was auf der einzelnen Sinfonie, die sich als fortlaufende Num-
untersten Ebene als paradoxe Konstellation aus merierung in jeder autographen Partitur Bruckners
geschlossenen Bausteinen und organisch wirken- findet und der nach 1876 auch die vorher entstan-
dem Wachstum erscheint, wird sich auf den höhe- denen Werke nachträglich unterzogen worden
ren Hierarchieebenen des Gesamtkonzepts exakt sind. Sie dem in Bruckners Lebensführung viel-
wiederholen: auf der den Gesamtsatz konstituie- leicht belegbaren ›Zählzwang‹ aufs Konto zu
renden Ebene der einzelnen Themengruppen und schreiben, wäre ein grundlegendes Missverständ-
ihres übergreifenden Zusammenhangs ebenso wie nis. Leopold Nowak hat in einer schönen Formu-
zuletzt in der höchsten Dimension des überwöl- lierung vom »logischen Gleichgewichtssinn«
benden zyklischen Zusammenhangs aller Sätze. Bruckners gesprochen (Nowak 1985, 46) – eine
104 Hans-Joachim Hinrichsen

Formel, die auf glückliche Weise offen lässt, ob (Dahlhaus 1988, 32). Bruckners mit seltener Kon-
sich die grandiose Proportioniertheit seiner großen sequenz auf eine »Kunstübung ohne kirchliche
Formen einem Kalkül oder einer Intuition ver- Bindung« (Röder 1999, 54) ausgerichteter Lebens-
dankt. Warum sich diese im Kompositorischen entwurf bezeugt daher auch eine authentische
hervortretende scharfe Intelligenz im Alltagsleben Teilhabe am Zeitgeist seiner Epoche. Als »abso-
nicht wahrnehmbar abgebildet hat, sondern sich lute« Tonkunst in dem von Wagner sanktionierten
geradezu hinter der Mauer einer habituellen Son- Sinn ist seine Sinfonik, jenseits der inzwischen
derlingsrolle verschanzte, wird sich wahrscheinlich obsolet gewordenen ästhetischen Dichotomien
nie klären lassen. des 19. Jahrhunderts, daher ein integraler Teil der
säkularen bürgerlichen Kunstreligion.

Absolute Sinfonik Musikalische Semantik


und Kunstreligion Ob in Bruckners Sinfonik der mit der ästhetischen
Ordnung ihrer Werkstrukturen vermittelte Sinn
Dass das Publikum an die Neuartigkeit seines wirklich so sehr von dem durch tiefe Gläubigkeit
Sinfoniekonzepts erst in einem langen Erziehungs- bestimmten Weltbild des Komponisten zehrt, wie
prozess zu gewöhnen sei, war Bruckner klar be- ein hartnäckiges Rezeptionsklischee es will, ist
wusst. Sei es, dass er seine Sinfonik in zunächst letztlich unerheblich. Bruckner selbst, dessen
reduzierter Dosierung empfahl (etwa als Auffüh- selbstbewusster Charakterisierung der eigenen
rung lediglich des Adagio der bereits erfolgreichen Sinfonik als »absoluter« Musik das auch diametral
Siebten Sinfonie), sei es, dass er sich zur Andeutung widersprochen hätte, hat eine solche Deutungs-
verständnisfördernder Programme herbeiließ (wie möglichkeit ohnehin nicht privilegiert, und die
im Fall der Vierten oder der Achten Sinfonie), sei kurzschlüssige Verwechslung von empirischem
es, dass er aus aktuellem Anlass sogar Kürzungen und ästhetischem Subjekt verbietet sich allein
autorisierte (von denen er freilich die für die schon angesichts der schütteren biographischen
Nachwelt zu konservierenden Werkgestalten strikt Materialbasis von selbst. Sofern Bruckners Kom-
ausnahm): Die didaktische Pragmatik, die er dabei ponieren überhaupt von Bildvorstellungen beglei-
verfolgte, ist bemerkenswert und bezeugt – wie tet war, verweisen diese am ehesten auf vertraute
alles unmittelbar sein Werk Betreffende – das Eindrücke aus Natur und Lebenswelt, wie etwa in
glatte Gegenteil von Weltfremdheit. der Vierten Sinfonie, die der Komponist selbst –
Der alternde Bruckner konnte bei aller (und freilich erst einige Zeit nach ihrer Fertigstellung
eigentlich um diese Zeit professionell nicht mehr – als seine »romantische« bezeichnete und deren
recht begründbaren) Niedergeschlagenheit ein Finale er in der zweiten Fassung den Titel »Volks-
erhebliches Selbstbewusstsein an den Tag legen. fest« gab. Solche Bildvorstellungen sind auch für
Das stolz referierte Urteil Hans Richters etwa, das Finale der Dritten Sinfonie bezeugt, dessen
Bruckner sei »der erste Tondichter nament[lich] zweite Themengruppe (in allen drei Fassungen ab
Symphoniker nach Beethoven«, definierte sein B) als simultane Kombination einer stilisierten
Selbstverständnis ebenso wie die gern erinnerte Tanzmelodie und einer zeilenweise vorgetragenen
Gesprächsäußerung Richard Wagners, »nur Einer Choralintonation angelegt ist: »Sehen Sie«, so soll
sei noch, dessen Gedanken in der a b s o l u t e n Bruckner 1891 seinem Biographen August Gölle-
Musik denen Beethovens an die Seite gesetzt zu rich gegenüber geäußert haben, »hier im Hause
werden verdienen, u der wäre ich« (Briefe 2, 214). großer Ball – daneben liegt im Sühnhause der
Für die in der Graphie dieses Briefes emphatisch Meister auf der Totenbahre! So ist’s im Leben, und
markierte Absolutheit seiner Sinfonik konnte d a s habe ich im letzten Satze meiner dritten
Bruckner sich, nur scheinbar paradox, gerade Symphonie schildern wollen: die Po l k a bedeutet
deshalb durch Wagner beglaubigt fühlen, weil er den Humor und Frohsinn in der Welt – der
dessen Musik »genau in der Form rezipierte, in der C h o r a l das Traurige, Schmerzliche in ihr«
sie der Schopenhauerschen Metaphysik entsprach« (Göll.-A. 4/2, 663.). Solche idiomatischen Rück-
Bruckner als Sinfoniker 105

bindungen an musikalische Charaktere begegnen Zwar gibt es unbestreitbar eine Dimension in


bei Bruckner – stets in hochgradiger Stilisierung Bruckners Musik, die verständlicherweise für
– auch im Ländlerton mancher Triosätze seiner hermeneutischen Ehrgeiz und interpretatorische
Scherzi. Freilich sind die hierdurch aufgerufenen Irritation gesorgt hat. Zitathafte Anklänge an
Assoziationen für den Nachvollzug des komposi- fremde wie an eigene Musik, der Einsatz seman-
torisch strukturierten Sinns sinfonischer Verläufe tisch aufgeladener Topoi und die Verwendung
von höchst begrenzter Reichweite; auch im Finale musikalischer Symbolik scheinen nach einer Er-
der Dritten ist die Kombination von tänzerischer klärung zu verlangen. Doch ist eine solche nur
Folklore und religiöser Andachtsmusik, also die dadurch zu erlangen, dass man diese Elemente
Synthese zweier konträrer lebensweltlicher Berei- nicht als isolierbare Vokabeln, sondern, dem Ni-
che, nichts anderes als eine besonders sinnfällige veau von Bruckners Komponieren entsprechend,
Umsetzung der geläufigen kontrapunktischen als integrale Bestandteile einer komplexen musika-
Faktur Brucknerscher Gesangsperioden. So lässt lischen Organisation begreift.
denn auch die Analyse der Musik stets eine kom-
positorische Intellektualität erkennen, die die
Anklänge, Zitate, Symbole: Die Konstitution
Simplizität der überlieferten Selbstkommentare
von Bedeutung in Bruckners Sinfonien
nur noch rätselhafter erscheinen lässt.
Allein schon das macht die vielbesprochenen In Bruckners Sinfonien wird bekanntlich nicht
Programme, allen voran jenes berühmt-berüch- selten auf Wagners Musikdramen, auf eigene Mes-
tigte der Achten Sinfonie, völlig unglaubwürdig. sen oder auf Idiome wie den Choral angespielt.
Sie bieten kaum mehr als »unkonkrete Assoziati- Oft findet man diese Anspielungen, vorschnell
onsfelder« an, »die sich von einer tatsächlichen und reichlich gedankenlos, als »Zitate« bezeichnet
Programmatik radikal unterscheiden« (Lütteken und für eine semantische Dechiffrierung in An-
2002, 353). Mit den seinerzeit populären Pro- spruch genommen, die in der Regel Erklärungs-
gramm-Sinfonien der Komponisten seiner Gene- programme auf jenem literarischen Niveau rekon-
ration (Joachim Raff, Anton Rubinstein, Karl struiert, wie man es schon aus den – partiell von
Goldmark oder Joseph Rheinberger) hat Bruck- Bruckner autorisierten – Texten im Umkreis der
ners Sinfonik denn auch nichts zu tun. Ihr musi- Achten Sinfonie kennengelernt hat.
kalischer Gehalt ist nicht mit jener Ebene zu Die bekanntesten Beispiele sind die »Wagner-
identifizieren, die sich, und sei es unter Berufung Zitate« der Dritten und der Vierten Sinfonie, die in
auf den Komponisten selbst, als Folge unterhaltsa- den späteren Werkfassungen weitgehend, aber
mer und anschaulicher Bilder darstellen lässt (vgl. keineswegs restlos beseitigt worden sind. Doch
zur Methodologie solcher Hermeneutik am pro- schon über die Zahl und die Herkunft der ver-
minentesten Floros 1980, 155–231; auch Floros meintlichen Zitate ist in der bisherigen Literatur
1984). Bruckner ist »kompositorisch nicht so naiv kaum Einigung erzielt worden. Nichts belegt
wie seine Exegeten« (Steinbeck 1996, 88), denn deutlicher, wie wenig diese erheblich verfremdeten
mit der subtilen Funktionsweise seiner sinfoni- Elemente wirklich als einwandfrei erkennbare Zi-
schen Dramaturgie kann man die Flächigkeit der tate im traditionellen Sinn gemeint sein können.
Visionen, die ihn beim Komponieren begleitet Das macht ihre Diskussion von vornherein kom-
haben mögen, schwerlich in Übereinstimmung pliziert, und gesteigert wird ihr Komplexitätsgrad
bringen; dass sie gar die kompositorische Organi- noch durch den Umstand, dass die Vierte partiell
sation gesteuert haben könnten, ist daher weder das bereits in der Dritten Sinfonie Zitierte noch-
vorstellbar noch irgend zu belegen (vgl. Dahlhaus mals aufruft, also strenggenommen das eigene
1988, 32). Und vor dem Missbrauch, der etwa ein Zitat zitiert. Um eine komplexe Situation mög-
Brucknersches Adagio »als ein[en] Herd benützt, lichst knapp zusammenzufassen (ausführlich siehe
an dem wir unser eigenes Gefühlsleben wieder dazu Hinrichsen 1999): Die eigentliche Raffinesse
aufwärmen können«, hat August Halm schon vor dieser »Zitate« liegt in der Subtilität ihrer formalen
nahezu einem Jahrhundert gewarnt (Halm 21923, Integration, die einen bisher kaum beachteten
117). Grad der kompositorischen Reflexivität bezeugt.
106 Hans-Joachim Hinrichsen

Sie sind daher auch keineswegs Fremdkörper, ungenaues Zitierverfahren hat seinen Höhepunkt
sondern kunstvoll legitimierte konstitutive Be- in der Annullierten (der ursprünglich Zweiten), der
standteile des eigenen Werks. Wenige Beispiele Zweiten, der Dritten und der Vierten Sinfonie (die
müssen hier genügen. Das »Zitat« aus Wagners ihrerseits bereits, wie angedeutet, das Zitierverfah-
Walküre in der Vierten Sinfonie etwa (dort im ers- ren als solches zitierend reflektiert): Es bedeutet,
ten Satz der 1. Fassung, T. 327 ff.) ist keineswegs dass Bruckner auf dem Höhepunkt jener Phase, in
wörtlich, wenn auch genau genug, um auf seine der sich die Emanzipation von der Komposition
Herkunft zu verweisen: reduziert auf seine wesent- liturgisch gebundener Musik, das Inspirationserleb-
liche harmonische Eigenschaft, die als Ermögli- nis durch Wagners Musikdramatik und der Durch-
chung unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft bruch zur eigenen Sinfonik auf komplexe Weise
der im Tonsystem am weitesten voneinander ent- verschränken, eindringlich die Prämissen des eige-
fernten Tonarten erscheint. Bruckner mag dies nen Komponierens demonstriert. Einem intelligen-
mit Recht als eine der zahlreichen harmonischen ten Hörer konnte sich das selbst noch in polemi-
Innovationen Wagners empfunden haben. Zudem scher Verzerrung als Erkenntnis mitteilen, wie etwa
ist der Auftritt des »Zitats« an gerade dieser Stelle Eduard Hanslicks böswillige Beschreibung der
alles andere als zufällig, sondern vielmehr von Dritten Sinfonie belegt, die er 1877 in ihrer zweiten
langer Hand vorbereitet durch motivische Abspal- Fassung kennenlernte: »vielleicht eine Vision wie
tungen aus der Gesangsperiode der Exposition, Beethovens ›Neunte‹ mit Wagners ›Walküre‹
deren variative Mutation die Walküre-Allusion am Freundschaft schließt und endlich unter die Hufe
Schluss der Durchführung nun buchstäblich her- ihrer Pferde gerät« (Göll.-A. 4/1, 480). Der prekäre
beizitiert. In der Dritten Sinfonie (erster Satz, 1. ästhetische Status der zitierenden Anspielungen
Fassung) ist es dann neben diesem auch in der zwischen Rechtfertigung und Selbstvergewisserung
Vierten verwendeten Walküre-Anklang für viele dürfte hinreichend erklären, warum das Zitat- und
Interpreten zusätzlich noch ein Tristan-Zitat, das Allusionsverfahren in den späteren Sinfonien zu-
im Zentrum der Kopfsatz-Durchführung (T. 463– rücktreten und im nachfolgenden Überarbeitungs-
468) den Bayreuther Meister zu beschwören prozess auch aus den Frühwerken weitgehend wie-
scheint. Es handelt sich hier also um einen wahren der entfernt werden konnte. Als »naive Huldigung«
Wagner-Zitat-Komplex. Doch ist gerade dieser an Wagner (Göll.-A. 4/1, 271) wäre dieses Verfahren
Komplex in Wahrheit noch viel komplizierter, vollständig verkannt. Die problematische Legitimi-
und erst die Erkenntnis aller Bezüge führt ihn ei- tät einer Sinfonik nach der Kirchenmusik und ne-
ner Lösung zu. Der vermeintliche Tristan-Anklang, ben dem Musikdrama erweist sich als Reflexionsge-
auch er keineswegs in einem präzisen Sinne Zitat, genstand auch Bruckners selbst.
unterhält gleichermaßen Beziehungen zu einer In eine ähnliche Richtung weisen später die
Kadenzformel aus dem Kyrie der eigenen d-Moll- Berührungspunkte der parallel entstandenen Sieb-
Messe (dort T. 119–124), die ihrerseits – und zwar ten Sinfonie und des Te Deum. Das hier (zwischen
in syntaktisch analoger Funktion – in der Annul- X und Y) mit »non confundar in aeternum« tex-
lierten Sinfonie (1. Satz, T. 281–284) wiederkehrt tierte Melodiefragment begegnet dort (zweiter
(Hinrichsen 1999, 124). Satz, T. 4 f., T. 160–177) als sinfonisch verarbeitete
Das aber verweist auf einen Hintergrund des Motivzelle im Adagio. Statt allerdings, wie meist
Anspielens und Zitierens, der auch für andere geschehen, diese Tatsache vorschnell für die se-
frühe Bruckner-Sinfonien, insbesondere die Zweite, mantische Dechiffrierung des Sinfoniesatzes zu
gilt: Bruckner überblendet mit den (auf die für ihn verwerten, läge es eigentlich viel näher zu fragen,
wesentlichen Eigenschaften zugespitzten) Wagner- ob nicht vielmehr umgekehrt die in der Siebten
Allusionen die signifikanten melodischen und Sinfonie zu findende Melodiezeile aus dem Te
harmonischen Funde aus den eigenen liturgischen Deum dieses Vokalwerk als genuin sinfonisch in-
Kompositionen. Beide zusammen aber repräsentie- spiriert erweist – so wie es dann für das späte, von
ren die musikalischen Welten, zwischen denen Bruckner ausdrücklich »symphonisch« genannte
seine Sinfonik um diese Zeit ihr eigenes Existenz- Chorwerk Helgoland ganz offensichtlich zuzutref-
recht zu behaupten beginnt. Bruckners absichtsvoll fen scheint.
Bruckner als Sinfoniker 107

Einer semantischen Dechiffrierung sind zwar aber keineswegs notwendigen semantischen Ge-
keine natürlichen Grenzen gesetzt, aber sie wird halt ist als entscheidender Aspekt stets der Form-
immer nur vordergründig und oberflächlich blei- sinn des aufgerufenen Materials verflochten. Das
ben, wenn sie das Werk »als eine einzige Zitaten- gilt bis zuletzt, bis hin zur Anspielung auf die
sammlung« hört (Steinbeck 1999, 88). Das betrifft »Miserere«-Rufe der d-Moll-Messe vor dem kata-
auch jene Materialschicht, die man zwar nicht als strophischen Adagio-Höhepunkt der Neunten
Zitat, wohl aber als Aufrufung eines Topos anse- Sinfonie (zweiter Satz, bei N), die neben ihrer
hen kann. Exemplarisch hierfür steht das berühmte möglichen religiösen Semantik zugleich eine satz-
Beispiel des von Bruckner selbst so genannten technische Bedeutung als ehrwürdig-topische
»Chorals« im Finale der Fünften Sinfonie. So un- Vierton-Formel aus dem zeitgenössischen Kontra-
bestreitbar er religiöse Konnotationen mit sich punktunterricht zu erkennen gibt (Stephan 1989,
führen mag, so klar erfüllt er doch seine dramatur- 171–173). Auf eine seit der Fünften Sinfonie in allen
gische Funktion innerhalb dieses zwischen satz- Adagio-Sätzen verwendete topische Klangfolge,
technischen Extremen aufgespannten Sinfonie- deren kompositionsgeschichtliche Tiefendimen-
Finales in seiner Eigenschaft als Tonsatzmodell. sion auf die Vorstellungswelt von Verklärung und
Kenntlich wird dies beim Blick auf das verblüffend Erlösung zielt, hat Steinbeck hingewiesen; ihre
zeitgleiche Verfahren, mit dem ebenfalls Johannes »religiöse Symbolik« ist die Kehrseite ihrer syntak-
Brahms den Choral im Finale seiner Ersten Sinfo- tischen Funktionalisierung für die Gestaltung des
nie disponiert. Bei beiden Komponisten ist der Satz-Höhepunkts (Steinbeck 1999). Und ein mu-
Choral fiktiv – klare Ostentation des Modellcha- siksprachlicher Topos in diesem Sinne ist natürlich
rakters – und löst am Ende den dramatischen auch die ausgedehnte besondere Kadenzformel,
Knoten der sinfonischen Prozessverwicklung in mit der Bruckner die Dritte (in allen drei Fassun-
einem ganz buchstäblich technischen Sinne auf: gen) und die Vierte Sinfonie (in der ersten Version)
als »befreiende Auflösung« und damit als »Läute- ihre finale Dur-Apotheose auf dem Weg über die
rung des kompositorischen Geschehens in einem ostentativ vermollte Subdominante erreichen lässt
sowohl satztechnisch wie historisch als ›rein‹ be- und deren berühmteste Beispiele er bezeichnen-
griffenen Modell« (Lütteken 1997, 34). Diesen derweise in den »Verklärungsschlüssen« von Wag-
historisch gewachsenen musikalischen Reinheits- ners Der fliegende Holländer und Tristan und Isolde
anspruch des Chorals kennt der Protestant Brahms studieren konnte.
so gut wie der Katholik Bruckner, und ihm gegen- Die Selbstbehauptung von Bruckners Sinfonik
über verliert die höchstens atmosphärische religiö- gegenüber der eigenen Herkunft aus der Kirchen-
se Konnotation der Choralapotheose an Rang. musik und der Überwältigung durch das Wagner-
Alles andere als zufällig setzt Bruckner den Choral sche Musikdrama profitiert denn auch von dem
so nur im Finale der Fünften ein, in dessen Verlauf Umstand, dass Erlösung als weniger religiöser denn
er seine historisch befrachtete Rolle als homopho- vielmehr kunstreligiöser Verhandlungsgegenstand
ner Gegenpart der Fuge in einer kontrapunktisch den Epochendiskurs zu prägen beginnt: Die Dra-
fast überdeterminierten Finalkonzeption erfüllt. maturgie ihrer Beschwörung oder ihrer Verweige-
Dass er sich danach für eine Finaldramaturgie rung eint die großen musikalischen Konzeptionen
nicht ein zweites Mal auf diese Weise instrumen- des Zeitalters quer durch alle Lager und Gattun-
talisieren lässt, liegt auf der Hand. gen. Es verschlägt dabei recht wenig, ob die Ex-
Der Versuch, bei Bruckner eine selbstständige pression der Erlösungsbedürftigkeit religiöse
Bedeutungsschicht von der Musik als solche abzu- Grundlagen hat (was in Bruckners persönlicher
heben, muss also fast zwangsläufig die Qualität Überzeugung kaum zu bezweifeln ist) oder ob
und vor allem die Komplexität des musikalischen nicht. Auch Bruckners große Werke sind, nicht
Geschehens verfehlen. Immer nur durch ihre anders als die von Brahms, künstlerische Doku-
Funktion im Gefüge des sinfonischen Konzepts mente jener durch das Schwinden metaphysischer
geben die Anklänge, »Zitate« und Topoi ihren – Gewissheiten geprägten Kontingenzerfahrung, die
nie isolierbaren – Sinn preis, der stets zugleich ei- man als das Signum der Moderne bezeichnen darf.
ner der Gesamtorganisation ist: In den möglichen, Wenn die extremen Pole des musikalischen Gehalts
108 Hans-Joachim Hinrichsen

in strikter Bindung an die kompositorische Orga- worden, von deren Zuschnitt und Faktur die an-
nisation einen ästhetischen Erfahrungsraum zwi- deren Gattungen zehrten, nicht umgekehrt.
schen Zweifel und Gewissheit, zwischen existen- Seine Instrumentalisierung für die Musikpoli-
zieller Not und metaphysischer Hoffnung erschlie- tik des offiziellen Bayreuth nach Wagners Tod ist
ßen, dann ist Bruckners Sinfonik genau in diesem nicht seine Schuld. Bruckner war der einzige Sin-
Sinne, von ihm selbst auch bewusst so charakteri- foniker, den man ernsthaft gegen Brahms in Stel-
siert, Sinn erzeugende und in diesem genauen lung bringen konnte, dessen Erste Sinfonie durch
Wortsinne »absolute« Musik. Aber auch eine noch Hans von Bülow unsinnig, aber wirksam mit dem
so triumphale Apotheose am Ziel des sinfonischen Etikett der »Zehnten Beethovens« versehen wor-
Prozesses kann Sinnhaftigkeit nur zu ästhetisch den war. Wie verheerend die Bayreuther Propa-
erfahrbarer Gewissheit bringen. Es gibt keinen ganda für Bruckners Reputation in den tonange-
Grund, daran zu zweifeln, dass Bruckners kompo- benden Kreisen um Brahms sich auswirkte, ist
sitorischer Intelligenz genau diese rein ästhetische wiederum an Bülow zu sehen, der Bruckner 1865
Beglaubigung des sinfonischen Zusammenhangs am Rande der Münchner Tristan-Aufführung
zugleich als äußerste Möglichkeit wie als unüber- kennengelernt hatte und wahrscheinlich erst
windliche Begrenzung klar bewusst gewesen ist. durch Josef Schalks Bruckner-Artikel in den Bay-
reuther Blättern (Oktober 1884) zu jenem Dictum
hingerissen wurde, das verhängnisvoll in das Cor-
pus der geflügelten Worte der Bruckner-Kritik
Bruckner, der Sinfoniker eingegangen ist. So heißt es am 28. Juni 1885 in
einem Brief Bülows an den Berliner Publizisten
Das kann aber auch verständlich machen, warum Otto Lessmann, der den heute fast vergessenen
Bruckner sein Lebensziel in der kompositorischen Xaver Scharwenka (1850–1924) als »neuen Sym-
Sinnstiftung der Sinfonik sah, und zwar von einer phoniker« gefeiert hatte:
bestimmten Lebensphase an in geradezu beispiel-
»Das musikalische Unheil welches Bayreuth (als Inbe-
loser Ausschließlichkeit. Ungewöhnlich lang griff ) anzustiften fortfährt – ist ein noch schlimmeres für
dürfte der Weg dorthin indessen aus völlig ande- den Reformwollenden. Dieser unqualifizirbare Schwin-
ren Gründen gewesen sein als bei Brahms: In der del, der jetzt mit Br[uckner] als sinfonischem Surrogat für
den anathematischen Br[ahms] intavolirt worden ist.......
späten Erreichung des Ziels, mit der ein nicht doch wozu weitere Worte verlieren. Ihr »neuer Sympho-
unproblematisches historiographisches Konstrukt niker« [= Scharwenka] dem eine Standarte zu entfalten
das »zweite Zeitalter der Symphonie« (Dahlhaus Sie doch nicht mehr den Enthusiasmus spüren wie vor
15 ½ Monaten, ist immer noch m e h r M u s i k e r als
1980, 220–229) eröffnet sah, endet die Parallele dieser mir seit 1865 als Halbgenie + Halbtrottel bekannte
auch schon. Es ist ganz ungewiss, ob Bruckner neue Oppositionsb o v i s t der HH. Levi, Marsop, Ostini,
von ähnlichen gattungsästhetischen Zweifeln und Kastner u.s.w.« (zitiert nach Hinrichsen 2000, 23)
Skrupeln geplagt war wie Brahms, dessen Ent-
wicklung nicht nur vor, sondern auch nach der Wie schnell dieses böse Aperçu die Runde machte,
gelungenen Bewältigung der Sinfonie gänzlich bezeugt eine Tagebuchaufzeichnung der Liszt-
anders verlief. Vor allem die Rolle Beethovens, von Biographin Lina Ramann vom 4. Juni 1886: »Bü-
dem Bruckner in nicht weniger als drei Werkpaa- low soll über Bruckner gesagt haben: ›halb Genie,
ren die Molltonarten übernahm, ist trotz mancher halb Trottel‹; ich finde: er hat scharf, aber nicht
Vorarbeiten keineswegs befriedigend erhellt, nicht ganz falsch gezeichnet« (zitiert nach Hinrichsen
einmal der Stellenwert von Bruckners Selbstver- 2000, 21). Im 20. Jahrhundert wurde es dann un-
ständnis, der »Nachfolger Beethovens« zu sein sinnigerweise Gustav Mahler zugeschrieben, dem
(Briefe 1, 227). Wenn es bei Bruckner überhaupt solches über Bruckner zu äußern wohl schwerlich
eine Systematik der kompositorischen Annähe- in den Sinn gekommen wäre.
rung an die Sinfonik gibt, dann verläuft sie, merk- Trotz aller Widrigkeiten, durch die sich Bruck-
würdig genug, über die großbesetzten Messen, ner bei Aufführungen und Erstpublikationen zu
nicht über die Kammermusik. Einmal erreicht, manchem Kompromiss gezwungen sah, begann
war für Bruckner die Sinfonie zu der Gattung ge- sich seine Position im Gattungssystem des späten
Bruckner als Sinfoniker 109

19. Jahrhunderts in sicherem Umriss abzuzeich- zentrale Aufgabe sah er am Ende erfüllt. Dafür
nen. Gegen die aus Pragmatismus gebilligten gibt es keine schönere Umschreibung als die schon
Entstellungen der publizierten Fassungen wurden eingangs zitierte, zwischen Stolz und Demut oszil-
einer reifer gewordenen Nachwelt die authenti- lierende Formulierung Bruckners selbst, zu der er
schen Werkgestalten durch ihre Deponierung in in einem seiner letzten Briefe gefunden hat: »ich
der Wiener Hofbibliothek vermacht. Der Zukunft bin ja doch nur ausschließlich Symphoniker, d a -
seiner sinfonischen Werke konnte der Komponist f ü r habe ich mein Leben eingesetzt, u auch meine
mit großer Gelassenheit entgegensehen, und seine Auszeichnungen erhalten« (Briefe 2, 354).

Literatur
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110

Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie


von Wolfram Steinbeck

Studienzeit – zu einem seiner größten Desaster werden


sollte.
Der »Weg zur großen Sinfonie«, den zu bahnen Nachdem Bruckner bis in die Mitte der 1850er
schon Franz Schubert höchst beschwerlich fand Jahre über 40 Kompositionen, darunter drei Mes-
(Deutsch 1964, 235), hat etliche Komponisten des sen, ein Requiem, etliche weitere geistliche Vokal-
19. Jahrhunderts in durchaus ernste Bedrängnis werke, Orgel- sowie weltliche Vokalmusik gleich-
gebracht. Mendelssohn gehört ebenso dazu wie sam ›ohne Weiteres‹ komponiert hatte, setzt mit
Schumann und Brahms. Auch Bruckner hat lange dem Entschluss, den Aufenthalt im Stift St. Flo-
mit sich und der Gattung gerungen, bis er selbst rian zu beenden, eine Phase der kompositorischen
den Durchbruch gefunden glaubte. Anders aber Neuorientierung ein. Sie markiert einen eigen-
als die meisten Komponisten hat Bruckner nicht tümlichen, historisch vielleicht sogar einmaligen
mit dem großen Vorbild aller, nämlich mit Beet- Ein- oder Umbruch im Leben eines Komponisten,
hoven, gerungen, sondern mit einer, so können der das vormals scheinbar ungeordnete Abliefern
wir sagen, eigenen Idee, mit einem völlig singulä- von Gelegenheitswerken, die durchaus hohes
ren, ebenso eigenwilligen wie konzisen sinfoni- handwerkliches und kompositorisches Können
schen Konzept (vgl. das Kapitel Bruckner als erkennen lassen, schlagartig beendet, um sich im
Sinfoniker im vorliegenden Handbuch), das ihm Alter von immerhin über 30 Jahren erstmals einem
vorgeschwebt haben muss, das jedoch zu finden strengen Kompositionsstudium zu unterziehen,
und kompositorisch gültig zu formulieren etliche das nahezu acht Jahre beanspruchte.
Studien und Versuche beanspruchte. Bruckner Nach seiner Übersiedlung nach Linz im De-
war der Überzeugung, dass es göttlicher Berufung zember 1855 hatte Bruckner trotz seines zuneh-
entspreche, wenn er sich neben kirchenmusikali- mend gedrängten Terminplans als Domorganist
schen Werken und insbesondere Messen, denen und oberster Kirchenmusiker der Stadt eisern an
er sich als Organist und streng gläubiger Katholik seiner Absicht festgehalten, »Professor der Harmo-
besonders verbunden fühlte, vor allem der damals nielehre und des Contrapunctes« am Wiener
nach wie vor höchsten aller Instrumentalgattun- Konservatorium zu werden (Briefe 1, 26). Dazu
gen verpflichte, nämlich der Sinfonie. Auf dem nahm er über den erstaunlich langen Zeitraum
Weg dahin errichtete er sich selbst etliche Hür- von sechs Jahren musiktheoretischen Unterricht
den, an deren Überwindung er sich übte, schulte, bei Simon Sechter und übte sich anhand von
wenn nicht kasteite, um über mühsame Lehr- dessen Lehrbüchern täglich bis zu sieben Stunden
jahre, über »Schularbeiten«, wie er sie nannte, und bis tief in die Nacht in Harmonielehre und
sowie vier vollständige Sinfonien dann endlich Kontrapunkt. 1861 schloss Bruckner seine Studien
zum Ziel zu gelangen, dem Durchbruch zur Drit- mit einer öffentlichen »Reifeprüfung« am Wiener
ten Sinfonie, deren Uraufführung zugleich – ty- Konservatorium erfolgreich ab. Bis dahin hatte er
pisch für Bruckners gesamtes Komponistenleben sich, mit Ausnahme einiger Gelegenheitswerke
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 111

vor allem für die Liedertafel, nahezu völlige kom- grunde gelegt wurde vor allem die kleine Formen-
positorische Abstinenz auferlegt. Da das Konser- lehre von Ernst Friedrich Richter (Richter 1852),
vatorium keine Professorentitel vergeben konnte, die unter anderem starkes Gewicht auf Prinzipien
wurde Bruckner lediglich bescheinigt, er könne der Periodenbildung sowie die Grundzüge der
»als Lehrer der Musik an Conservatorien und zur Sonatensatzform legt, welche, dem Autor zufolge,
Unterrichtung von Lehramtszöglingen allerorten mehr oder weniger für alle Sätze einer »Sonate«
bestens empfohlen [...] werden« (Göll.-A. 3/1, 118). gelte. Außerdem werden die »Formen des Streich-
Die Wiener Zeitung nannte das Zeugnis etwas quartett und der Sinfonie« mit kaum mehr als
spöttisch einen »wahren Meisterbrief« für den dem Hinweis erläutert, dass sich beide »von der
Linzer Domorganisten, »welcher durch eine Reihe Sonate, ausser in der selbstständigern Behandlung
von Jahren den randvollen Becher Simon Sechter- der Instrumente bei der Benutzung der Motive
scher Schulweisheit bis auf die Neige geleert« habe und der besondern Instrumentation nur in der
(Göll.-A. 3/1, 119). »Erst jetzt nach der Prüfung«, grössern Ausdehnung einzelner Theile« unter-
so heißt es in Bruckners Gesuch um Abnahme der scheiden, bei der Sinfonie »in noch grösserm
Reifeprüfung vom 10. November 1861, wolle »der Maasse [...], als es beim Quartett der Fall ist.« Bei
Gefertigte […] sich der freien Composition wid- Letzterer gehöre zu »einem der schwierigsten und
men« (Göll.-A. 3/1, 114). Dazu suchte Bruckner in wichtigsten Theile der Composition« die »Instru-
Linz den dortigen Theaterkapellmeister Otto mentation [...], die einer besondern, ausführlichen
Kitzler auf, bei dem er von Herbst 1861 bis Juli Abhandlung« bedürfe (Richter 1852, 39 f.). Hierfür
1863 für knapp zwei Jahre Unterricht in Formen- zog Kitzler die entsprechenden Teile aus Adolph
lehre und Instrumentation erhielt. Und auch in Bernhard Marx’ Kompositionslehre (Marx 1837–47)
dieser Zeit nahm Bruckner trotz mehrfacher Auf- heran sowie praktische Beispiele der Wiener Klas-
forderung keine Kompositionsaufträge außerhalb siker und jüngerer Komponisten, darunter vor
seiner Studien an: Mit »Compositionen kann ich allem Mendelssohn.
nicht ausrücken, da ich noch studiren muß«, Das umfangreiche »Studienbuch«, das Bruck-
schrieb Bruckner am 2. September 1862 – da war ner für diesen Unterricht angelegt hatte, zeigt die
er mittlerweile 38 Jahre alt – an seinen Freund Fortschritte des Schülers von einfachen Übungen
Rudolf Weinwurm, der ihn aufgefordert hatte, im Periodenbau über Lieder, Tänze, Variationen
sich doch neben seiner Organistentätigkeit auch etc. bis hin zu Bruckners erstem und einzigen
mit Kompositionen einen Namen zu machen. Streichquartett (WAB 111). Und ferner finden sich
»Wir haben bereits die Instrumentation u dann die u. a. nach einer Instrumentation von Beethovens
Symphonie […]. Später, künftiges Jahr werde ich Klaviersonate Pathétique op. 13 die frühesten Or-
wol fleißig componiren. Jetzt sinds nur größten- chesterwerke Bruckners (WAB 96–97) darin sowie
theils Schularbeiten. In 3–4 Monaten bin ich fer- Skizzen zur Ouvertüre g-Moll und der f-Moll-Sin-
tig« (Briefe 1, 32). Am 10. Juli 1863 verlangte und fonie (WAB 98 bzw. 99) (vgl. Hawkshaw 1996).
erhielt Bruckner tatsächlich den förmlichen »Frei- Die Reihenfolge der Übungen folgt also ganz der
spruch« seines verehrten Lehrers (Göll.-A. 3/1, damaligen Lehrbuchsystematik, wie sie vor allem
143), d. h. die offiziell ausgesprochene Versiche- seit Marx’ Kompositionslehre üblich war und der
rung, das Lernziel erreicht zu haben. Erst diese Kurzfassung Richters entsprach.
Bestätigung scheint Bruckner bescheinigt und Kompositorische »Schularbeiten« lassen meist
auch garantiert zu haben, nunmehr dafür gerüstet noch nicht erkennen, was ›freie‹ Werke, die nach
zu sein, sich selbstständig und ohne Aufsicht der Abschluss des Unterrichts entstanden und nicht
Komposition widmen zu können und zu dürfen. mehr normative Lehrvorgaben zu erfüllen hatten,
mit zunehmender Deutlichkeit zeigen können:
das typische, individuelle Idiom des Komponisten.
»Schularbeiten«
Wagners früher und einziger Sinfonie hören wir
Der Lehrplan bei Otto Kitzler ist durch dessen den Holländer- oder gar den Tristan-Komponisten
Bericht (Kitzler 1904) sowie die erhaltenen Kom- noch nicht an. Selbst die sechs frühen Schubert-
positionen Bruckners recht gut zu verfolgen. Zu- Sinfonien werden, so gelungen sie sind, kaum
112 Wolfram Steinbeck

ohne Weiteres als Werke Schuberts erkannt; glei- wodurch auch immer ausgelösten Durchbruch zu
ches gilt für die Sinfonien von Georges Bizet, Ri- sich selbst, vielleicht eine Art Befreiung aus selbst
chard Strauss und vielen anderen, die als Übungen auferlegtem Zwang gefunden hat. Merkwürdig,
oder Abschlussarbeiten im Kompositionsunter- dass dieses Phänomen, das des Durchbruchs näm-
richt geschrieben wurden. So auch die frühen lich, den Sinfoniker Bruckner dann immer wieder
Kompositionen Bruckners. Aber es gibt vielleicht zentral und essenziell wie kaum einen anderen,
keinen Komponisten, bei dem der Bruch so krass Gustav Mahler vielleicht ausgenommen, beschäf-
ausfällt. Bei Schubert gehen dem Durchbruch zur tigt hat. Gleichwohl sind bei genauerem Hinsehen
Großen C-Dur- Sinfonie immerhin vier fragmenta- durchaus auch schon typische kompositorische
risch gebliebene sinfonische Versuche voraus, die Mittel Bruckners in diesen frühen Werken zu
sich allmählich dem Ton der späteren Instrumen- entdecken, die ihre Behandlung zumindest kom-
talwerke nähern, bis sie ihn in der sogenannten positionsgeschichtlich interessant macht.
Unvollendeten, dem berühmtesten Fragment der
Kompositionsgeschichte, vollends erreichen. Bei
Marsch (WAB 96) und Drei Orchesterstücke
Wagner führt der Weg von der frühen Sinfonie
(WAB 97)
ebenfalls nicht unmittelbar zu den drei großen
romantischen Opern, und Ähnliches ist bei Bizet Der erste Eintrag im »Kitzler-Studienbuch« ist ein
oder Strauss zu beobachten. Bei Bruckner aber ist kurzer Marsch in d-Moll (NGA XII/4; im Klavier-
das anders. Seine Musiksprache ändert sich, zu- auszug wiedergegeben bei Göll.-A. 3/2, 29 ff.) von
mindest was den äußeren Eindruck betrifft, derart nur 30 Takten in großer Orchesterbesetzung. Der
radikal und vor allem nahezu übergangslos zu Marsch dürfte, wie die drei folgenden Stücke, 1862
dem, was wir als das typisch Brucknersche, als geschrieben sein. Den äußeren Umrissen nach
besonderen ›Bruckner-Ton‹ kennen, dass man erfüllt er ganz die Bedingungen einer Formübung
meinen könnte, zwei verschiedene Komponisten mit der gewöhnlichen Anlage aus Hauptteil und
vor sich zu haben. Die frühen Gelegenheitswerke Trio mit entsprechenden Binnengliederungen
aus der Zeit vor 1855 ebenso wie die im Komposi- (||:A :||: B A’ :||: C :||: D:||) sowie einem Hauptteil-
tionsunterricht geschriebenen haben klanglich da-Capo mit abschließender Coda. Bis auf diesen
und dem Höreindruck nach nahezu nichts mit nur viertaktigen Schlussabschnitt bestehen alle
dem Bruckner der d-Moll-Messe zu tun, die 1864 anderen Teile jeweils aus lehrbuchmäßigen Acht-
unmittelbar nach seiner »Freisprechung« entstand. taktperioden.
Und seine Instrumentalwerke, insbesondere die Der Marschton wird vor allem durch fortwäh-
für den Unterricht entstandenen, lassen unvorein- rende Punktierungen und Triolierungen der
genommen nicht an einer Note erkennen, dass Hauptstimmen erzeugt. Vermutlich wegen der
gleich die nächste große Instrumentalkomposi- schwer erklärbaren Diskrepanz der Idiome hat so
tion, die Erste Sinfonie, vom selben Komponisten mancher Bruckner-Forscher mit besonders entwi-
stammt. Das ist eigentümlich und viel beschrieben ckeltem Instinkt in den frühen Werken nach An-
worden. Eine plausible Erklärung hat man bisher zeichen des späteren, ›eigentlichen‹ Bruckner-Tons
nicht gefunden, außer der, dass Bruckner einen gesucht. Göllerich und Auer (Göll.-A. 3/1, 145 f.)

Beispiel 1: Marsch d-Moll, T. 1–4

risoluto 3
3 3
1 (Viol.)

(Kl.)
(Ob.) 3

risoluto

(Fag., Cell., Cb.)


Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 113

etwa erkennen die »ritterliche[n] Rhythmen« die- Violinen und Klarinette (die allerdings im Tutti
ses Marsches, dessen Tonart schon zum »Herold der Streicher kaum zu hören ist), zeigt ebenfalls
der großen d-Moll-Werke (Messe Nr. 1 und vier mindestens zwei auffällige Instrumentationsein-
Symphonien)« erklärt wird, im »Hauptthema der fälle: wenn nämlich das Horn in Takt 6 in die Fi-
›Ersten‹ und dem Finale der ›Siebten‹ (besonders gur der Oboe eingreift, um den Abschnittschluss
dort auch bei F)« wieder. Punktierungen und Tri- bis Takt 8 zu übernehmen, oder wenn im zweiten
olenbildungen sind in der Tat Charakteristika des Trioteil die melodische Führung zunächst dem
Brucknerschen Satzes; sie als solche zu hören, lässt Fagott und den (hohen) Bratschen zugewiesen
sich schwerlich unterbinden. Freilich gehören sie, wird. Dieser Marsch ist ein Übungsstück, das dem
wie gesagt, zum Marsch als Typus. Ebenso könn- Lehrer gefallen haben wird; aufgeführt zu werden
ten die auffallend eckigen Konturen der Melodie- verdient es allenfalls aus historischem Interesse an
führung als Vorliebe des späteren Bruckner er- Bruckners Studienerzeugnissen.
scheinen; vor allem auf den Beginn des unvollen- Das gilt auch für die drei im Studienbuch fol-
deten Finale der Neunten mag mancher Spürsinn genden, im Herbst 1862 entstandenen Orchester-
verfallen; der Bruckner-Ton freilich fehlt überall. stücke (Es-Dur, e-Moll und F-Dur, WAB 97), von
Es sind in der Tat wiederkehrende Formeln, ihnen denen nur das erste eine Tempoangabe (Moderato)
fehlt jedoch der Kontext. Das betrifft auch einige trägt. Es sind ebenfalls primär Instrumentations-
auffällige Stellen der Harmonik. (In Takt 5 wird übungen, kurze jeweils dreiteilige Stücke mit ein-
der Werkbeginn in D-Dur wiederholt und wendet facher Periodenstruktur der Teile und alle in
sich anschließend nach B-Dur. Ohne die vorherige schlichter A-B-A-Form von 36, 48 bzw. 56 Takten.
Dur-Aufhellung wäre der Übergang ein gewöhn- Das erste führt in die Stimmung eines ruhigen,
licher Wechsel in die Dur-Parallele, in der der stillen Gesangsstücks mit warmer Kantilene des
erste Achttakter halbschlüssig endet; so aber wird Solohorns und einfacher Akkord-Begleitung der
daraus ein mediantischer Klangwechsel, wie er Streicher und gebrochenen Dreiklängen der Klari-
später für Bruckner so typisch werden soll.) Auch netten ein, bricht dann jedoch im Nachsatz jäh in
die über anderthalb Takte in gerader Linie abfal- ein Orchestertutti mit einem »heroischen Auf-
lende Sextakkord-Kette in den Takten 12 und 13 schwung nach C-Dur« (Göll.-A. 3/1, 147) aus, ei-
mag manchen an spätere Übergänge erinnern. nem in den 1860er Jahren allerdings längst ziemlich
Wesentlich erscheint hier weniger die vielleicht als abgeschmackten Effekt, nämlich den Gang von
solche wahrgenommene Übereinstimmung als der Tonika (B-Dur) über Subdominante und Sub-
vielmehr die Tatsache, dass Bruckner später mit dominantparallele in die spektakulär aufgemachte
gleichsam vormodellierten, geradezu topischen Doppeldominante C-Dur (T. 5–7). Im etwas be-
Figuren (»Bausteinen«) operiert, wie sie hier eben wegteren Mittelteil fällt allenfalls die Länge der
auch vorkommen, freilich gleichsam nackt und Rückführung zur A-Teil-Wiederholung auf, die
ohne Verankerung im Werkganzen (siehe unten). hier in chromatischer Führung der tremolierenden
Dass Bruckner offenbar ein gelehriger Schüler Streicher durchaus etwas Geheimnisvolles und
war, zeigt insbesondere die durchaus abwechs- Eigenwilliges erhält und im Übrigen den Kon-
lungsreiche Instrumentation (auf die es wohl bei trastpart zur Hornromanze des A-Teils bildet.
diesem Stück in erster Linie ankam). Schon am Das e-Moll-Stück intoniert im A-Teil über trio-
Anfang (siehe Beispiel 1) wechselt die melodische lierter Streicherbegleitung eine sehnsuchtsvolle
Linie von den Bässen zu den ersten Violinen (die Oboenkantilene, die mit dem Fagott in einen
das Motiv sogleich variieren), während die zweiten vorsichtigen Dialog tritt, dann aber etwas einfalls-
(unteres System, aufwärts kaudierte Noten) verzö- los durch einfache Kadenz beendet wird. Der
gert einsetzen und erst im zweiten Takt in Oktaven Mittelteil schlägt einen völlig anderen, leicht
mitspielen. Abwechslungsreich geht es auch in der opernhaft-trivialen Ton an und steigert sich mit
Steigerung des zweiten Halbsatzes (T. 5 ff.) zu, vor Seufzervorhalten und chromatischen Gängen zu
allem in den Bläsern. Das B-Dur-Trio, ruhiger einem großen C-Dur-Höhepunkt, der aus nichts
und sanglich im Ton, mit ausdrucksvoller, keines- anderem als aus Dreiklangsbrechungen und Ak-
wegs banaler, sondern schöner Kantilene in ersten kordrepetitionen besteht und in chromatischer
114 Wolfram Steinbeck

Modulation zurück zum e-Moll der A-Teil-Wie- Das alles zeigt den durchaus geschickten und
derholung führt (in dieser Höhepunktbildung mag kundigen Komponisten dreier gleichwohl höchst
man wiederum eine vage Vorahnung späterer Stei- schlichter Übungsstücke, in denen offensichtlich
gerungs- und Durchbruchspartien wahrnehmen, vor allem die Instrumentierung geübt werden
wie sie für Bruckner so typisch werden sollen). sollte.
Beide Stücke beginnen übrigens mit einem
›leeren‹ Einleitungstakt in Tonrepetitionen bzw.
Ouvertüre g-Moll (WAB 98)
Dreiklangspendeln (man könnte hierin wiederum
einen Vorläufer der Brucknerschen Einleitungstre- Gleich nach Beendigung des letzten der drei Or-
moli sehen, mit denen die meisten seiner Sinfo- chesterstücke beginnt Bruckner Ende 1862 seine
nien beginnen). Das letzte Stück dagegen, das vorletzte »Schularbeit«, die Ouvertüre g-Moll
einzige im Dreiertakt (der bei Bruckner auch (WAB 98), die er am 22. Januar 1863 beendet. Die
später selten ist und überwiegend den Scherzi äußere Anlage entspricht dem Üblichen: Lang-
vorbehalten bleibt), beginnt im Forte des ganzen same Einleitung (T. 1–22), Exposition (T. 23–132),
Orchesters und scheint anfangs den großen Ton Durchführung (T. 133–191), Reprise und Coda
einer Weberschen Ouvertüre imitieren zu wollen (T. 192-Schluss). Und auch der Duktus des Gan-
(Göll.-A., 3/1, 149 f., hören darin allerdings ver- zen, etwa die thematischen Einfälle und ihre Ver-
schiedene Stellen aus Beethoven-Werken sowie arbeitung, ist wenig charakteristisch oder indivi-
einmal mehr diverse Motive aus Bruckner-Sinfo- duell. Eine Einleitung zu einem bestimmten Sujet
nien). Und wieder findet es der Schüler Bruckner wird hier nicht angestrebt. Die Ouvertüre bedient
angebracht, eine unvermittelte harmonische Wen- mehr den Typus, als eine besondere Idee zu reali-
dung einzubauen, indem der Satz von der Domi- sieren.
nante C-Dur trugschlüssig nach Des-Dur geht Daneben aber gibt es durchaus bemerkenswerte
und von hier über acht Takte in allmählicher Stei- Details. Die langsame Einleitung beginnt mit ei-
gerung zurück moduliert, um im Höhepunkt nem dramatischen Oktavsturz im Unisono des
wiederum spektakulär in den F-Dur-Quartsextak- gesamten Orchesters, gefolgt von einer aus der
kord zu münden. Das ist kein »weiteres Merkmal Tiefe in gebrochenem Dreiklang aufsteigenden
Brucknerscher Art«, wie Göllerich und Auer leisen Cellokantilene, die, harmonisch aufgefüllt
(Göll.-A. 3/1, 149) meinen, sondern, so wie die durch die Oboen, in eine dreifache Seufzerfigur
Wendung hier eingesetzt wird, ebenfalls ein gän- mündet und offen stehenbleibt, bevor das Ganze
giger, wenn nicht sogar abgenutzter Effekt. Im sich eine Quint höher wiederholt. Der hier ange-
Mittelteil bieten sich Oboe und Fagott über einfa- schlagene Ton scheint durch seine topischen Mit-
chen Akkordrepetitionen der Streicher einen tel von Schmerz und Sehnsucht zu künden, »als
schönen kleinen Wettstreit im Schönklang, bevor ob schon Tristan-Sehnsucht vorgeahnt wäre«
das Tutti, allerdings in sehr aufgelockerter Instru- (Göll.-A. 3/1, 159). (Den Tristan, der auf Bruckner
mentierung, einen wiederum durchaus bemer- eine ungeheure Wirkung ausgeübt haben muss,
kenswert langen, leiser werdenden Ausklang mit lernte der Komponist dieser Ouvertüre erst 1865
vielfachen Motivwiederholungen als Übergang zur kennen.) Und die Seufzerfigur bestimmt auch den
A-Teil-Wiederholung intonieren. Fortgang dieser Eröffnung und zwar in einer

Beispiel 2: Ouvertüre g-Moll, T. 1–5


Adagio
1

V. Orch. Fag.
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 115

Weise, deren Prinzip Bruckner später zu einem Seitensatz die gesamte Partie wesentlich bestimmt
›Markenzeichen‹ ausgeformt hat: der rhythmi- und allenfalls durch (freilich unvermittelte) Trom-
schen Verkürzung und Verdichtung des Satzes, petenfanfaren einen eigenen Charakter erhält.
hier in Form der abgespaltenen Vorhaltsbildung Gleichwohl scheint sich auch hier ein weiteres
zunächst in Halben, dann in Vierteln und schließ- Kennzeichen des späteren Bruckner anzudeuten:
lich in Achteln. Das Prinzip dient allerdings der die Ausbildung eines eigengewichtigen dritten
verklingenden Überleitung und nicht der Steige- Themenkomplexes (der hier nur noch nicht recht
rung; außerdem wird es mehr als reine Technik vermittelt ist).
des Überleitens denn als Teil eines Konzepts und Die Durchführung ist kurz und operiert vor
zudem etwas schematisch über einer vollständigen allem mit dem gezackten Begleitmotiv sowie dem
chromatischen Abwärtsoktave ausgeführt. Zum Anfang des Hauptthemas. Erwähnenswert
schmerzlichen Tonfall der Einleitung will das so wiederum mag die Anlage der Reprise sein, zum
eingeleitete Hauptthema der Ouvertüre mit seiner einen weil Bruckner hier nicht schematisch die
braven Achttaktigkeit und etwas monotonen Mo- Exposition wiederholt, sondern weil er sie durch
tivik allerdings wenig passen. Bemerkenswert ist geschickte Kürzungen bedeutend schlanker und
freilich, dass die variierte Wiederholung des The- komprimierter auf den Schluss zusteuern lässt.
mas schon im sechsten Takt und dadurch umso Allerdings werden die Straffungsbemühungen
überraschender durch einen plötzlichen, etwas dadurch konterkariert, dass sich eine fast 50-tak-
eigenwilligen Tutti-Ausbruch abgebrochen wird, tige Coda anschließt, die vor allem von der Absicht
der mit seinen beiden Akkordschlägen und wild (und dem entsprechenden Fanfarenmotiv der
ausfahrenden Sechzehntelläufen mit dem Voraus- Trompete) gelenkt wird, einen möglichst grandio-
gehenden kaum etwas zu tun hat – außer einer sen – ouvertürenhaften – Schluss zu machen.
zackigen Achtelfigur, die zuvor als Begleitung des Auch hierin scheint natürlich schon der spätere
Hauptthemas eingesetzt war. Ein gewisser motivi- Komponist Bruckner durch, zumal vor der Apo-
scher Zusammenhang entsteht, trotz ouvertüren- theose eine plötzlich ins Pianissimo zurückgenom-
haft erscheinender Unvermitteltheit, also doch. In mene Themenreminiszenz eingerückt wird und in
Weberschem Schwung wird diese (viertaktige) die Schlusstakte des vollen Orchestertutti hinein
Partie dann zweimal wiederholt und mündet die augmentierten Quartauftakte des Hauptthe-
wiederum in einen langgezogenen, wenn nicht zu mas erklingen, deren punktierter Rhythmus zu-
langen, weil weder thematisch noch charakteris- gleich der des Werkbeginns ist. Die Ouvertüre
tisch sehr bedeutenden Ausklang als Überleitung zeigt also einen erstaunlich hohen Grad an moti-
zum Seitensatz. Der Seitensatz selbst (B-Dur, un vischer Vermittlung der unterschiedlichen Werk-
poco meno mosso, T. 64 ff.) dehnt, auch dies eine teile.
bemerkenswerte kompositorische Maßnahme Eine andere typische Maßnahme erkennen wir
verdeckter Zusammenhangsbildung, die gezackte darin, dass Bruckner von diesem Schluss eine
Figur aus Begleitung und Überleitung zu einer zweite Fassung hergestellt hat, die vor allem einer-
Streicherkantilene, die mehrfach in die aus der seits in der (deutlich variierten) Restituierung der
Einleitung bekannte Seufzerfigur mündet. Dieser Epilogkürzung sowie andererseits im Fortfall der
ruhigen, kantablen Variante des Seitensatzes folgt langen Coda besteht, wobei freilich sowohl die
seine Tutti-Version, wobei die gedehnte Themen- Einbruchstelle als auch die beschriebene Schluss-
melodie durch die ihr zugrunde liegende, schon apotheose beibehalten werden. – So wenig dieser
bekannte Begleitfigur im gesamten Streicherappa- Ouvertüre das spätere Bruckner-Idiom anzuhören
rat wie ein cantus firmus durch kontrastierende ist, so sehr zeigen sich doch durchaus bemerkens-
Figuration unterlegt wird. Die Partie des Unisono- werte Eigenheiten, die in Bruckners späteren
Themas der späteren Sinfonien scheint hier vorge- Sinfonien gleichsam gefestigt und als typische
bildet. Warum Bruckner im Anschluss daran einen Charakteristika seines Satzes wiederkehren wer-
Epilog komponiert, der fast so lang ist wie Haupt- den.
und Seitensatzpartie zusammen, ist schwer zu be-
greifen, zumal der Duktus der Überleitung zum
116 Wolfram Steinbeck

Beispiel 3: f-Moll-Sinfonie, 1. Satz, Hauptthema, T. 1–14

Allegro molto vivace I.


1

Br. Cl.
Viol. I. tutti tutti

Pos.

auch schon die früheste mit der leisen, fast solisti-


»Schularbeit 863«: Die f-Moll-Sinfonie (WAB 99)
schen Vorstellung des Themas ein, freilich ohne
Im Februar 1863, noch während der Revision der die ab der Ersten vorgeschalteten Einleitungstakte
g-Moll-Ouvertüre, hat Bruckner mit seiner letzten aus leisen Tonrepetitionen oder Tremoli. Und
»Schularbeit« begonnen und mit ihr den Höhe- schließlich: Anders als später (und früher) ist das
punkt seiner Übungen erreicht, die f-Moll-Sinfonie Hauptthema nicht etwa periodisch-symmetrisch
(WAB 99). Mit einer Sinfonie den Kompositions- angelegt, sondern besteht aus zweimal sieben Tak-
unterricht abzuschließen, gehört zu den üblichen ten, die sich ihrerseits jeweils aus zwei kontrastie-
Unterrichtsgepflogenheiten seit Beethoven. Insofern renden Halbsätzen zusammensetzen, einem ein-
ist der Fortschritt von kleineren Besetzungen über stimmigen, melodisch-beweglichen Viertakter
Orchesterstücke und eine Ouvertüre zur Sinfonie, und einem dreitaktigen Nachsatz in vollem Tutti
der alles krönenden Gattung, nur konsequent. und mächtigem Akkordsatz.
Auffallend ist, das Bruckner offenbar schon früh Beide Thementeile enden offen, so dass sich,
eine Vorliebe für Molltonarten entwickelt hat. Das trotz starker Pausenzäsur, eine Entwicklung an-
Streichquartett, der Marsch, eines der drei Orches- schließen kann, die nach Schulbuchart aus variiert
terstücke, die Ouvertüre und nun auch die Sinfonie: wiederholtem Kopfmotiv und dessen Ableitungen
durchweg in Molltonarten. Und das wird sich bis besteht. Der spätere Komponist Bruckner kündigt
zur Vierten, einschließlich der zwischen 1864 und sich einmal mehr in der weiteren Art der Fortspin-
1868 entstandenen Messen, nicht ändern. nungspartien an: Sie bestehen aus der Reduktion
Die f-Moll-Sinfonie ist (wie auch die Ouvertüre) des Ausgangsmotivs auf einen einzelnen Bestand-
im Autograph sowie einer offenbar in Bruckners teil und dessen Diminution (Viertel-Sprünge
Nähe entstandenen Abschrift erhalten. Letztere werden zu Achtel-Gängen) sowie – eine komposi-
trägt die autographe Angabe »Schularbeit 863«. torisch durchaus bemerkenswerte Tatsache – aus
Aufgrund von Bruckners schon früh geübter Ge- der Abspaltung des Schlussvorhalts aus der Kon-
pflogenheit, akribisch Kompositionsdaten in seine trastpartie des Themas (vgl. T. 6/7 und 13/14);
Partituren zu schreiben, können wir die Entste- Bruckner fügt hier also (variierte) Thementeile
hungszeiten seiner Werke (und Umarbeitungen) neu zusammen und schafft so Abwechslung und
meist recht gut verfolgen. Demnach entstand das Einheit zugleich. Typisch ist auch die wellenartige
Werk in der – zumal für einen vollamtlichen Dom- Steigerung durch ›Beschleunigung‹ und die an-
organisten – immerhin recht kurzen Zeit vom 15. schließende Beruhigung durch ›Verlangsamung‹
Februar bis zum 26. Mai 1863 (NGA X, Vorwort). (Augmentation der motivischen Bildungen). –
Bis auf die Fünfte hat keine Sinfonie Bruckners Eine eigenwillige Formhandhabung zeigt nach
eine langsame Einleitung, so auch seine früheste diesem Überleitungsteil (T. 15 - 47) die (variierte)
nicht. Wie alle anderen Sinfonien (außer der Wiederholung des vollständigen Hauptthemas in
Neunten) beginnt auch diese direkt mit dem ferti- Des-Dur. Sie könnte der Bereicherung des Modu-
gen Hauptthema (das sich nicht entwickelt, son- lationsteils dienen, mündet jedoch in großer Geste
dern einfach da ist). Ferner: Wie alle anderen ins dominantische C-Dur (T. 62), um dann wie-
Sinfonien (mit gewisser Ausnahme die Siebte) setzt der zurück zur Grundtonart zu gelangen. Erst hier
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 117

Beispiel 4: f-Moll-Sinfonie, 1. Satz, T. 80–93

80 Viol. I

dolce
86
( ) ( )

( )

scheint Bruckner mit dem in Richters Formen- aufgeboten und ein selbstständiges drittes Thema
lehre geforderten »vollkommenem Abschluss« den eingeführt wird, ist in dieser Form wiederum ein
»ersten Hauptgedanken« zu beenden, der, »wenn ›Markenzeichen‹ Bruckners. In seiner frühesten
es der Stoff oder die Ausdehnung der Composi- Sinfonie scheint er das Prinzip gefunden und
tion rechtfertigt, oft mehre [!] Perioden (Perioden- schon einmal ausprobiert zu haben; jedenfalls
gruppe) verwendet« (Richter 1852, 27). folgt jener (mittlerweile dritten) Überleitung ein
Das bewirkt, dass nun ein weiterer Überlei- weiteres sangliches Thema, das nun ganz symme-
tungs-, d. h. der eigentliche Modulationsteil (»die trisch und achttaktig gebaut ist, nahezu aus-
Verbindung«) folgt; sie führt in der Tat – mit der schließlich mit dem Kopfmotiv des Hauptthemas
beschriebenen Abspaltungstechnik – zum Seiten- arbeitet und dadurch etwas monoton und sche-
satz (T. 85 ff.). Den überlegten Komponisten verrät matisch wirkt. Aus der Expositionsanlage ist ei-
die Art, wie sich der Seitensatz aus der »Verbin- gentlich nicht recht ersichtlich, warum der Seiten-
dung« (die ihre Motivik ja aus dem Hauptthema satz, dessen Funktion ja nach wie vor auf der the-
bezieht) entwickelt. Die Augmentation der aus- matischen ›Besetzung‹ der neuen Tonart, hier dem
laufenden Bewegung wird durch Satz und Spiel- Dur-Gegenstück der Haupttonart, beruht, durch
anweisung plötzlich thematisch (vgl. Beispiel 4). ein weiteres Thema ergänzt werden soll oder muss.
Der ruhig-sangliche, melodisch breit strömende In Beethovens Vierter z. B. ist das Epilogthema
Seitensatz in der Tonikaparallele As-Dur, dessen (T. 141 ff.) eher eine lyrische Variante des Seiten-
Hauptteil erstaunlicherweise erneut aus einer un- satzes, deren dramaturgische Funktion vor allem
geradtaktigen Einheit besteht (T. 85–93), erhält in der dynamischen Reduktion vor der starken
durch den akkordischen Begleitsatz der Streicher Schluss-Steigerung liegt; in Schuberts Großer C-
choralartige Züge und wird bei seiner Wiederho- Dur-Sinfonie ist das Epilog-Thema die Dur-Vari-
lung durch verschiedene Mittel gesteigert und er- ante des überraschenderweise in e-Moll einsetzen-
weitert, bis ein weiterer Überleitungsabschnitt den Seitensatzes und damit die markante Wende
einsetzt (T. 146 ff.), der aus dem akkordischen zur großen Schluss-Steigerung der Exposition. Bei
Material des Hauptthemas und den Achtelketten Bruckner aber liegt kein offen erkennbarer werk-
besteht sowie dessen blockhafter Wiederholung immanenter Grund für ein (als solches) neues
und ihrer beschriebenen, den Satzverband lo- drittes Thema und seine breite Vorbereitung vor.
ckernden und sich kontinuierlich ausdünnenden Allenfalls wäre zu konstatieren, dass dieser mit
Fortspinnung. Bruckner scheint der Ansicht zu einem Thema gebildete Schluss vom Gedanken an
sein, dass in einer Sonatenexposition nach dem die Expositionswiederholung getragen ist (die in
zweiten Thema, der später von ihm selbst so ge- der Tat folgen soll), in dem eine Variante des
nannten »Gesangsperiode«, ein weiterer themati- Hauptthemas dessen Wiederholung – freilich in
scher Abschnitt zu folgen hat. Selbstverständlich der Dur-Parallele – vorbereitet. Sehr befriedigend
kennen die Komponisten des 19. Jahrhunderts ist dieser Erklärungsversuch nicht. In den späteren
spätestens seit Beethoven längst Sonatenexpositio- Sinfonien wird Bruckners Konzept einer trithema-
nen mit drei Themen. Dass aber nach dem Seiten- tischen Sonatenform allerdings völlig plausibel
satz eigens eine weitere ausgiebige Überleitung kompositorisch ausgeführt. Die f-Moll-Sinfonie
118 Wolfram Steinbeck

scheint zu belegen, dass Bruckners Formauffas- stark verändert. Die markante und weit gespannte
sung ursprünglich auf der allgemeinen Lehrmei- Überleitung, die in der Exposition zum dritten
nung beruht (wie sie auch in Richters Formenlehre Thema führte, wird nur anfangs wiederholt (bis
zu lesen ist), wonach eine Exposition aus drei T. 162); der dort folgende Auflösungsabschnitt
»Hauptgedanken« zu bestehen habe, nämlich aus weicht einer neuen Übergangspartie, die allerdings
dem »ersten Hauptgedanken«, dem »zweiten kaum etwas anderes zu tun hat als jene, nur dass
Hauptgedanken« und dem »Schluss-Satz« (Rich- sie dreimal so lang ist (T. 511–560), um auf den
ter, Grundzüge, 27). Während ihre kompositori- kommenden Abschnitt hinzuführen. Der Form
sche Umsetzung hier noch nicht mehr als die nach sollte dieser das dritte Thema bringen; es
(wenig durchdachte) Erfüllung des Geforderten folgt jedoch der Beginn einer Coda, die mit mehr
ist, wird sie später in Bruckners neuem Formkon- als 60 Takten fast so lang ist wie der erste Themen-
zept integriert und legitimiert. Freilich gibt es komplex. Diese Coda verrät ebenfalls schon – der
auch eine Funktion dieses Epilogteils, die sich aus Anlage und der Satztechnik nach – den späteren
der Reprise erklärt (siehe unten). Sinfonie-Komponisten Bruckner: Sie operiert na-
Die Durchführung (T. 209 ff.) greift den hezu ausschließlich mit dem Hauptthemenkopf
Schluss des dritten Themas auf und bildet so, nun (vgl. T. 1) und seiner durch fugatoähnliche und
wiederum (im Unterschied zu den späteren Lö- andere kontrapunktische Techniken ausgeführten
sungen bei weitem deutlicherer Zäsurbildung Verarbeitung, die in mehrere blockartige Einhei-
zwischen den Sonatenabschnitten) einen fast ten gegliedert ist, das Motiv reiht, umkehrt, dimi-
nahtlosen Übergang, der in die Wiederkehr des nuiert, in Gegenbewegungen führt, bis schließlich
Hauptthemas in c-Moll leitet (T. 221 ff.). Im ersten die Trompetenfanfare, die schon in der Durchfüh-
Abschnitt wird allein die erste Hälfte des Haupt- rung so unvorhergesehen erklang, den Höhepunkt
themas, die bewegte Kantilene, vorgeführt und markiert. Und wie schon in der g-Moll-Ouvertüre
durch Abspaltung, Sequenzierung und tonartliche (und später immer wieder) wird in den Fortissimo-
Wandlungen verarbeitet. Der (mittlerweile) be- Höhepunkt ein kurzer Piano-Abschnitt einge-
kannten Satzausdünnung folgt in krassem Gegen- schoben (mit einer Umkehrungsvariante des
satz der zweite Durchführungsabschnitt mit der Hauptthemas), bevor das volle Orchester mit dem
Verarbeitung des akkordischen Tutti-Teils des Themenkopf und seinen mehrfachen Diminutio-
Hauptthemas (T. 272), mit einer großen Steige- nen im Unisono der Streicher und unter Beteilung
rung (über der begleitenden Viertelfigur der ersten der schmetternden Fanfare den Satz endgültig zu
Themenhälfte), in deren Höhepunkt sich völlig grandiosem Schluss bringt.
unvermittelt eine martialische Trompetenfanfare Rückblickend wird erkennbar, dass das dritte
einmischt. Danach findet kaum mehr als – aller- Thema der Exposition weder in der Durchführung
dings äußerst lang gedehnter – Ausklang statt, in noch in der Reprise wiederkehrt; damit unter-
mehreren Stufen und Abschnitten, worin die scheidet sich Bruckners trithematische Form in
Themenakkordik und die markante Vorhaltsfigur einem weiteren Aspekt von der seiner Vorgänger.
die herausragende Rolle spielen. Erneut anders als In diesem Sinfoniesatz scheint es eine Stellvertre-
in den späteren Sinfonien wird der Übergang zur terfunktion einzunehmen und lediglich eingeführt
Reprise sehr kontinuierlich durch mehrfache Vor- zu werden, um der Exposition zu einem eigenen
wegnahme des Themenkopfes in verschiedenen Abschluss zu verhelfen, während am Satzende eine
Instrumenten gestaltet, so dass der Reprisenein- neue Coda an dessen Stelle tritt und damit umso
tritt durch eine kaum merkliche Zäsur angeschlos- deutlicher und auch ausgiebiger Schluss gemacht
sen wird (T. 364). werden kann. Eigenheiten und Ansätze zum künf-
In der Reprise werden der Hauptthemenkom- tigen Formmodell Bruckners sind in diesem ersten
plex (samt der Des-Dur-Version) sowie der des sinfonischen Satz also durchaus und zum Teil
Seitensatzes (nun in F-Dur) recht genau über- recht deutlich vorhanden. Die Thematik und da-
nommen, während die modulierende Überleitung mit die Idiomatik des Satzes aber sind noch weit
zum Seitensatz entfällt. Das ist quasi schulbuch- von dem entfernt, was später den typischen
mäßig. Danach aber wird der Reprisenverlauf Bruckner-Ton ausmachen wird.
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 119

Den folgenden langsamen Satz überschreibt kelhaftigkeit zwar Kontrastwirkung hat, den Satz
Bruckner noch nicht wie meist später mit Adagio, aber deshalb nicht kontrapunktisch reizvoll, son-
sondern mit Andante. Er steht in Es-Dur und dern etwas ermüdend macht. Dennoch ist es
entspricht der äußeren Form nach noch ganz der richtig, dass Bruckner bemüht ist, dieses zweite
Lehrform: zwei Themenkomplexe im Quintab- Thema im weiteren Verlauf u. a. über die Punktie-
stand (T. 1–20 bzw. 23–47), ein kontrastierender rung und eine Seufzerfigur dem ersten motivisch
Mittelteil in der Dominantparallele (g-Moll) so- anzunähern (vgl. Kurth 1925, 1113). Der Mittelteil
wie eine Reprise beider Themen in der Grund- operiert mit dynamischen Kontrastpaaren und
tonart (T. 69 ff. bzw. 90 ff.) und eine Coda bringt über einer permanenten Dreiklangsbewe-
(T. 108 ff.). gung der Bässe eine synkopische Figur, die moti-
Göllerich und Auer nennen diesen Satz »noch visch aus kaum mehr als einer (ans erste Thema
keine jener kosmischen Offenbarungen, denen erinnernden) Wechselnotenfigur besteht. Bemer-
der Schöpfer den Ehrentitel ›Meister des Adagios‹ kenswert ist der Reprisenbeginn, der die Pause,
verdankt« (Göll.-A. 3,1, 179). Abgesehen von der mit der der Satz ›beginnt‹, zur gliedernden Gene-
Diktion ist diese Feststellung sicher nicht zu be- ralpause macht, sowie die Tatsache, dass sich der
streiten. Zugleich ist auch die Äußerung Mathias Schüler Bruckner einmal mehr die Mühe macht,
Hansens, der »originellste Satz des gesamten ›vor- die Reprise nicht als einfache Wiederholung der
kompositorischen‹ Frühwerks« sei »zweifellos das Exposition anzulegen, sondern auf die neue ton-
Andante« (Hansen 1987, 100), nicht von der Hand artliche Themenverteilung durch mannigfache
zu weisen. Denn die thematische Erfindung zeugt Umarbeitung zu reagieren sowie erneut eine (the-
von einer – für einen Kompositionsschüler – er- menbezogene und allmählich ausklingende) Coda
staunlichen Eigenheit, wenn nicht Eigenwilligkeit. anzuschließen, die wiederum den Umfang des
Das erste Thema zeigt schon Bruckners spätere ersten Themenkomplexes hat.
Vorliebe für scharfe Punktierungen, die sowohl Den dritten Satz bildet wie üblich ein Scherzo,
die melodische Linie wie die ostinate Begleitung und zwar eines, das, wie es für Bruckner üblich
betreffen; ein großer kantabler Bogen fehlt, das werden soll, die alte Lehrbuchform am strengsten
Thema erscheint nicht als intuitiver Wurf, sondern einhält und bewahrt: schneller Dreivierteltakt,
als (etwas uninspirierte) Konstruktion. Im Übri- Da-capo-Form mit entsprechender Binnengliede-
gen führt Bruckners in späteren Werken so ausgie- rung aus Scherzo (||:A:||:B A’:||), Trio (||:C:||:D:||)
big durchgeführtes Verfahren der Motivabspaltung und Scherzo-Wiederholung sowie Betonung des
und -wiederholung im Verein mit den Punktie- Akzenttaktes und des Metrisch-Tänzerischen.
rungen hier weniger zur Erzeugung von lauernder Man könnte meinen, dass Bruckner, der schon im
Spannung als vielmehr zu einer Art stockenden Kitzler-Studienbuch damit begonnen hatte, die
Stillstands, zumal der erste Themenkomplex Takte gruppenweise mit metrischen Ziffern zu
(T. 1–20) in sich geschlossen unmittelbar vor dem versehen, um sicher zu gehen, keinen ›Fehler‹ zu
zweiten mit vollständiger Kadenz in Es-Dur endet. machen, d. h. versehentlich eine ungeradtaktige
Auch das zweite Thema (B-Dur, T. 23 ff.) will sich, Einheit zu fabrizieren, in seiner Studiensinfonie
trotz anfänglicher Kantilene, nicht zu einem Gan- entweder nicht aufgepasst hat oder – was näher
zen fügen, da der Oberstimme und ihrer schönen liegt – gerade hier und versuchsweise mit asym-
akkordischen Streicherbegleitung nach den An- metrischen Taktgruppen zu arbeiten sucht. Das
fangstakten als ›Kontrasubjekt‹ rasche Streicherfi- war schon im ersten Satz so und das wiederholt
gurationen entgegengestellt werden, deren Flos- sich nun ausgerechnet im Scherzo.

Beispiel 5: f-Moll-Sinfonie, Scherzo-Thema, T. 1–9

Scherzo: Schnell
Viol. I Viol. I
1 Klar. Klar.

cresc.
120 Wolfram Steinbeck

Das Scherzothema besteht auf den ersten Blick würde, die zwar der älteren Praxis der Choralfigu-
aus zwei im fünften Takt verschränkten Fünftakt- ration entsprechen mag (und Bruckners spätere
gruppen, mithin aus neun Takten, und auch der Vorliebe für solche Satztechniken andeutet), den-
folgende Satz gliedert sich keineswegs einfach in noch aber aufdringlich und ermüdend wirkt.
geradtaktige Einheiten. Jedenfalls scheint der Damit wird der schöne thematische Einfall letzt-
Scherzo-Hauptteil (A) mit dem Takt und der lich zunichte gemacht.
Taktordnung so zu spielen, dass sich – bis auf den Das Finale hat die Form des Kopfsatzes – mit
Schluss – keine klare geradtaktige Ordnung erge- einer charakteristischen Abweichung: Wir erken-
ben will. Dabei beginnt der Satz – vor allem für nen eine wiederholte Exposition mit heiterem
einen Tanzsatz recht merkwürdig – sogar mit einer Hauptsatz, sanglich-ruhigem Seitensatz in As-Dur
Pause. Nimmt man den ersten Takt freilich als (T. 60 ff.) sowie einem dritten Abschnitt (T. 92 ff.),
(gedehnten) Auftakt, so wird die erste Periode der ein Motiv des Seitensatzes mit einer neuen,
zum Achttakter, der durch die Verteilung der triumphalen Figur verbindet, eine Steigerung (mit
Achtel an gleichsam ›falscher‹ Stelle (nämlich auf Einschluss eines Trompetensignals) herbeiführt
der Takteins, statt als Auftakt) allerdings mehrfach und schließlich in ein drittes, ruhiges, choralhaft
irritiert wird. Das metrisch changierende Verhält- gesetztes Thema (T. 118 ff.) überleitet, mit dem der
nis der Taktgruppen bleibt so bis zum letzten Formteil endet; wir haben eine Durchführung mit
Viertakter, der metrisch geordnet Schluss macht. Verarbeitung vor allem des Hauptthemenkopfes
Das Gleiche gilt in potenzierter Form für den und seiner Ableitungen, mit einem neuen Motiv
Scherzo-Mittelteil (B), in dem sich nun Dreitakt- in scharfer Punktierung, registerartigem Wechsel
einheiten (mit Pause auf der ersten Takteins) und der Besetzung und dramatischer Sequenzierung
›korrekte‹ Taktpaare (mit der Achtelbewegung als des Themenkopfes mit ›arbeitender‹ Achtelfigura-
Auftakt) abwechseln. Dann aber dringt Bruckners tion der unisonen Streicher sowie mit allmähli-
mittlerweile schon bekannte Vorliebe für (lange) chem Ausklang im Übergang zu einer Reprise
Überleitungen durch: Mit dem neuen ›korrekten‹ (T. 237 ff.), die Hauptthema und Seitensatz (in
Taktpaar und einer fortwährend wiederholten F-Dur, T. 265) nahezu tongetreu wiederholt. Der
Ableitung daraus wird (ab T. 37) eine fast 30-tak- dritte Reprisenteil bringt, und hierin liegt viel-
tige Partie bestritten, in der sich im blockhaften leicht der formal wichtigste Unterschied zum
Wechsel von Streichern und Bläsern allmählich Kopfsatz, sofort die Coda in F-Dur, d. h. einen
der Satz ausdünnt, bis nur noch zwei Streicher- Abschnitt, der nichts aus der Exposition wieder-
stimmen übrigbleiben und mit einer spärlichen holt, sondern mit dem augmentierten Hauptthe-
Dreitonfigur in monotonem Wechsel von Dur menkopf über gleichförmiger Achtelfiguration der
und Moll zur Reprise hinleiten. Die Partie mag Streicher eine große, breit angelegte Steigerung
wenig inspiriert, wenn nicht einfallslos wirken, herbeiführt, an deren Höhepunkt das vielfach
und doch ist zu konstatieren, dass der Komponist wiederholte Kopfmotiv in der originalen Version
hier mit unbeirrter Beharrlichkeit und Mut zur ausbricht und den Satz im Fortissimo des gesam-
Grenzberührung vorgeht. Gleiches lässt sich vom ten Orchesters beendet. Die Form also hat sich
Trio sagen. Sein kantables, an den späten Schubert gegenüber der des Kopfsatzes in einem Bereich
gemahnendes Bläser-Thema mit feinen metri- geändert, der die Schlussbildung betrifft. Bruckner
schen Verschiebungen in Terzparallelen besteht scheint statt einer Überleitung mit dem unmittel-
aus einem elftaktigen, asymmetrischen Vordersatz baren Anschluss der Coda (die das dritte Thema
und einem zwölftaktigen, die Unregelmäßigkeit der Exposition im ersten Satz verdrängte) deren
gleichsam ausgleichenden Nachsatz (wobei freilich Funktion, d. h. ihre finale Wirkung stärken zu
die Nachsatzteile aus zwei sechstaktigen Einheiten wollen. Die Finale-Variante der beiden Sätzen
bestehen). Der zweite Trioteil ›berichtigt‹ diese zugrunde liegenden Form führt zu einer kompak-
metrischen Verschiebungen mit zwei einfachen teren, zielstrebigeren Schlusslösung als im Kopf-
Achttaktperioden. Das wäre kaum erwähnenswert, satz mit seinem doppelten Ansatz (veränderte
wenn nicht der gedehnten Melodie eine rasche Überleitungsreprise und Coda), denn nach dem
Begleitung in staccatierten Achtelgängen unterlegt Seitensatzbereich setzt sogleich die Schlusspartie
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 121

mit Wiederkehr von Hauptthemenmotivik und Göllerichs erweiterte und zu Ende führte, soll
einer einzigen großen Steigerung ein und kann – Bruckner gesagt haben, er fühle sich nach dem
bei ähnlicher Unterbrechung durch das ›retardie- »Freispruch« »wie ein Kettenhund, der sich von
rende Moment‹ des Piano-Einschubs – umso zü- seiner Kette losgerissen hatte« (Göll.-A. 3/1, 143 f.).
giger den Schluss des Satzes und damit des ganzen Eine Quelle für die Bemerkung wird nicht ange-
Werkes herbeiführen. Insofern finden wir, trotz geben, mündlich kann Auer sie nicht gehört ha-
einer noch leichten, wenig charakteristischen An- ben, und es scheint auch nicht sehr wahrschein-
lage vor allem des Hauptthemas, das für Bruckner lich, dass Bruckner sich so geäußert haben soll.
später so schwierige Finalproblem gelöst, das u. a. Denn immerhin hatte er sich selbst und freiwillig
darin besteht, bei gleichen Formvorgaben der an die »Kette« gelegt. ›Befreit‹ dürfte bei Bruckner
beiden Ecksätze unterschiedliche Funktionen im eher ›gesichert‹ heißen, endlich – und zwar durch
Werkzusammenhang zu realisieren: den Kopfsatz Brief und Siegel bestätigt – kompositorisch von
als Eröffnung und das Finale als Ziel. Allerdings höherer Stelle anerkannt und so weit zu sein,
ist auch das Urteil des Kompositionslehrers nicht nunmehr Werke schreiben zu können (und zu
von der Hand zu weisen, der die Sinfonie insge- dürfen), die keine Gelegenheitswerke mehr sind,
samt für »nicht besonders inspiriert« hielt (Kitzler sondern solche, die zählen (im doppelten Wort-
1904, 30). sinn), da sie von einem »vollberechtigten Kompo-
Bruckner selbst scheint seine Sinfonie zunächst siteur« stammen (siehe unten). Einzuräumen ist
nicht so schlecht gefunden zu haben. Nachdem er allerdings, dass sich Bruckner zunächst keineswegs
von seinen »Schulstudien frei geworden« war mit den großen Gattungen beschäftigte. Vielmehr
(Brief an den Freund Rudolf Weinwurm vom entstanden zunächst die Vertonung des 112. Psalms
1.9.1863; Briefe 1, 37), nahm er im Oktober 1863 für zwei Chöre und großes Orchester (WAB 35),
u. a. auch seine Sinfonie mit auf eine Reise nach ein pompöses Gelegenheitswerk, sowie der ebenso
München, wo er sie dem dortigen Hofkapellmeis- bombastische Germanenzug für Männerchor und
ter Franz Lachner vorlegte, der sich nicht »abge- Bläser (WAB 70), mit dem Bruckner (vergeblich)
neigt« gezeigt haben soll, »die Symphonie im ein Preisausschreiben gewinnen wollte, sowie zwei
künftigen Jahre zur Aufführung zu bringen« (Brief kleinere Vokalwerke.
an Weinwurm vom 8.10.1863; Briefe 1, 37). Daraus Das erste große Werk, das ganz den ›neuen
wurde nichts. 1865 scheint sich auch Weinwurm Bruckner‹ zeigt, ist erst ein Jahr nach dem »Frei-
mit der Absicht getragen zu haben, die Sinfonie in spruch« entstanden, nämlich die heute so gezählte
Wien aufzuführen (vgl. Briefe vom 21. und Messe Nr. 1 in d-Moll (WAB 26, dort auch die
29.1.1865; Briefe 1, 49 ff.). Auch dieser Plan schei- Nummerierung; die früheren mindestens acht
terte. Bruckner wird das Werk erst im Kontext Werke dieser Gattung, einschließlich zweier Re-
seiner Bemühungen um seine dritte Sinfonie, der quiem-Vertonungen, blieben ohne Zählung). Sie
sogenannten Annullierten, zur »Schularbeit« er- war ein großer Erfolg für Bruckner; mit ihr wurde
klärt haben. Zu Lebzeiten ist sie nie erklungen. er schlagartig als Komponist anerkannt und auch
(Teil-)Aufführungen datieren erst aus den 1910er bekannt. Moritz von Mayfeld hat über die Erst-
und 1920er Jahren. aufführung in Linz eine lange Besprechung in Der
Abendbote verfasst, in dem die Messe gleichsam als
Erstlingswerk und Beginn einer neuen Karriere
gefeiert wird:
Die ersten Schritte als »Der einstige Biograph Bruckner’s dürfte sich ungefähr so
»vollberechtigter Kompositeur« vernehmen lassen: Der 18. Dezember 1864 kann als Tag
bezeichnet werden, an welchem Bruckner’s Gestirn zum
erstenmale in vollem Glanze leuchtend am Horizonte
Nach Abschluss der Lehrzeit bei Otto Kitzler im emporsteigt. [...] Wenn der Satz richtig ist – und er ist
Sommer 1863 scheint sich Bruckner endgültig frei richtig –, daß nur neue Gedanken zur Komposition be-
und reif genug gefühlt zu haben, mit nunmehr rechtigen, und daß das handwerksmäßige Erzeugen
formgerechter Stücke gar kein Gewinn für die Kunst ist,
›eigentlichen‹ Kompositionen herauszukommen. so ist Anton Bruckner ein vollberechtigter Kompositeur.«
Nach Max Auer, der die Bruckner-Biographie (zitiert nach Göll.-A. 3/1, 297 ff.)
122 Wolfram Steinbeck

Wie es scheint, ahnte oder wusste der mit Bruck- tet, 1869 eine »Umarbeitung« vorgenommen und
ner Befreundete von dessen kompositorischer im selben Jahr eine »2. Fassung [...] vollendet« (so
Entwicklung und seinem Versuch, nach überstan- noch im WAB, 109). Ludwig Finscher und Bo
dener Studienzeit endlich in der Musikwelt anzu- Marschner haben unabhängig voneinander erst-
kommen. Und er ahnte oder wusste schon zu mals 1988 nachweisen können (Finscher 1988;
dieser Zeit von Bruckners Absicht, sich neben der Marschner 1990; vgl. auch Schipperges 1990 und
geistlichen Musik vor allem im Sinfonischen einen Steinbeck 1990; vgl. zur älteren Auffassung v. a.
Namen zu machen. Denn im selben Text stehen den 1981 erschienenen Revisionsbericht zu NGA
Mayfelds viel zitierte, prophetische Worte: XI), dass man die Quellen bis dahin falsch inter-
»Das Staunen und die Bewunderung für Bruckner’s Genie pretiert hatte. Eine erste Fassung der ersten d-
wächst, wenn man weiß, daß seine Bekanntschaft mit Moll-Sinfonie gibt es nicht. Und aus Bruckners
Meisterwerken alter und neuer Zeit verhältnismäßig sehr brieflicher Bemerkung vom 29. Januar 1865, er
gering ist und daß er demnach vorzugsweise nur aus sich
selbst schöpft. Andererseits aber kommt freilich gerade »arbeite gerade an einer C-moll Symphonie
dieser Umstand ihm sehr zu statten, denn er ist dadurch (Nr. 2)« wurde fälschlicherweise geschlossen, die
frei von willkürlichen und unwillkürlichen Reminiszen- ›Nr. 1‹ müsse die d-Moll-Sinfonie sein. Mittler-
zen und geht voller Originalität seine eigenen Wege.
Wohin ihn diese Wege führen werden, ist bei seinem
weile aber ist klar, dass dafür nur die f-Moll-Sinfo-
ungewöhnlichen Reichtum an Fantasie und bei seinem nie in Frage kommt, die Bruckner zu dieser Zeit ja
musikalischen Wissen schwer voraus zu sehen. Nur dies noch einer Aufführung für wert erachtet hatte.
Eine dürfte sicher sein, daß er schon in nächster Zukunft 1871/72 entstand dann die zweite c-Moll-Sinfonie,
das Feld der Symphonie, und zwar mit größtem Erfolge
bebauen dürfte. Auf diesem Felde und auf dem der Kam- die später von Bruckner selbst und heute noch so
mermusik [...] dürften von Bruckner glänzende Bereiche- gezählte Zweite Sinfonie in c-Moll (WAB 102),
rungen der deutschen Musikliteratur zu erwarten sein.« und 1872/73 die Dritte Sinfonie in d-Moll (WAB
(Mayfeld 1864, 299 f.)
103). Vermutlich zu dieser Zeit muss Bruckner die
Im Falle der Kammermusik lag Mayfeld nicht erste d-Moll-Sinfonie annulliert und mit der
ganz richtig, und was die Erfolgsprognose betrifft, durchstrichenen Null (»Ø«) versehen haben, was
so ist diese auf sinfonischem Gebiet erst in den die Forschung irrigerweise als Bruckners Hinweis
1880er Jahren wahr geworden. Das Feld der Sinfo- deutete, sie sei entstehungsgeschichtlich vor der
nie aber hat Bruckner in der Tat »in nächster Zu- Ersten als ungültige »Nullte« einzuordnen. Das
kunft« bebaut, und zwar gleich nach dem Erfolg Null-Zeichen aber ist nichts anderes als ein im
der d-Moll-Messe. Bibliothekswesen auch heute noch übliches Til-
gungszeichen; im Übrigen hatte Bruckner an
mehreren Stellen der Partitur zusätzlich Annullie-
Chronologie
rungsvermerke gemacht: »Diese Sinfonie ist ganz
Obgleich Bruckner, wie schon gesagt, meist akri- ungiltig. (Nur ein Versuch)«, »ganz nichtig« oder
bisch die Kompositionsdaten in seinen Partituren »anulirte 2. Sinf.«, d. h.: diejenige Sinfonie, die
vermerkte, war man über die Entstehungsdaten nach der ersten c-Moll-Sinfonie entstand, die
der frühen Sinfonien lange Zeit im Irrtum, wo Bruckner zu diesem Zeitpunkt als seine »Erste«
viele Kompositionsdaten fehlen und manche Hin- ansah; d. h. auch, dass die f-Moll-Sinfonie erst zu
weise Bruckners Rätsel aufgaben. Mittlerweile diesem Zeitpunkt zur »Schularbeit« degradiert
stehen folgende Daten fest: wurde. Die Annullierung muss Bruckner nach
Nach der f-Moll-Sinfonie von 1863 entstand von den Quellen im zeitlichen Umkreis der Entste-
Anfang 1865 bis April 1866 die später und auch hung der Zweiten oder gar erst der Dritten vorge-
heute so gezählte Erste Sinfonie in c-Moll (WAB nommen haben. (Weitere Details lese man in der
101). 1869 komponierte Bruckner seine erste d- angegebenen Literatur nach.) Wichtig sind diese
Moll-Sinfonie (WAB 100), ein Werk, das er später entstehungsgeschichtlichen Daten vor allem des-
annullierte. Vor allem um dieses Werk gab es bis halb, weil daraus Rückschlüsse auf Bruckners
in die 1980er Jahre in der Bruckner-Literatur die kompositorische Entwicklung gezogen wurden
irrige Vorstellung, Bruckner habe daran schon in und werden: Die sogenannte »Nullte« ist eben
der Zeit von »Oktober 1863 – Mai 1864« gearbei- nicht das »fehlende Glied« (Göll.-A. 3/1, 226)
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 123

zwischen der f-Moll-Sinfonie und der Ersten, son- abgöttische Wagner-Verehrung ist sprichwörtlich
dern ein Werk, das zwischen Erster und Zweiter geworden. In unserem Zusammenhang muss al-
entstand und womöglich angesichts der Dritten lerdings bedacht werden, dass die erste Begegnung
ebenfalls in d-Moll stehenden Sinfonie annulliert von 1863 keine unmittelbare Reaktion im kompo-
wurde, weil Bruckner die Dritte als die bessere sitorischen Werk ausgelöst hat. Denn die Werke
›d-Moll-Lösung‹ erachtete und die Annullierte für bis zur d-Moll-Messe lassen nichts dergleichen er-
gescheitert hielt. kennen, während diese dann eine Art Spätfolge
Eine Übersicht macht die Reihenfolge am sein müsste. Und wenn vor allem das Tristan-Er-
deutlichsten: lebnis als besonderer Auslöser genannt wird, so
sollte man sich klar machen, dass Bruckner seine
Werk Entstehungs- Erstauffüh- NGA Erste Sinfonie noch vor der Münchenfahrt begon-
zeit rung nen und lange danach beendet hat. Einen wie
Sinfonie 1863 30.10.1913 X immer gearteten Einfluss in diesem Werk, zumal
f-Moll (2. Satz), einen Bruch, der auf eine Zeit vor und eine Zeit
18.3.1923 (1., nach dem Tristan-Besuch fällt, ist nicht zu entde-
2., 4. Satz) cken. Insofern ist die Feststellung vom Wagner-
Erste 1865–66 9.5.1868 I Einfluss auf die plötzliche Entfaltung Bruckners
Sinfonie (Linzer keineswegs so eindeutig, wie man es immer wieder
c-Moll Fassung) lesen kann. Freilich ist Bruckners Vorliebe für be-
1890–91 13.12.1891 I stimmte Mittel, die für Wagner charakteristisch
(Wiener sind, nicht zu leugnen, und die Erste hat in der Tat
Fassung) an zumindest einer Stelle einen geradezu zitathaf-
ten Anklang an den Tannhäuser.
Annul- 1869 12.10.1924 XI
lierte Festzustellen bleibt: Die Erste Sinfonie ist in
Sinfonie Thematik, Satzbau, Gesamtanlage und Idiom
d-Moll völlig neu – wir hören auf Anhieb den ›neuen
Bruckner‹. Zunächst ist die für Bruckner typische
Zweite 1871–72 26.10.1873 II
Sinfonie (1. Fassung) trithematische Sonatensatzform der Ecksätze zu
c-Moll erkennen, deren Formlogik und -funktion nun
plausibel und konsequent erscheint; und auch
1873–77 20.2.1876 II
Adagio und Scherzo tragen die typischen Merk-
(2. Fassung)
male des großen, ruhevollen Adagio-Tons bzw. der
1892 (Druck- 25.11.1894 II ungestüm-heftigen Tanzidiomatik (was den frühe-
fassung) ren Versionen beider Sätze noch nicht zu entneh-
men ist; siehe unten). Gleichwohl sind gewisser-
Die Erste Sinfonie c-Moll (WAB 101) maßen auch noch suchende Züge zu erkennen,
die in späteren Sinfonien, vor allem ab der Dritten,
Die Entstehungszeit der Ersten fällt in die Zeit so nicht mehr auftauchen. Das Werk entstand von
unmittelbar nach der d-Moll-Messe. In der Bruck- Januar 1865 bis Mitte April 1866.
ner-Literatur wird immer wieder vermutet, dass Bekanntlich hat Bruckner ein feststehendes
Bruckners plötzliche Reife mit seinen Wagner- Konzept für jeden Einzelsatz jeder Sinfonie entwi-
Erlebnissen zu tun haben könnte. Das ist nicht ckelt, an dem er grundsätzlich festgehalten hat.
auszuschließen. Anfang 1863 lernte Bruckner Nur vor dem Hintergrund dieses Generalkonzepts
Wagners Tannhäuser in Linz kennen. Im Juni 1865 werden die individuellen Besonderheiten jedes
wohnte er dann einer Aufführung des Tristan in Einzelwerks erst hinreichend beschreibbar. Man
München bei, wohin Bruckner eigens gefahren kann sich das – zumal im Blick auf Bruckners
war und wo er Wagner auch persönlich getroffen Hang zur Sicherheit – am Beispiel des gelernten
hat; und im Oktober hörte Bruckner den Hollän- Formmodells der Sonatensatzform veranschauli-
der in Linz. Bruckners später geäußerte, geradezu chen. Die Sonatensatzform ist im 19. Jahrhundert
124 Wolfram Steinbeck

längst zu einer lehr- und lernbaren äußeren Form sich über den Viertel-Repetitionen der Bässe ein
geworden, deren äußere Befolgung für die Kom- festgefügtes, achttaktiges Thema, das als fertige,
ponisten allermeist die reine Selbstverständlichkeit gleichsam präexistente Gestalt das Werk eröffnet.
war. Dennoch aber wird diese schematisch be- Charakteristisch sind neben der klaren Periodik
schreibbare (und so gelernte) Form selbstverständ- die scharfen Punktierungen des Themas sowie
lich mit jedem neuen Werk stets neu gestaltet und dessen ›Begleiterscheinungen‹: die Viertel-Repeti-
in ihrer Formlogik kompositorisch neu formuliert: tion der Bässe und die Einwürfe des Horns an den
Sie lebt gewissermaßen von der Spannung zwi- metrischen Zäsuren, die das letzte Themenglied
schen normativer Vorgabe und individueller Aus- echoartig wiederholen. Beide werden im Folgen-
führung. Dass sich Bruckner die trithematische den als treibende Kräfte eingesetzt, die über die
Form zur Grundlage machte, sahen wir schon bei Themengrenze hinweg den Fortgang des Satzes zu
der f-Moll-Sinfonie. Dass er aber an den äußeren einem ersten Höhepunkt treiben, und zwar durch
Umrissen dieser Form – ganz im Unterschied zu Mittel, die wir durchaus schon in den »Schular-
vielen anderen Komponisten – recht eigensinnig beiten« finden konnten, nämlich durch Abspal-
festhielt und doch von Werk zu Werk neue Lösun- tung und rhythmische Verdichtung des Schluss-
gen individueller Gestaltung suchte und fand, motivs sowie der Horneinwürfe. Der Abspaltungs-
gehört zu den Charakteristika des Brucknerschen prozess aber ist in der Ersten Sinfonie nun Teil des
Komponierens. Themas, das Thema damit in mehreren Schichten
(seiner diastematischen, rhythmischen und den
Schichten seiner Begleitungen) Regulator des
Der Kopfsatz
Satzprozesses. Nichts ist ohne thematische Vor-
Schauen wir auf den Kopfsatz der Ersten, so erken- gabe und damit alles auseinander konsequent
nen wir leicht sowohl die Übereinstimmungen entfaltet. Selbst die starke Zäsurierung des Themas
mit dem »Schema« Bruckners als auch die Beson- (zu der auch die scharfe Rhythmik gehört) ist Teil
derheiten dieses Satzes. Die Expositionen Bruck- der Prozesslogik, denn im ersten Höhepunkt
nerscher Kopfsätze bestehen grundsätzlich (d. h. (Buchstabe A) kommt schlagartig Neues hinzu,
durchaus mit Ausnahmen) aus vier Hauptab- das aber durch thematische Kontrapunktierung
schnitten: den Abschnitten des Hauptthemas, des eingebunden bleibt. Das Neue, ein Oktavsprung
sogenannten »Gesangsthemas« und des dritten mit nachfolgender, unpunktierter Sextole in den
Themas, das seiner Beschaffenheit wegen auch Bässen, wird seinerseits zum tragenden Element
»Unisonothema« genannt werden kann. Der vierte eines neuen Abschnitts, der die eckige Rhythmik
Abschnitt ist in der Regel ein nur in der Exposi- glättet, den Höhepunkt abbaut und zurück zur
tion vorkommender Bereich des (in verschiedener Wiederkehr des Themen-Achttakters führt. Der
Weise gestalteten) Übergangs zur Durchführung Themenkomplex, eine individuelle Besonderheit
(man vergleiche die Lösung in der f-Moll-Sinfonie). der Ersten, besteht mithin aus einer dreiteiligen
Dem Ganzen vorgeschaltet ist ein zwei- oder vier- Wiederholungsanlage (a-b-a), deren Mittelteil ei-
taktiger Vorspann. Das gilt auch für die Erste, wie nen Höhepunkt ausbildet (das wird sich in späte-
die folgende Übersicht deutlich machen soll (s. ren Sinfonien charakteristisch ändern) und deren
Tabelle unten). Schlussabschnitt die Themenwiederkehr zu einer
Nach den einleitenden Vorspann-Takten erhebt harmonischen Öffnung variiert. Die nachfolgen-

Formübersicht der Exposition des 1. Satzes der Ersten Sinfonie


Vorspann 1. Abschnitt 2. Abschnitt 3. Abschnitt 4. Abschnitt
2 Takte Hauptthema »Gesangsthema« »Unisonothema« ›Höhepunktthema‹
Repetition a – b – a’ – Ü a – b – a’ a – b– a – ›Choral‹
c c – As – c – mod. Es Es Es – Es
T. 1–2 3 – 18 – 28 – 38 45 – 53 – 68 67 – 78 – 94 – 101
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 125

Beispiel 6: Erste Sinfonie, 1. Satz, Hauptthema, T. 1–10

1 Allegro Viol. I

Hrn. Solo
Vla.

Kb., Vlc.
6

Viol. II
Hrn. Solo

den Takte greifen, durch die Instrumentierung betrachtet, aus zwei kontrapunktischen Linien
scharf abgesetzt, die geglättete Bewegung des Mit- besteht, unter denen sich die der Unterstimme
telteils auf und leiten modulierend zum »Ge- zunächst wie eine Begleitung unterordnet, um im
sangsthema« in Es-Dur über. Sein Ansatz ist sei- Folgenden zunehmend Einfluss auf die Ober-
nem kantablen Duktus nach neu und doch zuletzt stimme zu nehmen (vgl. Beispiel 7). Gesangsthe-
in der Überleitung der rhythmischen Kontur nach men bei Bruckner bestehen oft aus zwei Linien
vorbereitet, wie es überhaupt die Diastematik des (beide dolce vorzutragen), bei denen nicht immer
Hauptthemas aufgreift (Quarte und Quinte auf- feststeht, welche die Haupt- und welche die Ne-
wärts, nach Synkope Absinken auf Ausgangston, benstimme ist. Man kann von einem Doppelthema
vgl. Beispiele 6 und 7). sprechen. Die Sanglichkeit ist gleichsam selbst
Neu und typisch für Bruckner ist die satztech- gedoppelt. Beide thematischen Linien aber spielen
nische Anlage des »Gesangsthemas«, das, genau im Folgenden eine jeweils eigene Rolle. Der quasi

Beispiel 7: Erste Sinfonie, 1. Satz, Überleitung, T. 38–40 und Seitensatz, T. 45–50

Fl. solo 45
38 Vl. I

dolce
2. Fg. Vl. II

dolce

46
126 Wolfram Steinbeck

Beispiel 8: Erste Sinfonie, 1. Satz, Unisonothema, T. 67–71


p

Fl. a2
67

Vl. I

kontrapunktische Gegensatz der Linien besteht in Diese Stelle klingt ganz nach einem Zitat aus
der reinen Dreiklangsfigur der einen und der Wagners Tannhäuser, da sie mit den jagenden
chromatischen, etwas ›gepressten‹ Figur der ande- Begleitfiguren und dem breiten Posaunenthema
ren. Die Gesamtform des Themas ist wieder die an den berühmten Pilgerchor erinnert. 1863 hatte
dreiteilige Wiederholungsform mit kurzem (in Bruckner dieses Werk erstmals gehört und zeigte
sich ruhendem) Mittelteil und den Rahmenteilen, sich gewaltig beeindruckt davon. Im Übrigen ist
von denen der zweite (wie schon beim Haupt- festzustellen, dass die Formposition, an der dieses
thema) sich harmonisch öffnet und damit dem ›Thema‹ steht, jene ist, an der Bruckner später
dritten Abschnitt zuwendet. immer wieder höchst freie Bildungen einfügt, frei
Dieser dritte Abschnitt (ebenfalls in Es-Dur) im Sinne motivisch-thematischer Beziehungen
bildet ein weiteres Thema aus, das »Unisono- zum Vorangegangen, frei aber auch hinsichtlich
thema« (vgl. Beispiel 8). des Tonfalls dieser Abschnitte. Es sind die Naht-
Es besteht aus einer vor allem in den hohen stellen einer streng abgezirkelten (blockhaften)
Bläsern intonierten zweitaktigen Figur, die durch Form, an denen Bruckner den festgelegten Grund-
tremolierende Streicherfigurationen grundiert riss verlässt, an denen er einfügen kann, was nicht
und zugleich umspielt wird, so dass die Ober- unmittelbar mit der thematischen Umgebung zu
stimmentöne überwiegend auch in der Figuration tun hat, und an dem er mit entsprechenden Mit-
enthalten sind. Das gesamte Orchester ist im teln den Übergang zum nächsten Hauptabschnitt,
Fortissimo daran beteiligt. Das ist bei Bruckner der Durchführung, vorbereiten kann. Später sind
später meist so. In der Ersten sind Oberstimmen- das oft Choralpartien im andächtigen Bläsersatz
figur und Figuration aus dem Mittelteil des oder zarte Ausklänge, nachdem im dritten Ab-
Hauptthemas übernommen, so dass ein über das schnitt der erste große Satzhöhepunkt erreicht
»Gesangsthema« zurückgreifender Zusammen- war, aber auch Orte, an denen am ehesten Zitate
hang zum Satzbeginn entsteht. Außerdem wird oder doch wenigstens zitatähnliche Bildungen
der Oktavsprung dort zum Oktavfall, ausgestattet platziert werden können. Hier ist es ein Anklang
mit dem punktierten Rhythmus des Hauptthe- an den Pilgerchor, vor allem aber eine deutliche
mas. Ferner wird deutlich, dass auch die Plötz- Übersteigerung des vorherigen Höhepunkts und
lichkeit des Ausbruchs dieses dritten Themas im damit scheinbar ein Ziel dieser Exposition. Groß-
abrupten Höhepunkt des Hauptthemas vorberei- artig ist die Stelle allemal; Göllerich und Auer
tet ist. Der Abschnitt dient letztlich einer weite- nennen sie »ein[en] Appell an alles Heroische«
ren, größeren Steigerung, wird hier jedoch im und gehen sogar so weit, sie »zu den herrlichsten
Unterschied zu späteren Lösungen zur Vorberei- Inspirationen der deutschen Musik überhaupt« zu
tung des vierten Abschnitts verdichtet, der mit erklären (Göll.-A. 3/1, 337). Singulär ist die Bil-
einem majestätischen Posaunenthema über jagen- dung überdies, eine kühne Übersteigerung des
den Zweiunddreißigstelfiguren der Streicher Expositionsverlaufs, die zwar in der Durchführung
nunmehr alles Vorherige nochmals überbietet, nochmals mit aller Macht herbeizitiert, in der
einem Thema, das zwar den Oktavfall sowie die Reprise aber nicht wiederholt wird (man denke an
Punktierung und dann auch die Pendelbewegung die Formauffassung in der f-Moll-Sinfonie).
der vorausgegangenen Figuration breit augmen- Nach zartem Ausklang des diminuierten Höhe-
tiert, aber als solches ebenso unerwartet wie neu punkts, vollkommener Schlusskadenz in Es-Dur
erscheint (Beispiel 9). und motivisch gleichartigem Neubeginn der
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 127

Beispiel 9: Erste Sinfonie, 1. Satz, viertes Thema, T. 94–96

Mit vollster Kraft, im Tempo etwas verzögernd

94 Vl. I

Pos. I, II

Kb.
95

96

Durchführung (Buchstabe D) bricht das Posau- über geheimnisvollem Tremolo der Pauken die
nenthema erneut mit voller Vehemenz und ohne Reprise ein (Buchstabe H), die – abgesehen von
große Einleitung in abruptem Registerwechsel der differierenden Modulationspartie – ziemlich
aus, nun jedoch in kontrapunktischer Umkeh- genau die Exposition bis ins Unisonothema wie-
rung, wie es sich scheinbar für eine Durchführung derholt (»Gesangsthema« in C-Dur, T. 240 ff.,
gehört, um im weiteren Verlauf allmählich in seine Unisonothema in c-Moll bei Buchstabe K). Dann
Bestandteile und schließlich gänzlich aufgelöst zu aber folgt, wie gesagt, trotz gleichartiger Verdich-
werden. Welche Bedeutung, welchen Sinn hat tung zuvor nicht erneut das Posaunenthema.
eine solch auffallende Bildung? Ist sie Signal der Vielmehr bricht die Bewegung abrupt ab (T. 277),
Befreiung vom Joch aller Schulweisheiten, Aus- um in neuem Anlauf eine weitere, ab- und an-
druck eines Komponisten, der mit aller Macht schwellende Steigerung anzuschließen, die schließ-
Großes will? – Der zweite Durchführungsteil, der lich, in der Grundtonart angekommen, einen nur
so eingeleitet wurde, verarbeitet die Bestandteile noch über die Achtelfigurationen des Unisonothe-
des Hauptthemenkomplexes (die punktierte The- mas sowie die permanent verkürzte Punktierung
menfigur, die Sextolen-Glättungen) und gestaltet in ebenso andauernder Repetition des immer
damit eine sequenzierende Steigerung zum Haupt- Gleichen auf dem Dominantseptakkord abzubre-
höhepunkt der Durchführung (Buchstabe G), der chen. Bruckner ist bei sich angekommen; er er-
u. a. mit den Sextolen sowie dem Oktav-Fall-Motiv probt das Große der großen Gattung Sinfonie,
aus dem Unisonothema bestritten wird, um sucht mit gewaltigen Steigerungen den Formpro-
schließlich in einen letzten Abschnitt überzuge- zess ins Gigantische zu treiben und tut dies auf der
hen, der in typischer Art die Thematik abbaut und Basis eines durch und durch eigenen Formgrund-
in retardierender Wiederholung des punktierten risses. Die Reprise wird zur Steigerung der Expo-
Kopfmotivs zum Stillstand (auf der Dominante sition, nachdem ›Steigerung‹ an sich zuvor nicht
G-Dur) kommt. Nach einer Generalpause setzt nur erprobt, sondern ins Thematische aufgenom-
128 Wolfram Steinbeck

men wurde. Dass sie nicht das so eigenwillige Po- greift und wieder ins Pianissimo zurückgeführt
saunenthema wiederholt, dürfte eine bezeichnende wird, bis ein neuer Abschnitt beginnt, der sich wie
Maßnahme sein: Der Expositionsschluss, so groß- ein eingeleiteter Hauptteil ausnimmt. Der Form
artig er sich gebärdete, hatte sich gleichsam mit nach ist es das »Gesangsthema«, das neu anhebt
›fremden Federn‹ geschmückt, war ausgebrochen und eine klare Tonart ausprägt, allerdings zunächst
aus dem thematisch Gegebenen. Jedenfalls zeigt nicht die der Dominante, sondern der Doppeldo-
die Reprise den Weg zurück ins Thematische, minante B-Dur: Über Quintolenarpeggien der
denn ihr Höhepunkt operiert mit Themenderiva- Violen erhebt sich eine schöne, eindringliche
ten bis zum Abbruch. Und der Verzicht auf die Kantilene in den ersten Violinen (dolce), die offen
Wiederkehr des Posaunenthemas bietet Bruckner endet, um anschließend in der ›richtigen‹ Tonart
die Möglichkeit, eine Coda anzuschließen, die Es-Dur wiederholt zu werden und in allmähli-
den Steigerungszug zuvor als solche ebenso wie chem Crescendo ebenfalls offen zu enden. Und
durch ihre thematische Rückbindung nochmals hier ereignet sich offensichtlich das Kernstück
zu überbieten in der Lage ist, indem sie mit dem dieses Adagio-Beginns: Das Ziel des mehrfachen
punktierten Kopfmotiv allein den Satzschluss im Einleitens und Hinführens ist erreicht, eine »sieg-
Fortissimo des gesamten Orchesters herbeiführt. reich triumphierende« Schlussfigur (Göll.-A. 3/1,
Ein »Beserl« oder »kecken Besen« hat Bruckner 341), ein Höhepunkt-Thema in Trompeten, Po-
seine Erste später genannt (Briefe 2, 122 bzw. 71). saunen und Violinen, das den gesamten Abschnitt
In der Tat – die Art, wie Bruckner in die Welt der in großem Ton beendet. Nach kurzer Überleitung
Sinfonie einsteigt, ist kühn oder »keck«, frei im folgt der Mittelteil, ein Es-Dur-Andante im Drei-
Umgang mit einer festen Form und wagemutig in vierteltakt, ein breit ausgesponnener Satz in meh-
der Art, dasjenige Moment der Gattung zu bedie- reren Gliedern, der aus vielfach wiederkehrenden
nen, das ihm offenbar für zentral galt: Größe. Das Umspielungsfiguren besteht, die auf verschiede-
wird sich in der Anlage der weiteren Sätze bestäti- nen Stufen fortgesetzt dominantisch einsetzen
gen, insbesondere in der Gestaltung des Finales. und damit einen fließend forttreibenden, auf ein
Ziel hinführenden Charakter haben, ein Ab-
schnitt, der im Unterschied zum ersten Teil keine
Die Mittelsätze
Steigerungsanlage und keine Höhepunkte aufweist
Im langsamen Satz hat Bruckner auf Anhieb ›sei- und nach mahnenden Kurzsignalen der Trompe-
nen‹ Adagio-Ton gefunden, wenngleich noch ten zurück in die Reprise führt. Obgleich der
gleichsam tastend und nicht mit dem durchge- Hauptteil schon über ein zweites Thema verfügte,
hend großen und »feierlichen« Ton (»feierlich« wirkt dieser Mittelteil seiner Anlage und Ausdeh-
steht über etlichen späteren Adagios, so der Zwei- nung nach wie die eigentliche »Gesangsperiode«,
ten und der Sechsten bis Neunten). Auch die Form wie sie in späteren Adagio-Sätzen, z. T. übrigens
ist noch nicht ganz die spätere (wie sie dann in der ebenfalls im Dreivierteltakt (in der Dritten und
Zweiten gefunden ist), sondern eher die der f-Moll- Siebten), als prägnanter Gegensatz dem Hauptteil
Sinfonie: mit zwei Themen im Quintabstand folgt. Hier hat der Abschnitt zugleich die klare
(zweites Thema bei Buchstabe A), einem kontras- Position eines Mittelteils; aus der Gegensatzbil-
tierenden Mittelteil im Dreivierteltakt (Buchstabe dung ebenso wie aus der fehlenden Steigerungsan-
B), der Reprise (Buchstabe E, zweites Thema bei lage aber wird Bruckner später die Konsequenz
F) und einer Coda (Buchstabe H). Dennoch ziehen, die »Gesangsperiode« als in sich ruhenden
scheint Bruckner einem neuen Konzept zu folgen, (und in sich kreisenden) Formabschnitt einem
das vor allem darin besteht, den Themen von Hauptthemenkomplex entgegenzustellen, aus
vornherein eine Anlage zur Steigerung zu geben, dem sich im Wesentlichen die Steigerungen und
die im Satzverlauf dann zum zentralen Moment schließlich der Haupthöhepunkt ergeben. Ansatz-
des Prozesses wird. Das erste Thema wirkt wie weise geschieht dies auch hier schon, denn die
eine Einleitung, die zögernd, von Pausen durch- Reprise ist eine durch zahlreiche Zusätze berei-
setzt und harmonisch noch unentschieden mit cherte und gesteigerte Wiederkehr des Hauptteils
leisen Impulsen beginnt, allmählich weiter aus- und durch Sechzehntelfiguren der Streicher
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 129

gleichsam paraphrasiert, wie es in den späteren Typus und ist mit 59 Takten und ohne Coda un-
Adagiosätzen so ausgiebig geschieht. Und sie typisch kurz, offenbar Grund genug für den
bringt den schon in der ersten Version erreichten Komponisten, einen neuen Satz zu schreiben. Das
Höhepunkt in bei weitem prägnanterer Weise, Trio dagegen wurde unverändert in die endgültige
und zwar nunmehr in der Grundtonart As-Dur, Version übernommen. In der Tat findet Bruckner
nachdem zuvor das zweite Thema zunächst in Es- dann mit dem neuen Scherzoteil, der im Januar
Dur angesetzt hatte. Nachträglich zeigt sich der 1866 beendet wurde und mehr als doppelt so lang
Sinn der harmonischen Anlage: Die doppeldomi- wie die Vorfassung ausfällt, schlagartig seinen
nantische Funktion zuvor wird hier zur dominan- charakteristischen Ton. Äußerlich ebenfalls nach
tischen und kann so die harmonische Zielführung der Scherzo-Form ||:AV:||:B AI:|| gebaut, wird in
der Reprise zum Höhepunkt und zur Einkehr in einem Einleitungsabschnitt mit stampfenden Ak-
die Grundtonart steigern. Der Satz klingt sodann kordrepetitionen im Blech und im Unisono ge-
in einer kurzen Coda aus. führten raschen Umspielungsfiguren der Streicher
Es gibt eine ältere Fassung dieses Adagios (Kla- und der Holzbläser der pochend-quirlige Puls des
vierauszug bei Göll.-A. 3/2, 126 ff., Partitur in der Satzes vorgegeben, bevor die Mittelstimmen bei
NGA zu I/1, 1995 hrsg. von Grandjean). Der Satz einfacher Akkordbegleitung ein etwas derbes
ist Fragment geblieben. Er entstand vermutlich in Tanzliedchen anstimmen, das sich am Ende zu
der zweiten Hälfte des Jahres 1865 (während das keiner Schlusskadenz entscheiden kann und statt-
endgültige Adagio im Frühjahr 1866 fertig wurde). dessen den Bläsern zu einem kleinen Dialog über
Exposition und (soweit vorhanden) Reprise sind den letzten Takt Platz macht. Diesem ersten Ver-
in die gültige Version nahezu unverändert über- such folgt sogleich der zweite, der nun als Nachsatz
nommen worden, geändert ist vor allem der Mit- auf Abschluss aus ist, darin aber ebenso wenig
telteil. Die ältere Fassung wechselt nach dem Hö- bewirken kann, so dass die quirlige Umspielungs-
hepunkt (und einer kurzen Fortsetzung) ebenfalls figur mit den stampfenden Bläsern wieder die
in den Dreivierteltakt, bringt hier jedoch ein wei- Initiative ergreift und in großer Steigerung den
teres Thema in f-Moll, das vom Solo-Cello vorzu- Satz bis zum ersten Schluss vorantreiben kann.
tragen ist, bevor mit der Rückkehr zum Viervier- Bruckners Scherzi enden seit der Ersten stets im
teltakt eine breit angelegte Durchführung folgt, großen und lauten Wirbeln des gesamten Orches-
die schließlich (T. 120) in die Reprise mündet ters, und das Enden ist stets durch Abbruch, freilich
(deren Aufzeichnung im zweiten Thema endet). mit ordentlicher Kadenz, erreicht, durch Abbruch
Dieses Formkonzept entspricht eher dem der An- im Höhepunkt. Ihre Anlage nimmt die Steige-
nullierten, während die endgültige Version, wie rungsbewegung des langsamen Satzes auf, kommt
gesagt, dem der f-Moll-Sinfonie nahekommt. Tat- jedoch nicht zu einem Thema, sondern bricht ab.
sächlich scheint Bruckner »in der Frühphase seines Und es gibt auch keine zwei Themen wie dort oder
symphonischen Schaffens (zwischen 1863 und gar drei wie im Kopfsatz, sondern nur eines. – Der
1871) zwischen zwei Formmodellen [seiner langsa- Mittelteil verarbeitet die Umspielungsfigur sowie
men Sätze] geschwankt zu haben« (Grandjean im das Tanzliedchen, dem erneut kein Schluss gelingen
Vorwort zur Ausgabe in der NGA I/1, 1995). will, so dass sich in großer Steigerung die Reprise
Auch dem endgültigen Scherzo der Ersten geht des A-Teils anschließen kann. Das Trio aus der
eine ältere Version voraus, die Bruckner offenbar Frühfassung bildet mit seiner etwas befremdlichen
während seines München-Aufenthaltes im Früh- Staccato-Bewegung der Violinen, den rufartigen
jahr 1865 fertigstellte (Klavierauszug bereits bei Horneinwürfen sowie einer insgesamt kleingliedri-
Göll.-A, 3/2, 136 ff., Partitur in der NGA, wie die gen Anlage mit »einem dezidiert ›modernen‹
Frühfassung des Adagiosatzes). Der Scherzo- Grundton« (Finscher 1988, 73) einen starken Kon-
Hauptteil ist ein völlig eigenständiger Presto-Satz trast zum leidenschaftlichen, aber etwas konventio-
in g-Moll, der in seiner Motivik und seinem Spiel nelleren Scherzo. Aber auch hier das Gleiche: Das
mit der Taktverschiebung an das Allegro vivace der ›Thema‹ im übergeordneten Sinne ist das Spiel mit
Vierten Sinfonie von Beethoven erinnert. Er ent- dem Takt, das im Scherzo zwar etwas derb, im Trio
spricht noch wenig Bruckners späterem Scherzo- etwas spröde erscheinen mag, gleichwohl auf feinen
130 Wolfram Steinbeck

Finessen in der metrischen Gliederung beruht, die des Kopfsatzes kreisförmig zurückgreift und doch
sich zwar grundsätzlich auf Achttakter bzw. paarige die Aufgabe hat, den Entwicklungszug der drei
Abschnitte stützt, die Nahtstellen jedoch mitunter vorangehenden Sätze aufzugreifen und zum fina-
durch doppelte Verschränkungen (die die schein- len Höhepunkt des Werkes zu bringen. Diese
bare Ungeradtaktigkeit wieder aufheben) ver- verzwickte, aber konsequente Anlage hat auch die
schmelzen lässt und so bei aller Kompaktheit takt- Erste schon, und sie geht, wie viele spätere Sinfo-
metrischer Akzentuierung einen fließenden und nien auch, ihr Problem von vornherein radikal an.
spielerischen Ton annimmt. Das heißt, das Hauptthema, das den Satz eröffnet,
signalisiert sofort den Aktionsdruck, dem sich der
ganze Satz ausgesetzt sehen wird (Beispiel 10).
Das Finale
Durch die Blechbläser herausgeschmettert,
Die Schluss-Sätze Bruckners folgen grundsätzlich scheint es die ins Große gezogene Variante des
der gleichen trithematischen Sonatensatzform wie Hauptthemas aus dem Kopfsatz zu sein, und zwar
die Kopfsätze. Das war schon bei der f-Moll-Sinfo- in der Version des dortigen Unisonothemas (vgl.
nie so. Was dort aber noch durch eine gewisse Beispiel 8), d. h. in einer Fassung, die die Funktion
kompaktere Formvariante sowie durch Themen der Höhepunktbildung oder -vorbereitung hatte.
leichteren Gewichts zumindest nicht zur Belas- Das Thema greift die Punktierung auf, wendet
tung für die Satzfunktion wurde, dürfte schon in den Quartfall nach oben und weitet ihn über die
Bruckners Erster ein gewisses kompositorisches aufwärts springende Oktave bis zur Dezime und
Problem aufgeworfen haben: das der finalen Duodezime. Der Rückgriff ist symptomatisch für
Übersteigerung des Kopfsatzes. Bruckners schon Bruckner. Mit ihm schließt sich der Kreis, wäh-
in der Ersten erkennbares sinfonisches Gesamt- rend die gesteigerte Aktionsform des Themas die
konzept sieht vor, dass das Finale Ziel und alles Aufgabe des Finales signalisiert und letztlich dem
krönender Abschluss des Werkes werden muss, Satz aufprägt. Tatsächlich finden die Aktionen des
wie ihn das der Blick auf die Sinfonik des 19. Jahr- Kopfsatzes im Finale ihr Pendant, alles jedoch in
hunderts gelehrt hat. Bruckner aber sucht, wie gesteigerter, intensivierter Form: Hauptthema mit
schon in der eigenen Typisierung seiner Satzfor- Steigerung und Höhepunktdurchbruch zur The-
men, dem Entwicklungsprozess zum Finale eine menwiederholung (Buchstabe A), das »Ge-
ebenfalls systematisierte Grundstruktur zu geben. sangsthema« mit typischer Doppelthematik
Danach gibt der Kopfsatz vor, was das Finale zu (T. 39 ff.), das dritte Thema (Buchstabe B) nicht
erfüllen hat, während die Mittelsätze die Reduk- als Unisonothema, wohl aber in der Gestalt von
tion des Thematischen von drei nach zwei (Ada- cantus firmus und Figuration. Auch hier gibt es ein
gio) und zu einem Thema (Scherzo) vornehmen, viertes Thema, auf das das dritte mit kompakter
den Eröffnungsimpuls des Kopfsatzes über den werdender Violinfiguration zusteuert (T. 66 ff.),
Rückzug in die Adagio-Ruhe sowie die Rückkehr das die Bogenfigur des cantus firmus zu einer gera-
zur raschen Aktion im Scherzo aufs Finale ausrich- den, ansteigenden Linie macht und durch den
ten und schließlich der Themenfolge des Kopfsat- Vortrag in den Posaunen choralartige Züge erhält,
zes dadurch Rechnung tragen, dass das Adagio bis die typische Verdichtung der Spielfiguren ab-
Züge des »Gesangsthemas« und das Scherzo Mo- rupt abbricht und nach einer Fermate-Pause des
mente des Unisonothemas aus dem Kopfsatz auf- gesamten Orchesters in schärfstem Kontrast den
nehmen, während das Finale auf die Trithematik äußerst ruhigen Überleitungsabschnitt aus Haupt-

Beispiel 10: Erste Sinfonie, 4. Satz, Hauptthema, T. 1–4

Bewegt, feurig
1 Trp. I, II
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 131

themen-Derivaten einschiebt. Auch die folgende gen dritten Themas, mit dem der grandiose Ab-
Durchführung (ab Buchstabe D) erweist sich als schluss erreicht wird.
gesteigerte Variante der Exposition: Die ruhige
Einleitung ist ausgedehnter, die sich anschließende
Wiener Fassung (1890/91)
Steigerungspartie durchaus heftiger als jene und
zudem mit dem Hauptthemenkopf und seinen Es gehört zu den singulären Charakteristika
rhythmischen Diminutionen ausgestattet; die Bruckners, auf Kritik und Missfallen seinen Sinfo-
Verarbeitung des »Gesangsthemas« (Buchstabe F) nien gegenüber mit Bearbeitungen geantwortet zu
bringt ein retardierendes Moment, aus dem jedoch haben. Die viel zitierte Bemerkung zu seiner Ach-
gleich zwei weitere Steigerungspartien hervorge- ten (»Freilich habe ich Ursache mich zu schämen
hen, die mit Motiven des »Gesangsthemas« ope- [...] wegen der 8ten. Ich Esel!!!«; Briefe 2, 34) ist
rieren (erster Höhepunkt bei T. 198, zweiter Hö- ebenso symptomatisch wie die Tatsache, dass
hepunkt bei Buchstabe H) und denen sich weitere Bruckner trotz aller Zweifel und Kritik die meisten
wellenförmige Steigerungen anschließen, die Fassungen säuberlich aufbewahrt hat, was uns
wiederum das dritte Thema verarbeiten, bis nicht nur in die Lage versetzt, die Änderungen
schließlich in großer Geste die (ebenfalls und nachzuvollziehen, sondern auch darüber nachzu-
schon vom Thema her aktionsreichere) Reprise denken, wie es überhaupt möglich ist, dass ein
erreicht wird (Buchstabe K). Diese wiederum Komponist von seinen Sinfonien, Werken der
bricht – wiederum vergleichbar der Maßnahme höchstmögenden Instrumentalgattung, derart viele
im Kopfsatz – ihre Expositionswiederholung mit- verschiedene Fassungen herstellte und hinterließ.
ten im dritten Thema ab (das bei Buchstabe K Für jeden anderen Komponisten, etwa den Zeitge-
beginnt; Abbruch bei T. 319); es folgt nicht das nossen Brahms, wäre das undenkbar gewesen.
vierte Thema, sondern eine weitere Steigerungs- Auch die Erste hat Bruckner einer ausgiebigen
partie mit dem Hauptthemenkopf und seiner Revision unterzogen. Kleinere Änderungen nahm
rhythmischen Diminution überwiegend in a-Moll Bruckner vermutlich in mehreren Schritten seit
und e-Moll, die im Höhepunkt (bei Buchstabe O) 1877 vor (vgl. NGA I/1, Vorwort). 1890/91 im
in die Coda mündet – das bislang mit Abstand Zuge weiterer Umarbeitungsarbeiten an anderen
spektakulärste Ereignis, weil hier nach gewaltiger, Sinfonien entstand dann jedoch eine neue Fas-
stets durch Moll-Töne eingetrübter Steigerung das sung, die sogenannte »Wiener Fassung« (vgl. dazu
strahlende C-Dur des Werkschlusses durchbricht. v. a. Schipperges 1990 und Steinbeck 2007). Of-
»Man wird nicht leicht einen zweiten Sinfoniesatz fenbar lag Bruckner daran, das »kecke Beserl«,
bei Bruckner finden, der so großartig den agona- seinen frühen ›Wurf‹, der ein so charakteristisches
len Charakter der thematischen Arbeit nach Zeugnis eines in der Tat kühnen Erstlingswerks
Beethoven ausspielt und der Idee des Werkes, dem war, nach über 20-jähriger Tätigkeit als Kompo-
Durchbruch nach C-Dur, dienstbar macht« (Fin- nist und nach vielfacher Übung im Überarbeiten
scher 1988, 73). Mit Eintritt der Coda aber kommt von ›gescheiterten‹ Sinfonien, auf den neuesten
Bruckner zu einem weiteren charakteristischen Stand zu bringen. Das geschah – im Unterschied
Merkmal seiner Steigerungsprozesse: dem Durch- zu Bruckners sonstigen Revisionen – offenbar
bruch zum Thema, mit dem das Erreichen des ganz aus eigenem Entschluss und ohne Einfluss
strahlenden C-Dur sinfonisch ausgestattet wird. kritischer Stimmen von außen. Die neue Version
Das Thema erklingt hier freilich zunächst nur als widmete er übrigens der Wiener Universität als
Derivat von Rhythmus und steigender Sekund, Dank für die Verleihung des Ehrendoktors 1891.
bis im weiteren Verlauf (bei Buchstabe P) die Die Änderungen betreffen viele Einzelheiten,
diastematische Kontur ebenfalls durchbruchsartig die hier nicht interessieren können: eine abwechs-
hinzutritt und der Coda die Aufgabe verleiht, das lungs- und farbenreichere Instrumentierung, die
sinfonische Geschehen durch einen thematisch Glättung schroffer Kontraste (denen allerdings die
gekrönten Abschluss zu bringen. Allerdings ver- Herstellung manch neuer Kontraste gegenüber-
liert sich das Thematische in den Schlusstakten steht), die deutlichere Zäsurierung der Gliederung
dann zu einer strahlenden Variante des choralarti- oder die ›Begradigung‹ ungeradtaktiger Blöcke.
132 Wolfram Steinbeck

Kurz zu betrachten aber ist eine Maßnahme, die ben in Heiterkeit« (zitiert nach Göll.-A. 3/1, 435).
wir als Schärfung der thematischen Konturen oder Gleichwohl soll es vom Publikum »mit sehr gro-
als verstärkte Thematisierung bezeichnen können. ßem Beifalle ausgezeichnet« worden sein, so Mo-
An den Schlüssen der Ecksätze lässt sich das am ritz von Mayfeld in seiner Besprechung der Auf-
besten zeigen: Im Kopfsatz der Wiener Fassung führung in der Linzer Zeitung. Und auch weitere
wird im Höhepunkt vor der Coda (T. 311 ff.) in die Berichte, z. B. in der Tagespost vom 12. Mai 1868,
permanente Wiederholung des punktierten loben die »reichen, großen Schönheiten«, beklagen
Rhythmus (statt des Oktavfallmotivs; vgl. dort jedoch auch »ein zu großes Haschen nach Effekt«.
T. 329 ff.) zusätzlich die diastematische Kontur des Immerhin, so der Bericht weiter, wurde »Herr
Hauptthemas eingefügt, und zwar von den Trom- Bruckner [...] durch großen Beifall zu neuem
peten deutlich hörbar herausgeschmettert. Und Schaffen aufgemuntert, in welchen Beifall wir
im Finale der Wiener Fassung geschieht Ähnliches: freudigst einstimmen« (zitiert nach Göll.-A. 3/1,
Die Coda erhält, in plötzlicher Unterbrechung des 439 f.).
Höhepunktgeschehens (eine Maßnahme, die wir Bis zur Revision ist das Werk nicht wieder ge-
schon aus den Kopfsätzen der f-Moll-Sinfonie und spielt worden. Die Wiener Fassung wurde erstmals
der Linzer Fassung der Ersten kennen), eine Um- am 13. Dezember 1891 von den Wiener Philharmo-
kehrung des Finale-Hauptthemas (bei T. 359 ff.), nikern unter Leitung von Hans Richter gegeben
und aus der (neuen) daraus hervorgehenden Stei- und hatte »dank der vortrefflich organisierten
gerung wird das Themenzitat der Linzer Fassung Partei rasenden Erfolg«, so Hugo Wolf (zitiert
(dort bei Buchstabe P) in der Revision bei weitem nach Göll.-A. 4/3, 206). Ressentiments und Par-
deutlicher konturiert und länger anhaltend prä- teienstreit hatten auch in den 1890er Jahren in
sentiert, so dass die choralartige Schlussfigur der Wien kaum nachgelassen, obgleich Bruckner
früheren Fassung eine klarere thematische Rück- längst etabliert und von auch höchster Stelle ge-
bindung erhält. Bruckner »restaurirte« also, wie er ehrt worden war – u. a. durch die Ehrenmitglied-
es nannte (Briefe 2, 122), Anfang der 1890er Jahre schaft der Wiener Philharmoniker (die noch rund
aus freien Stücken ein Werk, das ihm nachträglich 20 Jahre zuvor Bruckner nicht aufführen wollten)
offenbar nicht klar genug strukturiert schien und sowie den Ehrendoktor der Universität Wien.
das er aufgrund der Erfahrung nahezu seines ge- Gleichwohl blieb die Presse geteilter Ansicht:
samten sinfonischen Schaffens gleichsam auf den hymnisches Lob durch den Musikschriftsteller
neuesten Stand bringen wollte. Welche der Fas- Theodor Helm, der »in dieser Symphonie den
sungen ist nun die gültige? Diese Frage lässt sich ursprünglichsten Bruckner« und das vielleicht
bei Bruckner im Grunde bei keinem Werk klären. bedeutendste »Denkmal der Genialität seines
Die frühe Fassung ist in der Tat der »kecke Besen«, Schöpfers« vernahm (Deutsche Zeitung, zitiert
die späte eine Revision, die deutlicher konturiert, nach Göll.-A. 4/3, 206); beißender Spott durch
was in Ersterer schon angelegt ist. Ist die späte den Brahms-Biographen Max Kalbeck, der in der
deshalb die bessere oder jene die ursprünglichere? Wiener Montags-Revue vom 21. Dezember 1891
Bei Bruckner haben nahezu alle Fassungen ihren schrieb:
eigenen Rang und Wert und sollten als solche,
»In Anton Bruckners erster Symphonie (C-Moll) ist alles
zumal der Komponist sie eigens aufbewahrt hat, Inspiration und beinahe nichts Arbeit. Wie hübsch be-
nebeneinander gleichermaßen Bestand haben. ginnt das Werk, und wie garstig endet es! Wir sehen einen
Die Uraufführung der Linzer Fassung fand erst frommen Einsiedel in seiner [...] beschaulichen Zelle sit-
zen, Dürers heiligen Hieronymus im Gehäuse. [...] Doch
zwei Jahre nach der Komposition am 9. Mai 1868 [...] wie mit einem Zauberschlage verändert sich die ganze
in Linz unter Bruckners Leitung statt und hatte Situation! Wahrscheinlich hat der Teufel den unbewach-
wohl keinen sonderlichen Erfolg, zumal »das Werk ten Augenblick benutzt, um durch das Schlüsselloch he-
reinzufahren und eine greuliche Verwüstung in dem
besonders von den Streichern nicht gut gespielt wohlgeordneten Zimmer anzurichten. Denn [...] ein
wurde«, wie Franz Schober, Cellist im Orchester, wüster Trümmerhaufe, welcher die Gegenstände des
berichtet. »Die meisten Musiker betrachteten die friedsamen Gehäuses kaum mehr erkennen läßt, bleibt
Aufführung als ›Hetz‹ (wie der Wiener für Belus- zum Andenken an die Wohnstätte menschlicher Kultur
zurück.« (zitiert nach Göll.-A. 4/3, 211 f.)
tigung sagt). Das Werk war von vornherein begra-
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 133

Die Wiener Fassung wurde 1893 in Wien gedruckt, samt zu tun hat (und unten noch angesprochen
die Linzer Fassung erst im Rahmen der alten werden soll).
Bruckner-Gesamtausgabe 1935, in der neuen 1953. Grundsätzlich gilt es festzustellen, dass das
Nach der Neuausgabe wurde meist diese im Kon- Werk sicher zu Recht als eine Art Wendepunkt in
zertbetrieb gespielt, während die Wiener Fassung Bruckners Entwicklung angesehen werden kann,
erst 1980 in der Neuen Gesamtausgabe vorgelegt z. B. als »Hinwendung zu religiöser Semantik«,
wurde (NGA I/2) und daher auch erst seit dieser nachdem die Erste eine geradezu »aggressiv ›welt-
Zeit wieder zu hören ist. liche‹ Haltung« an den Tag gelegt hatte (Finscher
1988, 70). Das aber kann nicht der Annullierungs-
grund sein. Die »religiöse Semantik« wird Bruck-
Die Annullierte Sinfonie (sogenannte
ner ja nicht wieder aufgeben. Auch handwerkliche
Nullte) d-Moll (WAB 100)
Schwächen, die durchaus zu erkennen sind, dürf-
Wie oben erläutert, ist mittlerweile gesichert, das ten bei einem Komponisten, der seine Werke we-
die sogenannte Nullte nicht vor der Ersten ent- gen vermeintlicher Mängel immer wieder umar-
stand, sondern im Jahr 1869 nach deren Urauffüh- beitete, keinen hinreichenden Grund bieten. Um
rung ein Jahr zuvor und nach den in den Jahren es vorweg zu sagen: Die Annullierte war nicht re-
1866 und 1867/68 entstandenen beiden großen vidierbar, weil sie offensichtlich ein anderes Kon-
Messen in e-Moll und f-Moll. Die autographe zept erprobt als die Erste, ein Konzept, das auch in
Partitur enthält sehr genaue Angaben über den den nachfolgenden Werken nicht wieder aufge-
Kompositionsverlauf sowie die Korrekturphasen: griffen wird. Wir werden uns im Folgenden auf
Demnach begann die Arbeit daran am 24. Januar diesen Aspekt konzentrieren und feststellen, dass
1869 in Wien und wurde am 12. September dessel- die Themenerfindung der Annullierten von Bruck-
ben Jahres in Linz abgeschlossen. Das Titelblatt ners bisheriger (und späterer) Praxis erheblich
trägt die Bezeichnung »Symphonie No 2 in d abweicht, und dass der für die übrigen Sinfonien
moll«. Bis in die Anfänge der 1870er Jahre hat so zentrale Durchbruchsgedanke hier nicht durch-
Bruckner das Werk für gültig gehalten und als führbar ist, jedenfalls nicht durchgeführt wird.
Nummer 2 geführt. Vermutlich erst im Zuge der
Arbeiten an der Dritten (siehe oben den Abschnitt
Der Kopfsatz
Chronologie dieses Kapitels) wird die Sinfonie je-
doch, wohlgemerkt ein vollständig ausgearbeitetes Die äußere Form des Kopfsatzes entspricht der
Werk, annulliert und für »ganz ungiltig« und trithematischen Sonatensatzform mit Exposition
»ganz nichtig« erklärt. Warum tat Bruckner das? (vgl. die Formübersicht der Exposition), verhält-
Und warum hat er die Handschrift dennoch auf- nismäßig langer Durchführung (T. 88–213), Re-
bewahrt und sie gegen Ende seines Lebens sogar prise (T. 214–284) im Wesentlichen aller Exposi-
dem Oberösterreichischen Landesmuseum ver- tionsteile einschließlich des Ausklangs (»Ge-
macht? Warum hat er sie nicht revidiert wie viele sangsthema« in D-Dur, T. 230 ff., Unisonothema
andere Werke, um 1890 sogar noch die Erste? Was in D-Dur, T. 254 ff., Ausklang T. 271 ff.) und eben-
ist an der Annullierten so »nichtig«? Göllerich und falls vergleichsweise langer Coda (T. 285–353).
Auer kannten die vermeintliche Antwort, die Neuartig aber ist in der Tat der Bau der Themen
lange Zeit durch die Bruckner-Literatur geisterte: – und davon natürlich abhängig auch der Satzpro-
Der Dirigent Otto Dessoff soll Bruckner 1870 zess. Die Frage, wo das Thema sei, ist – aus rückbli-
nach einem privaten Vorspiel des Werkes zum ckender Perspektive – nicht falsch gestellt (oder gut
ersten Satz skeptisch gefragt haben, wo denn das erfunden?). Denn Bruckner hat in der Ersten und
Thema sei. Daraufhin habe Bruckner das Werk wird in den weiteren Sinfonien entweder seine
gänzlich aufgegeben (Göll.-A. 3/1, 228). So abwe- Themen als fertige Gebilde einfach an den Anfang
gig die Unterstellung als solche ist – Bruckner setzen (wie in der Ersten) oder sich vom Anfang her
hätte schließlich, wie gesagt, korrigieren können entwickeln lassen (wie in der Zweiten, siehe unten).
–, so verweist sie doch auf einen gravierenden Hier in der Annullierten erscheint das Thema wie
Umstand, der mit der Anlage des Werkes insge- eine Einleitungsfigur, die die beiden tatsächlichen
134 Wolfram Steinbeck

Formübersicht der Exposition des 1. Satzes der Annullierten Sinfonie


Vorspann 1. Abschnitt 2. Abschnitt 3. Abschnitt 4. Abschnitt
2 Takte Hauptthema »Gesangsthema« »Unisonothema« Ausklang (»Langsamer«)
Begl. a – a’ – Ü a – a’ – Ü a +Ü ›Choral‹
d d A–F F F
T. 1–2 3 – 17 – 29 33 – 43 – 52 57 74

Beispiel 11: Annullierte Sinfonie, 1. Satz, Beginn

1 Allegro Vl. II Vl. I

(8ba)
Vcl., Kb.
6

crescendo decrescendo

Einleitungstakte imitierend aufgreift und vor allem Dieser Satzbeginn, der so themenlos erscheint,
im Umfang einfach erweitert (Beispiel 11). konzentriert sich offenbar allein aufs Eröffnen, auf
Das Thema scheint ein Ereignis vorzubereiten, Weitung des Klangraums und wellenförmige Stei-
das jedoch nicht kommt. Es führt stattdessen in gerungen, die insgesamt auf ein Ziel zusteuern: die
eine (im Thema allerdings von vornherein ange- Exposition des »Gesangsthemas«. Dieses neue
legte) Steigerung zu einem Höhepunkt, der an- Thema, obgleich im Auftreten wenig spektakulär,
schließend in reziproker Weise wieder abgebaut fügt hinzu, was zuvor fehlte: eine melodische
wird; am Ende verharrt die Bewegung im Still- Kontur, die nunmehr über die im Grunde beibe-
stand permanenter Wiederholung des Seufzermo- haltende Begleitung aus dem Hauptthemenkom-
tivs aus Takt 10. Dann setzt der gleiche Prozess mit plex gelegt wird (Beispiel 12).
dem gleichen Material erneut ein (T. 17 ff.), führt Allerdings geschieht dies nicht in Gestalt eines
jedoch unter Hinzufügung von punktiertem Doppelthemas, wie es schon in der Ersten zu be-
Rhythmus über eine Modulation zu einem weite- obachten war, sondern schlicht als melodische
ren, etwas stärkeren Höhepunkt nach C-Dur, der Linie plus akkordische Begleitung. Die Sanglich-
abrupt abgebrochen wird und zwar durch eine keit dieses Themas wird trotz einiger expressiver
Pianissimo-Überleitung zum »Gesangsthema«. Aufschwünge durch die eigentümlich beharrlichen

Beispiel 12: Annullierte Sinfonie, 1. Satz, Gesangsperiode (zweites Thema), T. 33–37


(a tempo)
33 Vl. I div.

Vl. II div., Vla. ( )

cresc.
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 135

Synkopierungen, die allerdings eine gewisse tas- den Einschub bildet: aus dem Rahmen der Form
tende Spannung erzeugen, stark eingeschränkt. ebenso wie aus dem Rahmen des bisherigen Tons,
Das Thema ist im Übrigen nicht wie die entspre- fremd, wenn nicht sogar in seiner unverhohlen
chenden der Ersten und der späteren Sinfonien in sakralen Intonation einer »an den Palestrinastil
dreiteiliger Wiederholungsform gestaltet, sondern anknüpfenden Andachtsmusik des 19. Jahrhun-
als paarige Anlage (mit einem schönen Hornein- derts« (Finscher 1988, 74) befremdlich. Im Unter-
satz in mediantischer Wendung nach F-Dur) und schied dazu war das hymnische Posaunenthema in
anschließendem Überleitungsabschnitt. Auf diese der Ersten das Ziel der Steigerungsbewegungen
Weise schließt sich das Unisonothema weniger zuvor, ebenfalls höchst auffällig und außerge-
blockartig an, sondern geht aus der mit den dimi- wöhnlich, aber zugleich Teil des Satzprozesses.
nuierten Synkopen operierenden Überleitung Die äußerst lange Durchführung, die aus dem
unmittelbar hervor. Ausklang hervorgeht (T. 88 ff.), erreicht zunächst
Das Unisonothema wiederum greift das einen Höhepunkt mit der Motivik des »Ge-
Hauptthema in leicht gewandelter Gestalt in F- sangsthemas« (Buchstabe C), um anschließend zur
Dur wieder auf, etwas gedrängter zwar und mit eigentümlichsten Stelle des ganzen Satzes zu ge-
stärkerem Antrieb zur Steigerung sowie einem et- langen, einem weihevollen Choralimitat in den
was kompakteren Höhepunkt, aber doch deutlich Hörnern (aus einer bogenförmigen Viertonfigur
als Wiederholung des Hauptthemas. Zwar werden des Ausklangs gebildet), das sich mit raschen Figu-
die Unisonothemen bei Bruckner stets aus dem rationen in den Holzbläsern abwechselt. Wie in
Material der Hauptthemen oder/und der Ge- der Ersten wird also die Motivik des Ausklangs
sangsthemen gebildet und stellen oft sogar eine (dort das »vierte Thema«) zum Gegenstand der
Art Verschmelzung von Elementen beider The- Durchführung, hier allerdings nicht als grandioses
menabschnitte dar. Sie erhalten jedoch stets auch Ziel erreicht, sondern im Gegenteil als sich auflö-
eine eigene, cantus-firmus-ähnliche Oberstimmen- sendes Ende des ersten Durchführungsteils (der
kontur und präsentieren sich als selbstständige sich in der Ersten aus der Auflösung des Posau-
Themen, die im Prozess der Exposition als (zuvor nenthemas ergab) – eine Antiklimax mit gleich-
erprobte) Partie der größten Steigerung fungierten wohl starker Wirkung; zugleich ist es in der Tat
(man schaue nur auf die entsprechende Stelle im ein in Bruckners Durchführungen singulärer Fall,
Kopfsatz der Ersten). Hier aber ist der Rückgriff »daß die Durchführung gerade in ihrer Mitte eine
überdeutlich, so dass sich Ernst Kurth über »das Einsenkung dieser Art trägt« (Kurth 1925, 1129).
ganz ungewohnte Wiederauftreten des 1. Haupt- Der ausladendste Teil der Durchführung be-
themas« wunderte (Kurth 1925, 1125). ginnt allerdings erst nach diesem zu gänzlichem
Keines der drei Themen also entspricht dem Stillstand absinkenden Abschnitt, und zwar mit
Konzept, dem die Erste und die späteren Sinfonien der weit ausholenden Wiederkehr des Hauptthe-
folgen, d. h. zugleich: Die Exposition realisiert mas, das in zweifachem Anlauf (T. 171 ff. bzw.
insgesamt eine andere Formidee, die auf ein präg- T. 179 ff.) und in steigenden Sequenzen seine Hö-
nantes Hauptthema und seine Entwicklung in der hepunktanlage bis zum Ausbruch eines repetierten
Tat verzichtet und stattdessen auf eine Wiederho- Trompetensignals (einer jederzeit verfügbaren to-
lungsanlage setzt, deren Mittelstück das kontras- pischen Figur bei Bruckner) ausspielt. Ein Durch-
tierende »Gesangsthema« ist. Aus dem typischen bruch zu einem Thema erfolgt nicht – zu welchem
Höhepunktabbau des dritten Themas ergibt sich auch? Vielmehr beginnt nach einem kurzen Über-
dann durch einfache Augmentation der Schluss- gang die Reprise, in der sich, außer den tonalen
bewegung der ruhige Ausklang, der hier den Verhältnissen, kaum etwas ändert. Nur der Eintritt
›Freiraum‹ zwischen den Formteilen ausfüllt. Es ist in die Choralpartie wird erneut zu einem spekta-
dies die für Bruckner so typische Choralstelle kulären Ereignis: Von einem Trompetensignal
(T. 74 ff.), die hier unter Einbeziehung eines vier- angekündigt (T. 270), setzen die Blechbläser mit
stimmigen Bläsersatzes, der sich bis zum Fortis- der Choralfigur aus der Durchführung ein und
simo aufschwingt, einen völlig neuen, eigenen machen daraus einen ausgedehnten Übergang zur
und im doppelten Sinne aus dem Rahmen fallen- Coda. Von welch zentraler Bedeutung diese Stelle
136 Wolfram Steinbeck

ist, die doch an sich so völlig aus dem Rahmen mit einer der Choralversionen. Andererseits wirkt
fällt (und deren »weltliches« Pendant in der Ersten, es wiederum konsequent, die außerhalb, oder
das Posaunenthema, nicht wiederkehrte), zeigt die besser zwischen den Formgrenzen liegenden
Coda: Ihr gewaltiger, zweimal ansetzender Steige- Choraltöne desintegriert zu lassen, da sie es the-
rungszug aus Oktavfall und Synkopierung (also matisch ohnehin sind. Ihren Auftritten bleibt die
erstem und zweitem Thema) im Unisono des ge- spektakuläre Wirkung, während die festgelegte
samten Orchesters wird im höchsten Moment Form und ihre Themen gleichsam die Arbeit im
durch eine neue Variante der Choralpartie unter- Satzprozess verrichten. Konsequent weiter gedacht
brochen, bevor der Satz mit der Hauptthemenfi- hieße das aber, die tradierte Sonatensatzform und
gur im Fortissimo des gesamten Orchesters die Funktion ihrer Themen aufzugeben. Bruckner
schließt. Der Einbruch, dessen Methodik schon ist diesen Weg nicht weitergegangen. Wie sich
aus der f-Moll-Sinfonie bekannt ist und die Bruck- sakrale Töne dieser Art in ein Werkganzes integrie-
ner später als retardierendes Mittel der Schluss- ren lassen, hat Bruckner besonders ausgiebig in
Steigerung immer wieder einsetzt, zeigt die beson- der Fünften gezeigt.
dere Bedeutung des Chorals, dessen rückhaltlos
weihevolle Intonation schon Göllerich und Auer
Die Mittelsätze
als »Vorahnung des Kyrie-Themas der d-moll-
Messe« wahrnahmen (Göll.-A. 3/1, 235). Auch der langsame Satz folgt einer anderen Kon-
Das Konzept dieses Satzes scheint auf die Cho- zeption als später üblich. Wie in der f-Moll-Sinfonie
ralpartie konzentriert zu sein, ohne dass allerdings ist der Satz mit Andante überschrieben (und nur
die Form darauf eingerichtet wäre. Oder anders in der Vierten gibt es einen weiteren Andante-
gesagt: Bruckner gibt dem Satz quasi zwei Haupt- Satz). Äußerlich der Brucknerschen Sonatensatz-
themen, die jedoch beide eine formal schwache form langsamer Sätze durchaus folgend, fehlt je-
Funktion oder Position haben: Das erste Thema doch vor allem die sonst ausgeprägte Tendenz zu
bleibt ohne Kontur und hat überwiegend vorbe- Höhepunktbildung wie z. B. in der Ersten, wo sie
reitenden Charakter, also als Thema wenig prä- schon im Hauptthema angelegt war. Außerdem
gende Bedeutung, obgleich es als Figur ständig – wird auch hier schon an der Themenbildung der
so auch am Schluss – präsent ist; das andere – der andere Ansatz erkennbar. Das erste Thema ist
Choral – erklingt stets an Übergängen und steht keine in sich geschlossene »Abteilung« (wie Bruck-
damit außerhalb der Form; außerdem bezieht er ner sich später ausdrückte), sondern wirkt zu An-
seine Identität weniger aus seiner melodischen fang des Satzes wie eine ›langsame Einleitung‹ aus
Faktur, die sich ständig ändert, als vielmehr aus wunderbar ruhigem, in tiefer Lage um die Tonika-
seinem explizit sakralen Ton. Dieser Ton aber ist, terz schwebendem Streicherchor, der zweimal von
wie die formale Position der Choralpartie, dem einem dissonanzreicheren Holzbläsersatz kontras-
sinfonischen Gesamtcharakter fremd, er sticht tierend abgelöst wird. Diese ›Einleitung‹ geht un-
zwar hervor, was offenbar zu seiner Funktion ge- mittelbar in das zweite Thema über, das sich in
hört, und wird mehrfach wiederholt, was die den ersten Violinen wie eine elegische Arie über
Werkeinheit stärkt. Er bleibt gleichwohl ein den weichen Akkordrepetitionen der zweiten Vio-
ebenso formaler wie charakterlicher Fremdkörper, linen und Violen erhebt und wie der Hauptteil des
der wie ein Zitat im Kontext vergleichsweise Satzes wirkt. Das ist bei Bruckner sonst nicht
gleichförmiger Satzglieder und -prozesse eingefügt wieder so. – Die Durchführung (T. 60 ff.) verar-
wird. Weder wird der Choral im Satzverlauf ent- beitet beide Themen in zwei getrennten Abschnit-
wickelt (von der sich aus der Überleitung in der ten (1. Thema T. 64 ff., 2. Thema ab Buchstabe B).
Exposition wie zufällig ergebenden ersten Gestalt Es sind mehr Umformulierungen und harmoni-
abgesehen; vgl. T. 72/73 mit T. 74/75), noch wird sche Versetzungen als Verarbeitungen – das wird
sein Auftreten mit dem Bruckner so wichtigen später ähnlich sein –, während in der Reprise (ab
Mittel des Höhepunktdurchbruchs inszeniert. Im Buchstabe C) die Achtelfiguren, die aus der Über-
Gegenteil: dazu kommt es weder in diesem Satz leitung zur Durchführung stammen, zur Para-
noch im ganzen Werk, schon gar nicht zu einem phrasierung des Hauptthemas eingesetzt werden.
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 137

Auch das hatte Bruckner schon in der Ersten so trastbildung die Hauptbestandteile des Themas
gemacht und er wird daran später grundsätzlich (siehe oben) einander gegenüber und leitet über
festhalten. Dann aber folgt konsequenterweise einen weiteren, lautstarken Höhepunkt im Uni-
auch die Reprise des zweiten Themas (T. 114 ff.), sono des gesamten Orchesterapparates zur Reprise,
das ja wie der Hauptteil des Satzes auftrat (und der bis auf den tonalen Ausgleich tongetreuen
nun natürlich auch in der Grundtonart steht). Wiederholung des Hauptteils zurück. Das Trio
Dies wiederum wird Bruckner in den folgenden bildet mit seinem langsameren Tempo und dem
Adagio-Sätzen nicht mehr machen, da es die ersten gesangvollen Streichersatz mit führender Ober-
Themen sein werden (vgl. schon die Erste), die in stimme einen starken Gegensatz zum heftigen
der Reprise den Haupthöhepunkt erreichen. Aller- Scherzo und scheint schon Adagio-Töne Bruck-
dings wird das zweite Thema hier erheblich erwei- ners vor allem im emphatischen Ton und einer
tert und schwingt sich zu einem eigenen Höhe- typisch Brucknerschen Mediantenharmonik vor-
punkt auf (T. 140/41). Der Weg dahin führt über wegzunehmen. Der Wiederholung des Scherzos
eine harmonisch kühne Akkordfolge (T. 135 ff.), folgt schließlich eine Coda, deren mächtiger Stei-
die Bruckner später – in veränderter Form – für gerungszug im Höhepunkt zur Durtonika (und
seine aus dem ersten Thema gewonnenen Adagio- zum dreifachen Forte) durchbricht, womit der
Höhepunkte einsetzt (vgl. Steinbeck 1999, 89 ff.). Satz schließt. Typisch ist der Scherzo-Ton aus
Das kennzeichnet das »Gesangsthema«, das es ja stampfenden Vierteln, raschen Achtelketten und
der Form nach ist, umso ausdrücklicher als Haupt- einfachen metrischen Verschiebungen sowie die
teil des Satzes. Nach dem Ausklang dieses Ab- bekannte Steigerungsanlage und Höhepunktbil-
schnitts intonieren die Streicher wie zum Abschied dung im Schlussklang, ein echt Brucknersches
den (zu einer Schlusskadenz umgeformten) vier- Scherzo (wie schon das der Ersten).
taktigen Anfang des Satzes. Dieses Andante ist
vielleicht der schönste Satz der Sinfonie und ent-
Das Finale
hält Elemente, die später in anderer Form wieder
aufgegriffen werden. Schade, dass Bruckner ihn Vielleicht macht das Finale am deutlichsten,
nicht mehr hat gebrauchen können. warum Bruckner das Werk später annullierte. Das
Das Scherzo (d-Moll, Presto) ist der Satz, der Ziel des Satzes besteht nicht im Durchbruch zum
am wenigsten vom Konzept abweicht. Im Gegen- Hauptthema, wie das schon in der Linzer Fassung
teil. Die Binnenwiederholungen entfallen (was der Ersten angelegt war, in der Wiener Fassung
aber ab der Dritten das Übliche ist) und der Satz herausgearbeitet ist und in den Sinfonien ab der
wird mit einer rasanten Unisonopartie eröffnet Dritten zum zentralen Gedanken wird; das Ziel
(vgl. v. a. die Erste, die Dritte und die Neunte), die liegt vielmehr in der kontrapunktisch höchst am-
das wichtigste motivische Material (stampfende bitionierten Vereinigung aller Themen des Satzes
Viertel, eine Synkopenfigur und Achtelläufe) als finalem Höhepunkt.
bringt. Das eigentliche Scherzo-Thema, dessen Der Satz, eine trithematische Sonatensatzform
Auftritt auf diese Weise vorbereitet wurde (T. 13– wie der Kopfsatz, beginnt mit einer langsamen
26), besteht aus einer rossinesken Staccato-Kolo- Einleitung. Das ist an sich schon eine höchst un-
ratur der Violinen über schlichten Akkordrepetiti- gewöhnliche Maßnahme, zumal der Kopfsatz
onen und dem anschließenden burlesken Spiel ohne Einleitung auskam. Frühere Beispiele dieser
mit Kadenzbildungen, die nicht enden wollen, Art sind mir nicht bekannt, und Sinfonien, die
sowie dessen gesteigerter Wiederholung (T. 27 ff.), sowohl zum Kopfsatz als auch zum Finale eine
die sich jedoch frühzeitig (T. 37) in den (nach a- langsame Einleitung haben, sind ebenfalls vor
Moll) modulierenden Schlussabschnitt auflöst, 1869 noch rar: Spohrs Vierte von 1832, Schumanns
welcher wiederum – als längster Abschnitt dieses Vierte von 1841/50 oder Tschaikowskys Erste Sinfo-
Scherzo-Hauptteils – mittels der bekannten Stei- nie von 1866 wären zu nennen. Bruckner selbst hat
gerungstechniken über 26 Takte lang den Höhe- in seiner Fünften beiden Sätzen eine langsame
punkt und Schluss des Abschnitts in a-Moll her- Einleitung gegeben, sonst nicht wieder. Allerdings
beiführt. Der Mittelteil stellt in schroffer Kon- wird er ab der Zweiten (mit Ausnahme der Siebten
138 Wolfram Steinbeck

Beispiel 13: Annullierte Sinfonie, 4. Satz, Hauptthema, T. 19–22

Allegro vivace
19

marcato

und Achten) seine Finali statt mit einem langsa- typische Steigerung, die freilich ins Nichts führt
men mit einem raschen Einleitungsabschnitt er- und abrupt im Höhepunkt abreißt. Als Ausklang
öffnen (wie in den genannten Scherzi). folgt erneut eine im Charakter völlig beziehungs-
Die Einleitung hebt, wie erwähnt, die formale lose (im Oktavfall freilich motivisch ans Haupt-
Bedeutung des Finales gegenüber dem – im Prin- thema vermittelte) Choralpartie im gedehnten
zip – gleich gebauten Kopfsatz. Sie hebt aber auch vierstimmigen Streichersatz (T. 119 ff.). Die äuße-
die Gewichtigkeit des Hauptthemas (vgl. Beispiel ren Bedingungen sind also denen des Kopfsatzes
13), das auf diese Weise vorbereitet und als großar- vergleichbar, nur dass das Hauptthema eine starke
tiges Ereignis angekündigt wird. Allerdings wird Kontur hat (außerdem fast ohne Begleitung aus-
die Einleitung dieses Satzes nicht durch Steigerung kommt, da es hauptsächlich im Unisono auftritt)
zum Hauptthema (wie in den schnellen Eröffnun- und als satztechnisches Mittel dezidiert das Fugato
gen der späteren Finali), sondern im Gegenteil eingesetzt wird.
durch einen sehr ruhigen, weichen Moderato-Satz Die Durchführung beginnt mit einer Art Fort-
im 12/8-Takt gebildet, in dem die Violinen zwei- setzung der langsamen Einleitung (T. 132 ff.) und
mal eine absteigende Linie mit gleichsam fragen- besteht anschließend hauptsächlich aus einem
der Schlusswendung in tiefer Lage und die Holz- breiten Fugato mit dem Haupt-/Unisonothema in
bläser dazu zarte Akkordrepetitionen spielen, wie Engführungen, Umkehrungen und enggeführten
sie im langsamen Satz zur Begleitung des »Ge- Gegenbewegungen, folgt also der im Hauptthema
sangsthemas« eingesetzt wurden. Die Stimmung angelegten Kontrapunktik und steigert sie hier.
hat etwas Schwebend-Offenes, also durchaus ein- Eine Überleitung führt in die Reprise in d-Moll
leitenden Charakter, aber auf das Hauptthema (Buchstabe C), die jedoch nicht mit dem in der
wird in keiner Weise vorbereitet. Das tun erst die Durchführung zur Genüge präsentierten Haupt-
merkwürdig sich davon absetzenden Trompeten- thema selbst, sondern mit einer leicht abgewan-
fanfaren, die in zunehmender Lautstärke sich dazu delten Variante des Unisonothemas einsetzt, das
anschicken, etwas Großes zu verkünden. Und sich selbst vom Hauptthema allerdings nahezu
tatsächlich folgt im Unisono und Fortissimo des ausschließlich durch die umspielenden Figuratio-
gesamten Orchesters ein äußerst markantes Thema nen unterscheidet (Buchstabe C). Ein neuer
(T. 19 ff.), das mit seiner auffälligen Kontur das Überleitungsabschnitt führt in die Reprise des
Fehlen einer solchen Bildung im Kopfsatz wett- »Gesangsthemas« (Buchstabe D), das anschließend
macht und dem Finale seinen Führungsanspruch nicht wieder zum Unisonothema, das ja schon die
sichert. Einmalig bleibt dieser Vorgang allemal, Reprise eröffnete, weiterleitet, sondern zu einer
denn die Aktivität dieses Satzbeginns drängt so- neuen Partie, in der schrittweise das Ziel des Satzes
gleich zu einem äußerst kompakten Fugato mit erreicht werden soll: das Ziel der motivisch-the-
halbtaktiger Engführung (T. 49 ff.), einer Satz- matischen Prozesse ebenso wie der zum Thema
technik, auf die es im Satzverlauf noch ankommen gehörenden Kontrapunktik, nämlich der Zusam-
wird. Das »Gesangsthema« (Buchstabe A) greift menführung aller Themen. Zuerst erklingt eine
mit seinen Triolenfiguren Elemente der langsamen Variante des Haupt- oder Unisonothemas, dessen
Einleitung auf und entspricht der Anlage des Sprünge durch Triolenketten des »Gesangsthemas«
Kopfsatzes (Oberstimme mit Begleitung); das ausgefüllt werden (T. 229 ff.), dann das »Ge-
Unisonothema (T. 92 ff.) wiederholt das Haupt- sangsthema« selbst (T. 240 ff.) und anschließend
thema, erweitert um die übliche Figuration, drängt das Haupt- oder Unisonothema in Andeutungen
jedoch nicht erneut in ein Fugato, sondern in eine (Buchstabe E). Die mit diesem Material operie-
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 139

rende Steigerung führt zu einem Höhepunkt, an einen formalen Rahmen um das Hauptthema und
dem die nunmehr klare Gestalt des Hauptthemas tragen so zur Integration bei. Der gesamte Satz-
durchbricht, die jedoch verbunden bleibt mit der prozess zielt also auf Vereinigung der Gegensätze,
triolischen Umspielung des »Gesangsthemas« und die in Höhepunktdurchbrüchen mit besonderer
damit zugleich das Unisonothema mitklingen Prägnanz ausgestattet wird und sich als plausibles
lässt. Mit anderen Worten: Im Höhepunkt (Buch- Finalkonzept erweist, in dem sogar eine so singu-
stabe F) bricht nicht nur das Hauptthema des läre Maßnahme wie der Einbau einer langsamen
Satzes durch, sondern alle Themen werden unter Einleitung enthalten ist, und die Sonatensatzform,
Leitung des Hauptthemas signifikant vereinigt. vor allem im Blick auf die abweichende Reprise,
Der Höhepunkt ist jedoch nicht der letzte des entsprechend umgestaltet wird. Nicht nur die
Satzes. Nach einer weiteren Steigerung bricht das ungewöhnliche Form dieses Finalsatzes, sondern
Hauptthema allein und im Unisono des gesamten auch das Konzept der Kontrastüberwindung und
Orchesters durch (T. 294), und zwar in der gleich- finalen Themenvereinigung hat Bruckner so nicht
sam falschen Tonart es-Moll, um nach dem – wieder aufgegriffen. (In den Finalsätzen der Fünf-
mittlerweile typischen und bekannten – Einbruch ten und Achten, in denen es ebenfalls zu spektaku-
ins Pianissimo der hohen Holzbläser (mit zitathaf- lären Themenschichtungen kommt, spielt nicht so
ter Wiederholung des soeben gehörten Themen- sehr der Gedanke der Kontrastüberwindung eine
kopfes in der nunmehr ›richtigen‹ Tonart d-Moll) Rolle als vielmehr das Vorhaben, das Finale darauf
in der Schluss-Stretta wiederzukehren, nach D- einzurichten, die wichtigsten Themen des ganzen
Dur aufgehellt, reduziert auf die ersten drei Töne Werkes kontrapunktisch zu vereinen.) Auch die
und unterstützt von den Triolen des »Gesangsthe- als solche durchaus plausible Anlage des Kopfsat-
mas«, die ja die charakteristische Bewegung der zes der Annullierten ist einmalig geblieben.
langsamen Einleitung aufgegriffen hatten, und so
Satz und Werk zu beenden.
Spätere ›Korrektur‹?
Bruckner kehrt im Finale der Annullierten zur
klaren Kontur des Hauptthemas zurück, die im Eigenwillig und bemerkenswert ist übrigens die
Kopfsatz auf »Gesangsthema« und Choral kon- Ähnlichkeit des Kopfsatzhauptthemas mit dem
zentriert blieb. Das Finale zielt auf Vereinigung Beginn der Dritten (Beispiel 14). Was in der Annul-
aller thematischen Bildungen, nicht auf Durch- lierten das Hauptthema ist (vgl. Beispiel 11), scheint
bruch eines Hauptgedankens, dessen triumphaler in der Dritten, die gleichfalls in d-Moll steht, zur
Auftritt durch vorherige Auflösung seiner Kontu- Begleitung zu werden, über der dann das berühmte
ren umso spektakulärer wirken würde. Letzteres Trompeten-Thema einsetzt. Schon Kurth hat auf
wird die Dritte bringen und in der Zweiten vorbe- diesen Umstand hingewiesen, meinte jedoch, dass
reitet werden. Der Integrationsgedanke in der Bruckner mit der »Einfügung des Trompetenthe-
Annullierten wird durch die scharfen Kontraste mas [...] Gemüter wie Dessow [...] beruhigen
nicht nur zwischen Haupt- und »Gesangsthema« konnte« (Kurth 1925, 825). Selbstverständlich aber
provoziert, sondern auch durch langsame Einlei- war es damit nicht getan – die gesamte Werkanlage
tung und Expositionsbeginn, dort ein elegisch- war nach dieser Maßnahme auszurichten. Hat
sanglicher Ton, hier schroff-instrumentale Fu- Bruckner mit der Dritten seine Annullierte über-
genthematik. Einleitung und »Gesangsthema« wunden? Ist es überspitzt formuliert, wenn man
aber legen durch ihre Verwandtschaft wiederum sagt, die »Annullierte« sei »die »›nullte‹ Fassung der

Beispiel 14: Dritte Sinfonie, 1. Satz, Beginn des Hauptthemas

Trp. I
3

Vla.
140 Wolfram Steinbeck

3. Symphonie« (Steinbeck 1990, 548)? Es gibt gute d-Moll-Sinfonie (die Dritte) hatten wir als Korrek-
Gründe dafür. Möglicherweise ist es so, dass tur eines gescheiterten Lösungsversuchs der ersten
Bruckner das Werk erst bei der Arbeit an seiner (der Annullierten) interpretiert. Bei der zweiten
zweiten d-moll-Sinfonie verworfen hat, weil er c-Moll-Sinfonie liegt der Fall anders. Die erste
erkannte, dass er mit jener in eine Sackgasse gera- blieb gültig, während die zweite ein erneuter und
ten war und mit dieser – dem gleichfalls in d-Moll ebenfalls ›gültiger‹ Versuch ist, das sich abzeich-
stehenden Pendant – die endgültige Lösung gefun- nende Konzept auf seine Tauglichkeit und Varia-
den hatte, die er in den gezählten Sinfonien eins bilität zu prüfen. Die Tonart scheint hier das
und zwei erfolgreich erprobt hatte. Jedenfalls ist gleiche Fundament zu bieten, ein kompositori-
klar, dass die Formlösung der Annullierten aus dem sches Terrain, das schon erprobt ist und das gleich-
Rahmen fällt und Bruckners sinfonischem Kon- sam ein Stück Sicherheit bietet, zugleich aber auch
zept nicht (restlos) entspricht. die Herausforderung enthält, trotz gleicher Basis
Das Werk, dessen Manuskript Bruckner so Neues machen zu müssen. Dies aber dürfte Bruck-
sorgsam aufbewahrte und dem Oberösterreichi- ners Credo ohnehin sein: Festhalten an Grund-
schen Landesmuseum in Linz vermachte, wurde sätzlichem, dem sinfonischen Konzept, und
erstmals zu Bruckners Zentenarfeier am 12. Okto- kompositorische Auseinandersetzung damit in je-
ber 1924 in Klosterneuburg unter Leitung von dem neuen Werk. So wird die Zweite zur Variante
Franz Moißl aufgeführt. der Ersten, wenigstens was die Tonarten betrifft,
denn auch für das Adagio wählt Bruckner die
gleiche Tonart As-Dur, während die Scherzi diffe-
Die Zweite Sinfonie c-Moll (WAB 102)
rieren (g- bzw. c-Moll).
Dass ein Komponist innerhalb von rund fünf Über die Entstehungsdaten sind wir durch das
Jahren vier große Sinfonien in nur zwei verschie- Autograph wieder gut informiert. Demnach be-
denen Tonarten schreibt, nämlich zwei in c-Moll gann Bruckner mit der Komposition am 11. Okto-
und zwei in d-Moll, ist kompositionsgeschichtlich ber 1871, ließ die Arbeit jedoch längere Zeit ruhen,
einmalig. Bei Beethoven kommt es nur einmal zu um sie im Sommer des nächsten Jahres wieder
einer Tonartwiederholung: in der Sechsten und aufzunehmen und dann äußerst zügig am 11. Sep-
Achten (mit einer klaren Reaktion der letzteren auf tember 1872 abzuschließen. (Der folgenden Werk-
die frühere[n]), bei anderen Komponisten eben- besprechung liegt die Neuausgabe von William
falls selten, bei Mendelssohn, Schumann, Brahms Carragan, NGA II/1 von 2005, zugrunde. Die
oder Mahler sogar keinmal im gesamten Œuvre. Partiturbuchstaben entsprechen überwiegend de-
Bruckner aber greift nicht nur in kurzer Zeit zwei- nen der älteren Ausgabe von 1965; vgl. unten den
mal zur selben Tonart, sondern wiederholt c-Moll Abschnitt Fassung 1877.)
und d-Moll ja auch noch später, nämlich in der
Achten bzw. Neunten. Die Tonarten scheinen eine
Der Kopfsatz
Art Privileg bei Bruckner zu haben.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Die äußere Form ist erneut die typische Sonaten-
Werke, die in derselben Tonart und in kurzer satzform aus drei Themen nebst einem Epilog-
zeitlicher Distanz geschrieben werden, in irgend- oder Überleitungsabschnitt, der auch hier wieder
einer Form aufeinander Bezug nehmen. Die zweite eine eigene thematische Figur erhält (Aus-

Formübersicht der Exposition des 1. Satzes der Zweiten Sinfonie


Vorspann 1. Abschnitt 2. Abschnitt 3. Abschnitt 4. Abschnitt
2 Takte Hauptthema »Gesangsthema« »Unisonothema« Ausklangsthema
(»Langsamer«)
Tremolo (a – b – c) – (a’ – b’) – Ü a – a’ – Ü a – a’ – a’’ a – a’
c c – c+mod. Es – Ges – Es Es – Es – mod G/Es – Es
1–2 (3 – 12– 20) – (27 – 37) – 45 63 – 81 – 89 97 – 113 – 136 161 – 178
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 141

klangsthema). Insgesamt aber ist der Satz bei wei- sie zu ihm hin. Denn die Themenvariante ist von
tem ausgewogener in Aufbau und Länge der Teile vornherein bewegter, aktiver und kann so die
und deutlicher gegliedert durch klare Abgrenzung Steigerungsbewegung, die ja als solche dazugehört,
der blockartig einander folgenden Einheiten, je- umso energischer zum ersten großen Höhepunkt
doch ohne allzu schroffe Kontrastbildungen und (T. 38) führen, an dem das Fanfarenmotiv mit den
überraschende Ein- oder Ausbrüche. Zugleich wird punktierten Skalen die entscheidenden Mittel
der Satzprozess in allen Bildungen stärker als zuvor sind. Nach allmählichem Ausklang, pausendurch-
auf Entfaltung des Materials sowie auf kontinuier- setztem Verebben der Bewegung auf der Domi-
liches Vorankommen im Formverlauf angelegt. nante der Grundtonart sowie einer Generalpause
Das zeigt sogleich das Hauptthema, das im Unter- beginnt das »Gesangsthema«, das in typischer
schied zur Ersten nicht als fertiges Gebilde einge- mediantischer (hier erstmals in so offensichtlicher
setzt wird, sondern von irgendwo hereinzuschwe- Weise durchgeführten) Rückung in Es-Dur ein-
ben scheint, harmonisch zunächst noch unbe- setzt. Hier scheint Bruckner seinen Typus vollends
stimmt den (erst später als solchen erkennbaren) gefunden zu haben. Das Thema beginnt mit zwei
Quintton chromatisch umspielt, zusehends den begleitenden Stimmen, dem Basspizzicato und der
engen Halbtonraum weitet sowie den ruhigen Dreiklangsbrechung der ersten Geigen, einem
Anfangsrhythmus allmählich beschleunigt und in zweitaktigen Motiv, das sich ständig wiederholt
einfachen Zweitaktgliedern das Thema Schritt für und trotz seiner typischen Begleitformel den sang-
Schritt als solches etabliert und konturiert. lichen Ton prägt. Die eigentliche Hauptstimme
Ingesamt umfasst das Thema 24 Takte und beginnt erst zwei Takte später in den hohen Celli:
schließt mit einer Vollkadenz ab. Seine innere eine emphatisch ausholende Kantilene in sonorer
Anlage aber ist auf Entfaltung angelegt, die die Tenorlage, die von den Dreiklängen der Violinen
räumliche und harmonische Weitung mit Steige- gleichsam umrankt wird. Das ist ein typisch
rung der Aktivität sowie Hinzunahme neuer Ele- Brucknersches Doppelthema aus melodischer Li-
mente verbindet. So gliedert sich das Thema in nie und hervortretender Begleitung, wobei nicht
den Eröffnungsteil, der die wichtigste melodische feststeht, welches die führende Stimme ist (in der
Figur exponiert (a), einen Steigerungsabschnitt Dritten wird Bruckner beide Stimmen mit dem
(b), in dem die hohen Bläser mit einer Tonleiter- Hinweis »hervortretend« auszeichnen, die Begleit-
figur hinzutreten, während die Bässe die gerade figur sogar im Piano mit dolce hervortretend, die
Viertelbewegung des Themas zu punktieren be- Violastimme im Mezzoforte). Und auch dieses
ginnen und damit rhythmisch aktivieren; sowie Thema erhält, anders als in der Ersten, aber auch
einen Rückleitungsteil (c), den eine Trompeten- anders als später, keine Wiederholungsform (a-b-
fanfare im typischen »Bruckner-Rhythmus« (zwei a), sondern – im Sinne des schon zuvor realisierten
gegen drei) einleitend markiert. Alle Bildungen Entfaltungsgedankens – eine reihende Anlage (a-
werden thematische Bedeutung bekommen, wie a’), die den Satz bis zu einem kleinen inneren
die Themenentfaltung als solche den sinfonischen Höhepunkt (T. 93) vorantreibt, indem alle Teile
Entfaltungsprozess schon in sich einschließt bis des Themas, so auch die mediantisch in Ges-Dur
hin zu einer ersten Höhepunktbildung (T. 16). einsetzende variierte Wiederholung, metrisch und
Zugleich wird ein Verfahren aus der Ersten wieder harmonisch offene Zäsuren erhalten. Das gilt auch
aufgegriffen: die Überbrückung der metrischen für den Übergang zum Unisonothema, das neu im
Pausen durch die dialogische Einbeziehung der Unisono der Streicher mit einer pochenden zwei-
Bläser als Mittel der Themenentfaltung ins Zwei- taktigen Formel (rhythmisch aus dem »Ge-
und Mehrstimmige des Instrumentalsatzes. Anders sangsthema« abgeleitet) einsetzt, über der sich eine
aber als in der Ersten hat das Thema als ganzes gedehnte Linie in den hohen Bläsern (die eine
keine Wiederholungsform, deren Mittelpunkt augmentierte Figur aus dem Hauptthema ist, vgl.
zugleich der Höhepunkt wäre, sondern es wird als T. 7) kontrapunktisch abhebt. Auch dieser The-
solches wiederholt. In der Ersten folgte die The- menkomplex entfaltet sich in mehreren Schritten
menwiederholung nach dem zentralen Höhepunkt und führt schließlich, wie es zu seiner Funktion
des ersten Themenkomplexes. In der Zweiten leitet gehört, zum bisher größten Höhepunkt der Expo-
142 Wolfram Steinbeck

sition, in die das aus dem Hauptthema stammende punkt die kontrapunktische Verarbeitung des
Trompetensignal hineinfährt, das schließlich vom Themenkopfes in Engführungen und Umkehrun-
gesamten Bläserapparat ausgeführt wird, während gen (Buchstabe H), bis das Trompetensignal die
die Streicher das pochende Grundmotiv des Uni- Wende zur Verarbeitung des Unisonothemas an-
sonothemas wiederholen. Im Unterschied zur kündigt, in dem eine weitere Steigerung ausge-
Ersten wird dieser Steigerungszug jedoch plötzlich führt wird, deren Höhepunkt wiederum das
und gleichsam ergebnislos abgebrochen (vor Trompetensignal verkündet. Der anschließende
Buchstabe D), um die Steigerung mit ähnlichem Abschnitt vereinigt das Kopfmotiv des Hauptthe-
Material über eine lange Strecke abzubauen und mas mit dem Begleitmotiv des Unisonothemas
nach G-Dur zu führen, bis der typische vierte und leitet zum zweiten Durchführungsabschnitt
Abschnitt einsetzt. Es ist der »Freiraum« zwischen über, der der Verarbeitung des »Gesangsthemas«
den festgefügten und festliegenden Blöcken der mit seinen beiden thematischen Bildungen, besser
Form. In der Ersten erklang hier ein heroisches seiner zunehmenden Auflösung, gewidmet ist
Posaunenthema, auf das die gesamte Exposition (Buchstabe L). Und nach ausgiebiger Halbschluss-
ausgerichtet war. In der Zweiten wird ganz im kadenz und erneuter Zäsur durch eine General-
Gegenteil weder ein Ziel erreicht noch eine spek- pause setzt die Reprise (Buchstabe M) ein, die alles
takuläre Fanfare aufgerufen. Vielmehr setzt der noch einmal macht, was wir aus der Exposition
Abschnitt mit einer Oboenmelodie ein, die wie schon kennen (»Gesangsthema« T. 380 ff., Uniso-
der Beginn eines weiteren Themas klingt, das im nothema bei Buchstabe O, Höhepunktabbruch
Charakter neu ist, motivisch jedoch im Wesentli- vor Buchstabe P mit anschließendem Steigerungs-
chen aus der augmentierten Überleitungsfigur der abbau, Ausklangsthema bei Buchstabe Q). Nur
Takte zuvor besteht (vgl. die entsprechende Bil- das letzte Anschluss-Stück zur Durchführung wird
dung in der Annullierten). Die Floskel erhält aber ersetzt durch eine neue, ins dreifache Piano sich
nur zwei Takte, um dann mehrfach unter den verlierende Augmentation des vorherigen The-
Holzbläsern gleichsam ziellos hin und her zu wan- menschlusses.
dern. Thematischen Rang bekommt sie nicht, Die nun einsetzende Coda (Buchstabe R)
obgleich sie kantabel und prägnant genug ist. Sie bringt in langgestreckter Steigerung den abschlie-
kehrt nur in der Reprise wieder, die Durchführung ßenden und zugleich den bislang mächtigsten
ignoriert sie. Die Partie ist nicht mit dem Pathos Höhepunkt, und zwar in zwei Anläufen: Unter
eines Chorals oder schmetternden ›Pilgerchor- permanenter Sextolenfiguration der Streicher
Themas‹ beschwert, sondern eher von der Be- werden das chromatische und das diatonisch ge-
schwingtheit eines »Gesangsthemas«. Es nimmt weitete Zentralmotiv des Hauptthemas dialogisch
den übrigen Partien nichts, läuft ihnen nicht, wie gegeneinander gesetzt und enggeführt, bis das
das der Ersten, den Rang ab, erreicht aber den- Trompetensignal durchbricht und sich eine Rück-
noch, was es soll: Episode, Freiraum zwischen den führung anschließt. Als sei dies nur ein Versuch
Blöcken zu sein, Besinnungsmoment und zugleich gewesen, folgt mit neuem Anlauf das Gleiche
letzte Auflösung des Thematischen vor dem noch einmal in seinerseits gesteigerter Form (ab
nächsten großen Geschehen der Durchführung, Buchstabe S), bis erneut das Signal in den Trom-
in der das Thematische nach und nach wiederge- peten ertönt und nunmehr die Hörner zu gewal-
wonnen wird. tigem Höhepunktgeschehen mitreißt. Wie wir es
Das Kompositionsprinzip der Durchführung aber aus den Steigerungen bislang schon kennen,
(Buchstabe G) ist nun – wieder im Gegensatz zur wird auch dieser Steigerungszug unterbrochen,
Ersten – die gesteigerte und das Material neu grup- und zwar durch den zitathaften Auftritt des
pierende Wiederaufnahme der Exposition. Sie Hauptthemas im Pianissimo der hohen Bläser und
beginnt mit tastenden Versuchen der Umspie- Celli, um dann fortgesetzt zu werden und den Satz
lungsfigur des Hauptthemas, nimmt das zum im dreifachen Fortissimo des gesamten Orchesters
Thema gehörende Mittel des Instrumentaldialogs und mit dem skandierenden Rhythmus des Fanfa-
auf und intensiviert es durch Pizzicato-Figuren der renmotivs zu beenden.
Streicher (T. 203 ff.), bringt in einem ersten Höhe- Der Satzprozess ist also äußerst konsequent auf
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 143

den Schluss ausgerichtet: im Entfaltungsprinzip (ab Buchstabe C): Die Verdichtung der Motivein-
aller drei Themen, das bis in ihre Feinstruktur sätze und -wiederholungen führen nicht zu einem
hineinwirkt; in der thematischen Sicherung des Crescendo des Satzes, sondern im Gegenteil zu
Trompetensignals, das die Höhepunkte markiert, einer ins Pianissimo abfallenden Partie bewegten
sowie in der mehrfach intensivierten Steigerungs- Stillstands, der mit plötzlicher Vehemenz die Re-
anlage, die ebenso zum Thematischen gehört wie prise im Fortissimo folgt. Das Überraschungsmo-
das scheinbar ›ergebnislose‹ Abbrechen ihrer Hö- ment ist im Grunde ebenfalls eine Art Negation
hepunkte, um erst am Ende zum Ziel zu gelangen der früheren (und in der Reprise wiederholten)
– all dies sind die plausibel und konsequent einge- Eröffnungsbewegung, mit der die (scheinbare)
setzten Mittel einer neuen c-Moll-Sinfonie, die in Themenwiederholung eingeleitet wurde, und da-
vielem gleiche Mittel einsetzt wie die Vorgängerin, mit zentraler (und neuer) Formungsgedanke des
in Wesentlichem aber nicht nur andere, sondern Mittelteils. Die Reprise wiederholt den Scherzo-
geradezu entgegengesetzte Wege geht. Hauptteil auf gesteigertem Niveau. Vor allem der
Schlussteil wird breiter und damit die Höhepunkt-
wirkung verstärkt. Zu Letzterem ist dann vor allem
Die Mittelsätze
die Coda da: In mehrfachen Steigerungswellen,
Als zweiter Satz folgt in der Fassung von 1872 das angefeuert durch das Trompetensignal (zuerst in
Scherzo (das in der Fassung 1877 hinter das Adagio der Pauke, dann in die Trompeten übernommen),
gestellt wird). Äußerlich dem bekannten Typus wird der Haupthöhepunkt des Scherzos erreicht.
entsprechend, erprobt Bruckner hier eine neue Die Steigerungsdurchbrechung im Hauptteil-
Variante der Binnengliederung. Begannen die schluss, die in der Coda potenziert wird, wurde
Scherzi der Ersten und Annullierten mit einer un- schon im Kopfsatz als Mittel der Schlussbildung
gestümen Einleitung im Orchester-Unisono, der eingesetzt. Hier wird sie erstmals auch aufs Scherzo
das eigentliche Hauptthema über stampfender übertragen, allerdings ohne die dortige Durch-
Begleitung folgte, so gestaltet Bruckner in der bruchsmöglichkeit, denn die Steigerung im
Zweiten erstmals die (ebenfalls unisone) Eröff- Scherzo ist Teil der thematischen Entfaltung. Das
nungspassage sofort als Thema (A), das in domi- jedoch ist konsequent gedacht: Denn, wie gesagt,
nantischer Öffnung und Steigerung unmittelbar Bruckners Scherzi beenden ihre Höhepunkte
in seine Wiederholung mündet, als sei dies die durch (kadenzierenden) Abbruch.
traditionelle Themenwiederholung des Scherzo- Mit dem folgenden langsamen Satz, in der
Hauptteils. Die so vorbereitete Wiederkehr aber ersten Fassung Adagio überschrieben, in der zwei-
erweist sich als Themenvariante, die in breiterer ten mit Andante, kommt Bruckner zu seinem ur-
Ausdehnung (und mit der Modulation zur V. eigenen Ton andächtiger Adagio-Feierlichkeit:
Stufe) einen potenzierten Steigerungszug durch- Dazu gehören die lang gezogenen, in gedehnten
misst, mitten im Geschehen durch eine ankündi- Bögen über ruhevoll-sonorem Bass sich aussingen-
gende Trompetenfanfare unterbrochen wird, um den Linien eines fünfstimmigen Streicherchors;
den jagenden Schlussabschnitt folgen zu lassen. die in sich kreisende Formanlage, die das Thema
Das motivische Material ist das im Grunde be- nach 16 Takten in einer lang vorbereiteten Vollka-
kannte: Mit einer auftaktlosen Wechselnotenfigur denz enden lässt; die Wiederaufnahme des Ge-
und abgerissenen Viertelpulsen sowie einer daraus sangs durch die im Thema schon angelegte Fort-
abgeleiteten, im rhythmischen Duktus aber kon- spinnung einzelner Thementeile (ab Buchstabe A)
trastierenden Achtelfiguration der Streicher wer- und das Verebben der Bewegung auf offener Do-
den der stoßende Tanzduktus des Satzes, die me- minante. Auch das geheimnisvoll-tastende zweite
trischen Verschiebungen (zwei Achtel auf der Thema mit einer von irgendwo herkommenden
Takt-Eins statt als Auftakt) sowie der zweimalige schönen Kantilene des Horns gehört zum Adagio-
Steigerungszug bestritten. Der Mittelteil besteht Ton Bruckners wie die Anlage als Doppeltthema.
vor allem aus der Gegenüberstellung der kontras- Die Wiederholung dieses Themas (Buchstabe C)
tierenden Themenbestandteile sowie aus einer wird durch eine weitere Adagio-typische Maß-
gewissermaßen negativen Steigerungsbewegung nahme variiert: nämlich durch figurative oder
144 Wolfram Steinbeck

paraphrasierende Dreiklangsbrechungen der Strei- die Stelle wie ein Zitat wirken, das freilich nicht so
cher. Auch dieser Themenabschnitt läuft offen aus sehr die Worte mitschwingen lässt (wer kennt
und verliert sich in vereinzelte Gesten aus Figural- schon den Werkausschnitt?), als eher den choral-
begleitung, Hornkantilene und schließlich einer artigen und konkret sakralen Ton der Bildung
völlig isolierten Fagottfigur, die überleitend in bestätigt. Wir können auch so sagen: Da das Bene-
höchster Höhe verstummt. Damit sind die Mittel dictus selbst in As-Dur steht und (trotz der Tem-
des Adagio vorgestellt. Die beiden so isoliert ne- povorschrift Allegro moderato) ganz den Adagio-
beneinander geordneten Themenabschnitte bilden Ton anstimmt, kann Bruckner das Zitat in seiner
die Exposition des Satzes (mit dem Hauptthema Zweiten Sinfonie gewissermaßen wie von selbst
in As-Dur und dem »Gesangsthema« in f-Moll). ›unterlaufen‹ sein; es muss nicht als vorsätzlich
Die Gliederung der folgenden Teile hat, auf eingesetzter Verweis auf eine konkrete Textstelle
den ersten Blick gesehen, Ähnlichkeit mit dem gelesen werden, sondern eher als intuitiver Einfall
Andante der Annullierten (und entsprechend ge- im Rahmen einer Formposition, an der sich der
ringere mit dem Adagio der Ersten): Zunächst Prozess (oder die Gedanken) aus dem zu erfüllen-
schließt sich ein durchführungsartiger Mittelteil den Formschema lösen und sich frei assoziierend
an (ab Buchstabe E), der wie dort in zwei klar in eine dem Ganzen ohnehin innewohnende
voneinander unterschiedene Abschnitte unterteilt Stimmung versenken können, gewissermaßen als
ist und zunächst das erste, dann, deutlich getrennt besinnendes Innehalten vor der nächsten Aufgabe.
davon, das zweite Thema verarbeitet (ab Buch- Allerdings war Bruckner die Identität der Stelle
stabe H). Jeder der Teile gliedert sich selbst wieder durchaus gegenwärtig. Das zeigt die Stelle vor
in zwei Abschnitte, die die beiden jeweiligen The- Beginn der Coda (Buchstabe O), der gleiche Frei-
menteile ebenso isoliert verarbeiten bzw. wieder- raum zwischen den Blöcken: Hier wird das Zitat
holen: Der erste Abschnitt (ab Buchstabe E) wiederholt, nunmehr aber nicht nur zwei, sondern
nimmt in sequenzierendem Anstieg die erste Vier- vier Takte lang und im gesamten vierstimmigen
takteinheit des Hauptthemas auf, während der Satz des Benedictus in derselben Tonart und ein-
zweite (ab Buchstabe F) den folgenden Themen- schließlich der Mittelstimmen. Auch die Textzeile
teil (T. 5–16) sowie die Fortspinnung (T. 17 ff.) ist nun in instrumentaler Form vollständig vorge-
nahezu tongetreu wiederholt, nur früher abbricht tragen: »Benedictus qui venit in nomine Domini«.
und nicht nach f-Moll, sondern nach b-Moll mo- Die Vervollständigung dürfte aus Gründen erhöh-
duliert. Dann folgt wie in der Exposition das ter Schlussbildung vorgenommen sein, nicht we-
zweite Thema, nun in b-Moll, und zwar als reine gen des Textes selbst. Blasphemie war Bruckner
(transponierte) Wiederholung (ab Buchstabe G), völlig fremd. Insofern kann nicht der konkrete
einschließlich der (leicht uminstrumentierten) Text gemeint sein, der hier (für wenige Einge-
paraphrasierten Version des Themas (bei H). Auch weihte) verschwiegen mitschwingt. Denn was hier
die Wiederholung des Schlussteils folgt (I), bricht »kommt«, ist nichts weiter als die Coda, die mit
jedoch nach sechs Takten ab, um eine neue Über- der Engführung des Hauptthemenkopfes den Satz
leitung folgen zu lassen: der Position im Form- in großer Ruhe beendet. Der fast sphärisch-ver-
schema nach diejenige Stelle, an der Bruckner klärte Ausklang des Satzes (einschließlich eines
vornehmlich Choralpartien einfügt. So auch hier, Violinsolos mit Begleitung der ersten Flöte) wird
und zwar im fünfstimmigen Streicherchor, dessen so ins Weihevoll-Sakrale gefärbt, ein Tonfall, der
Oberstimme eine variierte, vor allem augmentierte freilich dem gesamten Adagio innewohnt.
Version der soeben zu Ende gegangenen Überlei- Zwischen den beiden Zitatstellen aber erklang
tung anstimmt und zu einer Figur umwandelt, die die Reprise, und zwar lediglich die des Hauptthe-
sich mit einer Stelle aus dem Benedictus seiner f- mas. Diese Anlage wird für Bruckner zu einer der
Moll-Messe als identisch erweist. Es ist die Verto- typischen Adagio-Formen (z. B. in der Fünften,
nung der Worte »benedictus qui venit« im Solobass Siebten und Achten):
(vgl. dort T. 23 ff., wiederholt im Chorbass T. 98 ff.)
– und zwar in ähnlichem Satz, in der gleichen
Tonart und über gleichem Bassanstieg. Hier mag
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 145

Formübersicht des Adagio der Zweiten Sinfonie


Exposition Dfg/Mitteltl. ›Reprise‹ Coda
Formteile A B Av Bv Ap (aus A)
Tonart As f As b As As
Partitur- B E G K O
buchstaben

Das Adagio hat also eine Exposition mit zwei Satzform auch als eine Folge gesteigerter Varianten
Themen, einen Mittelteil mit durchführungsarti- der Themen beschreiben, von denen am Ende nur
gen Elementen sowie eine Reprise nur des Haupt- das eine allein zu dem Zweck übrig bleibt, mit
themas. Das noch Sonatensatzform zu nennen, ihm den grandiosen Adagio-Höhepunkt zu be-
scheint fast ein wenig weit gegriffen. Denn man streiten. Freilich ist die Zweite darin noch nicht so
muss sich klar machen, dass die Themen zwar in weit wie dann die Dritte und die späteren Sinfo-
unterschiedlichen Tonarten stehen, jedoch weder nien. Sie führt ihren Höhepunkt noch gleichsam
die sonst übliche Dominant- noch eine medianti- vorsichtig und wenig spektakulär aus. Das wird
sche Spannung erzeugen. Vielmehr steht das sich ändern, man denke nur an den vielleicht im-
zweite Thema in der Tonikaparallele, also einem posantesten Adagio-Höhepunkt der Kompositi-
Grundtonart-Ersatz. Ferner ist zu erkennen, dass onsgeschichte, den in der Siebten, aber auch an
die Durchführung wiederum mit dem Haupt- ähnliche Stellen in allen Sinfonien ab der Dritten,
thema in As-Dur beginnt, eine ebenfalls wenig deren Höhepunkte sich, meist sogar weit außer-
formtypische Maßnahme, die allerdings der Paral- halb der Grundtonart, mit dem übermäßigen
lelität der Thementonarten angemessen sein mag. Quintsextakkord in den Quartsextakkord der
Und schließlich ist festzustellen, dass die Reprise Zieltonart eindrucksvoll entladen. Gleichwohl ist
weit weniger Wiederholung der Exposition ist als das Prinzip hier klar ausgebildet, zumal auch die
die Durchführung. Sie setzt zwar wie jene mit der typischen Mittel der Adagio-Steigerungen schon
Wiederkehr des Hauptthemas ein, verwendet je- gefunden sind, darunter die zunehmende Para-
doch nur noch den Kopf des Themas (den ersten phrasierung des Themenkopfes durch rasche
Viertakter), mit dem vor allem eines gestaltet wird: Skalen, Dreiklangs- und Umspielungsfiguren, die
eine großartige Steigerung, die im Höhepunkt in hier freilich noch – anders als später – frühzeitig
die völlig entlegene Tonart H-Dur strahlend und vorbereitet werden und zwar erstaunlicherweise
durchbruchartig mündet (Buchstabe L), als sei schon in der zweiten Version des »Gesangsthemas«
hier ein großes Ziel erreicht, von wo aus dann aber (ab Buchstabe C).
ein ebenso breiter Spannungsabbau, der ebenfalls Mit dem Adagio der Zweiten hat Bruckner
das Kopfmotiv verwendet, den Satz zurück in die nicht nur den feierlichen Ton gefunden, sondern
Grundtonart und mit ihm in das Benedictus-Zitat auch die dazu gehörige Form (vgl. Formübersicht).
führt. Wenn die kompositionsästhetische Begrün- Die Erste hatte noch die Wiederholungsform mit
dung einer Reprise in der Formulierung des Satz- abgesetztem Mittelteil (der die späteren Ge-
zieles besteht, so ist diese Funktion hier erfüllt. sangsthemen vorauszunehmen scheint), aber
Der Satz aber hat nicht die bogenförmige Ge- schon die Paraphrasierungen und die Höhepunkt-
schlossenheit einer Wiederholungsanlage (A–B– bildung in der Reprise; die Annullierte dagegen
A), sondern im Gegenteil eine durchgängige hatte eine Durchführung beider Themen und eine
Steigerungsanlage, deren Glieder zwar klar vonei- Reprise mit Paraphrasierung des Hauptthemas,
nander abgesetzt sind, deren Neuanfang aber stets jedoch auch mit Wiederkehr des zweiten Themas.
der Beginn einer nächsthöheren Steigerungsbewe- Bis auf das Adagio der Sechsten wird die in der
gung ist (in Buchstabenform: A–A’–A’’), die in der Zweiten gefundene Form zur Grundlage aller
›Reprise‹ (A’’) zum höchsten Durchbruchspunkt Adagio-Sätze bei Bruckner.
gelangt (um im Schlussabschnitt zu stets ruhigem
Satzende geführt zu werden). Man kann diese
146 Wolfram Steinbeck

migen Stillstands zu münden. Umso überraschen-


Das Finale
der setzt im vollen Tutti das Unisonothema ein
Mit über 800 Takten ist das Finale der längste Satz. (Buchstabe D), das freilich nichts anderes ist, als
Seine gigantischen Ausmaße stellen aber auch von die (nur leicht variierte) Wiederholung des Haupt-
vornherein ein Problem für Bruckner dar, das vor themas. Und wie das Hauptthema eine Steigerung
allem daran zu erkennen ist, dass er in der Fassung ausführte, so erst recht seine Variante, und zwar
von 1877 drastische Kürzungen und Umarbeitun- nachdrücklich durch dreimaligen Anstieg forciert,
gen vorgenommen hat (siehe unten). Problematisch nach dem ersten Mal durch eine Skalenfigur der
ist vor allem, wie Bruckner seinen Gedanken der Bässe unterbrochen, beim zweiten Mal (T. 171 f.)
Überhöhung sowie die gegenüber dem Kopfsatz bereichert durch den Rhythmus des Fanfarenmo-
potenzierte Form der Steigerungen und Höhe- tivs aus dem Kopfsatz und ebenfalls unterbrochen,
punktbildungen einigermaßen in den Griff be- diesmal mit Trompetenstößen im Rhythmus des
kommt und letztlich erträglich hält. Auch dieses Finale-Hauptthemas, um schließlich aus tiefster
Finale erhält eine Einleitung, erstmals eine rasche Tiefe mit einer einfachen Umspielungsfigur und in
(vgl. die Annullierte), die mit einer pausenlosen chromatischem Anstieg zum Haupthöhepunkt
chromatischen Wechselnotenfigur (einer diminu- dieser Exposition in dreifachem Forte zu kommen
ierten Variante des Kopfmotivs aus dem ersten (T. 199). Auch dieser Höhepunkt wird abgerissen,
Satz) und kontrastierenden Tonleiterausschnitten und es folgt die übliche Choralstelle, kein viertes
eine sich über 32 Takte erstreckende Steigerung in Thema wie im Kopfsatz, sondern erneut ein Zitat:
Gang setzt und im Höhepunkt das Hauptthema das »eleison, eleison« aus dem Schluss des Kyrie der
des Satzes durchbrechen lässt. Der Durchbruchsge- f-Moll-Messe (vgl. dort T. 134–138). Dort war eben-
danke ist also schon gleich zu Anfang exponiert. falls eine große Steigerung vorausgegangen und
Das markante Thema selbst erklingt, wie in der abrupt unterbrochen worden, worauf sich das ins
Ersten, im Unisono und Fortissimo des gesamten Pianissimo zurückgenommene Solistenquartett
Orchesters und wird im Wesentlichen durch seine ebenfalls in Ges-Dur mit seiner stillen Anrufung
Triolenfigur auf der Takteins sowie durch die anschließt. Auch hier scheint Bruckner das Zitat
stampfende Viertelfortsetzung gekennzeichnet, mit gleichsam wie absichtslos ›hineingeraten‹ zu sein,
denen eine ansteigende Sequenz zu einem weiteren sich intuitiv aus der Parallelstelle der vorherigen
Höhepunkt geführt wird. Nach quasi ergebnislo- Steigerung und ihrem Abbruch eingestellt zu ha-
sem Abbruch auf der Dominante setzt erneut die ben. Eine weitergehende Bedeutung als die der
Eröffnung ein und findet nach einer Modulation Bestätigung des hier angestimmten Choraltons
erneut zu einem Höhepunkt, der nun jedoch nicht scheint nicht vorzuliegen – nicht mehr, aber auch
in eine weitere Wiederholung des Hauptthemas nicht weniger als die erneut weihevolle Rücknahme
mündet, sondern ebenfalls abgebrochen wird, um aller lauten und effektvollen Steigerungszüge und
dem »Gesangsthema« Platz zu machen. Zur Bruck- stille Besinnung vor neuem Ansturm.
nerschen Harmonik gehört es mittlerweile, dass Die äußerst lange und komplexe Durchfüh-
der Übergang mediantisch erfolgen kann: Der rung, die wir hier wieder nur summarisch behan-
Abbruch endete mit einem As-Dur-Septakkord deln können, verarbeitet vornehmlich die Ele-
(der nach Des-Dur zielt), das neue Thema aber mente der Satzeinleitung sowie die des »Ge-
erklingt in der Mediante A-Dur. Es ist, wie im sangsthemas«, streut aber auch an einigen Stellen
Kopfsatz, ein Doppelthema aus anfänglicher Be- das Umspielungsmotiv sowie den Fanfarenrhyth-
gleitfigur mit melodischer Kontur und hinzukom- mus aus dem Kopfsatz ein, findet freilich nur zu
mender Kantilene (dolce) in längeren Notenwerten, einem einzigen Steigerungszug, und zwar zum
das nach einigen Entfaltungsversuchen auf der Schluss und als Hinführung in die Reprise (Buch-
Dominante von G-Dur zum Stillstand kommt und stabe O). Das Finale-Hauptthema (und mit ihm
in erneut mediantischer Rückung nach Es-Dur das davon kaum unterscheidbare Unisonothema)
(und damit zur ›richtigen‹ Seitensatztonart dieses wurde völlig ausgespart und findet so im (einzi-
c-Moll-Satzes) erneut ansetzt, um über einen wei- gen) Höhepunktdurchbruch der Durchführung
teren internen Höhepunkt in eine Partie gleichför- umso entschiedener zu seinem grandiosen Auftritt
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 147

und bietet damit der Reprise selbst ihre gleichsam als eigens exponiertes Höhepunktthema auftrat,
erfüllende, in diesem Fall tatsächlich zielführende kombiniert und damit dem Schluss dieses Finale
Funktion. Die Wiederholung der Exposition ist seine sinnstiftende Funktion gegeben: Schluss als
wieder recht getreu und führt nach Verebben des doppelter thematischer Durchbruch, als krönen-
Einleitungsteils zum »Gesangsthema« in C-Dur des oder thematisch (doppelt) gekröntes Werkziel
(Buchstabe Q) und nach dessen Ausklingen zur und Werkende. Bruckner wird ab der Dritten
erneut abrupten Wiederkehr des Unisonothemas Sinfonie kein Themenderivat mehr durchbrechen
mit seinen Steigerungswellen, deren letzte lassen, wie es der Fanfarenrhythmus hier ist, son-
wiederum im Höhepunkt abbricht (U), worauf dern das Hauptthema des Kopfsatzes selbst, dessen
das Kyrie-Zitat erneut in Ges-Dur folgt (obgleich gesamtsinfonische Bedeutung damit erst recht
die Passage zuvor statt in C- in As-Dur endete). über dasjenige des Finalsatzes gestellt wird, indem
Wozu Exposition, Durchführung und Reprise es hinzugezogen wird, um über den Finaleschluss
den Vorlauf boten, wird nun in der Coda erreicht: hinaus das gesamte Werk angemessen beenden zu
der alles überstrahlende Höhepunkt des Satzes können. Wir sehen, dass die Erste und Zweite als
und des gesamten Werkes. Sie beginnt mit einer Vorstadien dieses Finale-Typus gelten können.
Variante der Satzeinleitung (bei V), führt wie dort
zum Durchbruch des Hauptthemas (bei X), un-
Frühe Wirkungsgeschichte
terbricht den Steigerungszug (vor Y), um im Pia-
nissimo der Holzbläser das Hauptthema des Die Zweite erklang erstmals im Rahmen des Ab-
Kopfsatzes zu zitieren (»Im Tempo des ersten Sat- schlusskonzerts der Wiener Weltausstellung am
zes« steht eigens darüber) sowie die rankende Linie 26. Oktober 1873 mit den Wiener Philharmoni-
des Finale-«Gesangsthemas«. Durch diese Maß- kern unter Bruckners Leitung. Zwar hatte Bruck-
nahme, die Bruckner auch in späteren Sinfonien ner schon nach ihrer Fertigstellung versucht, die
in entsprechender Form gern wiederholt, wird Sinfonie zur Aufführung zu bringen. Die Proben
(wie schon an den Übergangsstellen zu Durchfüh- im Oktober 1872 müssen Berichten zufolge »sehr
rung und Coda) ein Ort innehaltenden Besinnens gefallen« haben. Franz Liszt sei sogar »davon ganz
eingeschaltet, ein Ort der ›Epiphanie‹ der zentra- entzückt« gewesen (so Carl Ferdinand Pohl, der
len thematischen Figur(en): des chromatischen Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde Wien,
Wechselnotenmotivs des Hauptthemas (as–g–fis– auch als Biograph Joseph Haydns bekannt, in ei-
g) als dem Urbild und Begleiter aller thematischen nem Brief, zitiert bei Göll.-A. 3/1, 224). Dennoch
Bildungen des Werkes sowie unmittelbar darauf wurde das Werk vom Orchester schließlich abge-
der schönen Dreiklangslinie des »Gesangsthemas« lehnt. Otto Dessoff, der damalige Dirigent der
(die so ihre Herleitung aus dem Wechselnotenmo- Wiener Philharmoniker, soll erklärt haben, »die
tiv als dessen Krebsumkehrung mit schöner Dur- Symphonie sei Unsinn und es wäre unmöglich, sie
Aufhellung des as zum a und der Umkehrung zur aufzuführen« (Göll.-A. 3/1, 224). Bruckner ver-
Sexte unmittelbar deutlich macht). Dieser bedeu- merkte in seinem Schreibkalender: »I. Ablehnung«
tungsvolle Einbruch in die dramatische Schlussge- (Göll.-A. 3/1, 225), als hätte er geahnt, dass und
staltung steht jedoch als retardierendes Moment wie viele weitere Ablehnungen es für ihn noch
vor dem umso größeren und finalen Steigerungs- geben werde. Die Uraufführung selbst dürfte für
zug: einer aus leisen Anfängen des Einleitungsmo- Bruckner ein großer Erfolg bei Orchester und
tivs (Z) bis zum gigantischen Höhepunkt reichen- Publikum gewesen sein. Die Presse war geteilter
den Kette permanent verdichteter Motivwieder- Meinung. Eduard Hanslick ließ sich erstmals in
holung, an dem das offensichtlich zentrale, alles aller Deutlichkeit vernehmen: Dem Werk sei
besiegelnde Ereignis stattfindet: der Durchbruch
»ein sehr ernster, pathetischer Charakter ebensowenig
zum Hauptthema des Finales, wie es seit der Ex- abzusprechen [...], als zahlreiche schöne, bedeutende
position schon mehrfach erprobt wurde, sowie Einzelheiten. Obwohl der Totaleindruck durch eine un-
zugleich der Durchbruch zum Fanfarenrhythmus ersättliche Rhetorik und allzu breite, mitunter haltlos
zerfallende musivische Form beeinträchtigt wird, war
des Kopfsatzes (»Sehr schnell«). Hier wird also das doch die [...] Aufnahme der Symphonie eine geradezu
Finalethema mit einem Kopfsatzthema, das schon enthusiastische. [...] Herr Bruckner wurde [...] nach je-
148 Wolfram Steinbeck

dem Satze der Symphonie durch anhaltenden Beifall und dem voreingenommenen Wiener Publikum prä-
wiederholten Hervorruf ausgezeichnet. Das Orchester
sentieren, »sondern er lasse sie im Leipziger Ge-
[...] spielte die ungewöhnlich schwierige Komposition
[...] meisterhaft.« (Neue Freie Presse, 18.10.1873, zitiert wandhause und dann vorsichtswegen in Berlin
nach Göll.-A. 4/1, 245 f.) aufführen. Schlägt sie auch da durch, so hat sie die
Feuerprobe bestanden.« Auch Ambros geißelte die
Was bei Hanslick anklingt, nämlich Lob von Ein- Wagner-Nähe, die schon die Zeitgenossen an
zelnem und Kritik am allzu »musivischen« Gan- dieser Sinfonie wahrnahmen, und hatte kein Ver-
zen, wird auch bei anderen Autoren laut, wie es ständnis dafür, »daß ein Mann von solchem Ta-
zum festen Repertoire der Rezeptionsgeschichte
lent, statt auf den eigenen festen Füßen kühn und
Brucknerscher Sinfonien zu Lebzeiten des Kom-
mutig den Weg zum Tempel des Ruhmes zu ge-
ponisten werden sollte, dass sich Gegner bissig bis
spottend, Anhänger dagegen mit ebenso übertrie- hen, es vorzieht, hinten aufs Bedientenbrett des
benem Enthusiasmus äußerten. Mit der Zweiten, Wagnerschen Triumphwagens zu springen und
die äußerlich also (anders als die nächstfolgenden sich hinaufkutschieren zu lassen« (Zitate nach
Sinfonien) noch ein grandioser Erfolg war, gerät Göll.-A. 4/1, 253).
Bruckner zwischen die Mühlsteine der Wiener
Kritik, grob betrachtet zwischen die Lager von Die Fassung von 1877
Konservativen und »Neudeutschen« (oder »Wag-
nerianern«). So schreibt Ludwig Speidel, meist Bruckner hat die Zweite nach der Uraufführung
Befürworter Bruckners, im Fremdenblatt vom und in den folgenden Jahren einer umfangreichen
selben Tag: Auch wenn »man nicht sagen kann, und drastischen Änderung, insbesondere zahlrei-
daß das Ganze [die Sinfonie als ganze] die gestellte chen Kürzungen unterzogen und so am 20. Feb-
Aufgabe glücklich gelöst habe«, so trete uns doch ruar 1876 mit den Wiener Philharmonikern aufge-
»aus dieser Symphonie eine musikalische Persönlichkeit führt. Wieder äußerte das Publikum große Begeis-
entgegen, welcher die zahlreichen Gegner, die sich gefun- terung, die, laut Hanslick, am Ende von einer
den, nicht würdig sind, die Schuhriemen aufzulösen. Er »enthusiastische[n] Partei« aber derart übertrieben
kann lächeln über seine Widersacher, denn an Wissen
und Können stehen sie unendlich weit unter ihm.« (zitiert wurde, dass »der übrige Teil des Publikums lauten
nach Göll.-A. 4/1, 248) Protest durch anhaltendes Zischen« erhob (Neue
Freie Presse, 22.2.1876, zitiert nach Göll.-A. 4/1,
Dass schon bei der Uraufführung der Zweiten
nicht nur von »Gegnern« Bruckners die Rede ist, 392). Anschließend hat Bruckner das Werk ver-
sondern das Publikum auch bereits in zwei Lager mutlich für eine weitere Aufführung erneut über-
geteilt zu sein scheint und überwiegend aus Grün- arbeitet und von seiner Partitur 1877 eine Kopis-
den der Zugehörigkeit zu einer »Partei« urteilt, ist tenabschrift anfertigen lassen. Einige weitere Revi-
der Kritik des Musikhistoriographen August Wil- sionen wurden 1892 vor der Drucklegung des
helm Ambros in der Wiener Abendpost vom 18. Werkes unter Bruckners Aufsicht vorgenommen.
Oktober 1873 zu entnehmen. Die Sinfonie sei zwar Grob betrachtet haben wir also drei Fassungen des
mit »tosendem Beifall aufgenommen« worden; es Werkes: die von 1872 (1. Fassung), die zwischen
war jedoch 1873 und 1877 entstandene (2. Fassung) sowie die
»nicht die begeisterte Zustimmung einer unwillkürlich Druckfassung, die die Wiener Philharmoniker am
hingerissenen Menge, es war der spektakulöse und ten- 25. November 1894 unter der Leitung von Hans
denziöse Lärm eines Publikums, das über den Erfolg Richter aufführten. Älteren Maßstäben nach
schon im vorhinein mit sich einig ist, die Sache mag
aussehen wie sie will. [...] Wir wissen im voraus, ob wir müsste die Druckfassung die Fassung letzter Hand
applaudieren oder zischen werden, je nachdem der Kom- sein. Bei Bruckner aber ist alles anders. Da man
ponist Hinz oder Kunz heißt.« (zitiert nach Göll.-A. 4/1, im 20. Jahrhundert zunächst der Ansicht war, viele
250 f.)
Änderungen seien nicht von ihm oder nicht frei-
Ambros erkannte die Bedeutung des Werkes und willig, sondern durch äußeren Einfluss vorgenom-
auch die Befähigung des Komponisten. Insofern men und damit nicht authentisch (zumal in der
riet er, wenn man für den »wirklichen Wert seiner Tat auch ohne Bruckners Mitwirken Änderungen
Symphonie einen verläßlichen Maßstab« gewin- von anderer Hand stammen), war man bei der
nen wolle, so dürfe Bruckner die Sinfonie nicht Alten Gesamtausgabe der Meinung, man könne
Von den »Schularbeiten« bis zur Zweiten Sinfonie 149

»Bruckners symphonisches Werk von zeitgebun- z. B. in der Exposition vor der Wiederholung
denen äußeren Einwirkungen [...] befreien« (Ro- des Hauptthemas sowie vor Beginn des »Ge-
bert Haas im Vorwort zu AGA II, Leipzig 1938) sangsthemas« (bei Buchstabe B bzw. C) und
und von jeder einzelnen Sinfonie eine »Original- entsprechend in der Reprise vor der Hauptthe-
fassung« herstellen. Der Ausgabe der Zweiten legte menwiederholung (P), ferner zu Beginn der
man in diesem Sinne »die Fassung von 1877 als Durchführung (G) oder in der Coda (vor W);
letzte Willensäußerung« zugrunde, glaubte aber – etliche ersatzlose Streichungen, so z. B. der
zugleich, sich »in vielen Einzelheiten an die 1. ganze erste Teil der Coda des Kopfsatzes, der
Fassung« halten zu sollen. Diese Mischfassung anschließend ja erneut einsetzt (Buchstabe R
erhielt den ebenso suggestiven wie irreführenden der 2. Fassung entspricht S der 1. Fassung); im
Titel »Originalausgabe«, bis 1965 Leopold Nowak langsamen Satz die gesamte paraphrasierte
eine Version vorlegte, die die Fassung von 1877 Wiederholung des »Gesangsthemas«, so dass
wiedergibt (jedoch nach wie vor die »vi-de«-Zu- der Überleitung sofort die ›Durchführung‹ mit
sätze aus der 1. Fassung enthält). Erst 2005 konnte Verarbeitung des Hauptthemas folgt (in NGA
William Carragan in der NGA die 1. Fassung von II/2 mit »vi-de« gleichwohl abgedruckt); und
1872 und 2007 die 2. Fassung in einer revidierten vor allem im Finale wurde drastisch gestrichen,
Version vorlegen. insgesamt von 806 auf 613 Takte: die Überlei-
Im gegebenen Rahmen können hier nur die tung zur Coda einschließlich des »eleison«-Zi-
wichtigsten Änderungen auf der Grundlage der tats aus der f-Moll-Messe (2. Fassung U ~ 1.
Fassungen von 1872 und 1877 angesprochen wer- Fassung V) sowie der gesamte erste Steige-
den (vgl. im Einzelnen W. Carragans Vorworte, rungszug, einschließlich der Zitate aus Kopfsatz
Anmerkungen und die Kritischen Berichte zum und Finale, so dass in der 2. Fassung nur noch
Notentext in der NGA II/1 und II/2 von 2005 die letzte Steigerung ohne die an sich typische
bzw. 2007). Die offensichtlichsten Änderungen Unterbrechung übrigbleibt;
der 2. Fassung sind: – Strich eines (etwas sperrigen) Durchführungs-
teils im Finale (T. 305–360) und Ersatz durch
– Umstellung der Mittelsätze zu der bis dahin einen (eingängigeren) neuen, deutlich kürzeren
meistgebräuchlichen Reihenfolge: langsamer Abschnitt (T. 290–307), den Bruckner im Au-
Satz – Scherzo; tograph eigens mit »neuer Satz« überschrieb.
– Umbenennung des langsamen Satzes von Ada-
gio. Feierlich, etwas bewegt in: Andante. Feierlich, Ferner hat Bruckner in der 2. Fassung an verschie-
etwas bewegt, wobei sich die Tempoänderung denen Stellen die thematischen Konturen ge-
nirgends in Änderungen am Satzbau widerspie- schärft, am auffälligsten im Steigerungseinbruch
gelt; des Kopfsatzschlusses, wo das Kopfmotiv-Zitat in
– eine gewisse Vereinfachung der paraphrasieren- den Celli eine genaue Gegenbewegung in den
den Begleitfiguren; Klarinetten erhält (Buchstabe S), oder in der Fi-
– Auslassung der (entsprechend angezeigten) nale-Stretta (»Sehr schnell«), wo nicht nur die
Binnenwiederholungen im Scherzo (was der Bässe, sondern der gesamte Streicherapparat sowie
Praxis seit der Dritten entspricht); die Posaunen das Hauptthema des Finales mitzu-
– Beseitigung diverser (meist paarweise auftreten- spielen haben.
der) Generalpausen (die der 1. Fassung den Insgesamt sind die Änderungen durch die Ab-
Spitznamen »Pausen-Sinfonie« eingebracht sicht zur Kürzung, zur Straffung, Unterbindung
hatten), so im 1. Satz vor der Reprise (bei Buch- der krassesten Zäsuren sowie durch ein erhöhtes
stabe M) oder der Unterbrechung der Schluss- Maß an Profilbildung des Thematischen gekenn-
Steigerung (bei Buchstabe S); zu Anfang des zeichnet. Sie dokumentieren einen neuen Stand in
ersten und zweiten Trioteils (vor der Coda wur- Bruckners sinfonischem Konzept, ohne das ur-
den allerdings zwei Pausentakte hinzugefügt); sprüngliche zu negieren. Aufführbar (und gültig)
im langsamen Satz vor dem zweiten Benedictus- sind beide Fassungen, für ungültig erklären sollten
Zitat (Buchstabe O) und vor allem im Finale: wir dagegen die »Originalausgabe« von 1938.
150 Wolfram Steinbeck

Literatur
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Notter, Werner: Schematismus und Evolution in der Fassung. Fassungsprobleme in Musik- und Text-
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zur Musikwissenschaft 14). München 1983. Laaber 2007, 189–200.
151

Die Dritte und Vierte Sinfonie


von Thomas Röder

Ein einziges ›Flow‹ umschließt die Herstellung der Die Dritte Sinfonie
Dritten und Vierten Sinfonie. Bruckner war ›im
Stellung im Gesamtwerk
besten Alter‹, die ersten Bayreuther Festspiele von
1876 warfen ihren Schatten voraus, so auch in Die Dritte Sinfonie in d-Moll ist in vielerlei Hin-
Wien, wo mit der Gründung des Akademischen sicht mit dem sinfonischen Œuvre ihres Kompo-
Wagner-Vereins 1873 die ›zukunftsmusikalischen‹ nisten verflochten. Zum einen verbindet die ge-
Musiker und Enthusiasten sich ein Forum schu- meinsame Tonart das Werk mit der Annullierten
fen. Bruckner trat dem Wagner-Verein bekannt- Sinfonie von 1869, zum anderen mit dem großen
lich bei, nachdem Wagner selbst die Widmung der Torso der Neunten. Die tonartliche Beziehung
noch unfertigen Dritten Sinfonie angenommen führt überdies zurück (oder hinauf ) zu Beethovens
hatte. Die »zahme« Zweite Sinfonie, die durchaus Chorsinfonie, wurde vom Publikum stets mitge-
zum Ausdruck bringt, dass er »in Wien ganz zu- dacht, bevor ein Ton erklang, meldete von daher
sammengeschreckt« worden sei (Briefe 2, 119), war unmissverständlich den höchsten sinfonischen
nun überwundene Vergangenheit wie auch die Anspruch an. Zuweilen wurde die Ansicht vertre-
Schreckensstarre, die ja in der Wiener Frühzeit ten, dass Bruckner mit der Dritten Sinfonie die
den Komponisten zur Aufgabe des Projekts einer Unfertigkeiten der Annullierten ansatzweise korri-
d-Moll-Sinfonie, der heutigen Annullierten, giert, schließlich aber dem d-Moll-Ideenkreis mit
führte. der Neunten ein gültiges Gewand zu geben ver-
Und als ob er noch nicht alles gesagt habe, als sucht habe. Doch ist es die Dritte, an der erstmals
ob er mit einem Mal einen ihm gemäßen Weg das Beethovensche Verfahren des dynamisch-the-
gefunden habe, als ob er mit einem Mal spürte, matischen ›Vorhangs‹ bei Bruckner manifest wird.
dass die Zeit drängt, machte sich Anton Bruckner Zugleich, über den Titel, und somit ebenfalls die
kaum zwei Tage nach der Vollendung seiner Drit- Aufmerksamkeit lenkend, wird der zweite von
ten Sinfonie an das Nachfolgewerk. Das weitere Bruckners »Leitsternen« (Blume 1952, 371) ins
Schicksal dieser beiden Kompositionen verlief in Blickfeld gerückt: Richard Wagner.
jeweils ähnlicher Weise; letztlich sind die Überar- Hinter dieses Werk gab es kein Zurück mehr,
beitungen als der Tribut zu betrachten, den der und allgemeiner Einschätzung nach ist in der
Komponist für die Anpassung seiner überborden- »Wagner-Sinfonie« (vgl. Briefe 1, 153) der »echte
den Ideen an die Pragmatik des Konzertbetriebs und ganze Bruckner als fertige und abgeschlossene
zu entrichten hatte. Hier erweist sich Bruckner Erscheinung« erstmals zu finden (so, als einer der
eben nicht als der seiner Zeit gänzlich entrückte Ersten, schon 1905 Rudolf Louis; Louis 1905, 195).
Visionär. Bemerkenswert an einem solchen Urteil ist, dass
es anhand einer Partitur getroffen wurde, die in
der Epoche des ›späten‹ Bruckner entstand – und,
als Ergebnis zweier Überarbeitungen, in der Tat als
152 Thomas Röder

»fertig und abgeschlossen« gelten konnte. Die Entstehung – Fassungen –


Dritte Sinfonie bietet mit dieser Partitur einen Überlieferung und Ausgaben
diachronischen Überblick über Bruckners eigene
Perfektionierungsversuche, und dies über einen Kein anderes Werk Bruckners ist so dicht überlie-
Zeitraum von sechzehn Jahren, während derer fert wie die Dritte Sinfonie. Drei komplette Fas-
Stilmomente der Fünften und der Achten Sinfonie sungen sind in Handschriften erhalten, zahlreiche
einflossen. Wenn man dem Werk eine bahnbre- abgelegte Manuskripte enthalten wichtige Zwi-
chende Rolle zuschreiben möchte und hierfür die schenstufen, und parallel entstandene, oft vom
erste, 1873 entstandene, im Vorfeld ihrer Auffüh- Komponisten eigenhändig bearbeitete Abschriften
rung schon gescheiterte Fassung heranzieht, so ermöglichen eine weitere Absicherung der Texte.
können einige Punkte die Scharnierfunktion der Schließlich kamen schon zu Lebzeiten Bruckners
Dritten über die Patenschaft Beethovens und Wag- zwei gedruckte Ausgaben der »Wagner-Sinfonie«
ners hinaus belegen: heraus. Im Folgenden werden im chronologischen
Durchgang die drei Etappen der Werkentstehung
– Das Potenzial einer knappen, signalhaften dargelegt, deren Endpunkte jeweils mit einer ›Fas-
Formulierung wird vom Komponisten als satz- sung‹ der »Wagner-Sinfonie« dokumentiert sind.
übergreifende, omnipräsente Marke ausge-
schöpft.
1872–1874
– Mit den mannigfachen enggeführten Versionen
vor allem des auf seine ersten vier Töne redu- Bruckner arbeitete sich bei der Komposition ›am
zierten Hauptthemas, seine augmentierten, Werk entlang‹ durch die vier Sätze. Der erste Satz
diminuierten oder inversen Metamorphosen entstand in der Zeit zwischen dem 11. September
oder seine Verwendung als Cantus firmus führt 1872 (Abschluss der Zweiten Sinfonie) und dem 23.
Bruckner ›kontrapunktische‹ Verfahren der Februar 1873 (erstes Datum am Ende). Bevor das
Variantenbildung in seine Sinfonik ein. unmittelbar im Anschluss daran begonnene Ada-
– Eines der Hauptkennzeichen von Bruckners gio mit dem 24. Mai »fertig« gestellt wurde, be-
Sinfonik, die zyklische Durchdringung der gann der Komponist die Arbeit am Scherzo (11.
Sätze und, vor allem, die thematische Apo- März). Vom 25. Mai bis zum 16. Juli beschäftigte
theose am Ende des Finales, wird mit der er sich erneut mit dem ersten Satz sowie vermut-
Dritten Sinfonie in geradezu musterhafter Art lich mit den beiden Binnensätzen; Scherzo und
in sein sinfonisches Gestalten eingeführt. Trio kamen am 27. Juli zum Abschluss. Der ge-
– Ins Profil der Binnensätze werden zwei Aspekte samte August 1873 gehörte der Komposition des
eingebracht: Die dynamische Aufgipfelung des Finale. Bruckner befand sich seit spätestens dem
langsamen Satzes wird erstmals in Form eines 9. August in Marienbad, wo er am 31. August die
plakativen Quartsextakkords arrangiert, und vorläufige Fertigstellung der Arbeit am Finale do-
mit dem Scherzo der Dritten etabliert sich der kumentierte.
Brucknersche ›Tanzsatz‹-Typus erstmals in Auf der Rückreise von dort machte Bruckner
gültiger Form. Kennzeichen hierfür ist der ka- einen kleinen Umweg über Bayreuth, um – ver-
denzlose Themenschluss, somit das Vermeiden mutlich kurzfristig angemeldet – Richard Wagner
jeglichen Erinnerungsrests an die Zopfigkeit sowohl die Partitur der Zweiten als auch der Drit-
ordentlicher Schlussbildungen. ten Sinfonie zur Widmung anzutragen. Wagner
– Die über die klassische Orchesterbesetzung entschied sich, offensichtlich zum Wohlgefallen
hinausgehende Verwendung von drei Trompe- Bruckners, für die Dritte Sinfonie. Von November
ten kann freilich nur als erstes, wenngleich be- bis zum 31. Dezember »nachts« arbeitete Bruckner
deutsames Anzeichen einer kontinuierlichen schließlich den Finaleentwurf aus.
Aufrüstung der Blechbläsergruppe gewertet Mit einer Abschrift, nämlich der mit »9. Mai
werden. 1874« datierten Widmungskopie für Richard Wag-
ner, hat sich der Werktext der ersten Fassung im
Besitz der Familie Wagner unentdeckt und unbe-
Die Dritte und Vierte Sinfonie 153

rührt bis in die 1930er Jahre erhalten. Mit Hilfe Auf diesem Weg wurden zahlreiche Manu-
dieser Kopie lässt sich in den von Bruckner weiter- skriptbögen der Dritten Sinfonie neu geschrieben;
hin verwendeten oder auch ausgeschiedenen Ar- die verworfenen Partien sind, teilweise gar in
beitsmaterialien eine auf weiten Strecken autogra- Doppelversionen, schon zu Lebzeiten Bruckners
phe erste Fassung rekonstruieren. als Souvenirs verschenkt worden und somit ver-
Eine weitere, heute noch erhaltene Partiturko- streut überliefert. Vom Adagio existieren Bruch-
pie war vermutlich als Dirigierpartitur gedacht; stücke, die zusammengesetzt eine eigenständige
die Existenz eines dazugehörigen Stimmensatzes Fassung dieses Satzes (ediert als »Adagio Nr. 2«)
konnte bisher nicht belegt werden. Ob nämlich ergeben. Der Text dieses auf Oktober 1876 zu
1874 ein Probespiel mit den Wiener Philharmoni- datierenden Adagio ist überdies partiell – freilich
kern stattgefunden hat, ist nicht sicher. Bruckner gestrichen oder mit dem späteren Wortlaut über-
wurde wohl seinerzeit darüber im Unklaren gelas- klebt – in den handschriftlichen Orchesterstim-
sen, doch müssen wenigstens die Voraussetzungen men erhalten, die als weiterer Überlieferungs-
für ein Probespiel geschaffen gewesen sein (Briefe strang hinzutreten und nach dem 25. April 1877
1, 153 f.). erstellt wurden, als nämlich Bruckner seine Dritte
Eine moderne Edition dieser Fassung, von erneut für »fertig« erklärte. Nach dem Befund
Robert Haas betreut, stand bereits 1944 kurz vor dieser Notentexte sowie von Bruckners Arbeits-
der Fertigstellung, doch ging das Material hierzu material wurde allerdings im Lauf des Oktober
bis auf zwei Abzüge der Partitur sowie einen hand- 1877 der Höhepunktsabschnitt des Adagio um-
schriftlichen Stimmensatz durch Kriegseinwirkung komponiert sowie das Herzstück der Finale-
verloren. Erst seit 1977, mit der von Leopold No- Durchführung entfernt, beides vermutlich auf
wak im Rahmen der Gesamtausgabe herausgege- Wunsch von Hofkapellmeister Johann Herbeck,
benen Partitur der »Wagner-Sinfonie« von 1873, dem designierten Dirigenten der ersten Auffüh-
war das vergleichende Studium der ersten Versio- rung. Herbecks unerwarteter Tod Ende Oktober
nen dieses wichtigen Werks möglich. Die Ausgabe nötigte Bruckner zum Dirigat. Die gegen alle
beruht weitgehend auf der Bayreuther Widmungs- Widrigkeiten durchgesetzte Aufführung am 16.
abschrift. Dezember 1877, als letzter Punkt eines »Gesell-
schaftskonzerts«, wurde ein Misserfolg. Obwohl
die Sinfonie um etwa 20 Minuten auf eine Drei-
1874–1880
viertelstunde gekürzt wurde, strapazierte sie das
Der Erstdruck der zweiten Fassung (aus dem Jahr Aufnahmevermögen eines Matinée-Publikums,
1879) bildet den vorläufigen Abschluss einer Evo- dem ohnehin, so der Kritiker Eduard Schelle,
lution, die durch drei Probeaufführungen und zuvor schon »an Musik des Guten zuviel« geboten
ebenso viele Ablehnungen von Seiten der Wiener wurde (vgl. die Dokumentationen bei Klüppel-
Philharmoniker (1874, 1875, 1877) ging. Weitere holz 1983, Röder 1997, Wagner 1979). Wie ein-
Kräfte wirkten noch dadurch auf die Umgestal- zelne Zeitungsberichte bestätigen, war es trotz
tung, dass Bruckner von 1876 an die Vierte Sinfo- aller Mankos möglich, die spezifische Qualität
nie in Berlin zu lancieren versuchte (und ebenso der Komposition auch bei der Aufführung zu er-
harten Widerstand zu spüren bekam), sowie, an- fassen. Hauptzeuge hierfür ist jedoch vor allem
lässlich der Wiederaufführung der Zweiten Sinfo- der damals 36-jährige Musikalienhändler und
nie im selben Jahr, direkten Austausch mit den Verleger Theodor Rättig. Mit ihm trat eine Per-
Instanzen des Aufführungsbetriebs hatte. Vor al- sönlichkeit auf den Plan, die ein aktives Interesse
lem war es die aus eigener Einsicht betriebene an Novitäten bewegte. Rättig wohnte bereits den
Revision des Taktgruppenbaus, deren systemati- anscheinend wenig erquicklichen Proben bei und
sche Anwendung auf alle bisher verfassten großen fasste den Entschluss, das Werk »in würdigster
Kompositionen Bruckner spätestens im Lauf des Form« (Röder 1997, 385) auf eigene Kosten er-
Jahrs 1876 beschäftigte und die einen nicht zu scheinen zu lassen. Erstaunlicherweise kam es nie
unterschätzenden Anstoß für weitere Änderungen (zumindest gibt es kein Anzeichen) zu einer herz-
gab. lichen und dauerhaft produktiven Beziehung
154 Thomas Röder

zwischen Bruckner und dem ersten Verleger, der


1880–1889
sich für eine seiner Sinfonien engagierte.
Die Abschrift, die Bruckner frühestens im Fe- Rättigs Druck fand so gut wie keinen Interessen-
bruar 1878 als Stichvorlage anfertigen ließ, ent- ten. Erst die Aufmerksamkeit, die dem Komponis-
spricht im Großen und Ganzen dem Stand vom ten im Gefolge der Leipziger Aufführung der
November und zeigt, dass der Komponist auf Siebten Sinfonie entgegengebracht wurde, initiierte
keinen Fall mehr hinter die, wie auch immer zu- eine kleine Serie von sieben Konzerten in den
stande gekommenen, Änderungen fallen mochte: Jahren 1885 und 1886. Immerhin erklang die
Die Kürzungen im Finale wurden beispielsweise »Wagner-Sinfonie« hierbei in Frankfurt und Dres-
nicht mehr rückgängig gemacht. Ob diese Ab- den, Amsterdam, Utrecht, New York und zweimal
schrift ursprünglich die in der Arbeitspartitur in Den Haag.
nachgetragene und mit dem 30. Januar 1878 da- In Wien propagierten die Brüder Schalk ihre
tierte Coda zum Scherzo enthielt, muss offen eigenen Klavierarrangements der Dritten; sie dürf-
bleiben. Die Coda wurde jedenfalls noch vor der ten darunter gelitten haben, dass Mahler den
Drucklegung verworfen. Letzte Änderungen wur- Klavierauszug erstellte. Diese Konstellation sollte
den nur noch in der Stichvorlage getätigt, so dass für die Geschichte des Werks noch bedeutsam
der Erstdruck in Details nicht mehr den Text von werden: Bruckners Schüler konnten Anfang 1888
Bruckners Autograph bietet. Zum Überlieferungs- Rättig davon überzeugen, dass die »Wagner-Sinfo-
bündel dieser Fassung zählt überdies der Klavier- nie« einer gründlichen Revision bedürfe, um im
auszug, den Gustav Mahler und Rudolf Krzys- Konzertleben Erfolg zu haben, und tatsächlich
zanowski hergestellt hatten. Die Varianten, die bekam der Verleger daraufhin nach und nach gut
dieser Klavierauszug enthält, deuten auf eine 50 Partiturseiten, die er in Leipzig stechen ließ.
mündliche Verständigung zwischen Komponist Doch intervenierte Gustav Mahler, der sich Ende
und Bearbeitern. Aufgrund der Kooperation ka- Juni oder Anfang Juli in Wien aufhielt, bei Bruck-
men die ersten drei Sätze der Arbeitspartitur in ner selbst und brachte das Unternehmen zum
den Besitz von Gustav Mahler. Sie waren somit Leidwesen von Bruckners Helfern, allen voran
während der Zeit des Nationalsozialismus der Josef und Franz Schalk, zu einem vorläufigen
deutschen Musikforschung entzogen und konnten Ende. Alles an dem Werk sei gut und solle bleiben,
erst 1948 von Alma Werfel für die Österreichische so Mahler. Bruckner, der offenbar bis dahin die
Nationalbibliothek zurückgekauft werden. Redaktionsarbeit seiner Freunde nach kurzer
Nun erst war es möglich, die Fassung 1877/78 Durchsicht absegnete, intensivierte von Mitte Juli
anhand von Bruckners Eigenschrift zu erschließen. an diese Arbeit am gerade anstehenden Finale der
Diese Fassung, in der die eigentlich verworfene Dritten, und es ist durchaus möglich, dass es Mah-
Scherzo-Coda als Novum inkorporiert war, er- lers Eingreifen war, was ihn dazu bewog, die ersten
schien 1981 als Band III/2 der Gesamtausgabe. Sie drei Sätze erneut und in eigener Regie anzugehen
enthält Anmerkungen von Bruckners Hand, die und hierzu den von Mahler für gut befundenen
vermutlich sein Dirigat von 1877 betreffen und Erstdruck zur Grundlage zu machen. Die bereits
klar machen, dass er damals aus den vielfach ge- fertig gestochenen 52 Platten kamen 1890 zur Ein-
schundenen Blättern seiner Arbeitspartitur zu di- schmelzung. Theodor Rättig war nicht mehr bereit
rigieren hatte. und in der Lage, das Unternehmen weiterhin zu
Mit der seit 1950 vorliegenden Neuausgabe des unterstützen, woraufhin Kaiser Franz Joseph 1000
seltenen Erstdrucks von 1879 versuchte der ehe- fl. aus seiner Privatkasse zur Verfügung stellte, um
malige Mitarbeiter von Robert Haas, Fritz Oeser, den Neustich überhaupt noch zu ermöglichen.
die musikalische Welt auf die seiner Meinung Bruckner arbeitete also die letzte Fassung der
nach »reife Gestalt« der 2. Fassung der Dritten »Wagner-Sinfonie« anhand der gedruckten Parti-
Bruckners aufmerksam zu machen, stieß jedoch tur von 1879 sowie einer von Franz Schalk ge-
auf wenig Resonanz. schriebenen, in der musikalischen Form weiter
komprimierten handschriftlichen Version des Fi-
nale aus. Den Verlauf seiner Revisionsarbeit doku-
Die Dritte und Vierte Sinfonie 155

mentierte der Komponist anhand überaus zahlrei- Die »Wagner-Sinfonie«: Beschreibung


cher Datumseinträge; demnach begann er mit nach der Fassung von 1889
dem Finale am 5. März 1888 und ging sodann
nacheinander den ersten Satz, das Trio, Adagio Folgt man einigen Zeitungsberichten über die
Aufführung von 1890, so war auch bei diesem
und schließlich, an zwei Tagen (3. und 4. März
Konzert eine Fluchtbewegung im Publikum zu
1889), das Scherzo durch. beobachten, allerdings heftigst übertönt von der
Weil das Finale auf einer Quelle beruht, deren nun doch recht zahlreich gewordenen Menge
Grundschicht nicht von der Hand Bruckners her- junger Verehrer Bruckners. Und Eduard Hanslick
rührte, geriet diese dritte und letzte Fassung spä- gibt mit der Erwähnung einiger Details zu erken-
testens seit ihrer Veröffentlichung im Rahmen der nen, dass er beide Versionen verglichen hatte. Er
Kritischen Gesamtausgabe (NGA) in den Verdacht kommt zu dem Schluss, dass sich »diese Neubear-
mangelnder Authentizität. Es zeigte sich jedoch, beitung [...] nicht wesentlich von der ersten Fas-
dass Schalks Manuskript äußerst sorgfältig von sung« (also der heute als 2. Fassung bekannten)
Bruckner überarbeitet wurde, so dass die Frage der unterscheidet (Hanslick 1989, 52 f.; Röder 1997,
›Echtheit‹ als hinfällig zu betrachten ist. Mögli- 417). Aus diesem mehr pragmatischen Grund so-
cherweise handelte es sich bei den bereits erwähn- wie aus der immer noch leichten Dominanz dieser
ten 52 eingeschmolzenen Stichplatten ebenfalls Fassung im Musikleben, schließlich auch aus Re-
um Bearbeitungen der ersten drei Sätze, hergestellt spekt vor Bruckners letzten Äußerungen zum
in der Art, wie sie von Ferdinand Löwe zur Vierten Werk sei die »Wagner-Sinfonie«, soweit möglich,
zuerst in der letzten Fassung besprochen.
Sinfonie bekannt sind. Bruckner zog es jedoch vor,
Detailänderungen dieser Sätze direkt in seinem
Handexemplar des Drucks von 1879 vorzunehmen
1. Satz
und größere Umkompositionen auf Einlageblät-
tern festzuhalten. Die »neue Auflage« der »Wag- Der 651 Takte lange Sonatensatz ist expansiv ange-
ner-Sinfonie« von 1890 beruht auf diesen beiden legt; den einzelnen Gestalten wird Raum zur
vorgenannten Komponenten; ein unbekannter Entfaltung ihrer spezifischen Bewegung geboten.
Redaktor (vielleicht Josef Schalk) änderte schließ- Alle drei Gestaltungsfelder der Exposition enthal-
lich – vermutlich eigenmächtig – noch einige ten jene grellen, allein von einem unbedingten
unwesentliche Stellen in den fertig gestochenen Willen zum Ausdruck motivierten Kontrastbil-
Druckplatten. dungen, die dem gesamten Werk seine Physiogno-
Am 21. Dezember 1890, als Hans Richter in mie geben. Über alle Fassungen hinweg beibehal-
Wien die neue Bearbeitung der »Wagner-Sinfonie« ten wurde der zweimalige Crescendo-Anlauf zu
aus der Taufe hob, war der lange, 18 Jahre wäh- Beginn, in dessen Gewebe hinein das sinfonische
rende Formationsprozess der Sinfonie zu Ende. ›Überthema‹, das signalhafte ›Motto‹ erklingt, der
Bruckner erklärte, dass ihm diese Version »ins heraldischen Trompete anvertraut. Am Ende des
Herz gewachsen« sei (Briefe 2, 106), dass er von Crescendos bricht die mit voller Kraft herausge-
der »alten Bearbeitung [...] nichts mehr wissen« schleuderte Phrase des zweiten Hauptthemas los,
wolle (Briefe 2, 205). in dem Laut und Leise, Hoch und Tief, Dissonanz
Allein diese Partitur repräsentierte bis zum Er- und Konsonanz, Klingen und Nicht-Klingen auf
scheinen des entsprechenden Gesamtausgaben- der Grundlage einer höchst sinnig konstruierten
bands das Werk. In zahlreichen Formaten, Neu- achttaktigen Periode zusammengehalten werden
und Nachdrucken war sie weit verbreitet und (T. 31). Mag es auch technisch korrekt zugehen:
wurde 1961 letztmals herausgegeben (Nachweise Der Eindruck von Überwältigung und Ergebung,
bei Röder 1997, 346 ff.). 1959 erschien, von Leo- rätselhafter Frage und nicht weniger labyrinthi-
pold Nowak ediert, mit Band III/3 der NGA die scher Antwort, physischem Terror und seelischem
Dritte Sinfonie nach der Lesart der Stichvorlage, Widerstand bleibt bestehen und wird nicht durch
also mit kleinen textlichen Differenzen zum Druck sich selbst erklärt oder abgearbeitet, sondern im
von 1890, bezeichnenderweise aber ohne den An- Lauf der unmittelbar anschließenden »Gesangs-
spruch, eine »Originalausgabe« zu sein. gruppe« gleichsam ›verdrängt‹. Aber auch der ty-
156 Thomas Röder

pisch sich fortrepetierende Zweitaktsatz dieses besteht aus dem in allen Kommentaren erwähnten
Formabschnitts, dessen Triole sich bis ins Trompe- »Miserere«-Zitat aus der d-Moll-Messe, durchaus
tenthema zurückverfolgen lässt, treibt, fast pein- auch immanent herleitbar (siehe Beispiel 1, un-
lich in seiner plakativ gutwilligen Machart von terste Zeile).
schwärmerischer Geste und Terzberührung, ohne Damit sind die hauptsächlichen Charaktere
eigentliche Motivierung, erneut gewalttätige Ges- dieses Satzes benannt. Die beiden Bestandteile des
ten aus sich heraus, Forte-Schläge (T. 123 f.) oder zerklüfteten zweiten Hauptthemas dienen in der
seine eigene Kulmination in einem großen Tutti, Durchführung, dynamisch neutralisiert, als Mo-
schließlich, hierdurch vermittelt, den ernsten mente des Zögerns, Unterbrechens; die Umge-
Schwung des dritten Themas, das in diesem Fall bung gibt ihnen eine andere ›Beleuchtung‹: Sie
durchaus vom zweiten Thema abhängt und mit korrespondieren als Refrain auf das umgekehrte
diesem zusammen eine Großgruppe bildet (siehe und als Cantus firmus bearbeitete Motto-Initium.
Beispiel 1). Auch hier wieder pflanzt sich der the- In Umkehrung der exponierten Reihenfolge er-
matische Fortgang über dynamische, und nur scheint das Trompetenthema als dynamisches Ziel
dynamische Extremkontrastierungen fort (T. 171– der Durchführung, und zwar zunächst im Uni-
198), bis das Doppelereignis eines Trompeten- sono und dreifachen Forte. Vielleicht ist es noch
»Chorals« (T. 199) sowie, abschließend, das die klassische Pauken- und Trompetenverwen-
Trompeten-»Thema« (T. 209) – trotz umgekehrter dung, die Bruckner dazu bewegt, dieses Ereignis
Tonfolge und Posaunen-Instrumentierung sofort gleichsam als ›fausse reprise‹ in d-Moll zu setzen:
identifizierbar – den Schlusspunkt markieren. Ein Die Pauken erlauben eine äußerste Kraftentfaltung
erneuter Kontrast bringt Unruhe und eigentlich, im Tutti-Unisono nur auf den Tönen d und a, und
für den Hörer, erneute formale Verwirrung: Das die Trompeten stehen (entgegen dem in der NGA
zuletzt genannte Themen-Tableau beendet die edierten Text) in den ersten drei Sätzen auf D.
ausgiebige motivische Sukzession, doch jetzt erst Wie dem auch sei: Dass doch keine Reprise
führt Bruckner das Bewegungsmaximum des Sat- vorliegt, macht die Fortsetzung des Trompetenthe-
zes ein: den in Achtelbewegung vibrierenden mas deutlich, bei der ein längerer Verlauf mit den
Streichersatz, wie er aus den Orchestermessen be- Mitteln harmonischer Periodenbildung sowie
kannt ist – und der sich nicht so einfach wieder motivischer Isolation (nämlich des wohlbekannten
aus der ›Geschichte‹ hinauskomplimentieren lässt. viertönigen Themenkopfs) herausgesponnen wird.
Bruckner benötigt 22 Takte (T. 217–238), um die Wie gegen Ende der Exposition grundiert eine
Bewegung endgültig ins Pianissimo zurückzufüh- unermüdlich vibrierende Streicherbewegung den
ren und sodann ›abzubremsen‹. Der dieser Bewe- Satzverlauf, bis auf zwölf (übrigens zur letzten
gung beigegebene motivische Inhalt dieser Passage Fassung hinzukomponierte) Piano-Takte stets

Beispiel 1: Dritte Sinfonie, 1. Satz, Motivtabelle

3
3
3 3

cresc.
Die Dritte und Vierte Sinfonie 157

mindestens ein Fortissimo haltend, und mündet eigenes variatives Leben entfalten, jederzeit aber
ebenfalls in einen vom Trompetenthema bestritte- von höherrangiger Motivik (wie dem gesamtsinfo-
nen Schlusspunkt, tonal die zweite Stufe markie- nischen ›Motto‹) verdrängt werden können. Dis-
rend (T. 393–404, vgl. 2. Fassung T. 209–238; die kontinuität und Kontrastierung aufeinanderfol-
Pauke auf e ist Zutat der letzten Fassung). gender Ereignisse bedrohen die Wahrnehmung der
Klangbild und tonale Stufe, letzten Endes die Form. Der von Bruckner bis zur Verrätselung ge-
hier erreichte Stufe musikalischen Erzählens über- triebene Beziehungszauber zwischen motivischen
haupt, werden an dieser Stelle unterbrochen durch Bruchstücken wird überdies so weit getrieben, dass
die in der Abfolge annähernd regulär disponierte dessen Wahrnehmung hinter bloßer Funktionalität
Reprise sowie durch deren Vorbereitung. Wieder verschwindet. Um ein Beispiel anzuführen: Welche
aufgenommen wird der Faden an jener Stelle, die Rollen der abschließende Oktavsprung im Trom-
jenem mit dem Trompetenthema drapierten Hal- petenthema einnehmen kann, zeigt nicht nur das
tepunkt (Exposition T. 209, siehe oben) entspricht. zweite Thema, das Trio oder Hauptthema und
Doch welch ein differierender Kontext: Das »dritte drittes Thema im Finale, sondern deuten auch die
Thema« erweist sich als die unbeständigste Fü- stillen Überleitungspartien an: das Ende des Flö-
gung, transitorisch stets, und im Hinblick auf ten-»Misterioso« (T. 243/244), der Motto-Abschluss
seine weiteren Anschlussbedingungen gestaltet. in der ersten Violine mit schließendem Oktav-
Hier, in der Reprise, tritt es stark verkürzt auf, nur sprung im Horn (T. 247–252, ein Vorgriff auf die
anfänglich mit einem dynamischen Extremkon- Finale-Coda), schließlich das am Ende der Durch-
trast durchbrochen (T. 449 ff.), dann aber überbo- führung umgekehrte »Gesangsthema«, bei dem der
ten mit einer Idee, die in der Tat die Frage nach Oktavsprung zum Registerwechsel wird (T. 405–
der dahinter liegenden Erzählung aufwirft: Der 414), einmal jedoch auch seine zäsurierende Funk-
auf engschrittig schweifende Tonbewegungen so- tion einnimmt (T. 408, 2. Violine).
wie ein flüsterndes Pianissimo reduzierte Anhang
des dritten Themas (T. 559 ff.) läuft erneut auf die
2. Satz
musikalisch ›offene‹ zweite Stufe (e) zu und pen-
delt aus, um unvermittelt von der Fortissimo- Erste Ideen zum Adagio sollen Bruckner bereits in
Fanfare des Trompetenthemas gleichsam ver- der Frühphase der Werkentstehung gekommen
schlungen zu werden (T. 579–586). Diese acht sein: Das Andante-Thema (das zweite Thema,
Takte erscheinen wie ein Schnitt, aus einem ande- T. 41) notierte er am Namenstag seiner Mutter
ren Zusammenhang einmontiert, ein Schock da- (Theresa, 15. Oktober), das dritte Thema (»Miste-
mals wie heute: Der einen Halbton höher (auf f ) rioso«, T. 73) am darauf folgenden Tag oder auch
einfallende Satz führt die vibrierenden Streicher- am Weihnachtsabend 1872. Man mag die dahinter
bewegungen mit sich sowie den enggeführten, aus stehende Erzählung als Versuch einer Selbstmysti-
dem Vierton-Signet bestehenden Motivteppich fikation abtun, doch sagt schon der hier bei
(vgl. T. 397–400). Er endet offen und leitet sofort Bruckner erstmals in einer Vortragsangabe ge-
zur anschließenden Coda hin. Die zweiteilige nannte Charakter des »Feierlich« etwas über den
Coda lässt noch einmal für diesen Satz Typisches exzeptionellen Status dieses Adagio, das dem
Revue passieren: Crescendo, Tableau im dreifa- »Misterioso« des ersten Satzes gegenüber zumin-
chen Forte, äußerster dynamischer Kontrast sowie dest gleichkommen soll.
die dichte Engführung des Motto-Initiums in Auch bei diesem Es-Dur-Satz scheint es, als ob
verschiedener Form. Bruckner entsprechende Ansätze aus vorhergehen-
Nicht nur die Überdimensionierung – ohnehin den Sinfonien resümiert: die klar geschnittene
ein fragwürdiger ›Fortschritt‹ – oder abgründige Kantabilität des Themas aus der Annullierten wird
Tonartverhältnisse machen den Satz, das Werk in den Themenkopf übernommen. Die harmo-
überhaupt, schwer zu ›verstehen‹. Es ist die Idee, nisch vergrübelte Fortsetzung, Signet vor allem
dass die großen Tableaus der thematischen Zonen des langsamen Satzes der Ersten, gerät hier zu einer
von Gebilden gehalten werden, die ihrerseits kaum weit in die b-Tonarten (bis Ces-Dur) führenden
selbstständig sind, dennoch und gerade deshalb ein Meditation über den fallenden Sekundschritt. Als
158 Thomas Röder

gegenläufiges Moment in den ersten Themenab- Quartsextakkord im Fortissimo (1. Fassung,


schnitt integriert, setzt ein kurzes Crescendo über T. 233): Letzteres ein Novum im Brucknerschen
dem nunmehr chromatisch aufsteigenden Bass Œuvre, das zum Standardverfahren wird, sei es
den dynamischen Kulminationspunkt (T. 17–20), »Durchbruch« oder »Überhöhung« genannt. Die
auf den ein klassizistisch geschnittener Halbschluss in diesem Abschnitt der 1. Fassung in der ersten
im Piano antwortet. Die anschließende erneute Violine notierten berüchtigten Figurationsbänder
Konfrontation von Fortissimo und Piano (Halb- aus Zweiunddreißigstelsynkopen wurden vermut-
schluss) gehört mit ihrer Überwältigungsrhetorik lich von Anfang an als »unspielbar« angesehen.
zum expressiven Fundus der gesamten Sinfonie. Bruckner entwirft hier die in der Tat unerhörte
Es ist erstaunlich, in welch kurzem Zeitraum sich Klangvision eines in sich bewegten, zuweilen bis
hier die dynamischen Spannweiten entfalten, er- auf acht Stimmen unterteilten Saitenkörpers (die
staunlicher noch, dass dieser Vorgang Bestandteil Thematik ist den Bläsern anvertraut) mit einem
einer Exposition, einer ›Setzung‹, sein soll. Hier Gewebe aus Trillern, Achteltriolen und den er-
werden die Regeln des überkommenen Satzbaus wähnten Synkopenketten. Der zweite Teil des ex-
einfach gebrochen. ponierten Themas, das Crescendo über dem
Mit zwei Charakterthemen, beide im 3/4-Takt, chromatisch ansteigenden Bass (1. Fassung,
wird ein Wechsel der Tonfälle inszeniert, der den T. 239 ff.), wird ebenfalls expandiert, von G bis ges
Inhalt des Satzes ausmacht. Ist das Hauptthema, geführt, um hier mit dreifachem Forte das dyna-
zumindest dessen Eröffnung, als »feierlich« mit mische Maximum des Satzes zu markieren und
einem Zug ins Elegische zu umschreiben, so fügt zugleich die Rückmodulation nach Es-Dur anzu-
das zweite, konventionell gezirkelte, als Tenor bahnen (1. Fassung, T. 249–256).
unterhalb einer Akkordfläche eingeführte Thema Als Bruckner im Vorfeld der Aufführung von
das Moment des Schwärmerisch-Expansiven ein, 1877 zu Kürzungen gedrängt wurde, griff er in die
ganz im Sinn von Bruckners »Gesangsthemen«, Form des langsamen Satzes ein. (Im sogenannten
während die dritte, transitorische Gestaltung in »Adagio Nr. 2« von 1876 wurden vor allem die
karger akkordischer Sarabandenrhythmik ein re- »unspielbaren« Synkopen durch Dreiklangskaska-
duktives Zögern assoziieren lässt, sich von einer den ersetzt.) Mit der Beseitigung der ersten Wie-
entfernten Tonart aus (Ges-Dur) dem erneut vor- derkehr des Adagio-Themas und, im Gegenzug,
getragenen »Gesangsthema« nähert und dieses der Erweiterung von dessen verbliebenen Ab-
dann umso mehr in seinem Fließcharakter hervor- schnitten wurde die Idee einer stufenweisen figu-
hebt. rativen Anreicherung weitgehend aufgegeben; das
Der in der letzten Fassung vorliegende Wechsel Konzept der finalgerichteten A-B-A-Rahmenform
der drei Themen ist das Ergebnis von zwei Kür- erfuhr später, zur 3. Fassung, mit einer weiteren
zungen (1877 und 1889); die Umständlichkeit des Streichung eine konsequente Weiterentwicklung.
ersten Plans – eine Art Sonatenrondo mit repri- Nunmehr belastete Bruckner die Hauptthema-
senhafter Coda – wurde zunehmend auf eine final Reprise (3. Fassung, T. 154 ff.) mit typischen Ver-
ausgerichtete A-B-A-Struktur hin abgeändert. Ein fahren der Themenverarbeitung (Fragmentierung,
Vergleich der Buchstabenschemata mag das ver- Kontrapunktik, Klanggruppen- und Dynamik-
deutlichen (Tonarten hochgestellt, Durchfüh- kontraste) im Stil der gerade für ihn aktuellen
rungspartien kursiv); aus 1873 AEs BB CGes – BC – AEs Fünften Sinfonie. Unter dem völlig neu gestalteten
BG, Es CDes – AEs wurde 1889 AEs BB CGes – BC – AEs. Satzbild liegt freilich dieselbe Strategie des doppel-
Es geht nicht aus diesem Schema hervor, dass ten Höhepunkts (T. 170, 178) wie in der 1. Fassung.
es die Idee von 1873 war, ein stetig wachsendes fi- Ebenso wenig vermag die 1889 zum abschließen-
guratives Leben um die Themen herum zu entfal- den, von Ges-Dur ausgehenden Höhepunkt
ten, das, im letzten Auftritt des Hauptthemas, alle (T. 188–199) hinzugekommene Trompetenmelodie
vorhergehenden Erscheinungen des Satzes deklas- das ursprüngliche Konzept der Überwältigungs-
siert: Der eröffnende Viertakter breitet sich in rhetorik, der werktypischen kontrastiven Schnitt-
simplifizierter Wiederholungssequenz gleichsam technik, zu vertuschen. In der Tat könnte diese
hymnisch aus und mündet in einen C-Dur- Melodie, hinter der zuweilen – und zu Unrecht –
Die Dritte und Vierte Sinfonie 159

»ein Schalk« vermutet wurde, das Brucknersche sicht schnörkellos »moderne« Satz fand offenbar
Komponieren als Handhabung harmonisch-dyna- weitgehend Zustimmung; Bruckner hat ihn durch
misch bewegter Orchesterbilder, deren themati- alle Fassungen hindurch nur in Details abgeän-
sche Sättigung nur gering zu sein braucht, ex ne- dert.
gativo verdeutlichen.
4. Satz
3. Satz
Im Finale seiner Dritten Sinfonie entwickelt
Im Scherzo wird der mit einer Abwärtstonleiter Bruckner erstmals den einfachen Gedanken, die
überkrönte C-Dur-Quartsextakkord des letzten thematische Feststellung des ersten Satzes in sinni-
Adagio-Teils (siehe dort, 3. Fassung, T. 178) aufge- ger Weise erneut zur Präsentation zu bringen und
nommen und in einen völlig anderen Bewegungs- damit auch den gesamten sinfonischen Zyklus
kontext gebracht. Die im Anschluss an das abzuschließen. Bereits die Gestalt dieser Feststel-
Scherzo-Hauptthema eingeführte, überwiegend lung – es handelt sich um nichts anderes als das
chromatische Aufwärtsbewegung kulminiert, wie Trompetenthema – verwirklicht in jedem ihrer
auch im Adagio, in einem Quartsextakkord, der beiden Viertakter eine Schlussformulierung und
gleichfalls auf g aufgebaut ist (T. 43); die Abwärts- scheint schon von vornherein auf ihre finale Funk-
skala bewegt sich (ebenfalls wie im Adagio) auf ein tion angelegt worden zu sein. Das mit der letzten
zunächst harmonisch disparates Schlussglied hin. Fassung von 1889 vorliegende Finale ist zwar Er-
Mit dem eröffnenden Crescendo samt anschlie- gebnis zweier Eingriffe, die Kenntnis der ur-
ßender Quart-Quint-Thematik fließen Elemente sprünglichen Gestaltungen und später gekürzten
des ersten Satzes ein, und die eröffnende ›Kenn- Passagen muss aber deshalb nicht notwendiger-
marke‹ des Scherzo-»Gesangsthemas«, der Sext- weise zu einem ›Verständnis‹ des Satzes beitragen.
sprung (T. 61 ff.), erweist sich als ›Überterzung‹ Im Folgenden sei trotzdem eine ›integrale‹ Be-
des zweiten Adagio-Themas. Am Punkt des drit- schreibung versucht. Ausgangspunkt ist die Fas-
ten Satzes beginnt die zyklische Selbstreferentiali- sung von 1889; auf diese Fassung beziehen sich die
tät, in die sich nicht zuletzt auch die »dienende« Taktangaben, sofern nicht anders vermerkt.
Motivik einbeziehen lässt: Für die thematische Die Aufgabe, das gesamtsinfonische Haupt-
Umspielungsfigur des Scherzo (T. 1) findet sich im thema in sinniger Form einzufädeln, versucht
Adagio ein ›Vor-Bild‹ (z. B. T. 112), vor allem, Bruckner in der ersten Version des Finale auf der
wenn der ursprüngliche Satz herangezogen wird Grundlage eines ausgedehnten Sonatenhauptsat-
(Adagio 1. Fassung, T. 105, 129). zes zu lösen, dessen Hauptthematik auf den ersten
Die ›ländlerischen‹ Formulierungen, mit denen Satz zurückverweist und dessen Figurationsschicht
die formal notwendigen Sekundärteile (zweites im »Gesangsthema« (T. 65 ff., 2. Violine) auf die
Thema im Scherzo sowie Trio) besetzt werden, Binnensätze zurückführbar ist. Diese Figuration
geben lediglich den Anstoß zu figurativen Fort- – eigentlich eine Tonumspielung – mutiert
spinnungen über ausgeklügelte harmonische Ver- schließlich, monumental vergrößert und mit
bindungen. Bemerkenswert ist die auf spätere nachhallenden Synkopen amplifiziert, zum dritten
Scherzo-Entwürfe vorausweisende Idee im Trio, ›Thema‹ (T. 155 ff.). Könnten beide Momente –
das harmonische Ziel jeweils der beiden Abschnitte Finale-Hauptthema sowie Figuration – als ›Ak-
erst im letzten Moment, nach einer breit ausge- teure mit Vergangenheit‹ angesehen werden, so
dehnten iterativen Strecke, eintreten zu lassen. kommt mit dem doppelten »Gesangsthema« eine
Hingegen erreicht das Hauptthema seinen Prägung ins Spiel, deren Bedeutung bereits 1877,
Schluss ohne Verwendung konventioneller har- nach der ersten Aufführung, als »ungeschriebenes
monischer Stufen- und Kadenzbewegungen, allein Programm« kolportiert wurde: die Kombination
aus der Stringenz eines chromatisch geführten von Streicher-Tanzweise und Bläser-Choral als
Basses heraus, zuletzt unter origineller Umdeutung »Kontrast des Lebens«, als Meditation über das
des in der sogenannten »neapolitanischen« Wen- »Media vita in morte sumus«. Aus der zeilenweisen
dung liegenden Potenzials. Dieser in jeder Hin- Darbietung dieses Doppelthemas spinnt Bruckner
160 Thomas Röder

einen Verlauf, der allein aufgrund seiner Länge (in riose Darstellung des Chorals aus der Gesangspe-
der 3. Fassung immer noch 90 Takte) geradezu als riode. Bei der Vorbereitung der Aufführung 1877
gestalterisches Eigenterritorium innerhalb des wurde offensichtlich klar, dass breites Erzählen
Satzes gelten kann. (Der Choral bekommt in der nicht dem formalen Ort entspricht. Bruckner
ersten Fassung immerhin einen bedeutsamen kürzte vehement den benannten Teil, und zur
Auftritt an einem der Höhepunkte der Durchfüh- Aufführung fiel überdies die Reprise des Finale-
rung, zusammen mit dem versteckt in den Holz- Hauptthemas weg (in der 2. Fassung T. 379–432).
bläsern erklingenden gesamtsinfonischen Motto Die Reprisen-Kürzung wurde im Erstdruck mit
[1. Fassung, T. 399 ff.]; dies wird in den folgenden »vi-de« vermerkt, im Zweitdruck (der 3. Fassung
Umarbeitungen fallen gelassen.) also) dann realisiert. Als einziges retardierendes
Wie ist nun das Konzept der Wiederaufnahme Moment blieb 1889 schließlich die Reprise des
des Trompetenthemas angelegt? Bruckner sichert »Gesangsthemas« stehen, denn das darauf folgende
den Vorgang zweifach. Zum einen greift er mit Feld des dritten Themas wurde zu einer kurzen
dem Finale-Hauptthema unverkennbar den ver- Nachdurchführung verknappt und zielstrebig in
trauten Fanfarenrhythmus auf, der das Initium des die oben beschriebene Kombination von Fanfare
Gesamtmottos prägt. Allerdings tauscht er die und Coda geführt (T. 443 ff.).
Quint-Oktav-Setzung vom Sinfoniebeginn durch Auch hier konnte es keine Restitution des frü-
eine Wendung aus, in die Dissonanz und folgende heren Zustands mehr geben. Denn noch in der 2.
Auflösung eingeschrieben ist. Diese Auflösung ist Fassung meldet sich das Initium des sinfonischen
aber gemäß der harmonischen Konvention nicht Mottos in ankündigender Weise, und zwar einge-
final zu verstehen, sondern dominantisch, verlangt bettet in die Fortführung des dritten Themas (2.
also ihrerseits eine Weiterführung. Der transitori- Fassung, T. 519–534) – dies, nachdem das gesamte
sche Charakter des in seiner Fortführung übrigens Trompetenthema schon zitiert wurde. Nur vor
mehr zum Amorphen tendierenden Themas er- dem Hintergrund der 1. Fassung ergab dieses Vor-
scheint in ganzer Sinnfülle am Ende des Satzes, gehen einen Sinn: Die Ankündigung war Teil eines
wenn es als Bass eines Bläsersatzes in die Coda mehrstufigen, über die komplette Sonatenform
führt, deren alleiniger Inhalt das Wiederauferste- gelegten Prozesses, der mit einer Andeutung der
hen des gesamtsinfonischen Trompetenthemas ist Bewegungsformen des Mottos am Ende der Expo-
(T. 443 ff.). Zum anderen sieht Bruckner im sition beginnt, unbestimmt und gleichermaßen
Formverlauf des Finale einen weiteren Punkt vor, auf das Finale-Hauptthema wie auch das Trompe-
an dem das Trompetenthema sich gleichsam an- tenthema beziehbar (1. Fassung, T. 245 ff.) und in
kündigt: Dieser Punkt liegt kurz vor dem Ende der Reprise fortgesetzt wurde (siehe oben, in der 1.
der Durchführung (einer ausgedehnten Paraphrase Fassung T. 641 ff.).
der ersten 60 Takte) und ähnelt jenen ›Marken‹, Der Durchführung, deren Furor noch an man-
die im ersten Satz zum Ende von Exposition und che vehemente Passage der Ersten Sinfonie erinnert,
Reprise eingefügt wurden (T. 323 ff.); dieser vom teilt Bruckner in diesem narrativen Kontext die
Fortissimo ins Pianissimo führende, das Thema Rolle eines dramatisch verfehlten Wegs zu: Das
mehrfach ins G-Dur-Dreiklangsgerüst projizie- Trompetenthema erscheint nur kurz und beiläufig
rende Achttakter entfaltet eine gleichsam ›visio- in Flöte und Oboe (1. Fassung, T. 399). Der
näre‹ Anmutung, strahlt sozusagen auf die Coda Durchführungshöhepunkt, nach dem bereits er-
voraus, die letztmalige Präsentation des Ge- wähnten Auftritt des Chorals erreicht, wird mit
samtthemas. einer d-Moll-Klangfläche markiert, die zwar mo-
Die Einfügung des ›visionären‹ Achttakters ist tivisch gesättigt ist – die Streicherfloskeln enthal-
Ergebnis der Umarbeitung vom Frühjahr 1877 (2. ten gar die Töne des zweiten Hauptthemas vom
Fassung, T. 341 ff., dort mit »Thema« bezeichnet). ersten Satz –, aber gleichsam ohne den erwarteten
Bruckner überarbeitete die hinführende Partie, die ›Hausherrn‹ im dreifachen Forte leerläuft (1. Fas-
das Finale-Hauptthema zum Gegenstand hat, und sung, T. 415–418). Die drei Hauptteile des Sona-
behielt, auf den Achttakter folgend, noch die ur- tensatzes werden also zu Stationen der Epiphanie
sprüngliche Durchführung von 1873 bei, eine fu- des Trompetenthemas, ohne dass dies vordergrün-
Die Dritte und Vierte Sinfonie 161

dig deutlich wird. Das triumphale Erscheinen des


Klang
gesamtsinfonischen Trompetenthemas nach zwei
Anläufen – der Durchführung und, nach kurzem Die klangliche Differenz zu den Folgefassungen ist
Intermezzo des »Gesangsthemas«, einer zweiten gewiss nicht auf einen, und schon gar nicht auf
Durchführung – wird in der 3. Fassung stringent einen kleinen Nenner zu bringen. Einige Aspekte
herbeigeführt; das sonatenformal »korrekte« Kon- seien dennoch benannt: Die vielfältige Anwen-
zept der ersten Fassung, episch angereichert mit dung des Zeichenrepertoires erzeugt eine Ände-
Vorformungen und Rückblenden (zu erwähnen rung des Klangs; man vergleiche die ›Polka‹ im
sind in diesem Zusammenhang noch die Zitate Finale der ersten beiden Fassungen miteinander
der vorhergehenden Sätze, kurz vor der Hinleitung (T. 69/65). Erst allmählich erschließt sich Bruck-
zur Coda: 1. Fassung, T. 675 ff.), ist im letzten Fi- ner den Bereich des tiefen Blechs; Posaunen sind
nale völlig ausgelöscht. Die unzivilisiert hereinbre- zuerst fast immer um die Tenorlage herum notiert.
chenden, raumgreifenden Themen des Finale, das Eine vielfach bereits benannte Tendenz besteht
erste und das dritte Thema, die den bedrohlich- darin, dass Partien, die in der 1. Fassung der Drit-
kontrastiven Charakter der Sinfonie zum Schluss ten Sinfonie nur bewegte Harmonie tragen, also
noch einmal steigernd rekapitulieren, ›stören‹ im ›Klang‹, zur 2. Fassung motivisch ›befüllt‹ werden.
Arrangement von 1889 wenigstens in der Schluss- Prominente Passagen sind etwa der hinzugefügte
phase nicht mehr die Inszenierung der ohnehin »Choral« im ersten Satz (2. Fassung, T. 203) oder
lärmenden Motto-›Auferstehung‹. Freilich erweist die Fortsetzung des Adagio-Themas (T. 9 ff.).
sich der Grundcharakter des Satzes als durchaus
resistent gegenüber den Umarbeitungen; keine
Kürzungen
Fassung des Werks ist dazu geeignet, sich in die
Gunst von Publikum und Kritik dauerhaft einzu- Die Erstfassung der »Wagner-Sinfonie« hat mit
schmeicheln. 2052 Takten den größten Umfang aller Bruckner-
Sinfonien. Allein die Exposition des ersten Satzes
umfasst mehr als das Dreifache derjenigen der
Differenzen: Die erste Fassung
Annullierten Sinfonie (88 : 284 Takte). Noch 1875
als spontaner Wurf
erbot sich Bruckner, die Sinfonie in zwei Teile
Die Komposition der Dritten dürfte sich direkt in geteilt aufführen zu lassen, um dem Vorwurf der
die Partitur eingeschrieben haben. Skizzen sind Überlänge zu begegnen. Frühestens im Laufe des
nicht mehr erhalten, doch ist es erstaunlich, dass Jahrs 1876 begann der Komponist, sein Werk in
selbst unter prominenten Prägungen wie den allen Sätzen außer dem Scherzo zu kürzen. Vor
Hauptthemen des ersten und zweiten Satzes je- allem die Überleitungsteile der Ecksätze wurden
weils Vorgängervarianten zu lesen sind. Bruckner für diese Maßnahme als geeignet erachtet. Das
der Improvisator gibt hier gleichsam dem radier- Ergebnis der Kürzung erhellt den gleichsam epi-
messergewandten Schullehrer die Hand. Bei der schen Ansatz des Werks, indem sich satzübergrei-
Ausarbeitung, wie sie in der Widmungspartitur zu fende Beziehungen gerade auf dieser formal-the-
sehen ist, ist vor allem das minimale Repertoire an matisch untergeordneten Ebene auftun. Bruckner
Artikulations- und Akzentzeichen hervorzuheben. entfernt im ersten Satz den größten Teil der brei-
Der Staccatopunkt wird äußerst zurückhaltend ten Rückleitung zur Reprise, eine Folge von drei
verwendet, und mit dem dachförmigen Zeichen scheinbar unverbundenen Formulierungen
(ȁ) kommt erst in den späteren Überarbeitungen (T. 459–502; im Folgenden stets Taktzahlen der 1.
eine zweite Ebene dynamischer Betonungen in die Fassung), sowie, im Finale, den 27 Takte umfas-
Partitur. Trotz zahlreicher verbaler Anweisungen senden Brückenteil zwischen den beiden ohnehin
(»marcato«, oder »lang gezogen«) bleibt vieles of- ausgedehnten Präsentationen des »Gesangsthe-
fen und war vermutlich schon für die professionel- mas« (T. 134–160). Beiden Abschnitten auffällig
len zeitgenössischen Dirigenten unklar. gemeinsam ist ein chromatisches Tonsatzmodell,
auffällig durch die kreisende Tonumspielung und
den – gleich einem ›Noema‹ – aus dem Kontext
162 Thomas Röder

heraustretenden Akkordsatz und an das Haupt- mag auf die Fernbeziehung dieser Stellen verwei-
thema der Zweiten erinnernd. Beide Male geht sen. Denn immerhin teilen sie den chromatischen
diesem ›Noema‹ die kurze Ausspinnung eines in Umspielungssatz miteinander, und dieser hat auch
der Art kontrapunktischer Themensubjekte for- insofern Teil an Bruckners epischem Andeutungs-
mulierten Gedankens voran – ganz im Vorder- verfahren, als er im Finale von einer im dreifachen
grund im ersten Satz (T. 463 ff.), etwas vom figu- Piano angedeuteten Präfiguration des dritten The-
rativen Streichersatz überwuchert im Finale mas, ebenfalls eine Umspielungsfigur, ausgelöst
(T. 130 ff.). Von der resultierenden Oberstimme wird (1. Fassung, T. 147–150).
her gesehen folgt diesem rasch Höhe gewinnenden Die neue Überleitung zur Reprise ist um 40
Anfangsthema ein längeres Sinken in chromati- Takte kürzer und auf zwei (statt mindestens vier)
schen Schritten. Bemerkenswert ist nun, dass die Gedanken reduziert, deren bruchlose Verknüp-
Passage im ersten Satz als hervorragendes Kennzei- fung mit dem Mittel melodischer Kohärenz her-
chen der 1. Fassung der Dritten Sinfonie gilt: als gestellt ist. Bei der eigentlichen Überleitung greift
Ort der »Wagner-Zitate«. Lange Zeit wurden diese Bruckner mit Sequenz und rhythmischer Imita-
Zitate als »naive Huldigung« (Göll.-A. 4/1, 271) tion auf bewährte Verfahren der Zusammenhangs-
verstanden, und dementsprechend ihre Beseiti- bildung zurück. Zusammen mit der radikalen
gung als unmittelbar verständlicher Ausdruck Komprimierung im wiederholten Hauptthemen-
schöpferischer Autonomie. Nach wie vor lässt sich Crescendo (32 Takte) sowie verschiedenen Modi-
ein Bemühen um die semantische Dechiffrierung fikationen in der Harmonieführung und im Ge-
dieser Passage beobachten. Doch ist überhaupt der neralpausenmanagement vermochte der Kompo-
»Zitat«-Charakter dieser Stelle von erklärungsbe- nist den ersten Satz um 94 Takte zu verkleinern.
dürftigem Status, wenn philologisch-biographische
und ästhetisch-analytische Methoden ins Spiel
Zum Gehalt
kommen. Bruckners Hang zur Verrätselung zeigt
sich in der bereits benannten Schlusspartie der Bruckner bot bei seinem Besuch in Bayreuth 1873
»Wagner-Zitate«: die Endphrase des Trompe- sowohl die Zweite als auch die gerade im ersten
tenthemas als Cantus firmus, kaum hörbar, als Durchgang fertiggestellte Dritte Sinfonie dem
Bass eines vierstimmigen Satzes, der eine strin- »Meister aller Meister« (so Bruckner 1885 an Eva
gente Fortführung des vorhergehenden acht- bis Wagner; vgl. Briefe 1, 249) zur Widmung an. Ob
elfstimmigen Akkordsatzes darstellt, zugleich je- die Komposition daraufhin modifiziert worden
doch unmerklich den Schritt in die immanente ist, lässt sich nicht nachweisen, im Fall der »Wag-
»Zitat«-Ebene zu vollziehen scheint (T. 491 ff.). ner-Zitate« jedoch auch nicht falsifizieren: Die
Das akkordische Gebilde wiederum, oft mit dem entsprechenden Manuskriptteile, aus denen die
»Schlafmotiv« aus der Walküre zusammenge- Nachträglichkeit der ›Zitate‹ zu ersehen wäre, sind
bracht, lässt sich ebenfalls als Cantus-firmus-Bear- nicht mehr erhalten.
beitung betrachten (T. 479 ff.): Die Hauptstimme Die schroffen Gegensätze, die Schnitte und
liegt im Sopran und besteht aus einer chromatisch Gewaltsamkeiten prägen die Signatur der gesam-
absteigenden Skala; diese hält frei als Klangkette ten Komposition; sie »dramatisch« zu nennen,
platzierte Dreiklänge in Grundstellung zusammen. mag eine Brücke zur Welt Wagners schlagen, doch
Die ersten vier Töne erweisen sich als die Initial- mehr eine solche des Begriffs. Allenfalls ließe sich
töne des zweiten Hauptthemas; dies erklärte auch die Konfrontation der emotionalen Sphären des
die einzige als Ganztonschritt abweichende Bewe- Tannhäuser-Vorspiels oder enggeführte Perspektiv-
gung e’’’-d’’’. Und selbst die Umspielung der wechsel im Tristan (etwa die Ankunft Tristans in
›Noema‹-Figur findet sich vorgeformt in der vor- Kornwall), um die seinerzeit Bruckner bekannten
angehenden Passage, die das »Gesangsthema« stark Bühnenwerke zu nennen, als ein für den Sinfoni-
paraphrasiert und hier als Beginn der Überleitung ker essenzieller Spiegel eigener Ausdrucksträume
gelten kann (T. 450 ff.). Dass Bruckner sowohl deuten. Ein meist übersehenes Moment der Wid-
diese Überleitung als auch jene im Finale entweder mungsgeschichte, auf das Ernst Herhaus hinge-
(wie im Finale) ersatzlos streicht oder umgestaltet, wiesen hat (Herhaus 1995, 53 f.), könnte den
Die Dritte und Vierte Sinfonie 163

Schlüssel für eine Deutung liefern, die vom Finale lage als Doppelvariation, aus dem Finale den
her durchaus auf das ganze Werk applizierbar ist: Rückblick auf die vergangenen Sätze. Vor allem
Bruckner berichtet, dass Wagner ihm unter ande- Details zur kontrastiven Expressivität finden sich
rem seine künftige Grabstätte im Garten von im ersten Satz der Neunten vorgeformt: Akkord-
Wahnfried zeigte. Es besteht kein Zweifel, dass schläge mit pianissimo-Antwort in den Holzblä-
Bruckner diesen Moment als Bestätigung seiner sern (T. 102–110, daneben auch T. 27–30 und
Affinität zum Bayreuther Meister empfand. So weitere Stellen), einfache Klangketten (T. 266–
wird die für alle Fassungen beibehaltene Vor- 269), retardierende Formalkadenzen (T. 196 f.)
tragsangabe des ersten Satzes, »misterioso«, ge- oder die Aufnahme solcher Kadenzen mit dem
nauso wie das Doppelthema von Polka und Choral hinzutretenden Tutti (T. 413 ff.). Vielleicht bedeu-
im Finale, zum Zeichen dafür, dass es in dem d- tete dieses offene Anknüpfen an ein berühmtes
Moll-Werk, das ja auch mit Mozarts Requiem die Modell die eigentliche Mutprobe des Sinfonikers,
Tonart teilt, um nicht weniger als wesenhaft und die Annullierte d-Moll-Sinfonie von 1869 das
ernste, wenn nicht gar um die letzten Dinge geht. kleinmütige Vertuschen einer solchen Abhängig-
Mit dem Trompetenthema der Dritten setzt, erst- keit, die Zweite Sinfonie ein Ausweichen in einen
mals im sinfonischen Zusammenhang, eine mehr lyrischen Tonfall.
»Majestas«-Semantik den thematischen Prozess in Das »schwierige Durchbruchswerk« (Gülke
Gang (Wagner 1972). Vor diesem Hintergrund 1989, 76) fand zu keiner Zeit uneingeschränkte
gewinnt auch die methodisch bedenkliche Inter- Zustimmung, und es besteht erst recht kein Kon-
pretation durch Textunterlegung (»Ich bin der sens über die Beurteilung der einzelnen Fassungen.
Herr«), die Ilmari Krohn vorschlug, den Charme Doch wenn man einem Werk Bruckners die Qua-
einer einleuchtenden Spekulation (Krohn 1955, lität eines Lebenszeugnisses zusprechen möchte,
305). Ja, selbst eine profane Umdeutung wie jene dann ist die Dritte Sinfonie die erste Wahl.
in ›Macht und Ohnmacht‹ (auch dies ein Vor-
schlag von Ernst Herhaus) markiert musikalische
Ausdrucksmomente der »Wagner-Sinfonie« und
darüber hinaus die gegensätzliche Stellung von
Widmungsträger und Komponist im damaligen
Musikleben. In diese Perspektive fügt sich eine
Anmerkung, die Bruckner vermutlich um 1876 in
der ersten Niederschrift eintrug; es heißt bei Takt
165 (3. Fassung: T. 133) im ersten Satz, zwischen
den Forte-Einwürfen der »Gesangsperiode«: »NB
zeigt Kleinmuth, Verwirrung«.
Dass sich der ohnmächtige sinfonische Neu-
ling, über die Assoziation mit Wagner hinaus, des
mächtigsten Archetyps der klassisch-romantischen
Sinfonie bediente, entging den Zeitgenossen nicht
und ist etwa mit Hanslicks viel zitiertem Dictum
von Beethovens Neunter, die »mit Wagner’s ›Wal-
küre‹ Freundschaft schließt und endlich unter die
Hufe ihrer Pferde gerät« (Göll.-A. 4/1, 480; Klüp-
pelholz 1983, 200; Röder 1997, 387), feuilletonis-
tisch zugespitzt dokumentiert. Bruckner, der
Beethovens Neunte spätestens 1867 erstmals hörte,
übernahm aus deren instrumentalem Teil be-
kanntlich einige Ideen: aus dem ersten Satz die
Hauptthemapräsentation, die Durchführungsdra-
maturgie und die Coda, aus dem zweiten die An-
164 Thomas Röder

Die Vierte Sinfonie empfiehlt, indem er neben dem Beginn der Neun-
ten Sinfonie denjenigen der Siebten und Vierten
Wenn es für ihn nicht bereits längst feststand, so stellt, genau die Sinfonien Bruckners, die bis heute
scheint es, wurde es ihm nunmehr deutlich, dass das Repertoire dominieren (Halm 1923, 58). In der
das Komponieren großer Sinfonien sein »Lebens- Eröffnung der Vierten Sinfonie jedoch glaubt man
beruf« sei. Denn obwohl die überlieferten Daten recht eigentlich den »Inbegriff des Brucknerschen
zur Entstehung der Vierten Sinfonie davon zeugen, Instrumentalmelos« zu sehen (Hansen 1987, 205),
dass dieses Werk offenbar in einem Zug und in der immer wieder mit Begriffen wie »Natur«, »Religi-
erstaunlich kurzen Zeit von knapp elf Monaten osität« und »Romantik« illustriert.
fertiggestellt wurde, betrachtete sich Anton Bruck-
ner als eingeengt vom Brotberuf: Der Komponist
Entstehung
stellte Anträge auf regelmäßige Subvention und
bemühte sich um eine Lehrstelle an der Universi- Bruckner arbeitete sich bei der Komposition des
tät, um, wie es Eduard Hanslick richtig sah, mehr zunächst prosaisch mit »Symfonie Nr. 4« betitel-
Zeit zum Komponieren zu haben. ten Werks durch die Sätze; er begann am 2. Januar
Freilich fand die Vierte Sinfonie mit der in- 1874, schloss den ersten Satz mit dem 26. März ab
stinktsicher hingeworfenen Satzfolge, mit dem in und begann am 10. April den zweiten Satz. Nach
seiner geradezu überbordenden Gestaltenvielfalt dessen Beendigung am 10. Juni folgte die Arbeit
großzügigen, den Gedanken zyklischen Zusam- am Scherzo (vom 13. Juni bis zum 25. Juli). Mit
menhalts jetzt auf alle Sätze ausdehnenden Kon- dem Finale, am 30. Juli in Angriff genommen,
zept noch lange nicht eine abschließende, vom führte Bruckner am 22. November »1/2 9 Uhr
Komponisten, Interpreten und Publikum durch- abends« die Komposition vorerst zum Ende.
gängig akzeptierte Form. Vielmehr unterzog sie Hiermit fand aber auch der schöpferische Elan
Bruckner wie keine andere Sinfonie einer Meta- des Komponisten ein vorläufiges Ende. Der Rest
morphose, die von der Eigenkorrektur des Takt- des Jahres galt ersten Umarbeitungen an der Drit-
rhythmus und der Instrumentierung über den ten Sinfonie, und die Gemütsverfassung Bruckners
Austausch einzelner Sätze, insbesondere von tritt so recht in jenem Brief zutage, den er an sei-
Scherzo und Finale, bis hin zur endgültigen Fer- nen Förderer Moritz von Mayfeld zum Jahresbe-
tigstellung in der arbeitsteiligen ›Werkstatt Bruck- ginn 1875 richtet. Der Brief beginnt zwar mit der
ner‹ ging. Ohne Zweifel ist hier Bruckners erfolg- lapidaren Feststellung, dass die »4. Symfonie [...]
reichster Wurf gelungen; spätestens seit 1897 führt fertig« sei, doch lässt die zentrale Botschaft: »Kein
dieses Werk die Statistik der Aufführungszahlen Mensch hilft mir« sowie das Postskript »Was soll
an. Wenn es die Aufbruchstimmung, Bruckners ich thun?« keinen Zweifel an der Niedergeschla-
»stärkste Hinauswendung an strahlende, natur- genheit Bruckners (Briefe 1, 153 f.). Erst eine Wo-
hafte Lebensbetonung«, war, die Ernst Kurth dazu che vor dem Besuch Richard Wagners in Wien,
bewogen hat, die Vierte Sinfonie an den Anfang am 14. Februar 1875, datiert der Komponist eine
der Einzelbetrachtungen seiner Bruckner-Mono- Skizze zum Adagio der nächsten Sinfonie; die
graphie zu stellen, so kann vielleicht überhaupt Fertigstellung der Fünften sollte sich bis in den
mit dieser Anmutung der bis heute andauernde Mai des darauf folgenden Jahrs hinziehen. Bruck-
Erfolg des Werks begründet werden (Kurth 1925, ners Bemühungen in jener Zeit galten darüber
599 f.). Das »Bild des Werdens, der aufstrahlenden hinaus, wie bereits bemerkt, einer Lektorenstelle
Schöpferfülle«, mit dem Kurth seine Besprechung für Musiktheorie an der Wiener Universität, ein
der Vierten Sinfonie beginnt, gehört zu den am Ziel, das er allen Widrigkeiten zum Trotz im No-
häufigsten beschworenen Stereotypen bei der Be- vember erreichte. Ferner keimte offenbar der Plan
schreibung Brucknerschen Beginnens (Kurth 1925, zu einem Requiem auf (datierte Skizze vom 18.
606). September 1875), der wohl vom Erfolg inspiriert
Auch August Halm glaubt bei diesem Anfang war, welcher Giuseppe Verdis Meisterwerk in
»etwas wie Schöpfungsluft einzuatmen«, empfin- Wien zuteil wurde. Schließlich trug Bruckner
det »ganz die Heiligkeit des Ursprünglichen« und Anfang August 1875 seine »Wagner-Sinfonie« den
Die Dritte und Vierte Sinfonie 165

Wiener Philharmonikern erneut zur Aufführung Benjamin Bilse weitergeleitet werden; Bruckner
an; der erste Satz des Briefes beginnt mit den war der festen Annahme, dass die Vierte Sinfonie
Worten: »Nachdem ich nun meine 4. Sinfonie zur Fastenzeit in den populären »Bilsekonzerten«
bereits vor Monaten vollendete [...]« (Briefe 1, aufgeführt werden würde (Brief an Anton Ölzelt
157), ein weiterer Hinweis darauf, dass das Epithe- Ritter von Newin vom 7.2.1877; Briefe 1, 170).
ton des »Romantischen« noch nicht fest dem Titel Wann und auf welche Art und Weise die Nach-
zugewachsen war. Seit wann Bruckner, und von da richt vom Scheitern dieses Plans Bruckner er-
an so gut wie durchgängig, die Vierte als seine reichte, ist nicht bekannt. Der Komponist, der seit
»romantische« bezeichnete, ist nicht genau festzu- 1876 nach und nach seine Zweite und Dritte Sinfo-
stellen. Es kann vermutet werden, dass sein Besuch nie hinsichtlich des Taktgruppenbaus überprüfte
der Ring-Vorstellungen zu Bayreuth 1876 und der und einer allgemeinen Revision und vielfachen
damit verbundene Austausch mit zahlreichen Umarbeitung unterzog, nahm sich nach der Been-
Wagnerianern ihn auf die Idee brachte, den Titel digung der Arbeit an der Dritten Sinfonie (28.
der Sinfonie in Anlehnung an Wagners Gattungs- April 1877) die »Romantische« vor und schrieb
bezeichnung der »romantischen Oper« zu spezifi- sofort, am 1. Mai, an Tappert:
zieren. In jedem Fall eröffnete ihm sein Bayreuth-
»Gestern nahm ich die Partitur der 4. Sinfonie zur Hand
Besuch eine Möglichkeit, die Vierte zur Auffüh- u sah zu meinem Entsetzen, dß ich durch zu viele Imita-
rung zu bringen, und zwar in Berlin. Der Berliner tionen dem Werk schadete, ja oft die besten Stellen der
Musikschriftsteller und Wagnerianer Wilhelm Wirkung beraubte. Diese Sucht nach Imitationen ist
Krankheit beinahe. Ich meine, das dürfte H Bilse [...]
Tappert war offenbar Willens, sich für Bruckner bestimmt haben, selbe nicht aufzuführen.« (Briefe 1,
in diesem Sinn zu verwenden. Recht bald schon, 172)
am 19. September 1876, erhält Tappert vom Kom-
ponisten die Mitteilung, dass »so eben [...] die Hiermit hatte Bruckner ein typisches Moment
Copirung meiner 4. romant. Sinfonie beendet wor- seines Stils von 1874 und 1875 durchaus treffend
den« sei: charakterisiert. Sein Vorschlag an Tappert, statt
der Vierten die Zweite Sinfonie in Berlin zu lancie-
»Mein höchster Stolz wäre es, wenn ich so glücklich sein
könnte, dieß Werk, worüber sich competente Persönlich- ren, fand offenbar keine Resonanz. Die Vierte je-
keiten zu schmeichelhaft aussprachen, in der Residenz denfalls ließ Bruckner liegen und wandte sich der
unseres großen Vaterlandes [i.e. Berlin] aufgeführt zu Revision der Ersten Sinfonie sowie der Überarbei-
wissen.« (Briefe 1, 161)
tung der Fünften zu. Erst im Vorfeld zur Auffüh-
Wenn nicht alles täuscht, ließ Bruckner sofort rung der »Wagner-Sinfonie«, als die konkrete
nach seiner Rückkehr von Bayreuth eine Zweit- Kritik ihres designierten Erstdirigenten Johann
schrift von Partitur und Stimmen herstellen; da er Herbeck den Komponisten zu eingreifenden Än-
seinen Resturlaub (bis zum 15. September) in St. derungen von Adagio und Finale der Dritten
Florian verbrachte, muss dies praktischerweise in zwang, und sicherlich ganz unter dem Eindruck
Linz geschehen sein, etwa bei seinem damaligen dieser Diskussion, erstattete er Tappert erneut
Hauptkopisten Carda. (Dies bedeutet überdies, Bericht, verbunden mit dem (auch schon im Mai
dass Bruckner die Partitur der Vierten bei den vorgebrachten) Wunsch, das nach Berlin gesandte
Bayreuther Festspielen mit dabei hatte.) Material zurück zu erhalten:
Die weiteren erhaltenen Schreiben Bruckners
an Tappert geben Aufschluss über die Motivatio- »Ich bin zur vollen Überzeugung gelangt, dß meine
4. romant. Sinfonie einer gründlichen Umarbeitung drin-
nen und Verfahrensweisen bei der ersten Umarbei- gend bedarf. Es sind z. B. im Adagio zu schwierige, un-
tung der Vierten. Zunächst schien alles bestens für spielbare Violinfiguren, die Instrumentation hie u. da zu
Bruckner zu laufen; Anfang Dezember wünschte überladen u. zu unruhig. Auch Herbeck, dem dieß Werk
überaus gefällt, machte dieselben Bemerkungen u. be-
der Komponist einige Details im zweiten Satz ge- stimmte mich in meinem festen Entschlusse, diese Sinfo-
ändert und sandte deshalb an Tappert ausführli- nie theilweise neu z u b e a r b e i t e n .« (Briefe 1, 175)
che, mit sorgfältig disponierten Partiturauszügen
illustrierte Anweisungen (siehe die Faksimile-Ab- Das Schreiben datiert vom 12. Oktober 1877, und
bildung in Briefe 1, 165). Diese sollten dann an fast ein Jahr später (am 9. Oktober 1878) teilt
166 Thomas Röder

Bruckner mit, dass er »die vierte rom. Sinfonie (1., Ende 1884 bei Hermann Levi befand und 1885 an
2., 4. Satz) ganz neu u k u r z bearbeitet« habe: den Berliner Verlag Bote & Bock gesandt wurde;
»Nur das neue Scherzo bleibt mir noch übrig, welches die eine Publikation kam freilich ebenso wenig zu-
Jagd vorstellt, während das Trio eine Tanzweise bildet, stande wie eine Aufführung. Auch die Darbietung
welche den Jägern während der Mahlzeit aufgespielt des ersten und dritten Satzes 1886 auf dem Musik-
wird.« (Briefe 1, 179)
fest in Sondershausen – Franz Liszt hatte das Werk
Die Bearbeitung der erstgenannten Sätze nahm empfohlen – und die darauf folgende Prüfung der
Bruckner das ganze Jahr 1878 über in Anspruch (1. Partitur im Mainzer Verlag Schott eröffneten keine
Satz: 18.1.–25.6., 2. Satz: 26.6.–31.7., 4. Satz: 1.8.– Perspektiven für eine erfolgreiche Verbreitung.
30.9.), das neue Scherzo entstand im November; Schließlich gab Bruckner 1886 die revidierte Diri-
am 9. Dezember hielt Bruckner Tappert weiterhin gierpartitur dem Wagnerdirigenten Anton Seidl
auf dem Laufenden und berichtete von dessen nach New York mit, der dort das Stück zwei Jahre
Fertigstellung. Er ließ überdies eine Partiturkopie später aufführte. Mit der Partitur ist ein Wid-
sowie einen Satz Orchesterstimmen anfertigen mungsblatt erhalten, und es liegt nahe, dass
und war somit für eine Aufführung der »Roman- Bruckner, dem zur selben Zeit, 1886, der Franz-
tischen« gerüstet. Joseph-Orden verliehen wurde, die Vierte deshalb
Gleichwohl schien das Projekt für fast ein Jahr seinem obersten Dienstvorgesetzten, Obersthof-
zu ruhen. Während dieser Zeit muss in Bruckner meister Fürst Constantin von Hohenlohe-Schil-
der Gedanke an ein neues Finale herangereift sein, lingsfürst widmete.
gewiss ausgelöst durch den neu hinzukomponier- Das Interesse des Wiener Verlegers Albert Gut-
ten Satz. Für diese Arbeit benötigte Bruckner noch mann an einer Drucklegung der Vierten setzte
einmal ein halbes Jahr – vom 19. November 1879 schließlich von Ende 1886 an die letzte Phase der
bis zum 5. Juni 1880. In dieser Zeit wurde die Wie- Evolution dieser Sinfonie in Gang. Hermann Levi
ner musikinteressierte Öffentlichkeit auf die Sinfo- war es, der die Aufmerksamkeit Gutmanns auf die
nie aufmerksam gemacht – Hans Paumgartner »Romantische« lenkte, und Levi war es auch, der
und Karl Muck führten die Binnensätze auf dem die von Gutmann verlangten 1000 Mark Druck-
Klavier auf – und nach einer internen Durchspiel- kostenzuschuss aufbrachte, so dass im Frühjahr
probe der Philharmoniker im Oktober 1880 sowie 1887 mit der Ausarbeitung einer Stichvorlage be-
einer nichtöffentlichen Aufführung der ersten drei gonnen werden konnte. Bruckner beauftragte
Sätze mit dem Schülerorchester des Konservatori- hierzu seine jungen Schüler und Freunde, allen
ums erklang die Vierte Sinfonie erstmals vor Publi- voran Ferdinand Löwe, der auch die eigentliche
kum in einem Konzert des Wagner-Vereins am 20. Redaktionsarbeit übernahm. Eine von Levi auf
Februar 1881. Und ebenfalls zum ersten Mal den 14. Dezember 1887 angesetzte Aufführung in
brauchte Bruckner nicht selbst zu dirigieren; Hof- München musste jedoch kurzfristig abgesagt wer-
kapellmeister Hans Richter hatte die Leitung. den, da es an den noch nicht hergestellten Orches-
Spätestens nach diesem Konzert brachte Bruck- terstimmen fehlte. Somit kam Hans Richter zum
ner verschiedene Änderungen an; Ende November Zug, der Ende Januar 1888 in Wien die Vierte aus
ging die Dirigierpartitur, zusammen mit dem der Handschrift dirigierte. In dem darauf folgen-
Vorschlag, unter anderem die Reprise des Finale- den halben Jahr nahm sich der Komponist die von
Hauptthemas zu streichen, nach Karlsruhe an Löwe eingerichtete Partitur erneut und eingehend
Felix Mottl, der das Werk am 10. Dezember 1881 vor. Der schließlich Ende 1889 herausgekommene
zur Aufführung brachte. Druck musste jedoch aufgrund seiner Fehlerhaf-
Dieses Konzert zog keinerlei ermutigende Re- tigkeit noch einmal korrigiert werden. Die hieraus
sonanz nach sich (Bruckner scheint später einmal resultierenden Differenzen zum Stimmenmaterial
hierauf als eine »Calamität« anzuspielen; vgl. erschwerten die Aufführung dieser Partitur am 10.
Briefe 1, 303), was den Komponisten nicht davon Dezember 1890 in München (unter Levis Assisten-
abhielt, die Vierte weiterhin im Spiel zu halten. ten Franz Fischer), und erst 1892 wurde die Vierte
1882 oder später ließ er eine zweite Partiturab- Sinfonie in Wien unter Josef Schalk aus gedruck-
schrift anfertigen, von der bekannt ist, dass sie sich ten Stimmen gespielt.
Die Dritte und Vierte Sinfonie 167

Zu den Fassungen und Ausgaben komplett ausgetauscht wurde, wie etwa bei der
der Vierten Darstellung des Finale-Seitenthemas in der
Von allen Bruckner-Sinfonien, die in verschiede- dortigen Durchführung, mit der Blechbläser-
nen auktorialen Fassungen überliefert sind – das gruppe statt mit einem Streicher-Holzbläser-
sind alle gezählten bis auf die Fünfte, Sechste, Siebte Arrangement (Finale 1880; siehe unten). Hierzu
und Neunte Sinfonie – ist die Vierte Sinfonie in den gehören aber auch die zahlreichen subtilen
auf die erste Niederschrift folgenden Modifikatio- Änderungen wie etwa die »Tieferlegung« des
nen am tiefgreifendsten verändert worden. Hierbei Streichertremolos gleich zu Beginn, um den
sind zwei Stufen zu unterscheiden; diese Stufen Hornruf deutlicher davon abzusetzen.
spiegeln sich einigermaßen in den neueren Teil- − Auf der Ebene der Besetzung erschließt sich
editionen der Gesamtausgabe. Mit der ersten Bruckner mit der Hinzunahme einer Basstuba
Aufführung 1881 wurde eine »Romantische Sinfo- zum einen den sonoren Bereich der tiefen
nie« dargeboten, bei der die ersten beiden Sätze Blechinstrumente, zum anderen die zu jener
jeweils um etwa 50 Takte gekürzt wurden, das Zeit schon standardisierte Praxis des vierstim-
Scherzo durch eine Neukomposition ersetzt und migen Satzes von Posaunentrio mit hinzuge-
das Finale in seiner Formdisposition entscheidend fügtem Bass. Die Hinzufügung der Basstuba in
abgeändert wurde. Dieses Werkstadium bekam als der Fünften Sinfonie liegt zeitlich früher (offen-
Band IV/2 den Zusatz »Fassung 1878/1880« zuge- bar fühlte sich Bruckner nach der ersten Auf-
teilt, wobei sich die letztgenannte Jahreszahl auf führung von Brahms’ Zweiter Sinfonie 1877 –
das neue Finale bezieht. Die Differenz dieser Stufe mit Tuba – zu diesem Schritt legitimiert) und
zur Erstfassung 1874 ist größer als jene zur nach- gestaltet sich dort recht einfach, indem nur die
folgenden Druckfassung, da sie sämtliche Ebenen bereits vorhandene Basslinie verstärkt wurde.
der Komposition betrifft. In der Vierten kommt die Tuba erstmals diffe-
Zunächst sei ein Überblick über wesentliche renziert zum Einsatz; zudem arrangierte der
Änderungen der ersten Umarbeitung gegeben: Komponist den Blechsatz fast immer neu.
− Den in seinen Konsequenzen fraglos gewichtig-
− Durchgehend, doch für den unbefangenen sten Eingriff tätigte Bruckner mit dem Aus-
Leser, erst recht für den uneingeweihten Hörer tausch von Scherzo und Finale. Durch das neue
nur an wenigen Stellen direkt wahrnehmbar, Scherzo wurde frische Themensubstanz einge-
wurde das Gefüge der Taktgruppen, der »Peri- führt, die für alles nachfolgend Erklingende
oden«, nicht nur auf Einheiten von überwie- von Bedeutung war. Vielleicht stand am An-
gend acht (auch vier, sechs oder zwölf ) Takten fang eine Idee von zyklisch verbindenden Ele-
vereinheitlicht, sondern auch im Hinblick auf menten: der Idiomatik – Hornruf – sowie der
eine Schwerpunktdisposition abgeändert, bei Aufnahme des »2—3«-Rhythmus in den the-
der zwischen echten Zäsuren und transitori- matischen Zuschnitt. Das offenbar von Anfang
schen Abschnittsendungen unterschieden wird. an als »Jagd« konzipierte Charakterstück
Diese Neuordnung, oder, wie Bruckner es be- machte einen neu arrangierten, zumindest in
zeichnete, »rhythmische Regulierung« wurde seiner »sekundären« Themensubstanz abgeän-
1876 und 1877 an allen gezählten Sinfonien bis derten Finalsatz nötig.
zur Fünften nachträglich vorgenommen.
− Die »Instrumentation«, verstanden als figurativ- Der zweite Schritt hin zur Druckfassung kann als
motivische Ausschmückung eines Kernsatzes, Anpassung der Partitur an Aufführende und Pub-
wurde vereinfacht. Zu diesem Gestaltungs- likum verstanden werden. Die Tempo- und Phra-
komplex gehören auch die in den Briefen an sierungsbezeichnungen lassen für Dirigenten und
Tappert erwähnten exzessiven Imitationen Orchestermusiker kaum mehr Fragen offen, und
(etwa in der Coda des ersten Satzes) sowie die in der Führung vor allem der Bläserstimmen (für
»unspielbaren Violinfiguren« (im Andante). Bruckner die eigentliche »Instrumentation«) wird
Hierzu gehören auch Eingriffe, bei denen das die schon eingeschlagene Richtung einer Vereinfa-
Klanggewand des zugrunde liegenden Satzes chung weiter getrieben. Die zusätzliche Piccolo-
168 Thomas Röder

flöte freilich, die in den beiden letzten Sätzen mehr auch als Band IV/3 der Neuen Gesamtaus-
hinzutritt, dürfte kaum auf Bruckners Wunsch gabe herausgekommen.
zurückgehen. Ebenfalls in Scherzo und Finale be-
wirkt jeweils eine substanzielle Kürzung, dass
1. Satz
Umständlichkeiten, die von der orthodoxen
Formauffassung her geboten sind, vermieden Der erste Satz der Vierten Sinfonie und derjenige
werden (vgl. den Überblick bei Korstvedt 2004, des Vorgängerwerks scheinen in einer engen Be-
XII). Der Wegfall der Hauptthema-Reprise im ziehung zueinander zu stehen: Beide Sätze werden
Finale gehörte zu den Kürzungsvorschlägen, die mit einem Themendoppel eröffnet, in dem ein
Bruckner bereits 1881 an Felix Mottl sandte; diese lapidares Bläsersignal mit einem Tutti verbunden
Kürzung ist von der Genese des Satzes her ver- wird. In beiden Sätzen liegt diesem Vorgang eine
ständlich (siehe unten); sie liegt auf der Linie des dynamische Zunahme zugrunde, und in beiden
späten Bruckner, der eine zunehmende Empfind- Sätzen folgt das »Gesangsthema« ohne weiteren
lichkeit gegenüber den spezifischen Modifikatio- Übergang. Eine solche abstrakte Parallelisierung
nen seiner Sonatenform im Finalsatz an den Tag geht freilich am entscheidenden Inhalt dieser bei-
legte. den Eröffnungen vorbei. Nicht nur, dass Bruckner
Wie die Dritte Sinfonie Bruckners wurde auch hier ein ›naturhaft-romantisches‹ Gegenstück zum
die Vierte für mehrere Generationen von Auffüh- vorhergehenden ›heroischen‹ Tonfall wählte – um
renden und Musikliebhabern in der Form des die gängigen Klischees aufzugreifen. Bruckner
Erstdrucks bekannt gemacht; dessen von Hans gewinnt aus dem melodischen Eröffnungsgedan-
Ferdinand Redlich revidierter Notentext war bis ken der Vierten Sinfonie – der fallenden Quint –
in die 1990er Jahre erhältlich. Robert Haas, der eine ganze Welt harmonischer Bezüge, die dem
Pionier der Bruckner-Philologie, war indessen gesamten Werk seine hintergründige Physiogno-
davon überzeugt, dass dieser Erstdruck als Zeugnis mie verleihen. Schon im periodisch gereihten
einer »tiefen inneren Krise« des Komponisten zu Hornrufthema wird die fünfte Stufe der Tonart
gelten habe, als Bruckner sich der Praktiker um nur höchst flüchtig angedeutet. Die abschließende
ihn nicht mehr erwehren konnte, als sein Selbst- Kadenz (Takt 15–18) berührt mit dem as-Moll-
vertrauen wegen der Ablehnung der Achten durch Klang nicht nur die Unterquint von Es, sondern
Hermann Levi »den entscheidenden Stoß« erhal- zugleich den Tonraum des noch drei Quinten
ten habe (Haas 1936, II). In der Folgezeit setzte ›tiefer‹ liegenden Ces-Dur. Und von daher er-
sich die von Haas 1936 edierte »Originalfassung« scheint die beiläufige Auslenkung des oberen
von 1878 mit dem Finale von 1880 durch; das ei- Horntons im zweiten »Ruf«, nämlich ces gegen-
genständig herausgegebene und auch in der Neuen über b, als höchst bedeutsame Geste.
Gesamtausgabe veröffentlichte Finale von 1878 Die kompositorischen Erfahrungen und Erleb-
wird freilich vom Konzertbetrieb links liegen ge- nisse bei der Herstellung des Vorgängerwerks, das
lassen. Ihre 1953 von Leopold Nowak herausge- Erzeugen einer mehrsätzigen Orchesterkomposi-
brachte Neuauflage, in die kleine, über die in New tion, in deren Verlauf sich motivische Elemente zu
York liegende Partitur Anton Seidls überlieferte einer zyklischen Disposition fügen, diese neu ge-
Varianten eingearbeitet wurden, gilt als autoritativ. wonnene Empirie wirkte bei der Vierten auf ein
Nicht sicher ist jedoch, ob hiermit nicht eine integrales Konzept ein, bei dem das zyklische Po-
Partitur vorliegt, die so niemals als definitiver tenzial der Gestaltungen, so scheint es, von vorn-
Autortext existierte (Korstvedt 1995, 265 f.). Mitt- herein mitgedacht wurde und der Selbstinterpre-
lerweile erbrachte eine erneute Revision des bio- tation, die den Fortgang der Werkentstehung
graphischen und textlichen Materials zur Vierten, steuerte, zahlreiche Optionen zu einer geradezu
dass der Notentext des Erstdrucks zwar von obsessiven Ausarbeitung lieferte. Fraglos liegt hier
Bruckners Schülern, vor allem Ferdinand Löwe, die Ursache für die Umarbeitung des Finale, die
aufbereitet und redigiert wurde, aber vom Kom- der Austausch des Scherzos der Erstfassung nach
ponisten mehrfach durchgearbeitet und ohne sich zog. Die Neuordnung der Elemente im späte-
Zweifel autorisiert wurde. Der Erstdruck ist nun- ren »Jagd«-Scherzo forderte ihre Konsequenzen,
Die Dritte und Vierte Sinfonie 169

doch wäre der Anspruch überzogen, den Befund gegangen; Bruckner modifizierte 1878 den Satz
im Nachhinein mit Kausalitätslinien zu überzie- innerhalb der gegebenen Formteile, so dass vieles
hen. Mag auch eine Diskussion des Gesamtzyklus durch die Fassungen hindurch Gültigkeit hat.
an dieser Stelle noch verfrüht sein, so soll doch die Doppelte Taktzahlen verweisen auf beide Fassun-
folgende Betrachtung des ersten Satzes durchaus gen (1874/1878). Zu einigen Spezifika dieses ersten
unter dem Aspekt stehen, inwieweit Bruckner hier Plans seien im Folgenden noch einige weitere
sein Themenmaterial auf zyklische Belastbarkeit Punkte genannt:
und Wandlungsfähigkeit bearbeitete.
Der 630 Takte lange Verlauf dieses Satzes in der − Das »Gesangsthema«, der berühmte ›Vogelruf‹,
1. Fassung folgt den formalen Vorgaben der ›So- tritt nicht, wie zu erwarten und auch harmo-
nate‹. Bruckner betrachtete diese Form als zweitei- nisch angebahnt, auf der V. Stufe ein, sondern,
lig, wie aus eigenhändigen analytischen Aufzeich- der bereits umrissenen harmonischen Signatur
nungen – übrigens zu eben der »Romantischen« der Sinfonie entsprechend, in dem drei Quin-
– bekannt ist (Stephan 1988). Der erste Teil ten ›tiefer‹ liegenden Des-Dur (T. 71/75; das
schließt (in Dur-Sätzen) auf der Ebene der Ober- notierte H-Dur in der Reprise – T. 449/437 –
quinte, in unserem Fall in B-Dur; dem zweiten ist somit als Ces-Dur zu verstehen). Das har-
Teil obliegt zum einen die Rückgewinnung der monisch ›korrekte‹ Terrain wird erst mit einem
Ausgangstonart, zum anderen deren erneute Dar- überraschend eintretenden Tutti markiert (1.
stellung, in der Regel mit einem Durchlauf der im Fassung, T. 121), das wiederum rhythmisch-
ersten Teil gebotenen Themen und Übergänge. motivisch (im Blechsatz) auf das Eröffnungs-
Bruckners zweiter Teil ist nun auch dementspre- thema zurückgreift.
chend mit fast 380 Takten doppelt so lang wie der − Diesem Tutti, gemeinhin als Position des ›drit-
erste. Sozusagen ›extern‹ aufzufassen ist darüber ten Themas‹ aufgefasst, hier aber mit der Sei-
hinaus noch die Coda, die mit zusätzlichen 66 tensatz-Tonart B-Dur beginnend, folgt nach
Takten zu Buche schlägt. Die atmosphärisch eindrucksvoller ›Doppelpunkt‹-Fanfare (ähn-
grundlegende Hornruf-›Szene‹ des Anfangs er- lich der Coda-Ankündigung im Finale der
scheint ›pünktlich‹ an den Scharnierstellen (Takte Dritten Sinfonie gestaltet) nichts anderes als der
1, 189 und 379). Der ›mittlere‹ Hornruf ist, entge- Vogelruf-Seitensatz (T. 155/169, diesmal im er-
gen der Regelerwartung, gegenüber dem Anfang warteten B-Dur), so dass eben dieses Tutti als
um eine Septime tiefer transponiert, steht also Parenthese innerhalb des »Gesangsthemas« er-
nicht auf der V., sondern auf der II. Stufe. Das scheint.
›formgetreue‹ (das heißt oberquinttransponierte) − Mit diesem vorgenannten Abschnitt beginnt
Eintreten des Hornrufs samt dazugehöriger Aura die an diesem Formpunkt bei Bruckner zu er-
(deshalb ›Szene‹) ist damit nicht vermieden – wartende Phase der ›Entschleunigung‹, des
Bruckner hängt dieses Ereignis in den Verlauf des Übergangs in die Durchführung, auch hier
zweiten Teils ein (der »Durchführung«, T. 253 ff.) wieder (wie schon in der Dritten Sinfonie) ein
und eröffnet damit jene zentrale, jedem Hörer Ort geheimniskrämerischer Metamorphosen:
erinnerliche Passage, in welcher der Hornruf zum Es ist das Initium des »Gesangsthemas«, das in
breit zelebrierten Blech-›Hymnus‹ sich aus- den tiefen Klarinetten und Fagotten, auf ganz-
wächst. taktige Gerüsttöne abstrahiert, angedeutet wird
Das durchaus planvolle Deplatzieren von the- und mit seinem ebenso verlangsamten, gesamt-
matischen Satzstücken und schulbuchgetreuer sinfonisch bedeutenden Kontrapunkt im Cello
harmonischer Sonatendisposition, das Vexierspiel sekundiert wird – in Ges-Dur. Die anschlie-
von Tonartenstationen und Satzcharakteren, die ßende Meditation mündet in eine den ›Wag-
Verschränkung einzelner Formstationen in einem ner-Zitaten‹ (›Schlafzauber‹) ähnliche Klang-
eigentlich klaren dreiteiligen Grundaufbau gehört kette, deren b-Moll-Halbschluss (also der
zur Signatur dieses ersten Wurfs eines »romanti- F-Dur-Akkord) den Anstoß zum Durchfüh-
schen« Sinfoniesatzes. Bei der folgenden Beschrei- rungsteil gibt (1. Fassung, T. 189). Das Verwir-
bung wird generell von dieser ersten Fassung aus- rende ist nun, dass ein ähnlich ›stillgestellter‹
170 Thomas Röder

Teil mit partiell ›wörtlichen‹ Entsprechungen Es sind die Übergänge, die den Plan in der Wirk-
nicht wiederum der Reprise vorangeht, son- lichkeit seiner Hörbarkeit durchkreuzen. Noch
dern, inmitten der Durchführung, im An- weniger hörbar dürfte der komplexe Tonartenplan
schluss an den Hornruf-›Choral‹ jene Passage sein; immerhin markiert in der ersten Fassung die
einleitet, in welcher Motivpartikel des »Ge- auf Es und B gestimmte Pauke die Präsenz der
sangsthema«-Komplexes abgearbeitet werden Haupttonart, sei sie auch nur kurz berührt wie in
(1. Fassung, T. 327 ff.). Takt 242. Originell ist der Paukeneinsatz zum
Reprisenbeginn (T. 379/365), wo die Lücken zwi-
− Schließlich werden, in der Reprise, zwei ent-
schen den einzelnen Hornruf-Zeilen mit Pauken-
scheidende harmonische Scharniere entgegen
wirbeln auf Es und B überbrückt werden (in der
aller vorhergehender komplexer Akkordbewe-
ersten Fassung vom Fagott gestützt).
gungen eben nicht regelhaft vermittelt, sondern
Doch wie ist es um die besagte zyklische Erpro-
einfach ›gesetzt‹, beide Male im selben Verfah-
bung des Themenmaterials bestellt? Die nicht
ren: Einem dominantischen G-Dur-Feld folgt
zuletzt rhythmisch-gestisch herstellbare Omniprä-
kein C, sondern, erneut drei Quinten ›tiefer‹,
senz des Hornsignals, eine Errungenschaft der
Es-Dur. Es handelt sich um das Schluss-Tutti
Dritten Sinfonie, ist in der ersten Fassung fraglos
(»dritte Themengruppe«) sowie, an dessen Be-
und selbstverständlich in fast allen Hauptabschnit-
wegungs- und Dynamik-Kontinuum unmittel-
ten verwirklicht, selbst in den Fortführungspartien
bar anknüpfend, die Coda (1. Fassung, Takt
des »Gesangsthemas«, und eigentlich nur vom
497 beziehungsweise 565).
ersten, den Hornruf ablösenden Tutti fern gehal-
− Vor diesem Hintergrund bekommt der im
ten. Es ist jedoch darüber hinaus eine Nebensache,
vorliegenden Kontext als zweiter Hauptge-
welche zu einer Bedeutung auswächst, die bis in
danke angeführte Fortsetzungsteil des Hornrufs
die letzten beiden Sätze ausstrahlt: die zum Vogel-
entgegen seiner ausgreifenden Akkordbre-
ruf kontrapunktierende Phrase im Violoncello (1.
chungsmotivik und blechgepanzerten Kraftan-
Fassung; erstmals T. 71–73). Ihr Initium schließt
mutung einen ausgesprochen transitorischen
einen chromatisch irrlichternden Dur-Moll-
Charakter: Er führt nach F- und Es-Dur
Wechsel ein, ihre Schlusswendung, mehr als eine
(T. 70/74, 446/436) – allerdings nicht mit har-
Oktav höher platziert, erweist sich als vorwärts-
monisch einfachem Anschluss des »Gesangsthe-
treibende Abbreviatur einer Kadenz. Die vierfach
mas«. Seinem dritten Auftreten jedoch, das
verlangsamte Präsentation dieser Phrase während
mitten in der Durchführung und im Anschluss
der Hinführung zum zweiten Teil gleicht einem
an den F-Dur-Hornruf erfolgt, entspricht die
beschwörenden Raunen (1. Fassung, T. 171–183).
bereits oben erläuterte formal wichtige und
Von den beiden Gliedern der kurzen Phrase ge-
diesmal auch wirksame Modulation nach B-
winnt das zweite an Bedeutung: Es wird in die
Dur (T. 254/288): Es folgt hier der Hornruf auf
Eröffnungsformulierung des ursprünglichen
der V. Stufe.
Scherzo-Themas integriert und trägt darüber
Bei alledem, was hier ohnehin nur andeutungs- hinaus die Eingangsmotivik des Finale. Diese
weise aufgeführt wurde, ist aber doch zu betonen, präliminare Funktion findet sich vorformuliert im
dass der Ablauf der Themen aus der simplifizie- ersten Satz, in der Durchführung des »Gesangsthe-
renden vogelperspektivischen Gesamtschau als mas« (1. Fassung, T. 346 ff.), und trägt im weiteren
durchaus geordnet aufzufassen ist: Verlauf (gegen Ende auf den Rhythmus nivelliert)
die Hinführung zur Hornruf-Reprise.
1. Teil: Hornruf/Tutti I – Gesangsthema – Tutti II – Mit der Revision des ersten Satzes 1878 wurde
Überleitung
2. Teil: Hornruf/Tutti I – Hornruf-›Hymnus‹ – Ge- diese Partie und mit ihr der bewegte Übergang zur
sangsthema Hornruf-Reprise so gut wie völlig gestrichen; für
3. Teil: Hornruf/Tutti I – Gesangsthema – Tutti II – das ebenfalls 1878 entworfene neue Scherzo syn-
Coda
thetisiert Bruckner das Thema auf andere Weise
aus dem Material des ersten Satzes. Dies fällt frei-
lich in den Bereich einer Diskussion des Gesamt-
Die Dritte und Vierte Sinfonie 171

zyklus, die erst nach Behandlung der weiteren 2. Satz


Sätze folgen soll. Doch sei hier die ›Bereinigung‹
der Formanlage des ersten Satzes im Hinblick auf Das »Andante quasi Allegretto« der Vierten Sinfo-
die besprochenen Eigenarten der Erstfassung nie steht in Bruckners gesamtem Œuvre einzigar-
stichpunktartig behandelt. tig da. Kein langsamer Satz, allenfalls, in völlig
Die Handhabung des ›dritten Themas‹ (hier anderem Charakter, das eine oder andere Scherzo,
›Tutti II‹ benannt) wurde stringenter in den Ablauf wird von einer solch gleichförmigen Bewegung bis
gefügt; zugleich wurden beide Tutti-Bereiche mo- zuletzt bestimmt. Freilich lösen drei verschiedene
tivisch einander angenähert. Tutti II fällt nicht Modifikationen dieser Bewegung einander ab:
mehr abrupt in eine Generalpausenstille, sondern Zum einen die gleichmäßig gezupften Akkorde
folgt auf eine durchgehende Crescendopartie, de- des Streichorchesters, im Hauptthemabereich zu-
ren vorbereitende Dominantharmonie (F-Klang, sammen mit dem Pendelbass, in der Begleitung
2. Fassung, T. 115) ihrerseits mit dem vorangehen- des Seitenthema dieses kontrapunktierend, zum
den As-Klang sorgfältig vermittelt wird. Beim anderen das aus dem Hauptthema des Andante
Tutti II selbst handelt es sich wiederum nicht gewonnene (und vielleicht als simplifizierter Ab-
mehr um eine Inszenierung des Hornrufs; viel- senker des Gesamt-›Mottos‹ verstehbare) daktyli-
mehr wird die Anmutung eines Brucknerschen sche Motiv, isoliert als Rufterz oder im Doppel
›dritten Themas‹ erweckt und zugleich, unter gleichsam abkadenzierend – schließlich der kom-
maßgeblicher Beteiligung der ›Bruckner- ponierte Stillstand, sei es als Akkordsatz, sei es als
Rhythmus‹-Schicht aus Tutti I, etwas mehr interne zieloffene Sequenz.
Kohärenz geschaffen. Dieselbe Formstelle wird in Die scheinbar uniforme und durchaus den Fort-
der Reprise (T. 497 ff./485 ff.) um 20 Takte gekürzt, gang der Musik tragende Gesamtbewegung darf
das wuchernde harmonische und kleinmotorische nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Themen,
Leben vereinfacht, zu Beginn der ›Bruckner- alle beide von zart schwärmerischem Habitus, sich
Rhythmus‹, im Weiteren das Hornsignal etwas gleichwohl grundverschieden ›zur Welt‹ verhalten.
vermehrt einmontiert, die Zahl der Fortissimo- Das erste, von einem modalen c-Moll ausgehend,
Takte von über 40 auf unter 20 reduziert und fügt sich selbst in wiederholender Reihung zu einer
schließlich die um 25 Takte verkleinerte Coda prinzipiell unabgeschlossenen Kette zusammen,
ohne Generalpause angeschlossen. Auf dieser Linie immer wieder angetrieben vom Überraschungsmo-
der Klärung und Vereinfachung liegt auch die ment der trugschlüssig angeknüpft eintretenden
Reduktion des Nebenstimmengeflechts im »Ge- Motivpartikel. Das zweite lebt davon, einen kleinen
sangsthema«: Hierbei wird der bis in die Finale- Kreis auszuschreiten: Es hebt sechs Mal auf jeweils
Introduktion hineinwirkende Violoncello-Kon- verschiedenen Stufen an und findet, modulierend,
trapunkt aufgegeben und mit ihm fast alle sich auf auf der Mitte des letzten Taktes einer Viertakt-
ihn beziehenden Passagen, wie etwa im dritten gruppe seine immer wieder neu angebahnte Zeilen-
Durchführungsteil der ersten Fassung (T. 339– schlusswendung (z. B. 2./3. Fassung, T. 51–54 und
378). Und um einen Eindruck vom Umgang mit folgende; Viola). Hier lässt sich übrigens Bruckners
den ›schädlichen‹ Engführungen zu bekommen, taktrhythmisches Verfahren wie im Reagenzglas
vergleiche man die beiden Coda-Teile: Während beobachten: Beim sechsten Mal strebt die Melodie
sich in der 1. Fassung die Motto-Einsätze zuneh- einen Schluss jenseits der Viertaktgruppen-Grenze
mend gegenseitig nivellieren, ziehen sie in der 2. an, was in der 2. und 3. Fassung noch durch einen
Fassung ruhig und deutlich alternierend vorbei. eingeschobenen Doppeltakt eigens hinausgezögert
Und dass mit dem Motto am Schluss des Satzes, wird (T. 71–83). (In der 1. Fassung notierte Bruck-
in die Akkordabschläge hinein, der Kreis geschlos- ner dieses »Gesangsthema« übrigens in der nächst-
sen wird, könnte zu dem Gedanken führen, dass kleineren Notenwertstufe unter der Angabe »Ada-
›Sinnstiftung‹ zuweilen reines Handwerk ist. gio«. Der intendierte Effekt ist nicht klar; wenn das
»Adagio« nicht genau halb so schnell geschlagen
wird oder die Zählbewegung auf den kleineren
Notenwert übergeht, müsste eine sachte Beschleu-
172 Thomas Röder

nigung damit gemeint sein.) Ähnlich sind sich die »Scherzo« auf (der gewiss später hinzugefügte
beiden Themencharaktere auch in ihrer anfängli- Umschlag jedoch schon). Falls dieser Befund
chen Instrumentierung: Beide sind sie tiefen, teno- überhaupt etwas bedeuten könnte, dann die
ralen ›Sängern‹ anvertraut, Violoncello und Viola, Überlegung, dass Bruckner mit dem Begriff des
und beide gehen über die Obergrenze des eingestri- ›Scherzo‹ ein Bewegungskontinuum verband, das
chenen f nicht hinaus. Die Darbietung des Themas 1874 eben nicht komponiert wurde. Vielmehr be-
in den hohen Bläsern wird als irregulärer Modus steht der Satz in seiner ersten Fassung aus einem
empfunden. Hornruf, dem ein figurativ belebtes, motivisch
Die beiden Teile wechseln einander ab, durch und rhythmisch unscharfes Klangfeld gleichsam
Zwischenspiele (Sequenzen, Akkordsatz) mitein- antwortend zur Seite gestellt ist. Pausenpuffer
ander verbunden; diese Zwischenspiele wurden rund um den Hornruf schaffen eine geradezu
vielfach, doch im Einzelnen geringfügig, zur zwei- meditative Atmosphäre. Die Wiederholung dieses
ten Fassung gekürzt. Ein längerer variativer Ab- Hornrufs stößt eine 100 Takte lange Entwicklung
schnitt aus dem Bereich des »Gesangsthemas« an, an deren Ende erneut der Hornruf über einer
entfiel bei der Konstituierung der 2. Fassung (1. mächtigen Kadenz im dreifachen Forte eingebettet
Fassung, T. 167–190), so dass der Satz bis 1878 um ist. Der Witz der gesamten dreiteiligen Anlage
etwa ein Sechstel seines Umfangs verkleinert liegt darin, dass erst bei einer erneuten Darbie-
wurde. Beibehalten wurde die letzte Darbietung tung, und zwar nach einer dazwischen geschobe-
des A-Teils. Das Hauptthema des Andante lässt nen variierten Partie, die harmonische Entwick-
hier eine kumulative Reihung hin auf einen Hö- lung auf den letzten 16 Takten die Haupttonart
hepunkt zu. Von der dichten Engführung der 1. des Satzes erreicht (T. 321): Das im gewaltigen
Fassung (Einsatz auf jeder Halben) ist in der Fas- Abschluss-Tutti eingebettete Hornruf-Thema
sung von 1878 noch ein guter Rest erspürbar. Diese markiert den Es-Bereich (zunächst, über dem ka-
Reihung führt zu dem, was im vorhergehenden denzierenden Quartsextakkord, es-Moll). Zweifel-
Ablauf behutsam umgangen oder geschickt ver- los ist der Satz in den Zyklus mehrfach integriert,
brämt wurde: zu einer konventionellen Schlusska- nicht nur durch den Zuschnitt des Hornrufs,
denz. Auftrumpfend treten kadenzierender Quart- sondern auch die harmonischen Kreise, die stets
sextakkord (T. 217) und harmonischer Quintfall Ces-Dur berühren (brennspiegelartig in der knap-
ein (T. 221), in der 1. Fassung noch ekstatischer pen Coda resümiert: Dreiklangsfolge Es-Ces-Fes-
umschwirrt von einem ähnlich vibrierenden Ak- as-Es), schließlich auch in der simultanen Präsenz
kordfeld-Tutti wie im Adagio der Dritten Sinfonie von Drei- und Zweiteilung des Taktes, hier Vier-
(T. 223 beziehungsweise 229). telduolen über dem Dreivierteltakt. Letzteres wird
Nicht nur diese Klangsensation ist mit der ausgiebig im As-Dur-Trio verhandelt, dessen
Überarbeitung verloren gegangen, sondern auch Thema einer weiteren Tenor-Stimme anvertraut
Ansätze eines durchaus spontanen, frei wuchern- ist (Viola). Übrigens ist hier ein kleiner Anhang
den Gestaltens, Einblicke in das, was da im Lauf vonnöten, der vom Trio-Schluss in As-Dur zur
der Disziplinierung des Komponisten zugeschüttet Wiederaufnahme des Scherzo (zunächst in B-Dur)
wurde. Zu denken ist an die Passage vor der ersten überleitet – ein ansonsten in Bruckners Trios nicht
Wiederkehr des Hauptthemas (1. Fassung, vorkommendes Verfahren.
T. 119 ff.), bei der die Pizzicato-Achtelbewegung Über das 1878 neu eingesetzte Scherzo ist nicht
der 1. Violine die Formgrenzen überspielt und in viel zu sagen; es gehört zu den populärsten Stü-
deren weiterem Verlauf die Viola plötzlich impro- cken Bruckners, und das Trio wanderte über
visatorisch in doppelt schnellem Tempo geradezu Gustav Mahlers »Fischpredigt« in dessen Zweiter
›von der Leine geht‹ (T. 132 ff.). Sinfonie bis zu Luciano Berios Sinfonia von 1968.
Gewiss hat der volkstümliche Ton des Trios »gefal-
len«, und man geht über den beunruhigenden
Scherzo
Sachverhalt hinweg, dass der sprunghafte Wechsel
Die Partitur des dritten Satzes weist in der ur- der Tonart (von Ges- nach B-Dur) fast unauffällig
sprünglichen Fassung nicht die Überschrift im Rahmen eines schlichten Achttakters passiert.
Die Dritte und Vierte Sinfonie 173

In seiner Neukomposition behält Bruckner ei- als den bei weitem schwächsten Satz des Werks
nige Aspekte von 1874 bei: Zum einen erzeugen apostrophierte: »Auch hier begegnen wir großen
Tremolo-Partien und Bass-›Puls‹ zwei verschiedene Ansätzen und es deutet die Wiederaufnahme von
Bewegungsfelder, und zum anderen ist die Idee Themen der früheren Sätze darauf hin, daß
des Hornrufs in einer ›kollektiven‹ Variante wei- Bruckner deren Gesammtgehalt in einer Konklu-
terhin präsent. Überdies ist eine Figurationsfloskel sion zusammenfassen wollte – aber leider bleibt es
erneut verwendet worden (vgl. 1. Fassung, T. 55 ff., eben nur beim Wollen [...]« (Quast-Benesch 2006,
und 2. Fassung, T. 47 ff.) und vielleicht auch als 295). Nun war der Adressat des Brucknerschen
Keimzelle des Trio-Themas zu verstehen. Schließ- Briefs, Paul Heyse, ebenfalls der Meinung, dass
lich ist auch hier eine auf den Satzschluss zielende »im Vierten [Satz] die Stimmung nicht ganz auf
harmonische Disposition zu beobachten. Das B- gleicher Höhe blieb«, wollte dies aber doch mehr
Dur-Scherzo beginnt in F und findet erst nach 238 dem Aufnahmevermögen des Hörers zuschreiben
Takten ein befriedigendes Ende in seiner Haupt- (Göll-A. 4/3, 82; Quast-Benesch 2006, 298).
tonart. Zyklusübergreifende Details werden plaka- Heyse und Porges standen nicht allein; weite-
tiv in die Sphäre des Hauptthemas gerückt: Der ren Münchener Kritiken, aber auch Rezensionen
›Bruckner-Rhythmus‹ 2:3 trägt nunmehr die und Berichten zu anderen Aufführungen war zu
»Jagd«-Fanfare, die »3« ist hier als Triole vom vor- entnehmen, dass das Finale der Vierten als der
gegebenen 2/4-Takt abweichend. Der im Kontext problematischste Teil des Zyklus empfunden
der erweiterten Terzverknüpfung gerne verwen- wurde. Dies ist allein schon vor dem Hintergrund
dete Trugschluss in Moll wird hier, am Ende der der drei vorhergehenden Sätze nachvollziehbar,
Crescendo-Strecke (2. Fassung, T. 37 ff.; F-Ges) in allesamt plastische Charaktere. Bemerkenswert ist
den thematischen Ablauf integriert. Kaum wahr- aber doch Bruckners Reaktion auf Porges’ Anmer-
nehmbar und nur kurz mit einem ›gehenden‹ Bass kung, die er ein knappes Jahr später (gegenüber
in den Vordergrund gerückt (T. 207–210) erscheint August Göllerich) wiederholen sollte (Briefe 2,
die Verwandtschaft der harmonisierten Abwärts- 155). War da nicht ein Missverständnis? Wenn
tonleiter mit den Sequenzen im zweiten Satz (etwa Porges unter »Konklusion« irrigerweise eine si-
T. 21–24). Was das ›Gesicht‹ des Satzes ausmacht, multane Themenkombination verstanden haben
ist das vehemente Spiel mit dem raschen ›Bruck- sollte, so sah er doch zumindest, dass im Lauf
ner-Rhythmus‹, den Anlaufstrecken, in die dieser dieses Finales das Zusammentragen des Vorausge-
Rhythmus zuweilen phasenverschoben eingelagert gangenen durchaus zur Substanz des Satzes zählt:
wird, und schließlich die klanglichen Sensationen, etwa das Eröffnungsthema der Sinfonie, das
die aus dem Wechselspiel der drei Blechbläser- Hornsignal, als Ziel einer in diesem Kontext äu-
gruppen samt der hinzugefügten hohen Klangkro- ßerst brachial wirkenden, in der Druckfassung
nen entstehen und die auch zur Neuinstrumentie- durch einen Beckenschlag angekündigten V-I-
rung 1888 nur unwesentlich verändert worden Kadenzbewegung in Es-Dur, letztlich die ›finale
sind. Über die Zweckmäßigkeit des Strichs in der Essenz‹ des Satzes (T. 76–85); diese den Bereich
Druckfassung, der bei der Reprise des Scherzo die des ersten Themas abschließende Formulierung ist
Takte 27 bis 92 durch eine Fermate ersetzt, wird bereits 1874 zu finden (T. 43–46), doch erst 1878
sich kaum mehr Einigkeit herstellen lassen. mit dem Motto besetzt (T. 44–54). Auf das Vor-
ausgegangene bezogen ist ferner der dreimal, und
zwar jedesmal in der Nähe des »Gesangsthemas«
Finale
platzierte kleine Marsch, der als Reminiszenz an
»Die Themen alle zusammenzufassen, das beab- den zweiten Satz zu betrachten ist, des weiteren
sichtigte ich gar nicht. Das kommt nur in der 8. die an verschiedenen Stellen, darunter, prominent,
Sinfonie im Finale vor« (Briefe 2, 99). Bruckner gleich in der Einleitungsstrecke (T. 30 ff.) einge-
fühlte sich nach eigenem Bekunden »sehr ge- streuten »Jagd«-Signale des Scherzo, auch dessen
kränkt« darüber, dass der Wagnerianer Heinrich Triolen-Kontinuum, plakativ etwa in der Pauke
Porges in einem Zeitungsbericht zur Münchner (T. 89 ff.). Die durchaus wahrnehmbare Verwandt-
Aufführung der Vierten Sinfonie 1890 das Finale schaft zwischen den »Gesangsthemen« vom ersten
174 Thomas Röder

und letzten Satz konnte als zyklische Klammer der über 100 Takte langen Coda zuerst nacheinan-
aufgefasst werden, doch ob Porges den Zuschnitt der (Motto von Takt 511 an, Finale-Hauptthema
des Finale-Hauptthemas mit dem Hornmotto der von Takt 523 an, mit eingesprengten Motto-Zita-
Sinfonie zusammendachte, ist fraglich; vermutlich ten Takt 535 und 551), schließlich, wie oben schon
hatte er aber Zugang zur Partitur und vielleicht erwähnt, in simultaner Kombination. Gleichwohl
doch erwogen, was ja in der ursprünglichen Kon- lassen die übrigen Ingredienzien des Satzes erken-
zeption tatsächlich versucht wurde: die Kombina- nen, dass Bruckner von seinem sonatischen Arche-
tion der Inititalwendungen beider Themen (vgl. 1. typ ausging: Das »Gesangsthema« führt zu einer
Fassung, Finale, T. 583 ff.). Doch mag ihm allein Schlussgruppe mit eigenem Unisono-Gedanken
schon die abstrakte Beziehung der beiden Haupt- (T. 161 ff.), aber beibehaltenem rhythmischen
themen aufgegangen sein, die über den Ton ces Charakter, der hier aus der extravaganten Takt-
herzustellen ist. Quintole besteht. Die Quintole mag durchaus als
Im Finale der »Romantischen« Sinfonie, so wie finale Respons auf die mit dem ›Bruckner-Rhyth-
sie Porges 1890 hörte, ist die durch drei Partituren mus‹ markierten Prägungen der vorhergehenden
hindurchgegangene Werkgenese nicht aufgeho- Sätze zu verstehen sein. In der Überarbeitung von
ben, sondern sedimentiert, in Stücken aneinander 1878 verschwinden Quintolen und zahlreiche der
geschoben, die partiell geschliffen, partiell ausge- Motto-Zitate, insbesondere in der stark gekürzten
tauscht oder neu eingefügt wurden. Die Reihe der Coda, die allerdings weiterhin die Inversion der
Kommentare und Kritiken spiegelt ein buntes Reprisenfolge, also das späte Erscheinen des Fina-
Bild von Wahrnehmungsdifferenzen vor allem in lehauptthemas in Es-Dur (T. 417 ff.) beibehält.
formaler Hinsicht, deren Variationsbreite sich seit Mit dem Finale von 1880 versucht Bruckner
1936, dem Jahr der Bekanntgabe der »Originalfas- einem zyklisch themenintegrativen Konzept ge-
sung«, also der Fassung von 1878/1880, noch er- recht zu werden und zugleich den Satz formal an
höhte. Einigermaßen objektiv, trotz des damaligen den ersten Satz anzugleichen. Ein dröhnendes
Jargons, versucht Robert Haas alle vier Notentexte »drittes Thema« besetzt die Position der Domi-
eingehend zu beschreiben (Haas 1934, 127–130). nantstufe (T. 155 ff.), erscheint aber in dieser Form
Wie schon oben mehrfach festgestellt, lässt sich nur einmal. Im Gegenzug erhält das Finale-
die Umformung des Schluss-Satzes der Vierten als Hauptthema eine Reprise in der Haupttonart
Reaktion auf den neu komponierten Scherzosatz (T. 383 ff.); deren etwas gewaltsam eingerammte
verstehen, aber auch als Ergebnis einiger bis 1880 Stellung im Satzverlauf erscheint Bruckner als so
gewonnener Einsichten des Komponisten. Zu- entbehrlich, dass er ihr Weglassen schon Felix
nächst, also in der ersten Fassung von 1874, stand Mottl nahelegt und für den Druck dann auch
möglicherweise die Idee, die Trompetensignal- festschreibt.
Apotheose der »Wagner-Sinfonie« dadurch zu Der Finalsatz insgesamt aber bleibt, ob mit
überbieten, dass im Finale der »Romantischen« oder ohne Finalehauptthema-Reprise, durchaus
von Anfang an zwei Hauptthemen, das Finale- dunkel, und der Wechsel der Bilder, die assozia-
Thema und das Motto des ersten Satzes, verhan- tive Nähe zu dem über die drei Vorgängersätze
delt werden. In das Formgefüge wird das statische entwickelten Kontext, die Sensation der einzel-
Hornrufmotto eingebracht, indem es auf verschie- nen Bestandteile, nicht zuletzt der grandiosen
dene Weise dynamisiert wird. So passt Bruckner Introduktion, hält das Interesse wach bis hin zu
dieses Motto bereits vom elften Takt an, in der den choralartigen Veranstaltungen kurz vor
Introduktion über pochenden Bässen, dissonant Schluss (»Schwanenlied der Romantik«, Horn
ein, gleichsam als Programm. In der Wiederho- T. 489 ff.; Dreiklangskette aufwärts T. 517 ff.), die
lung der Einleitung werden denn auch bald wei- von ihrer Datierung her – 1880 – vielleicht noch
tere Zitate des Mottos (T. 79 ff.) aufgeführt, so zu früh liegen, um in den Ruch zu kommen,
dass diesmal der Hornruf sowohl als Steigerung als kalkulierte Erbauungseffekte ›zum guten Ende‹
auch als Ziel einer solchen sich darstellt. Eine zu sein.
Reprise auf der Stufe der Haupttonart gibt es in
der 1. Fassung nicht; beide Themen agieren dort in
Die Dritte und Vierte Sinfonie 175

Die Vierte als Zyklus der Bilder setzt bei der Stelle geheimnisvoller Verlangsamung
der Themen (T. 169 ff.) hinzu: »Nacht«, »Träume«,
Bruckner gab mehrfach zu seiner Vierten Sinfonie gar »verworrene Träume« – und dies nun eben
illustrative Erläuterungen in einem Umfang wie zu nicht im Finale, sondern im ersten Satz (vgl. No-
keiner sonstigen seiner Sinfonien. Der erste Satz wak 1975, 8).
verkörpert demnach die Tagesfrühe: Das Signal des Die Vierte Sinfonie wurde als musikalisch zy-
Türmerhorns »vom Rathaus« erweckt offenbar klisches Werk entworfen; die ersten beiden The-
städtisches Leben; gleichwohl sprengen »Ritter« mengruppen des Eröffnungssatzes lieferten genug
zur Stadt hinaus, um sich in der Natur zu ergehen Material für den weiteren Verlauf über die Sätze
(Vogelstimmen-»Gesangsthema«). Wenn auch in hinweg, und das Finale verwies unüberhörbar und
diesem Fall ein prozessualer Verlauf angedeutet nicht zuletzt aufgrund der Omnipräsenz des
wird, ist es, wie die Folgesätze zeigen, ratsam, eher Hornrufs auf den ersten Satz zurück. Die Beto-
von ›Genrebildern‹ zu sprechen (so bereits bei nung der Oberquintachse in den Themen der
Floros 1980, 181). Im zweiten Satz hat es der Hörer Binnensätze unterstützte die Einheitlichkeit
mit einem »Gebeth«, »Lied« oder auch »Ständ- ebenso wie die Fernbeziehung der Gesangsthemen
chen« – jedenfalls mit einer Szene der Verehrung in den Außensätzen. Dieses Beziehungsnetz wurde
– zu tun, während das zweite Scherzo, also dasje- schon zur Umarbeitung 1878 weitgehend zurück-
nige von 1878, schon als Darstellung einer »Jagd« gebaut; im Finale von 1880 schafft der Komponist
konzipiert wurde, ergänzt mit der Tanzweise zur zahlreiche für sich stehende Klangbilder. Beim
Mahlzeit der Jäger im Trio (siehe oben, Brief an Hören des sonoren Blechsatzes, mit dem das
Tappert vom 9.10.1878). Das Finale von 1878 Finale-»Gesangsthema« feierlich während der
wiederum ist in einer Partiturabschrift autograph Durchführung dargestellt wird (2. Fassung,
mit »Volksfest« betitelt; dessen Introduktion soll T. 237 ff.), ist keine Spur mehr der ursprünglichen
von Bruckner einmal als »Regenwetter« apostro- Idee wahrnehmbar, nämlich mithilfe des allgegen-
phiert worden sein (Göll-A. 4/1, 519). Gleichwohl wärtigen Hornrufs die thematische Einheitlich-
ist der letzte Satz der Prüfstein dieser Bilderfolge, keit, den Zusammenhang, den ›Beziehungszauber‹
und er bewährt sich nicht so recht. Bislang konnte zu beschwören (siehe Beispiel 2).
ein vernünftiger Zusammenhang mit dem gewalti- Vergleicht man die erste Fassung des Finales
gen Unisono-Hauptthema und einem »Volksfest« der Vierten mit der letzten, so findet man den zy-
noch nicht hergestellt werden, selbst, wenn man klischen Gedanken des Werks nicht mehr vom
diesen Titel nur auf die ›leichtere‹ Fassung von 1878 Hornruf-Motto repräsentiert, sondern von Ein-
anwendet. Für Hermann Kretzschmar geht es im sprengseln des gesamten Satzzyklus (Scherzo-
Finale dieser »Waldsymphonie« um den »Schre- Rhythmus, Andante-Einschub). Das Agieren des
cken des Waldes«, um die Nachtseite der Natur Mottos ist weitgehend auf die Restitution des Es-
(Kretzschmar 1898, 673), und Ähnliches soll auch Dur (Finale, T. 75–92) und den Coda-Schlussbau-
Bruckner seinem Schüler Viktor Christ mitgeteilt stein beschränkt. Schon im Finale der Fassung von
haben (Göll-A. 4/1, 519): die »Schauer der Nacht«. 1878 sind die Motto-Zitate, mit denen die 1. Fas-
All dies, Bruckners Bilder, überhaupt die Idee des sung geradezu übersät ist, entfernt worden. Bruck-
Bilderbogens, läßt sich trefflich mit dem Epitheton ner vermutete um 1890 offenbar ein Bedürfnis bei
»romantisch« verbinden, das, wie oben schon be- seinem Publikum nach Bildern und versuchte
merkt, ohnehin als Deutung höchstwahrscheinlich dem zu entsprechen (seltsamerweise ungefragt bei
erst im Nachhinein herangetragen wurde. Doch dem Literaten Paul Heyse); seine Empfindlichkeit
kann kein Zweifel sein, dass Bruckner ein weiches in Fragen des rechten Finale-Verständnisses deutet
und in diesem Sinn »romantisches« Gegenbild zur darauf hin, dass er die musikalische Begründung
d-Moll-Sinfonie schaffen wollte, dass das formale und Gestaltung eines Satzzyklus nach wie vor als
Vexierspiel, vor allem in den Außensätzen, roman- kompositorische Kernaufgabe ansah.
tischem Empfinden als nicht diskursiv Poetischem
verpflichtet ist. Hierzu fügt sich auch ein Eintrag
in der Handschrift der ersten Fassung; Bruckner
176 Thomas Röder

Beispiel 2: Vierte Sinfonie (1. Fassung 1874), Finale, T. 289–298, Partiturausschnitt

289
Fl. 1
Ob. 1

Klar. 1
5

Vl. 1

Hr. 1

Hr. 2

Vc.
5 5

Fag. 1

Fag. 2

Kb.

294
Fl. 1
Ob. 1

Klar. 1
5

Vl. 1

Hr. 1

Hr. 2

Vc.
5 5

Fag. 1

Fag. 2

Kb.
Die Dritte und Vierte Sinfonie 177

Ausgaben
Anton Bruckner, 3. Symphonie in d-Moll, 2. Fassung Anton Bruckner, IV. Symphonie Es-Dur, Fassung von
von 1878. Mit Einführung und den Hauptvarianten 1878/80. Studienpartitur, 2. rev. Ausgabe, vorgelegt
der Endfassung. Studienpartitur [hrsg. von Fritz von Leopold Nowak (1. Ausg. 1936, Robert Haas).
Oeser]. Wiesbaden 1950. Wien 1963 (= NGA IV/2).
Anton Bruckner, III. Symphonie d-Moll (Wagner- Anton Bruckner, IV. Symphonie Es-Dur, Fassung von
Symphonie), Fassung von 1873. Studienpartitur, 1874. Studienpartitur, vorgelegt von Leopold Nowak.
vorgelegt von Leopold Nowak. Wien 1977 (= NGA Wien 1975 (= NGA IV/1).
III/1). Anton Bruckner, IV. Symphonie Es-Dur, Finale von
Anton Bruckner, III. Symphonie d-Moll (Wagner- 1878. Studienpartitur, 2., rev. Ausgabe, vorgelegt von
Symphonie): Adagio Nr. 2 (1876). Studienpartitur, Leopold Nowak (1. Ausg. 1936, Robert Haas). Wien
vorgelegt von Leopold Nowak.Wien 1980 (= Supple- 1981 (= NGA, zu Bd. IV/2).
ment zu NGA III/1). Anton Bruckner, IV. Symphonie Es-Dur, Fassung von
Anton Bruckner, III. Symphonie d-Moll (Wagner- 1888 (Stichvorlage für den Erstdruck von 1889). Stu-
Symphonie), Fassung von 1877. Studienpartitur, dienpartitur, vorgelegt von Benjamin M. Korstvedt.
vorgelegt von Leopold Nowak. Wien 1981 (= NGA Wien 2004 (= NGA IV/3).
III/2).
Anton Bruckner, Symphony No. 4 [...], hrsg. von Hans
F. Redlich. London/Mainz u. a. o.J. [ca. 1961] (=
Edition Eulenburg 462).

Literatur
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MGG1. Bd. 2 (1952), Sp. 341–382. chungen über Formenbau und Stimmungsgehalt.
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musikalischen Exegetik. Wiesbaden 1980. tiarum Fennicae 86). Helsinki 1955.
Gülke, Peter: Brahms. Bruckner. Zwei Studien. Kassel Kurth, Ernst: Anton Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925 (Repr.
u. a. 1989. Hildesheim 1971).
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der Musik). Potsdam 1934 (Repr. Laaber 1980). 1905.
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Es-Dur (Originalfassung). Wien/Leipzig 1936 (= IGB-Mitteilungsblatt Nr. 8 (1975), 2–10 (auch in:
AGA IV). ders.: Über Anton Bruckner. Gesammelte Aufsätze
Halm, August: Die Symphonie Anton Bruckners [1913]. 1936–1984. Wien 1985, 153–159).
München 21923. Quast-Benesch, Gertrude: Anton Bruckner in Mün-
Hansen, Mathias: Anton Bruckner. Leipzig 1987. chen. Tutzing 2006.
Hanslick, Eduard: Aus dem Tagebuch eines Rezensen- Röder, Thomas: Die Orchesterstimmen der Dritten
ten. Gesammelte Musikkritiken. Hrsg. von Peter Symphonie von Anton Bruckner: Welche Fassung
Wapnewski. Kassel u. a. 1989. wurde 1877 uraufgeführt? In: Neues Musikwissen-
Heinze, Rüdiger: IV. Symphonie in Es-Dur: Werkbe- schaftliches Jahrbuch 5 (1996), 141–154.
trachtung und Essay. In: Renate Ulm (Hrsg.): Die –: Revisionsbericht zu: Anton Bruckner, III. Symphonie
Symphonien Bruckners. Entstehung, Deutung, d-Moll. Wien 1997 (= NGA, zu Bd. III/1–3).
Wirkung. Kassel/München 1998, 117–131. Stephan, Rudolf: Bruckners Romantische Sinfonie. In:
Herhaus, Ernst: Phänomen Bruckner: Hörfragmente. Christoph-Hellmut Mahling (Hrsg.): Anton Bruck-
Wetzlar 1995. ner: Studien zu Werk und Wirkung. Walter Wiora
Klüppelholz, Werner/Busch, Hermann J. (Hrsg.): Mu- zum 30. Dezember 1986. Tutzing 1988, 171–187.
sik gedeutet und gewertet: Dokumente zur Rezepti- Wagner, Manfred: Der Quint-Oktavschritt als
onsgeschichte von Musik. München 1983, 196–222. »Majestas«-Symbol bei Anton Bruckner. In: Kirchen-
Korstvedt, Benjamin M.: ›The First Edition of Anton musikalisches Jahrbuch 56 (1972), 97–103.
Bruckner’s Fourth Symphony: Autorship, Production – (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Musikkritik
and Reception‹. Diss. Univ. of Pennsylvania 1995. in Beispielen (= Publikationen des Instituts für
–: Vorwort zu NGA IV/3 (siehe oben). Wien 2004, Österreichische Musikdokumentation 5). Tutzing
VII–XVII. 1979.
Kretzschmar, Hermann: Führer durch den Concertsaal.
Bd. 1. Leipzig 1898.
178

Von der Fünften zur Siebten Sinfonie


von Peter Gülke

Die Fünfte Sinfonie revidierten Komponisten als halbwegs Verratenen


zu betrachten. Übersehen wäre dabei nicht zuletzt,
Entstehung
dass eine damals in der Originalfassung dargebo-
Anfang Februar 1875 begann Bruckner mit der tene Fünfte Sinfonie alle seit dem Erfolg der Siebten
Arbeit an der Fünften Sinfonie, zunächst am Ada- stiller gewordenen Gehässigkeiten neu auf den
gio, am 3. März am ersten Satz, am 10 April am Plan gerufen hätte. »Sie werden gewiss schon
Scherzo und einen Monat später am Finale. Ein mündlichen Bericht haben über die ungeheure
Jahr danach, am 16. Mai 1876, beendete er die Wirkung, die Ihre große herrliche ›V‹ hervorrief.
erste Niederschrift der Partitur, wiederum ein Jahr Ich kann hier nur beifügen, dass der Abend für die
später, am 18. Mai 1877, eine Revision des Finales; Zeit meines Lebens zu den herrlichsten Erinne-
dem schlossen sich bis zum 11. August und noch- rungen zählen wird, deren ich je theilhaftig werden
mals zwischen dem Jahresende und dem 4. Januar konnte. Tief ergriffen, beglückt in den Gefilden
1878 weitere Korrekturarbeiten an. ewiger Größe wandelnd fühlte ich mich. Von der
Eine tour de force war noch jede Sinfonie ge- niederschmetternden Gewalt des Finales kann
wesen und würde jede weitere ebenfalls sein; diese niemand sich eine Vorstellung machen, der es
war es, so lassen Bruckners Äußerungen aus dieser nicht gehört« (Franz Schalk an Bruckner, 10.4.1894;
Zeit vermuten, in besonderem Maße. Dazu Briefe 2, 253).
scheint zu passen, dass er sie nie gehört hat, nicht Einerseits der strengste Prüfstand für Interpre-
gerechnet eine am 20. April 1887 von Franz Schalk ten, steht die Fünfte andererseits bei den Auffüh-
und Franz Zottmann in Wien präsentierte Kla- rungszahlen neben der Annullierten, der Ersten
vierfassung. An der einzigen Aufführung zu seinen und der Zweiten hinter den anderen auch heute
Lebzeiten, am 9. April 1894 in Graz unter Schalks weit zurück. Im Blick auf Bruckners noch immer
Leitung, konnte er krankheitshalber nicht teilneh- andauernde Bemühungen, sich in Wien promi-
men. Er hätte eine brutal veränderte, gekürzte, nent zu etablieren, ließe sich von der Paradoxie
nach heutigen Maßstäben verschandelte Version sprechen, dass dieser angestrengteste Versuch, sich
gehört, was man ihm in bester Absicht wohlweis- Anerkennung zu verschaffen, die geringste Aus-
lich verschwiegen hatte – im Finale waren u. a. die sicht hatte, sie zu erreichen. Wenig fehlt zu der
Takte 374 bis 459 gestrichen, also die Reprise des Vermutung, dass ein nach dem Debakel der Drit-
Hauptthemas und der »Gesangsperiode«. Diese ten Sinfonie am 16. Dezember 1877 mit der Fünften
verstümmelte Version liegt denn auch dem von sich präsentierender Bruckner kaum Chancen
Schalk betreuten Erstdruck (1896) zugrunde. Wie gehabt hätte, in der Wiener Musiköffentlichkeit
immer schlechtes Gewissen ob der Hintergehung Terrain zurückzugewinnen.
die Superlative befördert haben könnte, mag Schon so war es schwer genug. Als er letztmalig
Schalks Freude angesichts des Erfolges zu überle- mit der Partitur beschäftigt war, lag der Umzug
gen Anlass geben, weshalb es heute leicht fällt, den nach Wien knapp zehn Jahre zurück, und noch
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 179

immer schienen die Bedenken wohlmeinender ihm die Zweite und Dritte Sinfonie unterbreiten zu
Freunde, die diesen begleitet hatten, nicht wider- dürfen und, da dieser nicht reagiert, für den Ent-
legt. Über das Maß hinaus, das bei ihm ohnehin schluss, im September 1873 nach Bayreuth zu rei-
zu erwarten war, fühlte Bruckner sich in der gro- sen.
ßen Stadt fremd, zwiespältig in sozialen Kontak- Nachdem die Dritte Sinfonie am Jahresende
ten: nach oben streberhaft bemüht, im täglichen fertiggestellt ist, scheint allerdings das neue Jahr
Umgang eher nach unten orientiert. Mit einer alle bislang übertriebenen Befürchtungen zu be-
Mixtur von übertriebener Unterwürfigkeit – die stätigen: Trotz mancher Unterstützung scheitern
wohlwollende Prinzessin Marie zu Sayn-Wittgen- die Bemühungen um eine Anstellung an der Uni-
stein-Berleburg unterstellt eine »gewisse Berech- versität, die Lehrerbildungsanstalt kündigt, und
nung der selbstgefälligen Plumpheit« seiner der Stolz, eine weitere Sinfonie, im November die
»Hofmanieren« (Göll.-A. 4/1, 506 f.) – und pene- Vierte, fertiggestellt zu haben, hilft nicht gegen
tranter Verfolgung eigener Interessen befremdete Depressionen, in denen er gegen sich und die Welt
er auch Wohlgesonnene wie Johann Herbeck, wütet und den Entschluss verflucht, nach Wien
Hermann Levi, Hans Richter oder Joseph Hell- gegangen zu sein: »Alles ist zu spät. Fleißig Schul-
mesberger. Seit Oktober 1868 ist Bruckner Lehrer den machen, u am Ende im Schuldenarreste die
für Musiktheorie am Wiener Konservatorium, Früchte m e i n e s F l e i ß e s g e n i e ß e n , und
zugleich Anwärter auf das Organistenamt an der die Thorheit meines Übersiedelns nach Wien
Hofkapelle, ist indes bald auf akademische Bestal- ebendort besingen, kann mein endliches Loos wer-
lung und Würden aus und hört an der Universität den« – das schreibt er am 13. Februar 1875 an
Vorlesungen von Eduard Hanslick, dessen anfäng- Moritz von Mayfeld (Briefe 1, 154).
liche Gönnerschaft angesichts der späteren, spek- Da hat die Arbeit an der Fünften Sinfonie be-
takulären Gegnerschaft oft vergessen wird. reits begonnen. Eben an diesem Tiefpunkt, dem
Generell könnten perennierendes Ungenüge schlimmsten nach dem Sommer 1867, setzt Bruck-
und paranoisch anmutende Nobilitierungsbedürf- ner zum bisher größten, in Bezug auf den Kontra-
nisse das Bild der Wiener Arbeits- und Lebensver- punkt lebenslang ambitioniertesten Unternehmen
hältnisse allzusehr verdunkeln. Bruckner wohnt an, Zeugnis innerer Unabhängigkeit von äußeren
mindestens gut bürgerlich, erhält zu Beginn der Bedingungen ebenso wie der Heilkraft von Musik,
Wiener Zeit ein Künstlerstipendium und hat ins- welches das gegenüber Vertrauten oft penetrant
gesamt, auch dank etlicher Privatschüler, finanzi- zelebrierte Selbstmitleid dementiert bzw. als vor-
ell ein gutes Auskommen, feiert Triumphe als sorglich errichteten Schutzzaun enttarnt.
Orgelvirtuose, erlebt in Linz die Uraufführung Entgegen üblichen Gepflogenheiten begann
seiner e-Moll-Messe, wenig später in Wien die der die Niederschrift mit dem Adagio. Welche Vorpla-
f-Moll-Messe; im Jahr 1870 kommt ein Lehrauftrag nungen vorausgegangen sind, wissen wir nicht,
an der k.k. Lehranstalt St. Anna hinzu, im selben dass es sie gab, steht außer Zweifel. Bruckner
Jahr macht Ansfelden ihn zum Ehrenbürger, 1871 mochte ahnen, was in den Ecksätzen bevorstand;
wird er als Orgelvirtuose offiziell nach London in der Enklave des langsamen Satzes gewann er
entsandt; und eine herbe Niederlage wie die Ab- Bedenkzeit, möglicherweise auch konkretere Vor-
lehnung der Zweiten Sinfonie durch die Philhar- ausschau auf die anstehenden Lösungen, und
moniker verinnerlicht er nicht so sehr, als dass er wusste sich beim Adagio als Charakter und bei
nicht sogleich die nächste beginnen und beim dessen d-Moll auf vertrautem Boden. In seiner
Unterrichtsminister im Januar 1873 – und erneut Situation könnte die Übung in zielstrebiger Lang-
im November – um ein Arbeitsstipendium, »eine samkeit, die er sich aufzwang, auch mit Selbstthe-
bleibende, im Budget gesicherte und vorgesorgte rapie zu tun gehabt haben.
Subvention« (Göll.-A. 4/1, 229), nachsuchen
würde: kein Zeugnis mangelnden Selbstbewusst-
Erster Satz
seins, wenngleich er es nur mit Arbeitsbelastung
und materiellen Sorgen begründet. Nicht weniger Es nähme wunder, wenn das herantastende Kom-
gilt das für die an Richard Wagner gerichtete Bitte, ponieren sich nicht im Komponierten selbst nie-
180 Peter Gülke

dergeschlagen hätte: Die Fünfte ist Bruckners um die kontrapunktische Kulmination für das
einzige Sinfonie mit einer langsamen Introduk- Finale zu reservieren, mit polyphonen Fügungen
tion, welche den Auftrag der Hinleitung zu einer sparen – es gibt Passagen, welche verspüren lassen,
Hauptsache, die sie selbst nicht ist, zunächst per- wie schwer ihm das fällt, etwa im Umkreis der
fekt zu erfüllen scheint: Über feierlich schreiten- Verdichtungen am Durchführungsbeginn (Takte
den Pizzicati schichten die Streicher einen ruhig 261 ff.).
dahinziehenden vierstimmigen Satz auf, jäh abge-
löst von einem auffahrenden Ges-Dur-Signal, Beispiel 1: 1. Satz, Introduktion, Choral-
dem, abermals fortissimo, ein Choralsatz folgt – Intonation der Bläser
mithin drei zunächst scheinbar willkürlich neben-
einander gesetzte Komplexe, die er allmählich, 19
tonartlich wie motivisch, zu Bausteinen ein und
derselben Entwicklung zusammenfügt. Über ei-
nige Hürden treibt er sie dem Eintritt des Allegro
und dessen erstem Thema zu, das sich als vom Beispiel 2: 1. Satz, Hauptthema
Choral herkommend erweist. Dergestalt war die
Introduktion von vornherein mehr als nur Hinlei- 55
tung, fast schon latente Exposition – allerdings
weniger Exposition ausdefinierter Themen als von
Grundprägungen, denen immer neue Kristallisa-
tionen abgewonnen werden, besser und allgemei-
Zweiter Satz
ner: Versprechen. Ein solches leistet z. B. der
Blechprunk der ersten choralhaften Präsentation: Wie viel und welche Vorstellungen Bruckner von
Als zweites Thema kommt ein Choral im dürren den anderen Sätzen hatte, als er im Februar 1875
Pizzicato daher - fast ließe sich von Verfremdung mit dem Adagio begann, erscheint halbwegs schon
reden –, alsbald durch eine girlandenhaft um- erkennbar, wenn man den ersten Satz gehört hat:
schlingende Melodie der Violinen ergänzt, später Die melodische Kontur des Basses zur ersten Cho-
durch Einwürfe der Hörner. Diese stellen sich wie ralintonation der Bläser (T. 19 ff., Beispiel 1), wel-
frei hinzukommend dar, kaum wie vom Vorange- che wenig später diminuiert und in Umkehrung
gangenen herbeigerufen – den Anschein hermeti- zum Allegro hintrieb, dessen erstes Thema (Bei-
scher Logizität, die sich aller Irritation oder uner- spiel 2) ebenfalls von hierher kommt, kehrt in
warteten Bereicherung verschließt, leidet Bruckner dem des Adagio wieder (Beispiel 3) und ist auch in
in den »Gesangsperioden« am wenigsten. den begleitenden Triolen enthalten (Beispiel 4),
Dazu hielt ihn nicht zuletzt die besondere Fi- welche zugleich mit dem zweiten Adagio-Thema
nalität dieser Sinfonie an: Im ersten Satz regiert (T. 31 ff., Beispiel 5) zusammenhängen und im
eine subtile, von vornherein auf Einlösungen im Scherzo wiederkehren (Beispiel 6). Die Aufzäh-
Finale orientierte Kunst der Vorläufigkeit, die er lung ließe sich leicht verlängern, begünstigte das
am ehesten bei Mozarts Jupiter-Sinfonie KV 551 nicht zu sehr den Anschein, damit sei die innere
studiert haben kann. Wohl kommt es zu immer Einheit der Musik aufgewiesen. Die gründet indes
neuen Verwandlungen und Kristallisationen, nicht auf vielerlei Faktoren, unter denen motivisch-
jedoch zum Anschein, die thematische Abhand- thematische Bezüge nur einer sind, allerdings am
lung sei zuende gebracht; zu nachdrücklich oder ehesten kenntlich. Das wiederum befördert den
auftrumpfend darf der kontrast- und konflikt- Eindruck, der Komponierende habe »abgeleitet«.
trächtige Kopfsatz deshalb nicht beendet werden. Eher indes hat sich die Erfindung in einem wie
Wie Mozart spart Bruckner auf: Mit einer Fermate unter Strom gesetzten Umkreis bewegt, innerhalb
(T. 452) vor der Coda und mit deren Verknappung dessen die Details monadenhaft mit Bedeutung
verdeutlicht er, dass die Emphase des Schließens geladen, für den Komponierenden nahezu Lebe-
nicht hinausschießen darf über das, was diesem wesen sind und die Fantasie unbefangen und neu
Satz angemessen ist; und entsprechend muss er, auf Prägungen treffen kann, die der Analyse vorab
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 181

als Resultate planenden Vorbedachts einleuchten. fast durchweg prägenden Gegeneinander von
Dies zu bedenken ist bei einem Werk mit vielerlei Duolen und Triolen. Weil deren gemeinsame Be-
motivischen Kohärenzen besonders wichtig. zugsgröße, die durch Alla breve angezeigten Hal-
Schon die Intervalle waren für Bruckner Kleinle- ben, für Spieler und Hörer kaum noch realisierbar
bewesen: »Die Sekund, wissen’s, des is a armes sind, drängt sich in den divergierenden Verläufen
Waserl, die steht immer geduckt und darf sich das Moment spezifisch musikalischer Zeitlichkeit
nicht rühren, aber die Septime, die ist ein Luder, stark auf; der große Atem der Musik – auf andere
der ist nicht zu traun, die kennt keinen Spaß und Weise in weitläufigen Sequenzierungen, »pneuma-
möchte immer nur hinaufsteigen« (zit. nach No- tisch« leerlaufenden Passagen spürbar – überfor-
wak 1973, 175). dert uns. Nicht zuletzt rührt die Eindringlichkeit
des zweiten Themas (erstmals Takte 31 ff.) und
Beispiel 3: 2. Satz (Adagio), Hauptthema seiner Entfaltungen daher, dass wir hier aus sol-
chen Spannungen entlassen sind.
5

Dritter Satz
dolce
Normalerweise hält ein Scherzo dank Provenienz
Beispiel 4: 2. Satz (Adagio), Beginn und Hintergründen am ehesten Abstand zu satz-
pizz.
übergreifenden Bezügen. Dieses indes darf es nicht
1 3 – da wirken die vom Hinlaufen aufs Finale erfor-
derten dispositionellen Zwänge. Über die Anfänge
3 3 3 von Adagio und Scherzo hinaus (vgl. Beispiele 4
und 6) wirkt die Korrespondenz der begleitenden
Figurationen fort, u. a. in dem von der Oboen-
Beispiel 5: 2. Satz (Adagio), zweites Thema Melodie herkommenden Abstieg sequenzierender
Septimen, im Adagio erstmals Takt 7, dann immer
31 wieder und noch in den letzten Pizzicati der Takte
203 ff., im Scherzo in den Takten 97 ff. usw.; nach
8 der in der Erinnerung haftenden »Gesangsperi-
ode« im Adagio (Beispiel 5) wird der Quartfall am
Beginn des Scherzo-Themas (Beispiel 7), dessen
Beispiel 6: 3. Satz (Scherzo), Beginn Ab-Auf dem Auf-Ab der Begleitung Widerpart
leistet, unweigerlich als bezugnehmend wahrge-
1 nommen. Wie ein abgesprengter Überrest des
Themas erklingt dessen aufsteigender Nachsatz im
durchführungsartigen Mittelteil (erstmals
T. 137 ff.), und seine Umkehrung holt Bruckner als
Kontrapunkt in die ländlerhaft verlangsamte Pas-
Nicht nur eine Dramaturgie langsamer Sätze, die sage bei deren zweitem Erklingen (T. 189 ff.) her-
Bruckner, von Minimal-Anfängen über gewaltige ein. Im Trio wird aus der Wendung das Thema
Expansionen zur Heimkehr stiller Satzschlüsse (Bsp. 8), wieder mit Gegenbewegung, nun umge-
führend, kurz zuvor in der Vierten Sinfonie befes- kehrt wie am Scherzobeginn – oben Auf-Ab, unten
tigt hatte, bedingt den kargen Beginn mit der über Ab-Auf.
den Triolen-Pizzicati einsam singenden Oboe,
sondern der Umstand, dass die Melodie schwere Beispiel 7: 3. Satz (Scherzo), Hauptthema
semantische Ladung bei sich führt, von vornherein
3
weitgreifende Zusammenhänge evoziert - ganz
und gar für den Komponierenden. Er reflektiert es
ohrenfällig im schwergängig lastenden, den Satz
182 Peter Gülke

Beispiel 8: 3. Satz, Trio-Thema Bruckner hatte mit den letzten Sätzen der voran-
gegangenen Sinfonien stets Schwierigkeiten ge-
3 habt, fast immer war es zu eingreifenden Revisio-
nen gekommen. Diesmal komponierte er von
sanft vornherein aufs Ende zu, hat das kontrapunktische
Großaufgebot von vornherein anvisiert. Dass das
Im Sinne jener »Kunst der Vorläufigkeit« erlaubt Studium von Mozarts C-Dur-Sinfonie KV 551 zu
Bruckner dem Satz nur eingeschränkte Autono- den Zurüstungen gehörte, ist mehr als wahr-
mie, sei es im Ablauf, sei es in Bezugnahmen: Sehr scheinlich; es mag zu erkennen geholfen haben,
früh bremst er und wirft ihn jäh in ein langsameres dass Sonate und Fuge nicht einfach übereinander
Tempo, fast ließe sich von einem gewaltsam frag- kopiert werden könnten, u. a., weil sich die jewei-
mentierten Verlauf sprechen; das Trio gibt sich ligen Kulminationen – dort die vornehmlich dra-
ländlerisch-gemütvoll, darf aber – im »falschen« maturgisch, hier die vornehmlich tektonisch be-
Takt – kein Ländler sein, schon gar nicht so un- dingte – qualitativ unterscheiden. Konsequenter-
verstellt wie das der Vierten Sinfonie. Allzu viel weise hatte Mozart die Kombination a cinque, auf
Eigenprägung scheint im Vorfeld des Finales nicht die es kontrapunktisch hinauslief, aus dem Sona-
erlaubt. tendiskurs hinaus in die Coda verlegt. Wenn
Bruckner die Introduktion zum ersten Satz am
Finalebeginn wiederholt, mag das ebenso als letz-
Vierter Satz
tes Atemholen vor dem großen Wagnis und als
Welchen Vorwürfen angemaßter Beethoven- Hinweis darauf verstanden werden, dass ein neuer
Nachfolge wäre Bruckner nach der Katastrophe Anfang gesetzt werden müsse, wie auch als Teil
der unverhohlen an das d-Moll der Neunten und einer Strategie, die die Maßgaben von Sonate und
dessen Handhabung anknüpfenden Dritten Sinfo- Kontrapunkt immerfort neu gegeneinander relati-
nie ausgesetzt gewesen, wäre seine Fünfte bald viert, die Entscheidung zwischen beiden in der
nach der Fertigstellung in Wien präsentiert wor- Schwebe hält. Nicht nur am Anfang steht die In-
den! Die Themenzitate am Finalebeginn hätten troduktion, sondern im ersten Satz auch vor der
bequeme Handhabe geboten – auf Kosten profun- Durchführung - wie als Aufforderung, das Finale
der Missverständnisse: Denn hier werden nicht, als gewaltig gewucherte zweite Durchführung zu
wie bei Beethoven, Möglichkeiten des Fortgangs verstehen. Wo dort der »Hauptsatz« erreicht ist
verhandelt, Themen erwogen und verworfen, (T. 31), zeigt der Wechsel vom Lockruf zu massiv
sondern der bislang durchmessene Weg vergegen- stampfenden Celli/Bässen an, dass die schwer ar-
wärtigt und als Vorbereitung des Kommenden beitende kontrapunktische Maschinerie nunmehr
wahrgenommen. Kein dringlich fragendes, argu- angeworfen sei; das bestätigt die Regelmäßigkeit
mentierendes Rezitativ unterbricht die Zitate, der vier Einsätze - zweimal im Abstand von drei
vielmehr klingt das demnächst satzöffnende bzw. fünf Takten – ebenso wie das anschließende
Thema (T. 11 f., Beispiel 9) als Oktavschlag frech Tutti. Dieses indes, und mit ihm die Maßgaben
vorwegnehmend in diese selbst hinein und er- der Fuge, müssen fast vorzeitig denen der Sonate
scheint, zwischen sie gestellt, eher wie ein Lockruf; Platz machen: eine typische, im verlangsamten
den Oktavschlag – in beiden Richtungen – kennt Mittelteil gar kantabel gesteigerte »Gesangsperi-
der Hörer schon vom Hauptthema des ersten ode« erscheint und beschreibt, gleichfalls sonaten-
Satzes. konform, einen Gang durch verschiedene Ton-
räume (T. 67: Des; T. 83: E; T. 93: G usw.), und
Beispiel 9: 4. Satz, Vorwegnahme des dem schließt sich ein dritter, auf den ersten zu-
Hauptthemas in der Introduktion rückgreifender, den Oktavabschlag vergrößernder
Komplex an (T. 137) – soweit die bei Bruckner
11
erwartbare Anordnung einer Exposition.
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 183

Beispiel 10: 4. Satz, Bläserchoral und vorerst anspielend ein (T. 264 ff.). Damit be-
gegnet er dem Eindruck einer selbsttätig arbeiten-
176 den kontrapunktischen Maschinerie, wie auch –
angesichts seiner Fixierung auf quadratische Me-
trik auffällig – in unregelmäßigen Gruppierungen.
Die am Satzbeginn (T. 31 ff.) zweimal begegnende
Dem aber folgt, feierlich eingeleitet und sonaten- Folge von 3+5 Takten erscheint nun fünfmal (zwei-
widrig, ein von Streichern echohaft beantworteter mal T. 223 ff., zweimal T. 270 ff., einmal T. 293 ff.),
Choralsatz der Bläser (T. 175 ff., Beispiel 10), in darüber hinaus etliche Drei- und Fünftaktgrup-
den vorangehenden Sätzen vorbereitet wohl in pen. Zudem regiert eine subtile Dramaturgie der
melodischen Varianten (vgl. Beispiele 1, 3 bis 6), Steigerungen und Ausläufe, Verdichtungen und
jedoch nicht als Charakter. Fast kommt er wie Entspannungen, schwer und leicht durchhörbarer
eine lang verhießene Einlösung daher und ist sie Passagen; insgesamt lassen sich sechs je mit neuen
doch nicht – ein konsistenter Choral wird zwar Behandlungsweisen bzw. Konstellationen begin-
versprochen, doch bleibt es bei Anläufen, je für nende Abschnitte unterscheiden (Takte 223, 270,
sich stehenden, vom Nachecho der Streicher un- 293, 324, 339 und 374), deren vorletzter, längster
terbrochenen Zeilen. Als je von einem dominan- in drei Sektionen geteilt erscheint, weil die Musik
tischen Anfangsschritt aus chromatisch modulie- sich von der Anstrengung der Verdichtungen,
rende Einheiten, beim ersten Mal (T. 175 ff.) von Umkehrungen, Augmentationen etc. scheint er-
Ces nach B, beim zweiten von Ges nach F, ermög- holen zu müssen (T. 349), und ab Takt 362 auf den
lichen sie den groß ausgesponnenen Epilog. Somit letzten, sechsten Abschnitt steigernd zuläuft.
erscheinen sie zugleich als harmonische Einlösung Wenn irgendwo die strukturelle Dynamik von
der doppelt leittönigen ersten Themen beider Fuge und Sonate übereingebracht ist, dann hier:
Ecksätze (vgl. Beispiele 2 und 9). Die beiden Fugenthemen stehen in dröhnendem
Diese Nähe wird endgültig kenntlich, wenn Alfresco übereinander – zugleich wird die Grund-
Bruckner mit eben dieser nachgeschobenen, zu- tonart wieder erreicht: Beginn der Reprise (T. 374),
dem typologisch fixierten Prägung in die Fuge ohne dass die Fuge am Ende wäre.
einsteigt (T. 223), dem Sonatenreglement nach Damit steht vor Bruckner ein Problem. Am
zugleich Durchführung. Denn nun setzt er sich ehesten mag die transponiert fast getreue Rekapi-
abermals unter modulatorischen Druck – zu den tulation der »Gesangsperiode« (vgl. T. 398 bis 459
Mirakeln des Satzes gehört die Souveränität, mit mit T. 67 bis 126) noch als Erholung von der kon-
der Alterationschromatik und kontrapunktische trapunktischen Anspannung plausibel erscheinen;
Zwänge in Einklang gebracht sind (Swarowski dem zuliebe flaut die vorangehende Kulmination
1979, 114). Insofern das Ausmessen harmonischer schnell ab. Spätestens bei der dritten Gruppe
Räume und der von der Melodie erzwungenen (T. 460 ff.) indessen, welche den Oktavabschlag
Kurven zu den Hauptgegenständen der gewaltigen der ersten augmentiert, müsste der Eindruck ent-
Entwicklung gehört, könnte man die vorange- stehen, sie bleibe als Tribut an die vorgeordnete
henden, von F nach E bzw. A nach As führenden Form hinter dem soeben Geschehenen zurück,
›Nachrufe‹ des Solo-Horns bzw. der Holzbläser könne dessen Höhe nicht halten. Bruckner indes-
gar als Klein-Exposition ansehen. sen verfährt mit den einander entsprechenden
Wie beim Einstieg in die ›Exposition‹ über- Passagen wie mit den Ecksätzen insgesamt – ange-
rascht Bruckner mit dem, was er zum Thema sichts der polyphonen Beschwerung dieser zweiten
wählt; nun, vor der großen fugischen Expansion, (T. 460 ff.) erscheint die korrespondierende erste
sucht er nach dem wuchtigen ersten Eintritt des (T. 137 ff.) wie ausgespart, fast wie eine Leerform.
Chorals am Expositionsschluss einen diskreten: Nicht nur erklingt als ostinater Rhythmus nun das
Die Bratschen beginnen piano, und auch das erste Thema der ersten Fuge wieder (wie in Beispiel 9,
Thema, nun, innerhalb der Fuge, in der Funktion nun Posaunen: Takte 464 ff.), außerdem wird, den
des zweiten, führt er schon vor der ›offiziellen‹ gewichtig stampfenden Oktavabschlägen den
Exposition der Takte 270 ff. in den Bässen piano Vorrang streitig machend, der oben im Beispiel 2
184 Peter Gülke

gezeigte Kopf des Hauptthemas vom ersten Satz sammenhang gebracht worden: Kurz vor der ers-
wiederholt (Holzbläser, T. 462 ff.), sogleich in en- ten Beendigung der Sinfonie, am 24. April 1876,
gen Imitationen und in Verkleinerungen des hielt er seine Antrittsvorlesung als – vorderhand
dreiklängigen Abstiegs zerflatternd – damit fast unbesoldeter – Lektor für Harmonielehre und
voraussetzend, es sei immer präsent geblieben. Kontrapunkt und definierte seinen Gegenstand
Mit der jähen Intervention erwirkt Bruckner als »musikalische Wissenschaft«. Wie ungewohnt
zweierlei – zum einen den werkübergreifenden die Bezeichnung heute anmuten mag und zur
Rückblick, zum anderen – in einer Situation, Bezugnahme auf jenes »Meisterstück« einlädt –
welche suggerieren könnte, alles sei gesagt – Anlass seinerzeit war die Bezeichnung nicht ungewöhn-
und Antrieb zur letzten, summierenden Kulmina- lich, und Bruckners Komponieren war generell in
tion. Dem hatte er auch dadurch vorgearbeitet, einem Maße legitimatorisch motiviert, nach wel-
dass er den Choral, an dem die fugische Entwick- chem die Zuständigkeit der großen Traditionen,
lung sich entzündet hatte, in deren Verlauf verlo- der großen Meister als Instanz, vor der er bestehen
ren gehen ließ und vor der kurzlebigen Kulmina- müsse, im Vergleich zu der irgendwelcher Gremien
tion der Takte 374 nur notdürftig zurückgewonnen allemal wichtiger blieb.
hatte – in den Takten 296 ff. war er in einer Fort- Nach dem ungeheuren Schaffensschub – fast
spinnung aufgegangen, in den Takten 324 ff. zu- dreimal hintereinander pro Jahr eine Sinfonie –
nächst in Umkehrung wieder aufgetaucht, hatte und dem an den Unterschieden der drei Werke
zweimal, als seien die strukturschaffenden Poten- erkennbaren Terraingewinn ist nun ein vergleichs-
zen erschöpft, keine Fortsetzung gefunden und weise glücklicher Bruckner zu erleben, u. a. bei der
sich sequenzierend aufgelöst (Takte 339 ff. und Uraufführung des Ring des Nibelungen in Bayreuth
350 ff.). Dergestalt waren die Ansprüche des zen- oder im Gespräch mit Enthusiasten wie Wilhelm
tral stehenden Themas auf die Schlussapotheose Tappert, der die Wege nach Berlin öffnen will.
hintan gehalten. Den Anlauf zu ihr organisiert Pausieren, im Normalverständnis Erholung jedoch
Bruckner in zwei ›Wellen‹: die erste (Takte 496 ff.) ist Bruckners Sache nicht, Leben und komposito-
auf den weichen Gleitschienen der aus der »Ge- rische Tätigkeit hatte er nie zu unterscheiden ge-
sangsperiode« herkommenden Achtelskalen, die lernt und war nach Beendigung eines Vorhabens
zweite (Takte 535 ff.) über dem spitzigen, vom fast immer sogleich ins nächste fortgestürzt. Dass
ersten Thema (Beispiel 9) dominierten Unter- es in den folgenden Jahren dabei, vom Streich-
grund. Hier wie dort besorgt am ehesten die quintett abgesehen, vornehmlich um Revisionen
quadratische Metrik den Ordnungsrahmen einer ging, mag nicht nur von außen veranlasst gewesen
›aleatorisch‹ beliebigen, drängenden Überhäufung sein, sondern auch durch die soeben bestandene
fast aller wichtigen Prägungen, Varianten, Permu- tour de force: Ein derartiger Kraftakt bitte nicht
tationen etc.; da alles dem Ende zustrebt, bedarf es gleich wieder – abgesehen von der Frage, was für
keiner anderen Ordnungsfaktoren mehr, den eine Sinfonie nach dieser möglich sei, gar sie über-
Maßgaben von Sonate und Kontrapunkt ist Ge- bieten könne.
nüge getan. Sie verabschiedend veranstaltet Weil er an der Fünften Sinfonie nachgearbeitet
Bruckner die Paradoxie eines ›geordneten Chaos‹ hat, wenngleich nicht so radikal eingreifend wie
und legitimiert nicht zuletzt von hierher die am demnächst in den Schluss-Sätzen der Dritten und
Schluss augmentierend überhöhte, so folgerichtige Vierten, ist die Frage schwer zu beantworten, wes-
wie überschießende Ankunft: »Choral bis zum halb in der Partitur – aufführungsbezogen – man-
Ende fff« (T. 583). che Unstimmigkeit stehenblieb, welche zweifellos
Nachfragen nach sich gezogen und gegebenenfalls
*** als neuer Beleg für den wirklichkeitsfremden Son-
derling hergehalten hätte. Beim zweiten Satz hat
Dieses von Bruckner selbst so genannte »kontra- er mit der Alla-breve-Vorzeichnung vor allem
punktische Meisterstück« (Göll.-A. 4/1, 392) ist wohl den musikalischen Atem gemeint; überträgt
recht schlüssig mit seinen Bemühungen um eine man es auf die feierlich schreitenden Viertel, er-
feste Bestallung an der Wiener Universität in Zu- gäbe sich für die Choralzeilen der Takte 18 ff. und
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 185

26 ein kaum realisierbares langsames Tempo. Bei- Die Sechste Sinfonie


demal beim Eintritt des zweiten Themenkomple-
Entstehung
xes im ersten Satz (Takte 101 ff. und 381 ff.) fehlt
der Hinweis auf langsameres Tempo, welches aus In grober Schematisierung bieten sich für eine
dem Takt 116 bzw. 389 angezeigten »Tempo I« si- Übersicht bei den Sinfonien drei Dreiergruppen
cher zu erschließen ist; auch in Bezug auf die in an – die Annullierte, Erste und Zweite Sinfonie als
den Takten 325, 338 und 347 fälligen Tempoverän- Selbstverständigungen, Dritte, Vierte und Fünfte
derungen lässt er die Interpreten im Stich bzw. als Besetzungen exemplarisch unterschiedlicher
verlässt sich auf die Entsprechungen zu den Takten Positionen, Siebte, Achte und Neunte dies auf neuer
101 ff., 18 ff. und 31 ff., über deren Verbindlichkeit Stufe wiederholend, deren letzte mit der Rück-
sich aber streiten lässt; das Gleiche gilt für den sichtslosigkeit eines Alten, den die erwartbaren
Einstieg in die gewiss treibende, beschleunigte Bedenken der Mitwelt kaum noch interessieren.
Coda (T. 453). Im Finale wäre bei Takt 107 der Dazwischen steht als Solitär die Sechste. Nicht nur
Hinweis auf ein den Takten 83 ff. (»Etwas mehr konzeptionell hebt sie sich von den Nachbarwer-
langsam«) entsprechendes Poco meno mindestens ken ab, auch ist keine andere so vergleichsweise
denkbar, wenngleich der Übergang in das schnel- rasch komponiert worden, und nirgendwo sonst
lere, als solches ebenfalls nicht angezeigte Tempo geht eine so lange Pause in der Beschäftigung mit
der Takte 137 ff., sofern man nicht den »Schnitt« sinfonischen Projekten voraus. Dies ausschließlich
des Taktes 136 benutzen will, noch schwieriger als Erholung nach dem Kraftakt der Fünften zu
würde. Ähnliches betrifft das Verhältnis der Passa- erklären, verbietet sich, weil Pausen für Bruckner
gen Takte 444 ff. bzw. 460, cum grano salis inso- oft eher zu Krisenzeiten wurden und er die Zwi-
fern, als vor Takt 460 ein beschleunigter Zulauf, schenfrist mit anderen Aufgaben reichlich gefüllt
freilich nicht eigens angezeigt, auskomponiert er- hat.
scheint; beim Coda-Beginn könnte im Interesse Die Niederschrift begann am 24. September
der nachfolgenden Steigerungen von vornherein 1879 und war knapp zwei Jahre später, am 3. Sep-
ein gemäßigter Einstieg mitgemeint gewesen sein. tember 1881, beendet. Die Abschlussdaten für die
Nicht alles kann unterhalb der Schwelle jener einzelnen Sätze lauten 27. September 1880 für den
elastischen Handhabung eines z. B. »gemäßigten« ersten, 22. November für den zweiten, 17. Januar
oder »beschleunigten Hauptzeitmaßes« gelegen 1881 für den dritten und jener 3. September für
haben. Konsequenterweise finden sich zusätzliche den vierten. In das dem ersten Satz gewidmete
Tempobezeichnungen in den Bearbeitungen häu- Jahr gehören zudem u. a. das fürs Streichquintett
fig. Am ehesten hieraus mag sich erklären, weil neukomponierte Intermezzo, die Neugestaltung
weithin üblich, dass bei Accelerandi die Ankunft des Finales der Vierten Sinfonie, im August/Sep-
beim anvisierten »Tempo I« o.Ä. nicht eigens an- tember 1880 die Reise in die Schweiz, die zeitlich
gezeigt ist, z. B. im Scherzo bei den Takten 63 bzw. längste, die Bruckner je angetreten hat.
307. Man könnte sie als den Schlusspunkt unter die
Ein Quantum Vorläufigkeit bleibt somit auch vermutlich besten Jahre seines Lebens ansehen: Im
einer definitiv fertiggestellten Bruckner-Partitur Mai 1876 war er mit der Fünften zu Ende gekom-
erhalten. Zwar haben die für die Uraufführungen men, im August erlebte er in Bayreuth die Urauf-
verantwortlichen Jünger nicht immer einzugeste- führung von Wagners Ring des Nibelungen und
hen gewagt, wie exzessiv sie hiervon Gebrauch war zu Empfängen des deutschen Kaisers und des
machten, andererseits konnten sie sich darauf be- bayerischen Königs geladen, hatte die für die Pu-
rufen, dass er seine Tempovorstellungen erst spät blizität seiner Musik wichtige Begegnung mit dem
oder überhaupt kaum fixierte. Womit sich die einflussreichen Musikschriftsteller Wilhelm Tap-
Fragen stellen, inwieweit er das als Aufgabe des pert, revidierte die Dritte und die Vierte Sinfonie
Komponierenden betrachtet hat, und inwieweit und scheint sich gar halbwegs über den Misserfolg
Temponahme in unsere Maßgaben von Werktreue der ersteren am 16. Dezember 1877 durch die Zu-
einbezogen werden darf. sage des Verlegers Rättig hinweggetröstet zu haben,
sie dennoch drucken zu lassen. Auch scheint die
186 Peter Gülke

Enttäuschung, dass ihm im November 1877 Joseph Maße umzulernen, das ihnen die Ecksätze aufge-
Hellmesberger bei der Bewerbung um das Amt geben hätten. Die Sinfonie als Ganzes, wenngleich
des Hofkapellmeisters vorgezogen wurde, durch gekürzt und revidiert, kam erst im März 1901 un-
die Ernennung zum »wirklichen Mitglied der k.k. ter Mahler zur Aufführung und wurde danach
Hofkapelle« im Februar 1878 kompensiert worden jahrzehntelang aus einem Material gespielt, worin
zu sein – dank der damit verbundenen Vergütung sich etliche nicht autorisierte, im Hinblick auf
konnte er die Verpflichtungen des »Vize-Archivars« damalige Hörerwartungen und Musizierweisen
und Gesangslehrers der Hofkapell-Knaben abge- aufschlussreiche Tempo-Anweisungen finden; so-
ben. Er schrieb das Streichquintett und erntete mit weit hinsichtlich der Tempi nicht gar notwendige
der Aufführung der d-Moll-Messe am 6. Juni 1880 Ergänzungen, verraten sie oft sensible Einfühlung
einen seiner größten Wiener Erfolge. Überdies in die Dynamik der Verläufe und sollten nicht
fallen in die Jahre zwei vorteilhafte Wohnungs- einfach als unautorisiert beiseite geschoben wer-
wechsel, und als er im September aus der Schweiz den.
zurückkehrte, war eine feste Besoldung als Lektor
an der Universität auf 800 Gulden bestätigt wor-
Erster Satz
den.
Die Pause spricht auch dafür, dass er sich nach Nach zweimal c-Moll, dann d-Moll und den
den vorangegangenen Sinfonien und als in einer Blechbläser-Tonarten Es-Dur und B-Dur war das
Weise definiert empfand, die zu Rechenschaft und helle, ›weltliche‹ A-Dur ein Programm, wie immer
Rückschau einlud. Er bestätigt es, indem er in der es phrygisch infiziert erscheint – im Hauptthema
neuen Sinfonie ostentativ anders ein- und ansetzt des ersten Satzes (Beispiel 11) wie den Bassgängen
und, soweit die vorangegangene Trias etwas wie im zweiten (T. 49 ff., Beispiel 12), sofern man nicht
eine eigene Dogmatik begründet hatte, zu ihr auch das F-Dur des Letzteren als phrygisch er-
Abstand sucht. Wie Beethoven nach der Eroica niedrigte zweite Stufe der eher fälligen Dominant-
mag er nach der Fünften empfunden haben, dass tonart E-Dur ansehen will. Selbst, wenn Leopold
in Anspruch und Umfang eine ›kritische Masse‹ Auers Hinweis auf ein Retraite-Signal des österrei-
erreicht sei und er auf dem vorgebahnten Weg chischen Militärs (Beispiel 13; Göll.-A. 2/1, 199 ff.;
nicht geradlinig fortfahren könne. Dazu passt, Stephan 1996, 28) als möglichen Anknüpfungs-
dass er später die Sechste als »die Keckste« bezeich- punkt für das erste Thema nicht zutreffen sollte,
net haben soll (Auer 21934, 237) und Eduard bliebe die Richtung der Assoziation aufschluss-
Hanslick – der mit anderen Professoren gegen jene reich. Im Hinblick auf eine große Sinfonie banal
Gehaltszusage votiert hatte – nach der Wiener sollten wir sie nicht finden – je kreativer künstle-
Uraufführung der beiden Mittelsätze am 11. Feb- rische Fantasie ist, desto weniger wählerisch ver-
ruar 1883 zweideutig befand: »Im Ganzen hat der fährt sie bei Anregungen. Immerhin enthält das
wilde Komponist etwas an Zucht gewonnen, aber Signal den markanten Abwärtsschritt zu Beginn
an Natur verloren« (Göll.-A. 4/2, 78) – wobei zu und die triolischen Auftakte, und der Verlauf des
bedenken ist, dass er die Fünfte nicht kannte. ersten Satzes bestätigt rasch die bei Bruckner oh-
Dies mag für Bruckner Glück im Unglück ge- nehin naheliegende Vermutung, dass er die Vier-
wesen sein – nicht zuletzt geeignet, das Augenmerk tel-Triolen des ersten Themas und die punktierend
auf Wirkungen erster Aufführungen auf das Bild geschärften Achtel-Triolen der Begleitung als
zu lenken, das die Nachwelt von den Werken hat; Emanationen ein und derselben subthematischen
erste Eindrücke sind zählebig. Wären Umwege Grundprägung begreift.
und Katastrophen in der Rezeption seiner Musik
nicht die Regel gewesen, müsste man die der
Sechsten Sinfonie ebenso beziehungsreich wie zu-
fällig nennen: Hanslick konnte im Februar 1883
nur die Mittelsätze hören; er und das Publikum
brauchten, soweit sie mit bestimmten Erwartun-
gen gekommen waren, wenigstens nicht in dem
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 187

Beispiel 11: 1. Satz, Hauptthema

3 3 3 3 3 3 3 3
3 3

Beispiel 12: 1. Satz, Wiederholung der Gesangsperiode (zweites Thema)

49

pizz. 3 3

3 3 3 3

Beispiel 13: Retraite-Signal des öster- Musik unter Druck haltenden Ungeduld beson-
reichischen Militärs (nach Göllerich-Auer) ders dringlich braucht.
Impetus und Insistenz der Verläufe verschaffen
3 dem Gang durch die Tonarten spezifische Ein-
3
dringlichkeit; wie Beethoven in seiner Siebten F-
Dur fast als Gegentonart zu A-Dur etabliert, ge-
schieht es bei Bruckner mit C-Dur – das wird er
Der Ostinato der Letzteren, der dem ersten Satz in der nachfolgenden Sinfonie wiederholen; dass
– wie weitab von den raunenden Tremoli am An- Beethoven die Coda des ersten Satzes seiner Sieb-
fang der Zweiten, Dritten, Vierten und dem feier- ten im abseits gelegenen As-Dur ansetzt, überbietet
lichen Schreiten der Fünften! – zunächst ein er, indem er mit dem Repriseneintritt ein Verwirr-
rhythmisches Korsett aufzwingt, steht nicht nur spiel treibt: Alle Präliminarien, der große Gestus
damit für Neubeginn. Nachdem bisher Beetho- und die Anweisung »Tempo wie anfangs« sprechen
vens Neunte Sinfonie als erster Bezugspunkt unver- für den Takt 195; indessen befindet die Musik sich
meidbar schien, übernimmt dies nun dessen Siebte in denkbar weiter Entfernung von der Grundton-
– auch eine A-Dur-Sinfonie, vorab mit den rhyth- art, in Es-Dur; A-Dur erreicht sie, genauso repri-
mischen Ostinati. Im Gegenzug zu einer Gelas- sengemäß auftrumpfend, 14 Takte danach, durch-
senheit im Verhältnis zur musikalischen Zeitlich- misst also die größtmögliche Distanz innerhalb
keit, die nach Maßgaben struktureller Verdichtung kürzestmöglicher Zeit.
oft provozierend erschien, verordnet Bruckner Das ist mehr als ein kompositionstechnischer
sich nunmehr ungeduldige, drängende Musik. Als Sachverhalt. Wie weit Bruckners harmonische
solche erweist sie sich dank der Punktierungen Wege immer führen, wie atemberaubend die mo-
ebenso wie in der Handhabung der Form: Bei der dulatorischen Verschlingungen immer sein mögen
Wiederkehr thematischer Komplexe im ersten – kein komponierender Zeitgenosse hat seine
und zweiten Satz verkürzt Bruckner die üblicher- Könnerschaft so wenig als Lizenz für Bilderstür-
weise dazwischen liegenden Vermittlungen, pneu- mereien angesehen, hat überkommene Reglements
matisch auslaufenden, ausatmenden Passagen, in so wie er als apriorisch, nahezu als transzendente
denen vorangegangene Verdichtungen nachhallen Gegebenheiten verstanden. Das gilt für den Kon-
– auffällig, obwohl er sie als Widerlager jener die trapunkt ebenso wie für periodische Metrik, doch
188 Peter Gülke

auch für Vorgaben wie Fuge oder Sonate, über von Hauptmelodie und Begleitung gehört, das
deren Historizität er andererseits genau Bescheid Nebeneinander getragener 6/4- bzw. 4/4-Verläufe
wusste. Doch waren sie ihm als Vermächtnis der aber keine agogische Toleranz duldet und alle
großen Meister heilig genug, um bei jedem ›Ver- Aufmerksamkeit der Musizierenden auf die
stoß‹ Rechtfertigung zu erfordern. Schwierigkeiten des Miteinanders fixiert; was er
So auch hier. Weniger noch als anderswo geht erstmals im Adagio der Fünften erprobt hatte,
es um Themen im Sinne von Thesen und um all- sollte nun auch innerhalb eines ersten Satzes be-
mähliche Offenlegung von deren zunächst nicht stehen können. »Bedeutend langsamer« könnte
voraussehbarer Konvergenz, sondern um ein Wi- Bruckner auch angewiesen haben, um Dirigenten
derspiel divergierender Verlaufsformen wo nicht daran zu hindern, die Schwierigkeiten durch
Zeitarten, das sich nicht schlichten lässt – ange- flottes Tempo beiseite zu schieben und über den
fangen bei zwei einander abwechselnden Tempi; Hauptgegenstand der Konstellation hinweg zu
»bedeutend langsamer« schreibt Bruckner jeweils turnen.
am Beginn des zweiten Themenkomplexes (Bei- Weil die Exposition der Themen viel Konflikt-
spiel 12, Takte 49 bzw. 245) vor, lässt uns aber in stoff enthält, kann Bruckner eine weitläufige
Bezug auf die Rückkehr zum Tempo I im Stich Durchführung, sei’s als Kommentar, Entfaltung
bzw. scheint vorauszusetzen, dass es als zum drit- oder Zuspitzung, nicht brauchen. Um so deutli-
ten Themenkomplex (Takte 101 bzw. 285) gehörig cher demonstriert er, dass er das Widerspiel der
erkannt werde. Dagegen spricht aber, dass er vier Zeitebenen als zentralen kompositorischen Ge-
Takte vor der Es-Dur-›Reprise‹ ein Accelerando genstand versteht, z. B., indem er das erste Thema
anweist und dortselbst »Tempo wie anfangs«; das ab Takt 159 in sechsmal vier Takten freilässt und
hieße, dass »bedeutend langsamer« bis hierhin Umkehrungen, Imitationen etc. an Wichtigkeit
gegolten hat – das aber kann nicht sein bzw. lässt hinter dem großen melodischen Zug zurücktreten,
sich nicht realisieren, selbst wenn man beide die Musik sich aussingen kann wie sonst in den
Tempi näher aneinanderrückt, als das Beiwort »Gesangsperioden«. Ähnlich geschieht es in der
»bedeutend« erlaubt, oder die im damals ge- Coda (Takte 309 ff.) beim Zulauf auf die letzte
bräuchlichen Begriff »Hauptzeitmaß« mitgemeinte Kulmination, worin selbst die bis hierhin aufge-
Elastizität exzessiv in Anspruch nimmt. Sieht man sparte Augmentation der eröffnenden Punktie-
von dem gegenüber Interpreten oft rätselhaft rungen (Takte 337 ff.), obwohl eine Schlüsselstelle
permissiven Bruckner ab, so bietet sich am ehes- im Hinblick auf die Konzeption des Ganzen, dis-
ten, durch noch größere Kalamitäten im Finale kret eingehüllt erscheint; auch die naheliegende
bestätigt, als Erklärung an, dass er unsicher war, Kombination des dem Quintfall des ersten The-
d. h. etwas komponiert hatte, dessen Realisation er mas folgenden Auf-Ab mit seiner Umkehrung
sich nicht detailliert vorstellen konnte, sofern er es hebt Bruckner sich bis hierhin auf.
überhaupt wollte – minutiöse Tempo-Festlegun-
gen hat er kaum als seine Aufgabe angesehen.
Zweiter Satz
Neu war, dass das erste und das zweite Thema
nicht frei daherkommen, sondern eingebunden, Ähnlich jubelnd ausfahrendes Singen komponiert
eingesperrt in die Spannung zwischen unter- er im je zweiten Thema im Adagio (Beispiel 14,
schiedlichen, schwer koordinierbaren Verlaufsfor- Takte 25 ff. bzw. 113 ff.) und Finale (Takte 65 ff.
men - der kleingliedrig punktierende Rhythmus bzw. 299 ff.), beide Male befreiende Aufschwünge,
der Violinen am Beginn erlaubt keinerlei Schwan- beim Adagio nach dem hymnisch-choralhaften
kung, wie sie beim Vortrag des in Celli/Bässen ›hohen Ton‹ zuvor mit nahezu erlösenden Wir-
erscheinenden Themas unter einem Tremolo kungen – als habe er die sonst den Kopfsätzen
eintreten könnten, ohne recht bemerkt zu wer- gehörige Gegensätzlichkeit von maiestas-Symbolik
den; beim zweiten Themenkomplex (Beispiel 12) im ersten Themenkomplex und großem Cantabile
macht die Fesselung sich noch stärker fühlbar, im zweiten dem Adagio übertragen. Kommt
weil hier üblicherweise entspanntes Aussingen hinzu, dass das Singen im Adagio gleich mehr-
seinen Ort hat, wozu eine klare Unterscheidung stimmig aufbrandet – in E-Dur innerhalb eines
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 189

F-Dur-Satzes! Wiederum handelt es sich zugleich gezogen« schreitenden Viertel des ersten Themas
um mehrere Bewegungsformen – die Celli greifen, (Beispiel 15); auch hier, wo am ehesten beruhigt-
den Aufstieg beschleunigend, den Violinen unge- homogene Verläufe zu erwarten wären, erweist
duldig vor. Ähnlich ungeduldig verhält sich die sich das Beieinander divergierender Verläufe als
vorgreifende Oboe vor dem Hintergrund der »lang Hintergrundprogramm.

Beispiel 14: 2. Satz, Gesangsperiode (zweites Thema)

25

Beispiel 15: 2. Satz, Hauptthema T. 5–7

Noch mehr im Hintergrund bleiben die Bezüge Thema im Kopfsatz (Beispiel 12) wendet die die
der Themen untereinander, wenngleich Gemein- Takte 15 ff. voranpeitschende Figur ins feierlich
samkeiten um so wichtiger werden, desto konsis- Getragene, übernimmt vom ersten das dem
tenter die Stationen des Werkes bzw. der Sätze je Quintfall angeschlossene Auf-Ab und weitet es
für sich ausgeprägt erscheinen. Kaum beantwort- zum großen Bogen; der im dritten Themenkom-
bar indes bleibt die Frage, wie viel Zusammenge- plex (Kopfsatz, Takte 101 ff. bzw. 285 ff., Beispiel
hörigkeit sie zu stiften vermögen, schon eine Be- 17) insistierend wiederholte Quartabschlag weist
nennung könnte als Überbetonung erscheinen; auf den Quintabschlag vom Beginn zurück, und
eher wäre von unterschiedlichen Kristallisationen die in den Takten 130 ff. des Finale erscheinende
einer Nährlösung zu sprechen, in der die Fantasie punktierte Figur, bald derart wuchernd, dass die
immer neu fündig wird. Der Abgang der Oboe am Musik die Rückbindung an vorgegebene Themen
Adagio-Beginn mutet wie eine nervös beschleu- zu vergessen scheint (Finale, Takte 146 ff.), liegt
nigte Nachzeichnung der feierlich-gleichmäßig nahe bei der der Oboe im Adagiobeginn (Beispiel
schreitenden Bässe an, kompakt wiederholt er- 15) und jener peitschenden Wendung der Celli/
scheint er im Scherzo als Hauptthema wieder, als Bässe im ersten Satz (Takte 15 ff.).
gehetzte Floskel im Finale (Beispiel 16); das zweite

Beispiel 16: 4. Satz, Beginn


3

dim.

pizz.
190 Peter Gülke

Beispiel 17: 1. Satz, drittes Thema jedoch nicht zielführend hetzt, in der anschließen-
den, »bedeutend langsameren« Passage wie gewalt-
101 sam abgebremst erklingen; ein und dieselbe Prä-
gung in verschiedenen Tempi – nahezu ein Novum
im Rahmen eines obligaten Satzes, der das Junk-
tim von Thema und Bewegungsform behaupten
muss!
Dritter und Vierter Satz
Das jähe Innehalten am Schluss der Exposition
Andere Extreme der Zeitgestaltung verfolgt (Takte 177 ff.) – die vorangehende steigernde Ent-
Bruckner im dritten und vierten Satz. Nach dem wicklung lief ins Leere – mutet wie ein Atemholen
– der Anweisung »Nicht schnell« fast entgegen – an in der nahezu haltlosen Flucht der Erscheinun-
furiosen ¾-Takt des Scherzos komponiert er im gen, kommt bei gebethaften Bildungen an und
Trio eine auf der Stelle tretende, mit Ausnahme signalisiert eindrücklich das eigenwüchsige Form-
der acht Takte 25 ff. zweitaktig gruppierte Musik konzept dieses Finales, das überkommene Orien-
und etabliert in den Holzbläsern mit dem Zitat tierungen weitgehend beiseite schiebt. Wer nach
des Hauptthemas der Fünften Sinfonie ein aus dem dem Reprisenbeginn sucht, käme am ehesten auf
Kontext herausfallendes, woandershin weisendes den Takt 245, ohne naheliegenden Einwänden
Detail; eine stärker zerpflückte und fragmentierte, begegnen zu können. Wie Bruckner die Dirigen-
schizophrenere, auf die Bindekraft quadratischer ten bei den Tempi wiederum im Stich lässt, zeigt
Metrik stärker angewiesene Musik hat er nie ge- wohl, dass er selbst es nicht wusste und wollte und
schrieben. Ein selten begegnendes Moment ver- sich komponierend einer nicht in allen Kompo-
spielten Humors scheint bei dem Versuch unüber- nenten fügsamen Logik des Fortgangs auslieferte.
hörbar, eine beharrende, fast jegliche Verknüpfung
verweigernde Musik zu formulieren, zudem ohne
motivische Bezüge zu den anderen Sätzen. Wenig
fehlt zu dem Eindruck, er habe die integrierenden
Kompetenzen quadratischer Metrik einem Test
unterziehen wollen, indem er extrem divergierende
Bildungen hineinzwängt.
Dies steht einem Finalebeginn knapp voran,
der umgekehrt haltloses Treiben artikuliert, das
konsistente Formulierung nicht zu dulden scheint
(Beispiel 16) – auch deshalb scharfe Interventionen
der Blechbläser, steigernde Halterufe, welche end-
lich (Takte 47 ff.) eine fanfarenhafte, doch kaum
thementaugliche Fixierung erreichen. Mit Aus-
nahme des zweiten Themenkomplexes (Takte
65 ff. bzw. 299 ff.) – dort (u. a. Takte 81 ff. bzw.
315 ff.) ein bewusst gesetzter Anklang an Tristan?
– dominiert die Verlaufsform die thematischen
Formulierungen und mindert so die Autonomie
der Prägung. Wie zu dessen finaler Bekräftigung
fährt Bruckner im letzten Tutti nicht auf eine
emphatische Wiedergewinnung des Hauptthemas
vom ersten Satz zu – eher beiläufig-selbstverständ-
lich kommt es unter, nur mehr ein melodischer
Dolmetsch der Tonart.
Dank der Priorität der Bewegungsform kann
die kleine Punktierung, die die Takte 146 ff. heftig,
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 191

Die Siebte Sinfonie an das frische Grab Richard Wagners nach Bay-
reuth, mit dem Enddatum 3. September das Fi-
Entstehung
nale. Sicherlich schoben sich in die letzten Wochen
Verglichen mit der Fesselung durch divergierende Entwürfe zum Te Deum, dessen Rohfassung nur
Zeitverläufe, die Bruckner am Beginn der Sechsten drei Wochen nach der Sinfonie fertig war.
exponiert und u. a. zum kompositorischen Pro- Der Vergleich mit den Expeditionen der Fünf-
gramm gemacht hatte, mutet der der Siebten wie ten und Sechsten Sinfonie legt nahe, den Erfolg der
eine Ausfahrt ins Freie an, dank des nachgiebigen Siebten mit Momenten ›klassizistischer‹ Klärung
Tremolos ebenso wie in der Gegensätzlichkeit der und Zurücknahme verbunden zu sehen. Mehr
Themen: in der Sechsten vermöge knapp gefasster noch als anderswo bei Bruckner erschließt sich der
Prägnanz und klarer Unterteilung in zwei kontras- formale Aufbau außer beim Finale leicht, nicht
tierende Glieder ein durchaus ›klassisches‹, nun zuletzt dank einer überwältigenden, konturieren-
ein ausladender, zu immer neuen Bildungen fort- den Dramaturgie der Steigerungen, Ausläufe,
gehender Melodiezug, weitab von aller als konzise harmonischen Gänge, Wechsel der Klanggruppen
Formulierung leicht erinnerbaren Setzung. Wie usw. Dies allein aber kann einen Musiker wie Ar-
bei der Vorgängerin definiert Bruckner damit ein thur Nikisch – beim gemeinsamen Durchspielen
bestimmtes Verhältnis zur musikalischen Zeitlich- der Partitur mit Josef Schalk – kaum zu superlati-
keit – ein viel weniger konfliktbelastetes – als vischen Äußerungen hingerissen haben wie: »›Seit
kompositorischen Gegenstand. Zwanzig Takte Beethoven nichts auch nur ähnliches geschrieben
Orgelpunkt Fis (Takte 103 ff.) im Anlauf zum zwar worden. Was ist da Schumann! etc. etc.‹ ging es in
als Position, substanziell indessen weniger wichti- einem fort« – so berichtet Josef Schalk seinem
gen dritten Thema (T. 123 ff.) und dreißig Takte Bruder am 30. März 1884 über Nikischs Reaktion
E-Dur am Satzschluss zeigen an, dass er die Di- (Briefe 1, 210). Die unmittelbare Plausibilität der
mension der Zeiträume weniger als durch Binnen- Themen bzw. thematischen Prägungen – derart
struktur legitimationsbedürftig begreift denn als überwältigend weitgezogene, in immer neuen
apriorisch gegeben – die dreißig E-Dur-Takte der Bildungen sich fortzeugende Melodiebögen wie
Coda, auch die entsprechenden im Finale (dort die Themen der ersten beiden Sätze sind selten
die Takte 315 ff.) erscheinen eher wie eine feierlich erfunden worden – schiebt die Frage beiseite, wie
langsame Einfahrt in einen vorhandenen Hafen sonatentauglich bzw. -bedürftig sie seien. Indes
(»Sehr ruhig; nach und nach etwas schneller«, 1. setzt sie auf ein hier kaum angemessenes Sonaten-
Satz, T. 413) denn als auf Konstruktion gegründete konzept, schon dadurch widerlegt, dass auch sol-
Erschließung. che Prägungen Dimensionen voraussetzen, die
Man wird in dieser, seiner meistaufgeführten, nur mehrthemig entwickelnde Formen bieten.
dadurch in ihrer Autonomie bestätigten Sinfonie Um welche Voraussetzungen indessen kann es sich
also die Momente des Bezuges auf die vorangegan- handeln, da jene ›klassische‹ Unfertigkeit fehlt, die
gene nicht übersehen dürfen. Hierfür spricht auch der Vervollständigung in abhandelnden Struktu-
der enge Anschluss – während der Endfertigung ren bedarf und sie damit hervortreibt?
der Sechsten muss Bruckner bereits konkret vor-
ausgedacht haben. Nur drei Wochen liegen zwi-
Erster Satz: Themen und zyklischer
schen deren Beendigung – 3. September 1881 – und
Zusammenhang
dem Beginn der Arbeit an der Siebten – 23. Sep-
tember. Dass der erste Satz erst am 29. Dezember Hier gibt es nur Teilantworten, auch, weil wir über
1882 fertiggestellt war, hat die Einschaltung des den Weg vom Einfall zum Werk bei Bruckner we-
Scherzos verursacht – »Scitze 14. Juli 1882, […] nig wissen. Welche Vorstellungen z. B. hatte er von
fertig 16. Oktober 1882«, wohl auch ein Hinweis den folgenden Sätzen, als er mit der Niederschrift
auf die Notwendigkeit, Abstand zum ersten zu des ersten begann? Die Frage stellt sich, weil das
gewinnen. Zwischen dem 22. Januar und dem 21. erste Thema, als Primärerfindung obersten Ranges
April 1883 entstand das Adagio, im Sommer, un- daherkommend, sich zugleich in mehrfacher Weise
terbrochen durch eine Reise zu einem Parsifal und als Fokussierung später bedeutungsvoller Momente
192 Peter Gülke

erweist. Wie viel Hinblick auf Folgewirkungen also sonders, weil der zweite Schritt von der erwarteten
hat bei seiner Konzipierung, beim ›Einfall‹ mitge- großen Sekund mehrmals auf die kleine reduziert
spielt? Überdeutlich erscheint sogleich das Neben- ist (im Beispiel 24 durch Pfeile angezeigt) und da-
einander großer und kleiner Intervallschritte, hier, mit schnelle harmonische Wechsel erwirkt (H-h-
rasch durchmessen, zwei Oktaven zwischen H und G-B-As-Ges-Des); der Terzaufgang in großen Se-
h’, dort die spiegelbildlich disponierten kleinen kunden im Nachsatz des Adagiothemas (Beispiel
Sekunden ais-h-c’, die das mediantisch bzw. neapo- 25), mit dem »non confundar« des Te Deum ver-
litanisch leuchtende C-Dur der Takte 7/8 herbei- knüpft, wirkt fast erlösend; die rollende Begleitung,
führen (Beispiel 18). Auch das dritte Thema im auf die Bruckner das Scherzo setzt (Beispiel 26),
ersten Satz (Beispiel 19) und die ersten Themen im dreht in der Terz ebenso wie in Umkehrung das
Adagio (Beispiel 20) und Finale (Beispiel 21) begin- Thema im Trio (Beispiel 27). Im »Choral« des
nen mit einem Quartabschlag, das zweite im Ada- letzten Satzes (Beispiel 28) kommt die Drehung
gio (Beispiel 22) mit der Umkehrung, das erste im ähnlich wie im zweiten Thema des ersten Satzes
Scherzo läuft auf ihn hinaus (Beispiel 23). Der (Beispiel 24) mit einer unvermuteten Intervallver-
chromatische Zweischritt ais-h-c’ wirkt auf die engung zusammen, am Beginn von dessen Durch-
übereinander gesetzten Terzdurchgänge im zweiten führung (Takte 147 ff.) stehen Terzdurchschreitun-
Thema des ersten Satzes (Beispiel 24), fühlbar be- gen ebenfalls vornan.

Beispiel 18: 1. Satz, Hauptthema

lang gezogen

Beispiel 19: 1. Satz, drittes Thema Beispiel 22: 2. Satz (Adagio), Gesangsperi-
(Holzbläser) ode (zweites Thema)

123 37

Beispiel 20: 2. Satz (Adagio), Hauptthema Beispiel 23: 3. Satz (Scherzo), Hauptthema

1 5

8 cresc. semp

Beispiel 21: 4. Satz, Hauptthema

Beispiel 24: 1. Satz, zweites Thema

51

dim.
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 193

Beispiel 25: 2. Satz (Adagio), Nachsatz des pierstreifen für die Takte 177 ff. angewiesenen
Hauptthemas Einsatzes von Pauke und Becken hätte Bruckner,
in direkt aufführungsbezogenen Dingen flexibel
5 bis gleichgültig, seltsam gefunden; »gilt nicht«
steht darauf, anscheinend von fremder Hand; je-
doch hat er den Zettel bei der testamentarischen
Übergabe der Partitur an die »kaiserl. u. königl.
Beispiel 26: 3. Satz (Scherzo), Beginn Bibliothek« nicht entfernt, vielleicht als unwichtig
vergessen; vgl. die Abbildung 10).
1 Macht uns die Wahrnehmung der motivischen
Bezüge klüger hinsichtlich dessen, was die Sätze
8 und diese in sich zusammenhält, und wie viel und
welche Absicht steht dahinter? Diese aber muss
Beispiel 27: 3. Satz (Scherzo), Trio-Thema nicht bewiesen sein, um jene als Momente einer
im Vorhinein gesicherten Kohärenz für relevant zu
5 gesangvoll halten, die nicht erst erarbeitet werden muss. Für
bewusste Disposition spricht immerhin, dass
Bruckner die Umkehrung der ersten Themen, der
großen Intervalle wegen besonders auffällig, in
Beispiel 28: 4. Satz, zweites Thema allen vier Sätzen für die Durchführungen bzw.
mittleren Teile aufspart, im ersten die Takte 165 ff.,
35 im zweiten 85 ff., im dritten 109 ff. und im Finale
163 ff., die einzige Ausnahme macht das engschrit-
tige zweite Thema im ersten Satz (Takte 103 ff.).
Dass die Themen zum überkommenen, trotz
Noch ein Drittes exponieren die ersten Takte der neuartiger Lösungen wie bei Schubert dominie-
Sinfonie – im kurz aufleuchtenden C dessen Rolle renden Sonatenkonzept querstehen, inspiriert
fast als ›Gegentonart‹; als solche erscheint sie moll- hochoriginelle Lösungen. Ein Thema wie das erste
getrübt in der dramatisch durchführenden Passage des ersten Satzes trägt seine raison d’être viel zu
der Takte 233 ff., im Scherzo (Takte 69 ff.), im Fi- sehr in sich, als dass sein Wiedererscheinen in der
nale als Ruhepunkt nach der ersten großen Entla- Reprise (Takte 281 ff.) deren Auftrag gemäß neu
dung (Takte 129 ff.), vor allem aber, genau in der legitimiert, als neu gewonnenes Resultat präsen-
Mitte der Sinfonie, als Zielpunkt der Entwicklung tiert werden dürfte. Bruckner komponiert die
und Höhepunkt im Adagio (Takte 177 ff.). Da Unmöglichkeit, kommt ›zu früh‹ beim Thema an,
wirkt die Gravitation des seit alters als Mitte des allerdings in der falschen Tonart Es-Dur (T. 277;
Tonsystems etablierten C, zu dem jede Tonart sich vorher noch einen weiteren Halbton tiefer, in D-
verhalten muss, damit aber auch keine völlig auto- Dur: T. 261); er hält inne und schiebt den Satz,
nome Setzung bildet – E-Dur lag unter Bruckners ohne zu modulieren, mit nahezu vollständig aus-
Sinfonie-Tonarten am weitesten von C entfernt. gewechselten Instrumenten einen halben Ton
Dieses war auch die hellste, die ›Lichttonart‹; nach oben in die »richtige« Position, er vertraut
demgemäß verdeutlicht er die Gewissheit des der Phänomenalität der Prägung, der puren Kraft
»non confundar« im Adagio als von cis-Moll aus des Erscheinens, er komponiert ein »sunder war-
durch den gesamten Tonartenkreis führende Wan- umbe«, eine Epiphanie. Angesichts der auf diesen
derung ins immer auch theologisch konnotierte Punkt zielenden Teleologie der Sonate ist das ein
Licht (vgl. Adagio, Takte 157–177) – ein in der ei- Affront, Demonstration im Sinne von »ich leiste
gensten Sprache geleistetes Zeugnis von Glau- mir Erfindungen, die keine Legitimation außer-
bensgewissheit, das die aufs Wort verpflichtete halb ihrer selbst nötig haben«.
geistliche Musik übertrifft. (Die Diskussionen um Ähnliches gilt für die Coda (Takte 391 ff.):
die Authentizität des auf einem eingeklebten Pa- Bruckner eröffnet mit dem Nachsatz des ersten
194 Peter Gülke

Themas – gewiss auch, weil er den dreiklängigen Hat er sich vielleicht jetzt erst für die Tuben
Anfang danach für die endgültige Einfahrt und entschieden? Bei keinem vorangehenden Einsatz
Heimkehr in die Tonart braucht; weil dieser scheinen sie ganz unentbehrlich, am ehesten mit
Nachsatz aber als anschließend, antwortend defi- Ausnahme des Adagio-Beginns, doch selbst hier
niert ist, fängt er jeweils Vorangegangenes auf, wäre der Satz der tiefen Streicher ohne sie vollstän-
qualifiziert es als zugehörigen Vordersatz, hier also dig. Auch deuten einige Korrekturen im Auto-
den gesamten Satz. Mithin werden die 20 Takte graph auf nachträgliche Veränderungen bei den
des Themas ex posteriori zum Inbegriff, zur ›Ente- Bläsern zugunsten der Tuben hin, und ihre Ver-
lechie‹, dieses Satzganzen. wendung im Finale erscheint selten zwingend.
Bruckner scheint sich in einer ähnlichen Situation
zu befinden wie Brahms in der Zweiten Sinfonie
Zweiter Satz
mit den Posaunen, die er gleich zu Beginn drin-
Bruckner hielt in der Komposition des Adagio bei gend braucht wie danach kaum mehr. Am Adagio-
der C-Dur-Kulmination (T. 177), als die Nach- Beginn könnte Bruckner sie als helfend bei der
richt vom Tode Richard Wagners eintraf. Vielen Definition des dunkel-schweren cis-Moll-Tons
Gesprächspartnern, vor allem aber der jüngsten entdeckt haben, dergestalt hätte noch der Anlass
Tochter des Verehrten gegenüber hat er den da- zum Erkennen dessen beigetragen, was diese Mu-
nach folgenden Abgesang der Tuben und Hörner sik sei.
als »Trauer-Musik« bezeichnet, »die ich zum An- Schon am Beginn hatte er, neben der vielsagen-
denken meines unerreichbaren Ideales in jener so den Widmung an den Bayernkönig Ludwig II.,
bitteren Trauerzeit schrieb« (Briefe 1, 249). Es eine Huldigung an den Meister untergebracht –
würde nicht schlecht zu ihm passen, dass er das ab Takt 12 des Kopfsatzes zitieren die zweiten
dunkle cis-Moll, von wo der Terzaufgang immer Violinen, im Tremolo und dank dominierender
wieder wegzuführen versucht, nachträglich als Si- Hauptmelodie fast unbemerkt, das Duett aus dem
gnatur einer Vorahnung verstanden hätte, wo zweiten Tristan-Akt. Wer wie Bruckner sich ohne-
nicht sich selbst als Medium, das den Meister hin als Treuhänder letztlich entliehener Musik
noch nach dem Tod mitkomponieren lässt. So begreift, sieht derlei eher als Spolien, d. h. Beglau-
wäre der Einschub der Takte 185 bis 193, wie sehr bigungen an, nicht als plagiatverdächtige Entleh-
Bruckner die vier Hornisten auch gellen lässt, nungen. Das gilt auch für Parallelitäten wie die
nicht nur als Totenklage und Treueschwur, son- des im Adagio im ¾-Takt flüssiger vorangehenden
dern als ein Heimholen in die Musik zu verstehen, Moderato (Takte 37 bzw. 133 ff.) zu demjenigen in
insofern nichts weniger als eine kasuelle Einschal- Beethovens Neunter Sinfonie (dort die Takte 25 ff.
tung. Immerhin bezieht Bruckner die Klage aus bzw. 65 ff. des dritten Satzes) oder des innerhalb
der Herzmitte der Musik, die aus dem »non- eines kompakten Satzes als Klimax vorhaltenden
confundar«-Aufstieg neu entwickelte Passage Taktes in Bruckners erstem Satz (Takt 361) zum
könnte auch ohne Anlass als ›Coda vor der Coda‹ Takt 227 im Finale von Beethovens Pastoral-Sinfo-
passieren. nie.

Abbildung 10: Der nachträglich eingeklebte Streifen mit den Stimmen für Pauken sowie Becken und
Triangel (Adagio, T. 177) im Autograph der Siebten Sinfonie (Österreichische Nationalbibliothek,
Musiksammlung, Mus. hs. 19.479)
Von der Fünften zur Siebten Sinfonie 195

Vierter Satz kalen) Wiedereintritt des Choralthemas, also der


»Gesangsperiode« (T. 213), ansetzen und akzeptie-
Sofern überhaupt, verfänglich genug, von ›klassi- ren, dass der erste Komplex ›offiziell‹ nicht rekapi-
zistisch‹ transparenter Klarheit gesprochen werden tuliert wird und die Fermate zwischen dem Abriss
darf – am Finale prallt es endgültig ab. Dieses ge- des Tutti und dem Choral als Übergang in eine
hört zu seinen kürzesten und fängt schon als Di- Reprise kaum einleuchtet. Das Jonglieren mit
mension die enormen Entfaltungen der vorange- Maßgaben, die nicht verfangen, wäre überflüssig,
gangenen Sätze nicht auf. Bruckner macht sich hätte Bruckner sie nicht sonst prinzipiell in so
verdächtig – belegen lässt sich nichts –, zunächst hohem Maße respektiert. Wir kommen um den
auf eine größere Form ausgegangen zu sein und Zwiespalt zwischen dem autoritäts- und formen-
später, wohl auch vorauseilend gehorsam gegen- gläubigen Bruckner und einem anderen Bruckner
über erwartbaren Einwänden, eine Überleitung nicht herum, der neben aller Sorge um Überlänge
und den als Reprisenbeginn fälligen Komplex des auch dem Sog einer Coda Rechnung getragen
ersten Themas gestrichen oder bewusst ausgelassen haben mag, einer ›Einfahrt‹ ähnlich der im ersten
zu haben – die Fermate im Takt 212 stünde für das Satz, auf die es so geradlinig zuging, dass einem
Herausgefallene. Wenn, dann muss es sich um Repriseneintritt, wenngleich verspätet, die wich-
eine umfangreiche Passage gehandelt haben, denn tigste Aufgabe weggenommen war.
um nach dem zyklopenhaften Komplex der Takte
191 bis 212, der das dritte Thema dröhnend und ***
dicht verknotet, beim ersten Thema reprisenge-
mäß neu ankommen zu können, bedurfte es gro- Seine alsbald erfolgreichste Sinfonie war es nicht
ßen Abstandes, einer ausgedehnten, mit nicht von Anfang an. Obwohl publizistisch vorbereitet
allzu viel Eigenanspruch belasteten Zwischenpar- und in einem Mammutprogramm in bekannte
tie, vielleicht eines Gegenstücks zu der Kalmen- Musik – zwei Bearbeitungen von Liszt und dessen
zone der Takte 129 bis 174. Wenn Bruckner gestri- Les Préludes, Ausschnitte aus Wagners Ring – ge-
chen hat, dann rabiat; und mehr noch als bei den schickt gebettet, fand die Sinfonie im Leipziger
im Adagio der Achten vor »Q« getilgten zehn Gewandhaus am 30. Dezember 1884 trotz Nikischs
Takten muss ihm klar gewesen sein, wie sehr er enthusiastischem Einsatz nur geteilten Beifall
sich an der Form und ihrem ›Atem‹ verging, wie beim Publikum und den Rezensenten. Nicht alles
immer neben dem Beginn des als Reprise verfrüh- darf man den Voreingenommenheiten der damals
ten Blocks (Takte 191 ff.) auch die Takte 275 ff., streitenden Parteien zuschreiben – war das Stück
ihrerseits ›zu spät‹, Reprise suggerieren könnten. bei der Uraufführung allzu neudeutsch verpackt?
Womit deren Kriterien auf mehrere Stellen ver- Auch Nikisch wünschte Revisionen, u. a. wohl
teilt, Halb- und Mehrdeutigkeiten beim Ineinan- den Beckenschlag, und Hermann Levi, dessen
derschieben von Durchführung und Reprise in Münchener Aufführung (10. März 1885) den gro-
Kauf genommen, vielleicht beabsichtigt gewesen ßen Durchbruch brachte, hat in einem Brief an
wären. Überdies lässt Bruckners musikalische Bruckner anfangs beträchtliche Schwierigkeiten
Theologie nicht gänzlich abwegig erscheinen, dass mit der Partitur eingestanden. In Wien hatten
eine gestrichene Passage für ihn nicht schlechtweg Josef Schalk und Franz Zottmann bereits im Feb-
unvorhanden gewesen, eine einmal gegangene ruar 1884 den ersten und letzten Satz der Öffent-
Wegstrecke gesichert gewesen sei unabhängig da- lichkeit in einer vierhändigen Klavierfassung vor-
von, ob sie nochmals begangen würde (Gülke gestellt; dass Bruckner in einem Brief an das
1988, 167). »Löbliche Comité« der Wiener Philharmoniker
Für die Zuordnung der Satzteile ergeben sich darum bat, von einer Aufführung Abstand zu
Irritationen: Entweder muss man den Reprisenbe- nehmen (13.10.1885; vgl. Briefe 1, 275 f.), hat wohl
ginn auf das weit von der Tonika entfernte Tutti ebenso mit Angst vor schäbiger Polemik zu tun
der Takte 191 ff. vorverlegt denken und in Kauf wie mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein des-
nehmen, dass das erste Thema erst danach durch- sen, der auf Wien nicht mehr angewiesen ist. Die
geführt wird, oder ihn beim (ebenfalls nicht toni- erste österreichische Aufführung der Siebten Sinfo-
196 Peter Gülke

nie dirigierte Karl Muck in Graz, in Wien erklang thusiasmus und Hervorrufe, Lorbeerkranz vom
sie erstmals am 21. März 1886. »Die Aufnahme Wagner-Verein und Festtafel« – so Bruckner am
ward unbeschreiblicher Jubel. Schon nach dem 1. 25. März an Hermann Levi (Briefe 1, 294). Soweit
Satze 5 bis 6 stürmische Hervorrufe und so gings nachweisbar, ist die Sinfonie zu seinen Lebzeiten
fort, nach dem Finale endloser, stürmischer En- 33-mal aufgeführt worden.

Literatur
Auer, Max: Anton Bruckner. Sein Leben und Werk Lieberwirth (Hrsg.): Kongreßbericht zum V. Interna-
[1923]. Wien 21934. tionalen Gewandhaus-Symposium »Anton Bruckner
Bruckner 1984: Anton Bruckner, Siebte Sinfonie. Ge- – Leben, Werk, Interpretation, Rezeption« anläßlich
denkschrift anläßlich der 100jährigen Wiederkehr der Gewandhaus-Festtage 1987 (= Dokumente zur
der Uraufführung durch Arthur Nikisch und das Gewandhausgeschichte 7). Leipzig 1988, 108–111.
Gewandhausorchester am 30. Dezember 1884. Leip- Steinbeck, Wolfram: Schema als Form bei Anton Bruck-
zig 1984. ner. Zum Adagio der VII. Symphonie. In: Analysen.
Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Beiträge zu einer Problemgeschichte des Komponie-
Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6). Laaber rens. Festschrift Hans Heinrich Eggebrecht. Stuttgart
1980. 1984, 304–323.
Gülke, Peter: Schalks banale Trompete oder: Grenzlinien Stephan, Rudolf: In und jenseits der Tradition – zur
der Fertigstellung. Beobachtungen bei Corelli, Mo- sechsten Symphonie Anton Bruckners. In: Öster-
zart und Bruckner. In: Hermann Danuser/Helga de reichische Musikzeitschrift 51 (1996), 27–32.
la Motte-Haber/Silke Leopold/Norbert Miller Swarowsky, Hans: Wahrung der Gestalt. Wien 1979.
(Hrsg.): Das musikalische Kunstwerk. Festschrift Ulm, Renate: VII. Symphonie in E-Dur. In: dies.
Carl Dahlhaus. Laaber 1988, 155–167. (Hrsg.): Die Symphonien Bruckners. Entstehung,
Hansen, Mathias: Anton Bruckner. Leipzig 1987. Deutung, Wirkung. Kassel/München 1998, 173–183.
Nowak, Leopold: Anton Bruckner, Musik und Leben. Wagner, Manfred: Bruckner. Mainz 1983.
Linz 1973. –: VI. Symphonie in A-Dur. In: Renate Ulm (Hrsg.):
Schmiedel, Peter: Das Tonsystem als Erlebnisqualität im Die Symphonien Bruckners. Entstehung, Deutung,
Spannungsfeld der Fünften Sinfonie. In: Steffen Wirkung. Kassel/München 1998, 151–161.
197

Die Achte und Neunte Sinfonie


von Mathias Hansen

Die Achte und die Neunte Sinfonie aufeinander Die Ausarbeitung der Partitur begann Bruckner
bezogen darzustellen – dafür gibt es mehrere zunächst, im August, mit dem Trio des Scherzos,
Gründe. Sie haben sowohl mit biographischen den ganzen Satz schloss er am 24. Oktober 1885 ab.
Umständen wie mit kompositorischen Problem- Der erste Satz beschäftigte ihn bis zum 7. Februar
stellungen zu tun, wobei es nicht selten um viel- 1886, woran sich fast unmittelbar (13. Februar) der
schichtige und auch widersprüchliche Sachlagen langsame Satz anschloss. Nach Unterbrechung in
geht. den ersten Sommermonaten konnte Bruckner
dessen Partitur am 4. September fertigstellen. Das
am 26. Oktober begonnene Finale wurde am 22.
April 1886 beendet, weitere Korrekturen zogen
Achte und Neunte: eine verwickelte sich noch bis in den August dieses Jahres hin. Die
Entstehungsgeschichte Komposition der Achten Sinfonie erstreckte sich
also über runde drei Jahre, vom Juli 1884 bis Au-
Im September 1883 hatte Anton Bruckner die Siebte gust 1887.
Sinfonie beendet. Einen knappen Monat später Am 4. September 1887 schrieb Bruckner aus St.
nahm er die Komposition eines Te Deum wieder Florian dem Münchner Hofkapellmeister Her-
auf, die er bereits im Frühjahr 1881 begonnen hatte, mann Levi: »Hallelujah! Endlich ist die Achte
jedoch zugunsten der Arbeit an der Sinfonie zu- fertig und mein künstlerischer Vater muss der erste
rückgestellt hatte, und die er nun, im März 1884, sein, dem diese Kunde wird […] Zuerst – möchte
abschließen konnte. Bruckner gönnte sich danach ich Euer Hochwohlgeboren bitten um die Auffüh-
keine längere Schaffenspause: Nur wenige Monate rung der achten; dann post festum möchte ich Sr
später, im Juli 1884, begann er mit den Entwürfen Majestät den Kaiser bitten um Annahme der De-
zur Achten Sinfonie, die er ohne größere Unterbre- dication« (Briefe 2, 18). Am 19. September 1887
chungen im August 1885 beendete. Die wichtigsten schickte Bruckner die Partitur an Levi und ver-
Daten für die Entwürfe der einzelnen Sätze lauten: band damit die Hoffnung: »Möge sie Gnade fin-
den! Die Freude über die zu hoffende Aufführung
– 1. Satz, abgeschlossen am 4. September 1884, Bruckners
60. Geburtstag; durch Hochdesselben Meisterhand ist allgemein
– 2. Satz (den zunächst noch das Adagio bilden sollte), eine unbeschreibliche! Habe ich auch so Vieles
abgeschlossen als »Alte Scitze« am 16. Februar 1885, als meinem erhabenen, künstlerischen Vater zu sagen!
»Neue Scitze« am 16. Februar 1886;
– 3. Satz (Scherzo mit Trio), entworfen in nur vier Tagen
Möge Hochdesselben Gesundheit recht gekräftigt
vom 23. bis 26. Juli 1885; sein, dann werden die Tage der Proben und der
– 4. Satz, begonnen am 27. Juli. Am Ende des Entwurfs Aufführung wohl kaum Leidenstage werden, wie
mit der Übereinanderschichtung der vier Hauptthe- sie mir so häufig anhaften. Gott wolle Seinen Segen
men der Sinfonie findet sich die Notiz: »Steyr, Stadt-
pfarrhof 16. August 1885. A. Bruckner. Halleluja!« geben!« (Briefe 2, 21). Doch nach erstem Studium
(Göll.-A. 4/2, 549). des Werkes ist Levi ratlos, ihn befremden vor allem
198 Mathias Hansen

die Ecksätze. Er wendet sich am 30. September an »sehr hart betroffen [sei]. Er fühlt sich noch immer un-
Josef Schalk, um Bruckner zu schonen: glücklich und ist keinem Trosteswort zugänglich. Es war
vorauszusehen und dennoch ist es die mildeste Form ge-
»Ich weiß mir nicht anders zu helfen, ich muß Ihren wesen ihn vor herberen Enttäuschungen zu bewahren.
Rath, Ihre Hilfe anrufen: Kurz gesagt: Ich kann mich in Ich hoffe, daß er sich bald beruhigen wird und eine Um-
die 8te Sinfonie nicht finden, und habe nicht den Muth, änderung des Werkes, welche er übrigens bereits mit dem
sie aufzuführen. Orchester und Publikum würden, dessen ersten Satz begonnen, nach Ihrem Rath vornimmt. Ge-
bin ich sicher, den größten Widerstand leisten. Das wäre genwärtig sollte er freilich lieber nicht arbeiten, da er
mir nun einerlei, wenn ich selbst, wie bei der 7ten gepackt aufgeregt und verzweifelt über sich selbst ist und sich
wäre, wenn ich, wie damals dem Orchester sagen könnte: nichts mehr zutraut. Indessen wird sich das bei seiner
Nach der 5ten Probe wird’s Ihnen schon gefallen! Aber ich kolossalen Naturkraft nach physischer wie moralischer
bin furchtbar enttäuscht. Tagelang habe ich studirt, aber Seite hin bald geben. Wie ich ihn so beobachte komme
ich kann mir das Werk nicht zu eigen machen. Fern sei es ich mir grausam vor; es ist aber auf eine andere Weise
von mir, ein Urtheil aussprechen zu wollen – es ist ja sehr nicht zu helfen und man muß ihn mit sich selbst austo-
möglich, daß ich mich täusche – daß ich zu dumm oder ben lassen. Auf alle Fälle bleibt er Ihnen zum Danke
zu alt bin – aber ich finde die Instrumentation unmög- verpflichtet für Ihr aufrichtiges Urtheil, welches ihn vor
lich, und was mich besonders erschreckt hat, ist die große gerechtem Mißerfolg bewahrt hat, und wenn er dies auch
Ähnlichkeit mit der 7ten, das fast Schablonenmäßige der jetzt noch nicht einsehen kann, so wird die Zeit dafür
Form. – Der Anfang des 1. Satzes ist grandios aber mit der kommen.« (Briefe 2, 25)
Durchführung weiß ich gar nichts anzufangen. Und gar
der letzte Satz – das ist mir ein verschlossenes Buch – Was
nun thun! Mir graust es, wenn ich daran denke, wie diese Es fällt wohl einigermaßen schwer, diesen Worten
Nachricht auf unseren Freund wirken wird! Ich kann ihm nur aufrichtige Besorgnis eines Freundes zu ent-
nicht schreiben. Soll ich ihm vorschlagen, er möge sich nehmen – und nicht auch eine, wenn auch unab-
das Werk einmal in einer Probe hier anhören? Ich habe in
meiner Noth einen mir befreundeten guten Musiker die
sichtlich eingeflossene Harthörigkeit einem Genie
Partitur gegeben – auch der meinte, eine Aufführung sei gegenüber, mit dem man sich erlaubt, wie mit ei-
unmöglich! […] Wenn es damit abgethan wäre, daß er nem Unzurechnungsfähigen, wenn nicht gar
mich für einen Esel, oder was noch schlimmer für einen Schwachsinnigen umgehen zu müssen.
Treulosen hielte, so wollte ich mir dies ruhig gefallen
lassen. Aber ich fürchte Schlimmeres, fürchte, daß ihn Die 2. Fassung der Achten Sinfonie, die Bruck-
diese Enttäuschung ganz niederbeugen wird!« (Briefe 2, ner im März 1890 abschloss (über einige Einzelhei-
21 f.) ten der Entstehung siehe weiter unten), wurde am
Nach einer Woche brachte Levi es über sich, 18. Dezember 1892 in Wien durch die Philharmo-
Bruckner zu antworten: niker unter Leitung Hans Richters aufgeführt.
Wider Erwarten fand das Werk beim Publikum
»Also: es es mir unmöglich, die 8te in dieser Form zur
Aufführung zu bringen. Ich kann sie mir nicht zu eigen begeisterte Aufnahme – nur die einschlägigen
machen […] ich habe Stunden, ja tagelang über der Par- Kritiker fühlten sich zum Widerspruch herausge-
titur gesessen, aber ich bin dem Werke nicht näher ge- fordert, auch wenn sie, anders als bei früheren
kommen […] Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß mir
plötzlich alles Verständniß für Sie abhanden gekommen Werken, nun auch lobenswerte Momente in
s[ein] sollte, bin vielmehr geneigt anzunehmen, daß in Bruckners Musik zuzugeben quasi sich gezwungen
den letzten Jahren der Isolirung und des fortwährenden sahen.
Kampfes mit der Welt Ihr Sinn für Schönheit und Eben-
maß und Wohlklang sich einigermaßen getrübt habe.
Kennzeichnend für die Schwankungen im Ur-
Wie wäre sonst Ihre Behandlung der Trompeten und teil ist etwa die Kritik Max Kalbecks, in der es u. a.
Tuben (überhaupt der Bläser) zu erklären! […] Verlieren heißt:
Sie nicht den Muth, nehmen Sie Ihr Werk noch einmal
vor, berathen Sie sich mit Ihren Freunden, mit Schalk, »Die neue Bruckner’sche Symphonie hat, wenn auch
vielleicht läßt sich durch eine Umarbeitung viel errei- nicht in allen ihren einzelnen Teilen, so doch im Ganzen
chen.« (Briefe 2, 23) einen überraschend günstigen Eindruck hervorgebracht
und sich der eigentümlichen Auszeichnung, die ihr wi-
Das ist in der Tat trotz aller glaubwürdigen Beteu- derfuhr, keineswegs unwürdig gezeigt. Unter den bisher
an die Öffentlichkeit gelangten Werken des Komponisten
erung »treuer Anhänglichkeit« ein hartes Urteil, nimmt sie ohne Zweifel die erste Stelle ein; sie übertrifft
das Bruckner hier zugemutet wird. Nachdem auch die früheren Arbeiten Bruckner’s durch Klarheit der
noch Josef Schalk Bruckner die Reaktion Levis Disposition, Übersichtlichkeit der Gruppierung, Präg-
nanz des Ausdruckes, Feinheit der Details und Logik der
mitgeteilt hatte, muss Schalk Letzterem berichten, Gedanken, womit indessen keineswegs gesagt sein soll,
dass der Komponist daß wir sie als ein nachahmenswertes Musterexemplar
ihrer Gattung ansehen und empfehlen möchten. Im Ge-
Die Achte und Neunte Sinfonie 199

genteil wünschen wir an mehr als einer Stelle des Werkes nicht fertig, da ich große Änderungen vorgenom-
uns einen erfahrenen und kaltblütigen Praktikus herbei, men u zu wenig Zeit habe zum Arbeiten« (Briefe
damit er mit der Scheere des Redakteurs und dem Rotstift
des Zensors bewaffnet, den ausschweifenden Launen des 2, 29).
Komponisten Halt gebiete, und sein übermächtiges Wol- Doch beide Mitteilungen enthalten freilich Ir-
len auf das vernünftige Maß eines bescheidenen Könnens ritierendes. Weder sah die Achte Sinfonie Ende
zurückführe.« (Göll.-A. 4/3, 297 f.)
Februar 1888 »schon anders aus«, noch hatte der
Nur Eduard Hanslick blieb bei seiner schroff ab- Komponist bis Ende Januar bereits »große Ände-
lehnenden Haltung, wobei er nicht verbergen rungen vorgenommen«. Dies alles konnte nur in
kann, dass er bei Bruckner das vermisst, was er bei seiner Fantasie bereits geschehen sein – in der
›seinem‹ Brahms vernimmt: Realität nahm er die Arbeit erst am 4. März 1889
[!] auf, beginnend mit dem langsamen Satz, der
»Charakteristisch auch für Bruckner’s neueste C-moll-
Symphonie ist das unvermittelte Nebeneinander von am 8. Mai fertiggestellt war. In der Reihenfolge: 4.
trockener, kontrapunktischer Schulweisheit und maßloser Satz (beendet 31. Juli), 2. Satz (August/September)
Exaltation. So zwischen Trunkenheit und Öde hin und und 1. Satz (November bis 29. Januar 1890) schloss
her geschleudert, gelangen wir zu keinem sicheren Ein-
druck, zu keinem künstlerischen Behagen. Alles fließt Bruckner die 2. Fassung der Sinfonie nach einigen
unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in eine grau- weiteren Eingriffen im März 1890 ab. Die prakti-
same Länge zusammen. Jeder der vier Sätze, am häufigs- sche Verzögerung des Korrekturbeginns ergab sich
ten der erste und dritte, reizt durch irgend einen interes-
santen Zug, ein geniales Aufleuchten – wenn nur daneben
daraus, dass Bruckner sich eben nicht der neuen,
alles Übrige nicht wäre! Es ist nicht unmöglich, daß die- sondern der Dritten Sinfonie von 1873 zuwandte,
sem traumverwirrten Katzenjammerstyl die Zukunft ge- die nach ihrer zweiten Fassung (1878) nunmehr
hört, – eine Zukunft, die wir nicht darum beneiden.« eine dritte erhielt, die zwischen März 1888 und
(Göll.-A. 4/3, 291 f.)
März 1889 entstand – also genau in der zeitlichen
Nur zwei Tage, nachdem Bruckner die Partitur der ›Lücke‹ zwischen dem Brief an Levi (27. Februar
Achten Sinfonie an Levi geschickt hatte, muss der 1888) und dem Arbeitsbeginn an der neuen Fas-
Komponist bereits die Arbeit an seiner Neunten sung der Achten (4. März 1889). Auch wenn sich
aufgenommen haben – ein Partiturentwurf zum 1. nicht ganz klar ein Anlass erkennen lässt, der zur
Satz trägt das Datum »21. Sept. 887«. Der Entwurf weiteren Bearbeitung der Dritten Sinfonie geführt
bricht allerdings inmitten des zweiten Themas ab, hatte, so könnte ein Zusammenhang bestehen
ohne dass sich hierfür »werkinterne Gründe« zwischen dem ›Dauerproblem‹, dem Bruckner mit
(Steinbeck 1993, 8) ausmachen ließen. Obwohl diesem Werk ausgesetzt war, und der harschen
niemals ganz zweifelsfrei zu klären sein dürfte, Kritik Levis an der Achten, die in Ton und Inhalt
worin der entscheidende Grund für den Abbruch an die neuerlich sich erhebenden kritischen Stim-
der Arbeit an der neuen Sinfonie bestand, ist wohl men zur Dritten anzuknüpfen schien. Dies deutet
in jedem Fall davon auszugehen, dass es nicht ein sich im Briefwechsel von Franz und Josef Schalk
einziger allein gewesen ist. Gewiss, das ehrliche, in an. Franz Schalk, der selbst mit Änderungen in
der Sache nichtsdestoweniger vernichtende Urteil Bruckners Partitur der Dritten eingegriffen hatte,
Hermann Levis muss Bruckner zutiefst enttäuscht, sorgt sich um die schwankende Haltung des Kom-
verstört und ihn veranlasst haben, umgehend eine ponisten gegenüber diesen Änderungen. Am 10.
Überarbeitung, Neufassung oder was ihm auch Juli 1888 teilt er seinem Bruder mit, dass Bruckner
immer in erster Reaktion an Änderung der vorlie- »leider noch immer über dem Finale der III. sitzt.
genden Partitur gefordert erschien vorzunehmen. Er hat einiges umkomponiert. Deine Striche und
Wie eine Bestätigung dessen wirkt ein Brief Übergänge sind übrigens beibehalten worden«
Bruckners an Levi vom 27. Februar 1888, der in (Briefe 2, 38). Ein besorgter Unterton, dass dies
einer offenen Selbstanklage gipfelt: »Freilich habe nicht definitiv so bleiben müsse, lässt sich kaum
ich Ursache mich zu schämen – wenigstens für überhören. Außerdem sei Bruckner, so heißt es am
dießmal – wegen der 8ten. Ich Esel!!! Jetzt sieht 13. Juli, »durch den zufällig in Wien gewesenen
sie schon anders aus« (Briefe 2, 34). Zuvor, am Herrn Mahler kopfscheu« gemacht worden, wes-
30. Januar 1888, hatte Bruckner bereits an Frau halb er »jetzt wieder die alte Partitur drucken las-
von Mayfeld geschrieben: »Die 8. Sinf. ist lange sen will, wogegen ich allerdings bei Rättig [dem
200 Mathias Hansen

Verleger] ein eigenmächtiges Veto einlegte« (Briefe Die Achte Sinfonie (2. Fassung)
2, 40).
Nach Abschluss der dritten Fassung der Dritten Nimmt man alles zusammen, was auf Bruckner
Sinfonie nahm Bruckner also die Arbeit an der mit der Kritik Hermann Levis an der Achten Sin-
Zweitfassung der Achten auf und beendete diese, fonie und den nachfolgenden Irritationen durch
wie gesagt, im März 1890. Doch auch nun wandte die neuerlichen Einsprüche weiterer Freunde wie
er sich nicht der neuen Sinfonie zu, sondern un- Franz und Josef Schalk einstürzte (die schließlich
terzog die Erste Sinfonie, den »kecken Besen« nur langjährige Erfahrungen mit solchen belasten-
(Briefe 2, 71) von 1865/66, einer eingreifenden, vor den Differenzen fortsetzten), so ist es wohl ratsam,
allem die Instrumentation bereffenden Revision, auf eine definitive Bestimmung von Motiven zu
die als 2. Fassung des Werkes im Januar 1891 been- verzichten, die Bruckner zu Neufassungen seiner
det wurde. Dann, am 18. Februar, nahm Bruckner Werke veranlasst haben. In jedem Fall überlagern
den Kopfsatz der Neunten Sinfonie wieder auf, sich äußere und innere Motive, ziehen die einen
unterbrach ihn jedoch auch diesmal wieder (14. die anderen in wechselnder Konstellation nach
Oktober), um sich einer freilich weniger aufwän- sich. Das heißt am Ende aber auch, dass jede Sin-
digen Durchsicht der Zweiten Sinfonie zuzuwen- fonie und ihre verschiedenen Fassungen als von-
den. Außerdem komponierte Bruckner 1892 als einander abzuhebende Problemkreise behandelt
Auftragswerk zur Eröffnung der »Internationalen werden müssen. Und im Fall der Achten gibt es
Musik- und Theater-Ausstellung« in Wien den einige wenige konkrete Hinweise darauf, welche
150. Psalm (WAB 38) für Chor und Orchester, Änderungen der Komponist auf von außen kom-
kann das Stück allerdings nicht termingerecht mende kritische Anregungen hin vorgenommen
abschließen. Und im darauffolgenden Jahr schreibt hat und welche eigener Kompositionskritik ent-
er noch das zumindest aus alpenländischer Per- sprangen. Ehe dies an einigen Beispielen gezeigt
spektive seltsam anmutende Chorstück Helgoland wird, soll zunächst der Blick auf die Entfaltung
(WAB 71). des Werkes in seiner Gesamtheit fallen. Allein
Nun erst, nachdem nicht weniger als sechs schon aus aufführungspraktischen Gründen muss
Jahre seit den ersten Entwürfen verflossen waren, dieser Blick dessen zweiter Fassung gelten – ist sie
entschloss sich Bruckner gewissermaßen, seine doch die bislang als ›definitiv‹ betrachtete und
noch zur Verfügung stehenden geistigen und kör- dementsprechend nahezu ausschließlich aufge-
perlichen Kräfte – die nach der Jahreswende führte Fassung, der gegenüber die erste Fassung
1891/92 durch vermehrte ernstliche Erkrankungen eher nur ›werkstattinternes‹ Interesse auf sich zu
zunehmend geschwächt wurden – ganz auf die ziehen vermochte.
neue Sinfonie zu konzentrieren. Man muss nicht
mystifizierend davon sprechen, dass Bruckner das
1. Satz
Werk nun in dem Bewusstsein wieder aufnahm,
dass es sein letztes sein würde, gewidmet dem Keine Komposition außer der Achten Sinfonie
»lieben Gott«. Doch die Umstände, unter denen Bruckners beginnt mit einem Ton, der nicht zur
diese Sinfonie entstand, und vor allem: ihr Cha- Tonika des Kopfsatzes und damit zu der des gan-
rakter und ihre Substanz legen es nahe, sie – auch zen Werkes gehört.
und gerade angesichts ihrer fragmentarischen Das Thema entfaltet innerhalb von 22 Takten
Endgestalt – als ein künstlerisches Vermächtnis zu drei rhythmische Zellen: T. 1–10 (a); T. 11–17 (b);
vernehmen, das im Grenzbereich von Leben und T. 18–22 (c). Diese Stabilität der rhythmischen
Tod Gestalt annahm. Verhältnisse erhält ihr Gegengewicht durch die
Die Daten sind folgende: Wiederaufnahme des Instabilität der harmonischen Verhältnisse – in-
1. Satzes: 18. Februar 1891 – 14. Oktober 1892, be- dem beide mit- und gegeneinanderwirken, ge-
endet am 23. Dezember 1893; 2. Satz: Oktober winnt die Musik ihren eigenartigen, neuartigen
1893 – 15. Februar 1894; 3. Satz Frühjahr – 30. Ton. Wann und wo erscheint die Grundtonart?
November 1894; 4. Satz: 24. Mai 1895 bis zum Wir hören zunächst den Ton f als Tremolo der
Todestag am 11. Oktober 1896. Violinen und als Pedalton zweier Hörner. Fried-
Die Achte und Neunte Sinfonie 201

Beispiel 1: Achte Sinfonie (2. Fassung), 1. Satz, T. 1–23 (a–c)

T. 1ff. (=a)
1 Allegro moderato 1. Kl. Ob., Kl.

cresc.

Vl., Hr.

10 T. 11ff. (=b)

Va., Vc.

3 3
T. 18ff. (=c)
17 Vl. 3
3 3

3 dim.
3
3

rich Goldmann glaubt, in diesem Unisono so- falls vage andeutet. Im Folgenden strebt die har-
gleich eine »Subdominante« zu vernehmen, die monische Bewegung immer entfernteren Tonarten
Takt 5 zur »Tonika« führe, welcher dann ab Takt zu, die vor allem durch chromatische Rückungen
17 die »Dominante« folge (Goldmann 1968, 19). erreicht werden: as-Moll (T. 9), H-Dur (T. 11),
Doch die vermeintliche Subdominante verdankt Fis-Dur (T. 15). Dann erst, Takt 17 ff., kommt, wie
sich wohl einer Art von Voreingenommenheit gesagt, der Kadenzbereich von c-Moll in Hör-
durch das als bekannt vorausgesetzte Kommende. weite, wird er ausgeschritten und mündet – in die
Eher wohl hören wir das f als (»Dur«-)Tonika, ein Reprise des Themas mit dem bekannten, nun
Eindruck, der freilich durch den Sekund-Gang dynamisierten f als Initialton. Wenn man nun mit
von Takt 2 zu 3 bzw. durch den Sext-Gang von einiger Berechtigung annimmt, dass wenigstens
Takt 3 zu 4 und mithin durch den Aufbau eines diese Themenreprise zur (er-)lösenden Tonika
»Des-Dur«-Klanges sogleich wieder verwischt führen müsse, so sieht man sich ein weiteres Mal
wird. Und dieses »Des-Dur« scheint der »Neapo- getäuscht: Die erneute, sogar noch umfangreichere
litaner« zu sein mit folgerichtiger Absenkung zur Kadenzvorbereitung ab Takt 37 schließt zwar »c-
»Tonika« ab Takt 5, die sich dann auf verschlunge- Moll« bereits ein – doch wiederum nur im Durch-
nen Pfaden zum Dominant-Sept-Akkord (G7, gang, um über As-Dur, des-Moll, Es- und noch-
T. 17) wendet. Ist dem aber wirklich so? mals As-Dur nach G-Dur, der Tonika des zweiten
In Takt 5 wird doch lediglich die Quint c-g und Themas, zu gelangen. Mit nur leichter Übertrei-
in Takt 7 lediglich die Terz c-es erreicht. Genügt bung ließe sich sagen, dass bis weit in die Durch-
dies für eine Tonika? Wohl kaum, zumal noch führung hinein die Grundtonart des Satzes einzig
dazu von Takt 5 zu 6 in der 1. Klarinette die Quint im Durchgang erscheint, also in einer instabilen
g-d eingeschoben wird, welche die Dominante zu Funktion, welche der Bezeichnung »Grundtonart«
einer in Aussicht gestellten Tonika c-Moll besten- einigermaßen spottet.
202 Mathias Hansen

Wenn Bruckner somit das Harmonische eher ten Intervallrahmen ausfüllt (die Folge fis-f-e-dis
assoziativ, dem Kräftespiel von Klang- und Stim- Takt 13/14 passt sich dem ab Takt 11 erklingenden
menfortschreitungen folgend, entfaltet oder auch Akkord, »H-Dur«, an usw.).
dieses Harmonische einem recht regellos wirken- Zugleich gehen solche Tonraum-›Aufrisse‹ von
den ›Selbstlauf‹ überlässt, so machen sich denn permanenten Umkehrungsverläufen aus, die, wie
andere Elemente und Impulse geltend, die für das bereits erwähnt, mit der ersten Wiederaufnahme
›Regelwerk‹ sorgen. Freilich spielt sich dies eher des eröffnenden Sekund-Schrittes einsetzen. Dabei
im Hintergrund ab und mildert dergestalt denn schraubt sich die Bewegung anfänglich (bis T. 9)
auch kaum den Eindruck eines ›anarchischen‹ noch in Verbindung von Schritt und Sprung auf-
Moments, der dem musikalischen Ablauf perma- wärts. Ab Takt 11 jedoch übernimmt die chroma-
nent anhaftet. Solche ›anarchischen‹ Momente tische Schrittfolge die Führung (T. 11: h–c; T. 14/15:
oder Impulse gehen sowohl von rhythmischen wie c-cis-d), die mit einem ›Rest‹-Durchgang (T. 17)
von intervallischen Kombinationen und Bezie- den Septakkord-Zielpunkt G7 erreicht. Die Strin-
hungen aus. Indem beide jedoch ineinandergrei- genz dieses chromatischen Anstiegs befördert noch
fen, schaffen sie eine Art Gleichgewicht und geben die quasi diatonische Figur in Violen und Celli
der musikalischen Bewegung einen Zusammen- Takt 12 und auch Takt 16, zumal dann deren Um-
halt, den ihr der instabile harmonische Verlauf kehrung, einsetzend mit der Sekundspannung des
nicht zu gewähren vermag. Sept-Nonen-Akkordes Takt 18, eine kadenzierende
Obwohl die rhythmischen Konturen, ausge- Auflösung der chromatischen Wirren zu erzielen
formt in drei motivartigen rhythmischen Gestalten scheint. Freilich wird diese dann brüsk abgebro-
(Tremolo, Punktierung, Kombination von Duole/ chen, um dem Initialton f wiederum das Feld zu
Triole) prägend zu sein scheinen, geht vom Inter- überlassen. Hier findet ein harmonisches Vexier-
vallgeflecht noch größere form- und strukturbil- spiel statt, und die lapidare Frage lautet eben: Wo
dende Kraft aus. Entscheidend ist sogleich der ist die Tonika? Es gibt sie, wie in jedem ordentli-
Kleinsekund-Sprung f-ges (siehe Beispiel 1), und chen Vexierspiel, und schließlich klingt die Musik
weiterhin entscheidend ist nicht der folgende, ja wahrlich nicht a-tonikal oder gar atonal. Doch
›vergrößernde‹ Aufschwung f-des, sondern die – viel wichtiger, anziehender und mithin ausdrucks-
mit crescendo- bzw. decrescendo-Zeichen versehene stärker erscheinen hier die verdeckenden Schraf-
– Umkehrung des Sprungs des-c sowie dessen fierungen, die kopfstehenden Gebilde, die ins
Ausweitung zum chromatischen Durchgang es-d- Abseits und auch in die Irre führenden Linien-
des-c mit dem Ton c als Zielpunkt. Der Tonraum züge …
wird hier in einem ersten Anlauf aufgerissen, und Ein wesentlicher Charakterzug von Bruckners
das Verstörende dieses Vorgangs könnte zunächst Musik hat mit solchem Vexierspiel zu tun – es
noch, ehe ein neuerlicher und nun immer weiter- trennt diese Musik dergestalt vom Idealbild des
treibender Anlauf genommen wird, durch die allseits durchgearbeiteten, logisch entwickelnden,
reinen Quinten in der Vertikale und in der Hori- diskursiven ›Ideenkunstwerks‹, um sie dem Fanta-
zontale eine Milderung, sozusagen eine ›Harmo- siehorizont des schweifenden, gleichsam unbere-
nisierung‹ erfahren. Doch diese ausgleichende, chenbaren ›Klangkunstwerks‹ näherzurücken.
auch zurücknehmende Geste erweist sich schnell Eine wichtige Rolle bei dieser Instabilität spielen
als folgenlos. Die anschließenden ›Aufrisse‹ mit die Chromatik und ihr kleinster Baustein, die
ebenso dichteren wie weiterreichenden Sekund- kleine Sekunde, durch welche entfernteste Tonar-
schritten ziehen die Quintharmonisierung in ihren ten aneinandergereiht werden können. Das aber
Sog hinein (Takte 9/10, 13/14, 17/18), wobei der birgt die Gefahr der Auflösung funktionaler, ›logi-
entstehende Sekundgang entweder Töne voraus- scher‹ Beziehungen zwischen den Klängen – und
nimmt und mithin vorbereitet, die später dann in der Tat ist sie in der Achten außerordentlich
durch enharmonische Verwechslung im Akkord- weit vorangetrieben. Die kleine Sekunde durch-
zusammenhang erscheinen (das ges bzw. das es von zieht nahezu alle komplexeren strukturellen Ge-
Oboe und Klarinette Takt 9 wird zum fis bzw. dis bilde, so auch das zweite Thema. Andererseits ist
im Akkord Takt 11), oder einen bereits eingeführ- die Tendenz zumal in abschließenden Passagen
Die Achte und Neunte Sinfonie 203

von Satzabschnitten nicht zu überhören, die har- am Ende der Exposition des ersten Satzes das
monischen Verhältnisse gewissermaßen zurechtzu- Hauptthema in einer Gestalt, welche den Ruf: da
rücken, das Vexierspiel aufzulösen. So erscheint ist die Tonika! rechtfertigen könnte:

Beispiel 2: 1. Satz, T. 147–151

1. Ob. 147

Doch es ist ›leider‹ nur die Tonikaparallele (Es- (T. 225 ff.). Mit der eigentlichen, nun allerdings in
Dur) und die harmonische Eindeutigkeit nur ein kaum vernehmbaren Hintergrund gerückten Re-
flüchtiger Augenblick, welcher lediglich den An- prise (Takt 283 ff.) ist das Wechselspiel von rhyth-
stoß gibt für die entgegengesetzte Tendenz in der mischer Stabilität und harmonischer Instabilität
Durchführung – für die Wiederherstellung des wieder in vollem Gange. So etwa, indem das
ersten Themas als chromatisch schweifendes Ge- Thema zwar reprisengerecht in der Tonika c-Moll
bilde. Sie erfolgt zunächst in einer Scheinreprise, (Oboe) ansetzt, das grundierende Tremolo und die
durch die – zugleich als dramatischer Höhepunkt ›kontrapunktierenden‹ Varianten sich jedoch im
der Durchführung – das Thema erstmals wieder As-Dur-Bereich bewegen:
in seiner ursprünglichen Gestalt erscheint

Beispiel 3: 1. Satz, T. 283–286


Beispiel 3
283

Fl.

2. Vl. 1. Vl.

Ob. 147

Die Themenvariante der Reprise macht endgültig c-Moll-Dreiklangs – das Verlöschen der Impulse,
klar, dass im Folgenden nicht minder verschlun- das Ausschwingen einer »Totenuhr«, womit
gene Pfade eingeschlagen werden als in der Expo- Bruckner selbst die Stelle bezeichnete (Göll.-A.
sition. Um so stärker richtet sich dadurch das 4/3, 16), wird auskomponiert. Dieses Verlöschen
Interesse auf die Coda: Welche Lösung findet das aber ist zugleich des Rätsels Lösung. Es könnte auf
Vexierspiel nun wirklich? Die Überraschung ist die funktionale Leere der Tonika verweisen, die
nicht gering. Nachdem die Reprise auf dem insta- im Lauf des Satzes nur verschleiert worden war.
bilen Quart-Sext-Akkord von c-Moll (nur die Vielleicht kündigt sich hier ein kritisches Ver-
Pauke steuert mit Unterbrechungen den Grund- ständnis der Tonalität an, das zur Vernachlässi-
ton bei) und überhängenden Horn- und Trompe- gung von harmonischen Grundfunktionen führt
ten-Fanfaren im Rhythmus des ersten Themas und deren ›Stellvertreter‹ immer größeres Gewicht
abgerissen ist, schließt sich die kürzeste Coda aller beimisst.
Bruckner-Sinfonien an: Vom Pianissimo zum Die Rätsellösung käme also einer konstrukti-
dreifachen Pianissimo auf dem Grundton c zu- ven Auflösung nahe, in der sich Ansätze zu künf-
sammensinkend, regen sich noch rhythmisch- tigen kompositionstechnischen Flugbahnen ab-
melodische Fetzen des Themas, umspielen mit zeichnen. Das Finale hingegen hält noch einmal
kleinen Sekunden den Prim- und Quintton des an der großen Geste fest. In der mehr als doppelt
204 Mathias Hansen

so langen Coda dröhnt dort nicht nur über gut 4. Satz


zwanzig Takte C-Dur, sie türmt auch die Kopfthe-
men aller Sätze übereinander, um als ›organisch Einigermaßen anders und ambivalent lauten die
gerundet‹ zu beschwören, was vordem durch Urteile über den Schluss des Finales. So nennt ihn
mehrschichtig gelagerte Sprengkräfte auseinan- Peter Gülke zwar wertvoll »als Idee«, sieht aber in
dergetrieben wurde. Ohne an dieser Stelle bereits ihm »kein unvergleichliches Meisterstück im
ausführlicher auf die 1. Fassung der Achten einzu- kompositionstechnischen Sinn« (Gülke 1989, 18).
gehen, sei jedoch erwähnt, dass Bruckner ur- Für Martin Geck, der in seinem Urteil Werner
sprünglich auch den ersten Satz mit einer 29 Takte Korte folgt, ist die Themenaufgipfelung »alles
umfassenden Passage triumphalen Vollklangs be- andere als subtil, vielmehr im Dienst der guten
schlossen hatte. Der triumphale Charakter wurde Sache geradezu plakativ« (Geck 1993, 394). Noch
noch dadurch gesteigert, dass Bruckner in bei ihm weiter in seinem kritischen Urteil geht Werner
ungewöhnlicher Weise auf eine vorbereitende Notter: »Daß die Synthese mißlingt, liegt nicht an
dynamische Steigerung verzichtete: Nach dem der groben kontrapunktischen Vereinigung aller
Verrinnen der »Totenuhr« im dreifachen Piano (1. Hauptthemen, sondern an einem Gesamtkonzept
Fassung, Streicher und Pauke T. 415–423,) explo- des Finales, das der Coda diesen Kraftakt aufbür-
diert das Orchester gleichsam im Tutti und drei- det. Als ›Werkstück‹ ist die Synthese zweifellos
fachen Forte. Bruckner hat diese Schlusspassage in gelungen, als gesamtsinfonischer Legitimations-
der 2. Fassung nahezu ersatzlos gestrichen (das versuch des Schlußsatzes bleibt sie zweifelhaft«
Pendeln der »Totenuhr« wurde lediglich über drei (Notter 1983, 110). Dieser Mangel ist wohl ent-
Takte hinweg verlängert), ein Eingriff, den wohl scheidend: Der Themenkombination haftet etwas
kein Kommentator des Werkes jemals kritisiert Aufgesetzes an, das die disparaten, jedoch zugleich
hat. Im Gegenteil: Es ist erhebliches Unverständ- konstitutiven Ereignisse in Satz- und Werkverlauf
nis darüber zum Ausdruck gebracht worden, dass nicht aufzufangen und schon gar nicht in über-
der Komponist den Kopfsatz mit quasi unmoti- zeugender Weise apotheotisch zu überhöhen ver-
viertem Lärm beschließen konnte, zumal dies mag. Der Schluss ist von »extremer Künstlichkeit«
zwangsläufig die gipfelnde Wirkung des Final- (Hinrichsen 2004, 237). Die ›gute Sache‹, in deren
schlusses abschwächte. Dem ist sicher zuzustim- ›Dienst‹ die lärmende Schlusspassage ihren Sinn
men. Andererseits dürfte Bruckner zu dem laut- erhalten soll, hat eben von Beginn des Finales an
starken Ausklang in der Erstfassung durch die mit Charakter und Zuschnitt der Themen in
diffusen Sprengkräfte veranlasst worden sein, die Verbindung mit der Entfaltung ihrer harmoni-
sich zumal im harmonischen Verlauf des Satzes schen Umfelder und Beziehungen zu tun. So ist
angestaut haben und nun ein Bedürfnis nach das erste Thema trotz seines ungehemmt aggressi-
kraftvoller Lösung, Klarheit und Entspannung ven Grundtons nicht minder zerfurcht als das des
entstehen ließen (Gülke 1996, 332). ersten Satzes:

Beispiel 4: 4. Satz, T. 3–11

Feierlich, nicht schnell


3

Pos.
Hr.

Der Vordersatz des Themas, auf fis einsetzend, ist mündet in eine geradezu überdeutlich markierte
eine Kombination von Klängen in Großterz-Ab- Dreiklangfläche, die allerdings den ›Mangel‹ hat,
ständen (fis-D-b-Ges-es Æ Des) mit den rhyth- auf dem ›fremden‹ Des-Dur zu beharren. Die
mischen Konturen des ersten Themas des Kopf- anschließende Wiederholung gerät auf nicht
satzes. Diese harmonisch instabile Kombination weniger verschlungene Pfade: as-fes-c-As-Es,
Die Achte und Neunte Sinfonie 205

Beispiel 5: 4. Satz, T. 31–35

31

Hr.
Pos.

wobei c-Moll wieder nur im Durchgang berührt thematischen Gestalten in allen Sätzen. Neben der
wird. Der Nachsatz hingegen scheint sich nun kleinen Sekunde als auf- und abwärts geführter
wirklich der Grundtonart zuzuwenden (Beispiel Leitton, der längst ein Kennzeichen für Bruckners
5). Doch der harmonische Verlauf schwenkt bald Musik bildet, ist es vor allem eine skalenförmige
in dominantische, das freilich nicht recht eindeu- Bewegung, welche sich wie ein motivisches Netz
tige f-Moll des zweiten Themas vorbereitende über die Themen spannt. Ihre wohl deutlichste
Bahnen ein. Die weiterhin anhaltende Verunsi- Ausprägung findet diese Bewegung im Nachsatz
cherung der harmonischen Verhältnisse hat des ersten Themas des Finales (Beispiel 5, T. 31 ff.),
wiederum nicht allein ein Gegengewicht in der sie wird von dessen zweitem (T. 69 ff., vgl. hier die
rhythmischen Prägnanz der Motive, Themen und Wendung T. 75–78) und drittem Thema (T. 135 ff.)
Themenkomplexe, sondern auch – und dies ist ein aufgegriffen, um schließlich auch noch dem
›von langer Hand‹ geprägtes Moment – in der choralartigen Epilogthema Kontur zu geben
melodischen Affinität zwischen den wichtigsten (T. 159 ff.):

Beispiel 6: 4. Satz, T. 159–162

Fl., Kl., Vl.


159

Pos. (8ba)
K-Tb.

Die Mittelsätze kreist um einen formelartigen Grundrhythmus,


Wie vordem im Streichquintett (1878/79) steht das dem als konterndes Element eine auftaktige Be-
Scherzo der Achten Sinfonie an zweiter Stelle. Es gleitfigur beigegeben ist:

Beispiel 7: 2. Satz (Scherzo), T. 1–3


Allegro moderato
Vl.
1

1. Hr. Va., Vc.

Diese Begleitfigur erhält, im Gegensatz zum sig- zend-ausgleichende Funktion unverkennbar ist
nalhaft abgeschlossenen Grundrhythmus, auch (vgl. T. 15–17).
eine flexiblere melodische Kontur, deren ergän-
206 Mathias Hansen

Beispiel 8: 2. Satz (Scherzo), T. 15–17

15 Vl.

Im elegisch-kantablen Trio, dessen Thema kleine bau prinzipiell unverändert – zwei Themen in
Sekunde und Skalenbewegung umspielt, verwen- wechselnder variativ-durchführungsartiger Aus-
det Bruckner erstmals die Harfe, jedoch lediglich, weitung –, hat der Satz einige Besonderheiten, die
wie auch im folgenden Adagio, zu koloristischen offenkundig mit dem Charakter des ganzen Wer-
Zwecken. kes in Beziehung stehen. Analog zu den Kopfthe-
Mit diesem Adagio vollendet sich die sinfo- men des ersten und vierten Satzes spielt das
nisch-dramaturgische Aufwertung des langsamen Hauptthema des Adagio ebenfalls einen Kontrast
Satzes, die sich in den vorausgegangenen Sinfo- von Verschleierung und demonstrativer Klärung
nien gleichsam schrittartig abgezeichnet hatte und aus, nun aber zwischen rhythmisch-harmonischen
die durch den folgenden der Neunten Sinfonie nur Verkomplizierungen einerseits und akkordisch-
noch bestätigt wurde. Obwohl im formalen Auf- ›tonalen‹ Vereinfachungen andererseits:

Beispiel 9: 3. Satz (Adagio), T. 1–4 und 13–15

1 Feierlich langsam, doch nicht schleppend 1. Vl. zart hervortretend

3 3

Str.

ohne Anschwellung
3 3

13 Kl., Vl.

cresc. sempre
Str.

3 3

Die ›Auflichtung‹ nach A-Dur (T. 15), die bereits korde, deren Spitzentöne die motivische Skalenbe-
einen Nachsatz erwarten ließe, wird jedoch umge- wegung nachzeichnen, Beruhigung finden. Selbst
hend in entferntere harmonische Zonen gelenkt, das zweite Thema (T. 47 ff.) bleibt von dieser
welche erst durch eine Folge herabsinkender Ak- Kontrastsituation nicht unberührt:
Die Achte und Neunte Sinfonie 207

Beispiel 10: 3. Satz (Adagio), T. 47–55

47 Vc.

51

cresc. sempre

Die sinfonischen Dimensionen des Satzes erschei- Scherzo: H[au]p[t]th[ema]: deutscher Michel genannt; in
nen, auch durch das zweite Thema, mächtig ge- der 2. Abtheilung will der Kerl schlafen, u träumerisch
findet er sein Liedchen nicht; endlich klagend kehrt es
weitet. Die letzte Reprise des ersten Themas um- selbes um.
fasst nicht weniger als 70 Takte (T. 185–254), gibt Finale. Unser Kaiser bekam damals den Besuch des Czaren
Raum fürs Zitat des ersten Themas des Kopfsatzes in Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech: Mili-
tärmusik; Trompeten: Fanfare, wie sich die Majestäten be-
(vgl. T. 200/201) sowie einer Wagner-Reminiszenz gegnen. Schließlich alle Themen; (komisch), wie bei
(Siegfrieds »Schwert«-Motiv T. 204), und erreicht Tannhäuser im 2. Akt der König kommt, so als der deutsche
über zwei Steigerungswellen den absoluten dyna- Michel von seiner Reise kommt, ist Alles schon im Glanz.
Im Finale ist auch der Todtenmarsch u dann (Blech)
mischen Höhepunkt in Es-Dur (T. 239). Nach Verklärung.« (Briefe 2, 114)
einer kurzen Reminiszenz an das zweite Thema
(T. 255 ff.) setzt eine Coda ein, welche noch be- Und in den Erinnerungen von Friedrich Eckstein
harrlicher als jene des ersten Satzes auf die so heißt es: »Zum 3. Satz Adagio gab er wenig Erläu-
umhergetriebene Grundtonart (Des-Dur) fixiert terungen. Er sagte bloß, das Thema sei ihm in
ist. Und sie wirkt noch verlorener und ›leerer‹, Sierning bei Steyr, als er ›einem Mädchen tief in
gleicht einem versiegenden Ausatmen, dem alle die Augen geblickt‹ habe, eingefallen« (Göll.-A.
bestätigende Kraft längst geschwunden ist. 4/3, 19).
Bruckners Aussagen haben unterschiedliche
Interpretationen erfahren. In der früheren, ernst-
Zum ›Programm‹ der Achten Sinfonie
zunehmenden Brucknerliteratur (z. B. Ernst
Anton Bruckner hat zur Achten Sinfonie eine Viel- Kurth) überwiegt Skepsis – die Aussagen seien
zahl von programmatischen Anmerkungen hinter- eher belanglos –, und nicht selten spürt man bei
lassen, die in Briefen und in Berichten seiner den Autoren ein peinliches Berührtsein durch
Freunde und Schüler überliefert sind. Diese bei Naivität und auch Trivialität (vgl. Dahlhaus 1988,
Bruckner ungewöhnliche und auch einmalige 9). Neuere Darstellungen bemühen sich darum,
Fülle von Aussagen kann freilich nicht darüber diese Sicht zu revidieren oder zumindest zu relati-
hinwegtäuschen, dass ihr Inhalt deutlich begrenzt vieren und aus Bruckners Worten tiefergehende
ist und keinen rechten Zusammenhang erkennen Erkenntnisse über seine Musik zu gewinnen (z. B.
lässt. Es ist deshalb auch einigermaßen fragwürdig, Floros 1980, 182–210; Geck 1993, 391–399). Cha-
sie in die Nähe einer von Beethovens Pastorale rakteristisch hierfür ist die Schlussfolgerung, die
oder Berlioz’ Symphonie fantastique ausgehenden Martin Geck aus den Aussagen zieht: »Es sind
Gattungstradition zu stellen oder von dem Werk […] drei Ideenkreise: die Drohung des Todes, das
gar als einer »Programmsinfonie« sprechen zu Heiligtum der Liebe und der Auftritt des deut-
wollen. Gewissermaßen als Zusammenfassung schen Michel in der großen Politik. Sie schließen
von Bruckners programmatischen Auskünften sei sich nicht zu einem ›Programm‹ zusammen, ma-
ein Brief an Felix von Weingartner vom 27. Januar chen indessen sehr wohl deutlich, was Bruckner
1891 zitiert: im Kontext der Zeit bewegt« (Geck 1993, 398).
Wie Geck dies in den einzelnen Sätzen themati-
»Im 1. Satze ist der Tromp[eten] u Cornisatz aus dem siert und deutet, mag auf sich beruhen – womit
Rhythmus des Thema: die To d e s v e r k ü n d i g u n g, die
immer sporadisch stärker endlich sehr stark auftritt, am wohl genügend Zweifel an solchem Vorgehen sig-
Schluß: die Ergebung. nalisiert ist. Nur noch soviel: Wenn auch im
208 Mathias Hansen

Konjunktiv formuliert (als Folge eines Courths- Vielleicht eröffnet sich ein anderer Interpreta-
Mahler-würdigen Interpretationsangebots, auf das tionsweg für den Gegensatz zwischen dem ›hohen
sich Geck hier bezieht), ist es wenig überzeugend, Ton‹ der Musik und ihrer einige Stufen niedriger
den schlichten Satz Bruckners, dass ihm das zu verortenden ›Selbstdeutung‹ durch deren
Thema des Adagio eingefallen sei, als er ›einem Schöpfer, wenn man in Erwägung zieht, zu wel-
Mädchen tief in die Augen geblickt‹ habe, »als chen verbalen Schlussfolgerungen ein alles andere
Ausdruck einer Konfession [zu] verstehen, die als intellektuell versierter, über das Wort souverän
zwar nicht unmittelbar Gott zum Adressaten verfügender Komponist gelangen könnte oder gar
hätte, wohl aber das Heiligste anriefe, das es für müsste in Anbetracht der kompositorischen Rea-
Bruckner auf Erden gab: die reine Liebe zur reinen litäten, die in seinem Werk zu vernehmen sind.
Frau« (Geck 1993, 399). Zu den in den analytischen Anmerkungen aufge-
Bruckners Programmhinweise zur Achten Sinfo- führten Unbedenklichkeiten in der Klang- und
nie scheinen eher noch den ›Rätselcharakter‹ des Strukturbildung dürfte nur ein Mann fähig gewe-
Werkes zu verstärken. Die unüberbrückbare Kluft sen sein, dem das Klingende eben nicht durch li-
zwischen den anspruchslosen Worten und dem terarische oder philosophische Ambitionen be-
›hohen Ton‹ der Musik, der selbst noch in den schwert war; der im Glanz der Klänge nicht un-
genrehaft geprägten Passagen des Scherzos nichts mittelbar und nicht unbedingt einen Abglanz von
von seiner Stringenz verliert, zeugt von einer gänz- etwas Über- oder Außerklanglichem wahrnehmen
lich unliterarischen Disposition, aus der heraus der und gar noch programmatisch weiterleiten musste.
Komponist solche inhaltlichen Hinweise formu- Und deshalb vermochte er auch keine Worte zu
liert hat. Das unterscheidet ihn nachdrücklich von finden, welche dem Niveau der Musik angemesse-
allen zeitgenössischen Exponenten programmati- nen wären. Indem Bruckner jedoch solcher
scher Musik, von Hector Berlioz bis Franz Liszt, ›Klang-Sinn‹ als Profanität und mithin als ›Sünde‹
Peter Tschaikowsky, Richard Strauss oder Gustav erschienen sein mochte, rief er alle nur irgendwie
Mahler. Und es dürfte auch nicht von untergeord- geeigneten Instanzen an, die diesen Umstand
neter Bedeutung sein, dass für die Uraufführung verdecken oder auch verklären halfen. Und diese
der Achten Sinfonie einer der Getreuen Bruckners, Instanzen erstrecken sich von der Überschaubar-
Josef Schalk, einen Programmtext ›dichtete‹, der keit regelmäßiger, gewissermaßen quadratischer
unfreiwillig einer Parodie nahekommt. So heißt es Taktperiodik und registerhafter Orchestration
z. B. über das Adagio: Es führe »in die, dem ersten über die Einbeziehung kirchenmusikalischer
[Satz] direkt entgegengesetzte Sphäre feierlich ru- Selbstzitate bis hin zur Werkwidmung an den
higer Erhabenheit. Wie das stille Walten der Gott- Höchsten.
heit, weit oben tronend über allem Erdenweh und Zeitgenossen wie Hanslick, den wir ja stets als
aller Erdenlust, die zu ihm gleich Wolken qual- kompetenten Sachwalter einer ganzen, wenn auch
menden Opferrauches ununterscheidbar empor- klassizistisch geprägten Musikkultur zu lesen ha-
steigen, so breitet sich die Fülle seiner Klänge da- ben, war dies alles ein Gräuel. Doch er hat – trotz-
hin. Nicht Zeus-Kronion, den unerbittlichen, nein dem oder gerade deswegen – genauer gehört als
– den all-liebenden Vater der Menschen, werden die meisten Brucknerianer von ehedem bis heute,
wir in seiner ganzen, unermeßlichen Gnadenfülle und er ist auf Rätsel gestoßen, die noch immer der
gewahr« (Göll.-A. 4/3, 288, Anm. 18). Lösung harren:
Dass bereits Zeitgenossen das unfreiwillig pa- »In Bruckners Compositionen vermissen wir das logische
rodistische Moment in solchen Auslassungen Denken, den geläuterten Schönheitssinn, den sichtenden
aufgefallen ist, geht aus der Kritik Hanslicks her- und überschauenden Kunstverstand […] Es bleibt ein
psychologisches Rätsel, wie dieser sanfteste und friedfer-
vor, der die zitierte Passage mit den Worten kom- tigste aller Menschen – zu den jüngsten gehört er auch
mentierte: »Da das Adagio genau achtundzwanzig nicht mehr – im Moment des Componierens zum Anar-
Minuten dauert, also ungefähr so lang als eine chisten wird, der unbarmherzig alles opfert, was Logik
ganze Beethoven’sche Symphonie, so wird uns für und Klarheit der Entwicklung, Einheit der Form und der
Tonalität heißt. Wie eine unförmliche glühende Rauch-
diesen seltenen Anblick gehörig Zeit gelassen« säule steigt seine Musik auf, bald diese, bald jene groteske
(Göll.-A. 4/3, 293). Gestalt annehmend.« (Hanslick 1892, 307)
Die Achte und Neunte Sinfonie 209

Gewiss, »unförmlich«, also »unförmig«, und »gro- dürfte kein Zweifel daran aufkommen, dass
tesk« erschien Hanslick Bruckners Musik, und Bruckner die 2. Fassung der Achten als »Endfas-
zwar bereits mit der Dritten Sinfonie, von der hier sung« betrachtete, auf die er einzig seine Bemü-
die Rede ist. Doch die pejorativen Beiwörter zei- hungen um baldige Uraufführung richtete und die
gen immer auch Sprengkräfte an, die – ob willent- eben in »späteren Zeiten« allein »gültig« sein sollte
lich oder nicht, begrüßt oder verabscheut – in die – wie es bis heute denn auch der Fall ist.
Zukunft weisen. Und sie assoziieren hier außer- Andererseits gibt es begründete Einwände ge-
dem ein nicht-alltägliches, im Grunde ungeheuer- gen eine Reihe von Eingriffen in die ursprüngliche
liches Bild: die »glühende Rauchsäule«. Welche Gestalt des Werkes, die das Klangbild, vor allem
gleichsam unterirdische Strahlkraft muss von die- aber seine Form betreffen. Durch Kürzungen seien
ser Musik ausgegangen sein, dass sich selbst einem Unausgewogenheiten entstanden, die alle Sätze
ihrer hartnäckigsten Widersacher nichts Geringe- betreffen und zumal im Adagio, aber auch in den
res als eine an alttestamentarische Erscheinungen Ecksätzen zu Verlusten an künstlerischer Substanz
erinnernde Metapher aufgedrängt hat?! geführt hätten. Robert Haas nahm dies in der
AGA zum Anlass, eine Reihe von Veränderungen
Bruckners durch Wiederherstellung der ursprüng-
Zu den Fassungen
lichen Gestalt einer Passage rückgängig zu machen
Bedenkt man den Anlass, der zur Überarbeitung und somit 1. und 2. Fassung zu vermischen (AGA
und somit zu einer Zweitfassung der Achten Sinfo- VIII [1939]). Gewissermaßen einem neueren Ver-
nie geführt hat, so läge es nahe, diese Fassung als ständnis von Originalität und Authentizität fol-
eine Art ›Kompromiss‹ zu betrachten, der – nicht gend, entschied sich der Herausgeber der NGA,
anders als alle früheren – durch Einwendungen Leopold Nowak, dafür, die Fassungen wieder
von mehr oder weniger nahestehenden Freunden streng zu trennen und als gesonderte Bände zu
zustande kam. Die 1. Fassung wäre demnach die veröffentlichen (2. Fassung: NGA VIII/2 [1955], 1.
»Originalfassung«, die Bruckners ursprünglichen Fassung: NGA VIII/1 [1972]) – wodurch sich
und mithin authentischen Willen wiedergäbe. freilich bislang nichts an der Favoritenstellung der
Doch neben kompositorischen Gegebenheiten, 2. Fassung geändert hat. Und daran dürfte sich,
auf die noch zurückzukommen ist, sprechen im vielleicht auch: sollte sich künftig nichts ändern.
Fall der Achten sogar verbale Aussagen des Kom- Denn selbst wenn in einzelnen Fällen ursprüng-
ponisten dafür, die Gleichung »Erstfassung« = liche kompositorische Lösungen gegenüber denen
»Originalfassung« zumindest zu relativieren. Am der Zweitfassung bevorzugt zu werden verdienten,
27. Januar 1891 schrieb Bruckner dem jungen so wäre nicht nur die Missachtung von Entschei-
Mannheimer Kapellmeister Felix von Weingart- dungen des Autors bedenklich, sondern auch der
ner, der ihm für die Uraufführung der Sinfonie Umstand zu beachten, dass es wohl in keinem
empfohlen worden war: »Wie geht es der achten? dieser Fälle eine einzig richtige und für alle Zeiten
Haben Sie schon Proben gehabt? Wie klingt sie? gültige Auffassung geben dürfte. Allein der Ge-
Bitte sehr, das Finale so wie es angezeigt ist, danke, dass die Diskussion hierüber einen (weite-
fest zu kürzen; denn es wäre viel zu lange u gilt ren) Dauerstreit um Bruckner und zwangsläufig
nur späteren Zeiten und zwar einem Kreis von dann nicht nur über seine Achte Sinfonie auslösen
Freunden und Kennern« (Briefe 2, 114). Gemeint könnte, weckt wenig Vergnügen. In einem Beitrag
ist hier das Finale der 2. Fassung, das übrigens von Peter Gülke zeichnen sich solche möglichen
gegenüber dem der 1. Fassung bereits um 62 Takte Konsequenzen ab. Einerseits heißt es:
gekürzt worden ist. Und wenige Wochen später
»Welche Verbindlichkeit haben ein ›letzter Wille‹, eine
heißt es in einem weiteren Brief an Weingartner: ›Fassung letzter Hand‹ o.a., wenn, wie im Adagio der
»Bitte nur zu verfügen wie es Ihr Orchester erfor- Achten, am Ende Streichungen stehenbleiben, bei denen
dert; aber die Partitur bitte ich nicht zu ändern; Bruckners hochentwickelter Sinn für die Proportionalität
von Blöcken, Entwicklungen, Steigerungen etc. abge-
auch bei Drucklegung die Orchesterstimmen dankt zu haben scheint?« (Gülke 1996, 331)
unverändert zu lassen; ist eine meiner innigsten
Bitten« (Briefe 2, 128). Diesen Aussagen zufolge
210 Mathias Hansen

Wenig später schreibt Gülke: so mehr herauszustellen sucht, als die harmoni-
schen Verläufe – wie aus den analytischen Anmer-
»Andererseits kam es in gewichtigen Fällen, wie dem des
Schlusses im ersten Satz der Achten, zu eklatanten Ver- kungen hervorgehen sollte – stärker als bisher
besserungen und Vertiefungen, zu Rechenschaften, wel- durch weitläufigere Kontrastwirkungen labyrin-
che man, der später entstandenen Verlegenheiten einge- thische und somit irritierende Wege einschließen.
denk, nur zu gern sich als Bestandteil von Bruckners
kompositorischer Ausarbeitung selbst wünschte, und es Daran hatte Levi freilich in keiner Weise Anstoß
kam, nicht eben nur bei der Auswechslung eines Satzes genommen, und offensichtlich auch kein anderer
oder Satzteils, unter dem Dach einer übergreifend identi- der »besorgten« Kollegen und Freunde.
schen oder ähnlichen Konzeption, zu aufregenden Vari-
anten, Herausforderungen in bezug auf den Werkbegriff,
Zwei Beispiele mögen die Tendenz in Bruck-
vor denen eine auf Pro und Kontra fixierte Betrachtung ners Veränderungen verdeutlichen. Im Übergang
versagt.« (Gülke 1996, 332) von der Exposition zur Durchführung streicht
Bruckner den dynamisch-klanglichen Aufschwung
Während letzterer Aussage wohl uneingeschränkt Takt 132–138 (1. Fassung) und ersetzt ihn durch
zuzustimmen ist, kann man in den erwähnten motivische Zusammenziehung und durchgängige
Passagen des Adagios der Achten unter dem Aspekt Leisheit. Dadurch wird der ›Nachhall‹ des aus dem
verstärkter Stringenz des dynamischen Verlaufs dritten Thema heraus (T. 97 ff., beide Fassungen)
der Musik auch wachsende Steigerung und Ver- gleichsam organisch entfalteten dynamischen
dichtung vernehmen – und somit alles andere als Höhepunkts der Exposition (T. 125 ff., beide Fas-
einen Verlust oder gar eine »Abdankung« des sungen) nicht verwischt und aus ihm heraus
»Sinnes für Proportionalität«. Doch jeder Streit wiederum der Beginn der Durchführung (T. 157 ff.,
hierüber bleibt müßig, da die ›arbiträren‹ Mo- 1. Fassung; T. 153 ff., 2. Fassung) wie in einem
mente auf beiden Seiten sich nicht ausschließen einzigen Atemzug erreicht. Ähnliches geschieht
lassen. Stattdessen bleibt es wohl dabei: Solche bei der Vorbereitung zur Reprise: Es entfallen die
Differenzen sollten einzig Anlass dafür sein, auch Takte 258–269 (1. Fassung), die eine Crescendo-
im Fall der Achten Sinfonie beide authentischen Bewegung mit dem Kopf des Hauptthemas ent-
Fassungen aufzuführen. halten, um in der 2. Fassung eine quasi stufenlos
an- und abschwellende dynamische Kurve zu er-
»Ein Vergleich zwischen den Fassungen von 1887 und
1890 (von Nowak in der NGA vollzogen) veranschaulicht möglichen (T. 266 ff., 2. Fassung), nach der wie in
den kompositorischen Wandel: hin zur formalen Straf- einem weiteren geschlossenen Atemzug die seltsam
fung, in der Instrumentierung (dreifache anstatt der zu- versteckte, in einen geradezu kammermusikali-
nächst zweifachen Holzbläserbesetzung), aber auch in
einzelnen markanten Passagen wie den Schlüssen des 1. schen Klang gehüllte Reprise beginnt (T 283 ff., 2.
und des 4. Satzes, dem neu komponierten Trio im Scherzo Fassung).
und der tonalen Veränderung des Höhepunkts im Adagio Die wie ein Kennzeichen für den Wandel der
von C- nach Es-Dur.« (Bruckner-Handbuch 1996, 428)
Klanggestalt von 1. zu 2. Fassung stets hervorgeho-
Mit diesem »Wandel« ist also keine Änderung des bene Streichung des apotheotischen Schlusses des
Grundkonzepts des Werkes verbunden: Indem ersten Satzes wurde bereits erwähnt. Diese Apo-
Bruckner den Akzent auf Straffung des Verlaufs theose nimmt nicht nur den ›eigentlichen‹ und
und Deutlichkeit des Klangbildes legt, ist der Weg absoluten Höhepunkt der Sinfonie im Finale
von der 1. zur 2. Fassung als Präzisierung dessen zu vorweg und schwächt ihn dadurch gewissermaßen
verstehen, was der Komponist zu gestalten beab- als gänzlich unmotivierter ›Vorschein‹. Mehr noch,
sichtigte. Er reagierte eigentlich überhaupt nicht sie ist nicht nur unmotiviert, sondern recht eigent-
auf den Kernpunkt von Levis Kritik – auf das lich sogar gegen das reale Geschehen gerichtet, das
»Schablonenmäßige der Form«. Keiner der Form- sich vor allem mit dem niederreißenden, ›negati-
teile, die zu einer Bruckner-Sinfonie gehören und ven‹ Höhepunkt als Zielpunkt der Reprise
mithin als Teile ihrer »Schablone« angesehen wer- (T. 379 ff., 1. Fassung; T 369 ff., 2. Fassung) ereig-
den könnten, fehlt oder erscheint in einer Gestalt, net. Bruckner selbst hat diesen dissonierenden
die grundsätzlich anders ist als in früheren Sinfo- Klangausbruch als »Todesverkündigung« bezeich-
nien. Es geht Bruckner also um Stringenz und net (Briefe 2, 114), der sich das Auspendeln der
Präzisierung, die er allerdings in der 2. Fassung um »Totenuhr« (Göll.-A. 4/3, 16) anschließt – so, wie
Die Achte und Neunte Sinfonie 211

es dann in der 2. Fassung geschieht. Diese Stelle Form vor – vor allem wiederum durch Kürzungen,
gehört freilich zu jenen, die durch jede Auffüh- die bis heute kontrovers diskutiert werden. Die
rung der früheren Fassung zum Problem werden Kernfrage lautet: Gelang es dem Komponisten,
und also zwangsläufig dem Grundsatz widerspre- durch sie sein Konzept in überzeugenderer Weise
chen, alle authentischen Fassungen der Sinfonien künstlerisch zu verwirklichen oder verfiel er hier
zu Gehör zu bringen. einer Art Streichungswahn, in den ihn die harsche
Das um insgesamt 17 Takte kürzere Scherzo Kritik der Freunde am »Schablonenmäßigen der
weist gegenüber seiner 1. Fassung vornehmlich Form« getrieben hat? Wie kompliziert die Sachlage
instrumentale Retuschen auf, während das Trio in ist, deutet sich allein schon in der Tatsache an,
entscheidenden Teilen eine Neukomposition dar- dass gerade in jüngster Zeit ernstzunehmende
stellt (mit Beifügung von drei Harfen). Doch auch Stimmen mehr oder weniger direkt dafür plädie-
in diesem Satz geht es vorrangig darum, Intensität ren, den einen und den anderen »Strich« wieder zu
und Deutlichkeit des musikalischen Ablaufs zu öffnen, um ein vermeintlich entstandenes formales
stärken. Ein instruktives Beispiel hierfür bietet Ungleichgewicht oder eine gewissermaßen unver-
etwa die Schlusspassage des ersten Formabschnitts ständlich gewordene Folge von Formteilen rück-
(T, 35–63, 1. Fassung; T. 33–61, 2. Fassung). In der gängig zu machen. Andererseits nahm Bruckner
1. Fassung ist in Takt 35 das Crescendo zum Fortis- Streichungen vor, die wohl unbestritten auch in
simo abgeschlossen und damit der Lautstärkegrad diesem Satz eine stärkere Stringenz des musikali-
erreicht, der nach einer weiteren, nunmehr quasi schen Ablaufs bewirken. So etwa durch die Redu-
ruckartigen Steigerung zum dreifachen Forte zierung von (Wiederholungs-)Takten in der
(T. 43) die gesamte Passage bis Takt 63 bestimmt. Überleitung zum ersten Auftritt des zweiten The-
In der 2. Fassung intensiviert Bruckner die drama- mas Takt 129–139 (1. Fassung) sowie durch die
tische Wirkung, indem er die (relativ) einheitliche vollständige Streichung der dem Thema unmittel-
Lautstärke aufbricht und eine Art wellenförmiges bar vorausgehenden Passage Takt 143–150 (1. Fas-
Anschwellen beabsichtigt. Zum einen durch Ein- sung). In ähnlicher Weise verdichtend dürfte die
schub eines Decrescendo mit nachfolgendem Streichung der Takte 175–180 (1. Fassung) wirken,
Neuansatz eines Crescendo vom Piano zum For- die außerdem mit einer in die gleiche Richtung
tissimo (T. 40–47), andererseits durch weiteren zielende Änderung des harmonischen Verlaufs
Einschub von vier Takten (T. 49–52), in denen die verbunden ist: Statt einer sequenzierenden Annä-
Lautstärke durch eine bislang ausgesparte Instru- herung an die Wiederholung des zweiten Themas
mentenkombination (Ausblendung der hohen über die Harmoniefolge C-Dur Æ g-Moll Æ Es-
Holzbläser, wodurch die akzentuiert einsetzenden Dur Æ G-Dur Æ H-Dur Æ D-Dur Æ B-Dur
Trompeten, Posaunen und Pauken scharf hervor- (T. 181) schließt Bruckner an das Fes-Dur am Ende
treten) mit dem Stärkegrad fff modifiziert wird. von Takt 174 eine Rückung nach C-Dur (anstelle
Durch diese Klangmodulierung erhält der Ablauf von B-Dur) an, die das Thema um einiges inten-
eine Stauung, wonach die abrollende Bewegung siver, wie im Glanz eines Sonnenaufgangs, erschei-
zum Formeinschnitt Takt 61 deutlich an klangli- nen lässt.
cher und rhythmischer Intensität gewinnt. Kritisch vernommen wird vor allem die Strei-
Das Trio, dessen Beginn (T. 1–24) vollständig chung der Passage Takt 225–234, die Teil der dyna-
neu komponiert wurde, erhielt vor allem harmo- mischen Vorbereitung der Höhepunkte des Satzes
nische Belebung durch stufenreichere, aber auch T. 235 ff. (1. Fassung) und T. 269 (1. Fassung) ist,
rhythmisch bewegtere Klangfolgen. Zugleich des absoluten Höhepunkts. Man kann Werner
macht sich auch hier eine nachhaltigere Stringenz Notters Feststellung durchaus folgen, dass durch
des Ablaufs bemerkbar, als es engere motivische die Streichung der Eindruck entsteht,
Verflechtungen zwischen A- und B-Abschnitt des
Formteils gibt. »als ob […] etwas fehlte […] In der ersten Fassung sym-
Das Adagio weist in geringerem Umfang in- bolisiert der Aufschwung mit dem Höhepunktsmotiv nur
eine Vision, die zwei Takte lang aufleuchtet und dem
strumentatorische Retuschen auf. Dafür nahm nachfolgenden Crescendo den Weg weist (vgl. dort T
Bruckner um so einschneidendere Eingriffe in die 235/6). Wenn L. Nowak zwei Fortissimo-Stellen mehr
212 Mathias Hansen

schlecht als recht zusammenleimt, dann entsteht der hafte Motivik/Thematik und Klangcharaktere
Eindruck, es handle sich dabei um eine vorgezogene, eine andere, ungewöhnlichere Rolle als in früheren
unvollständige oder gar mißglückte Klimax, die nicht
restlos ›auskomponiert‹ sei. Bruckner hat ›ganz bewußt Sinfonien. Nun dienen sie weniger der hymni-
die beiden Gipfel – den Aufschrei des ersten Adagiomo- schen Überhöhung an Kulminationspunkten als
tivs und jene Dreiklangsbrechung (das Höhepunktsmo- vielmehr zur durchgängigen Markierung von
tiv) voneinander getrennt‹, darum ist die Auslassung der
10 Takte ›zu bedauern‹.« (Notter 1983, 107)
Formabschnitten und thematischen Komplexen.
Dadurch gewinnen die choralartigen Passagen an
Andererseits erzielt die Klärung des ursprünglich formbildendem Gewicht, werden sie flexibler im
weitläufigeren oder auch umwegigen Ablaufs zu- Ausdruck, wandelbarer in ihrer Gestalt. Zugleich
gunsten einer in zwei großen Wellen kontinuier- kommt ihnen ein höheres Maß an Funktionalität
lich anschwellenden Steigerung (T. 185 ff. und zu, indem sie während des gesamten Satzes eben
T. 211 ff., 2. Fassung) einen unüberhörbaren Zu- formakzentuierende, ja formsteuernde Impulse
wachs an Intensität des Ausdrucks. Und schließ- geben, die übergreifendere Abläufe berühren. Ein
lich könnte Bruckner auch hier der Gedanke kleines Detail in der Änderung von der 1. zur 2.
motiviert haben, durch solche verdichtende Zu- Fassung könnte auf diese Doppelrolle der Cho-
sammenziehung dem Vorwurf der »Gestücktheit« ralthematik verweisen. Sie erscheint erstmals im
des Ablaufs wirkungsvoll entgegenzutreten. Anschluss an das dritte Thema (T. 171 ff., 1. Fas-
Bemerkenswerterweise enthält das Finale zwar sung; 159ff,. 2. Fassung). In der 1. Fassung bleibt
eine Fülle von instrumentatorischen und auch die unterhalb des ›Chorals‹ in den Violen ein Pendel
Form betreffenden Retuschen, doch keine von von Viertelnoten in wechselnder Intervallfolge
ihnen ist bislang auf nachdrücklichere Kritik ge- erhalten, das dergestalt die gesamte Passage vom
stoßen. Grundlegend ist auch hier die Tendenz zu dritten Thema (T. 147 ff., 1. Fassung) bis zum Be-
Straffung und Verdichtung, wobei freilich in je- ginn der Durchführung (T. 259 ff., 1. Fassung) wie
dem Fall zu prüfen bleibt, ob damit der Zweitfas- ein roter Faden durchzieht. In der 2. Fassung un-
sung nicht auch Defizite an Wirkung oder gar terbricht Bruckner dieses Pendel mit dem Eintritt
Einbußen an Originalität und Erfindungsreich- des ›Chorals‹, betont er also stärker seinen Eigen-
tum entstanden sind. Ein charakteristisches Bei- charakter, ohne allerdings den mit ihm verbunde-
spiel hierfür ist etwa die Überleitung zur Durch- nen Formsinn aufzugeben. Durch die Ausblen-
führung Takt 223 (1. Fassung) bzw. Takt 211 (2. dung der ›bewegten‹ Streicherstimme tritt der ge-
Fassung). Sie umfasst in der 1. Fassung 28, in der heimnisvolle, mystische Charakter des nun in
2. Fassung nur noch 20 Takte. Der Strich betrifft ruhigen Akkordschritten abwärts gerichteten
die merkwürdig mäandernde Anfangspassage der ›Chorals‹ deutlicher hervor – und bleibt doch in
Überleitung (T. 225–242, 1. Fassung), die als aus- seiner formbildenden Rolle. Auch dieser Eingriff
pendelnde Bewegung vom lautstarken Expositi- dürfte auf das grundlegende Bearbeitungsziel –
onsabschluss zum ›Choral‹-Einsatz des Durchfüh- stärkere Betonung von Stringenz und Deutlichkeit
rungsbeginns Takt 259 (1. Fassung) ihren Sinn er- – hinweisen.
hält. Andererseits erzielt die Reduzierung des
Übergangs auf ein plötzlich ins Pianissimo und
Piano zurückgenommenes Quartpendel aus dem
Expositionsausklang, über das sich Takt 215 ff. (2.
Fassung) bzw. T 243 (1. Fassung) ein Klangband
der Hörner mit rhythmischen Impulsen aus dem
Hauptthema breitet, eine Stringenz der Ereignis-
folge, die ihre eigene lapidare und darin neuartige
Ausdruckskraft entfaltet. An solchen Stellen bestä-
tigt sich wohl die Auffassung Manfred Wagners,
beide Fassungen der Achten Sinfonie als »gleich-
wertig« zu betrachten (Wagner 1980, 52).
Ein letztes Beispiel: Im Finale spielen choral-
Die Achte und Neunte Sinfonie 213

Die Neunte Sinfonie kraft nunmehr dauerhaft eingeschränkt ist und er


sich jedoch vor die Aufgabe gestellt sieht, ein Fi-
»Seine Neunte ist höchst merkwürdig […] Es nale zu komponieren, das die Dimensionen und
scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber den Gehalt der vorausgehenden Sätze zu krönen-
hinaus will, muß fort […] Die eine Neunte ge- dem Abschluss bringt. Seinem Arzt Dr. Richard
schrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Heller vertraute er an: »Sehen Sie, ich habe bereits
Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, zwei irdischen Majestäten Symphonien gewidmet,
wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte dem armen König Ludwig als dem königlichen
schriebe. Und das soll wohl nicht so sein« (Schön- Förderer der Kunst [7. Sinfonie], unserem erlauch-
berg 1976, 23). Die Worte Arnold Schönbergs ten, lieben Kaiser als der höchsten irdischen Ma-
galten nicht Bruckners, sondern Gustav Mahlers jestät, die ich anerkenne [8. Sinfonie], und nun
letzter Sinfonie. Doch Schönberg dachte an dieser widme ich der Majestät aller Majestäten, dem
Stelle seiner Gedenkrede auf Mahler neben Beet- lieben Gott, mein letztes Werk und hoffe, dass er
hoven zweifellos auch an Bruckner. Dessen Sinfo- mir so viel Zeit schenken wird, dasselbe zu vollen-
nie hat mit der Mahlers vieles gemeinsam – nicht den und meine Gabe hoffentlich gnädig aufneh-
nur in den beiden Adagios, die bei Mahler ab- men wird« (Göll.-A. 4/3, 525 f.).
sichtlich, bei Bruckner durch alters- und krank-
heitsbedingten Arbeitsabbruch zum Schlusspunkt
1. Satz
ihres Gesamtwerkes geworden sind. Es gilt weiter-
hin zu bedenken, dass Mahler seine Neunte in ei- Wolfram Steinbeck trifft zweifellos das Richtige,
ner unaufgeführten ›Erstfassung‹ zurücklassen wenn er über das Hauptthema im ersten Satz
musste, die – nach allem, was wir über vorange- schreibt: Es ist, »anders als die beiden anderen
gangene Uraufführungen und darüber hinaus von Themen, eben keine fertige, wiederholbare Gestalt
nachfolgenden Aufführungen wissen – noch Än- wie früher. Das Werden gehört zu ihm, und der
derungen, auch einschneidender Art, erfahren erste Teil der Durchführung ›lebte‹ davon« (Stein-
haben dürfte. So ist also auch diese seine Sinfonie beck 1993, 81). Diese Feststellung trifft allerdings
in gewissem Sinn und Umfang ein Fragment, ein in ähnlicher Weise bereits auf das Hauptthema des
Torso. ersten Satzes der Achten Sinfonie zu (siehe oben
Die Neunte Sinfonie ist unabweislich Bruckners Beispiel 1). Auch hier werden wir mit einem ›Wer-
letztes Wort. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass den‹ konfrontiert, das in motivisch geprägten
den Komponisten, wie wenig später Gustav Mah- ›Schüben‹ verläuft und zu keiner endgültigen
ler, eine Art Trauma der Neunzahl verfolgte. Ei- Gestalt findet. Darin geht Bruckner mit diesem
nem Bericht Josef Grubers zufolge bekannte Thema weiter als mit dem Hauptthema der Neun-
Bruckner in einem Gespräch: »›I‹ mag dö Neunte ten Sinfonie, das seinen Zielpunkt hat in dem ab-
gar nöt anfangen, i’ trau mi’ nöt, denn’, sagte er geschlossenen, auf der Grundtonart d-Moll auska-
feierlich in Schriftdeutsch fortfahrend, ›auch Beet- denzierten Schlussabschnitt. Andererseits
hoven machte mit der Neunten den Abschluß wiederum ›radikalisiert‹ er in der Neunten das
seines Lebens‹« (Göll.-A. 4/3, 457). Dennoch ist ›Werden‹ zu diesem erfüllenden Abschluss, indem
denkbar, dass Bruckner die kompositorischen die Eröffnung des Hauptthemas bzw. des moti-
Funde in diesem Werk zu weiteren neuen sinfoni- visch-thematischen Komplexes in einer Art Mate-
schen Konzeptionen motiviert haben könnten. rialfindung erfolgt, durch die Motive und deren
Und erst die immer häufiger auftretenden und zusammenhangbildende Elemente überhaupt erst
bedrohlicher werdenden Krankheitsphasen im gewonnen werden. Es gibt kein definitives Haupt-
Lauf der 1890er Jahre dürften ihm die Erkenntnis thema, sondern eine Entfaltung von Motiven bis
aufgedrängt haben, nunmehr an seinem künstleri- hin zur Dimension eines Teil-Themas, die insge-
schen Testament zu arbeiten. Die hierauf verwei- samt und als solche die Charakterzüge eines
sende Widmung der Sinfonie (»dem lieben Gott«) Hauptthemas enthält und vermittelt. Doch eben
taucht denn auch erst 1895 – wiederum gesprächs- bei aller Differenz stimmen die beiden letzten
weise – auf, zu einer Zeit, da Bruckners Arbeits- Sinfonien darin überein, dass in ihnen die Heraus-
214 Mathias Hansen

bildung des Hauptthemas bzw. eines entsprechen- lität zwischen den Motiven wirksam, das in der
den ›Charakters‹ vorgeführt wird – im Unterschied Achten Sinfonie als permanente Ausweichbewegung
zu den vorangegangenen Sinfonien, in denen stets gegenüber der Tonika erscheint. In der Neunten
nach einem klanglich und/oder rhythmisch grun- Sinfonie zeigt es sich am Beginn als gleichsam un-
dierenden Vorspann ein Hauptthema erscheint, geordnete, scheinbar willkürlich gesetzte Folge von
nach dessen oder auch bereits in dessen Abschluss Farb- und Tonhöhenkontrasten, die sowohl gegen-
sich weiterführende Impulse regen. einandergestellt als auch durch Überlappung von
Auf diese Weise wird ein Moment von Instabi- Instrumentengruppen verhakt werden:

Beispiel 11: Neunte Sinfonie, 1. Satz, T. 1–12 und 19–26

Feierlich, Misterioso
1 Kl., Ob., Fg.

Tp., Pk. Hr. Tp., Pk.


Str. Hr.

Hr. 19

cresc.

dim.

Dem Ertasten von motivisch-thematischen Kon- Überleitung weicht. Diese Überleitung führt nicht
turen (T. 1–18) sucht ein erster thematisch ausge- nur zur Grundtonart d-Moll zurück (T. 39), son-
formter Ausbruch eine klare Richtung zu geben dern verbindet mit ihr auch durch die Herausstel-
(T. 19–26): Dem gleichsam sprachlosen Ertasten lung des Oktavsprungs eine motivisch überdeutli-
des Tonraumes antwortet eine hymnische Geste, che Vorbereitung des Schlussteils des motivisch-
die allerdings sofort wieder in sich zusammensinkt thematischen Hauptkomplexes, durch den
und einer zwar fortspinnenden, doch mehr noch gewissermaßen seine ›thematische‹ Qualität ge-
vom geschehenen Ausbruch sich entfernenden funden und ausgestellt wird:

Beispiel 12: 1. Satz, T. 63–70

63

Freilich verhallt dieser monumentale Zielpunkt Materialausbreitung wie des vom Oktavsprung
umgehend in einer nur von der Pauke grundierten geprägten monumentalen Schlussabschnittes
Generalpause. An sie schließt sich eine neuerliche nachklingt. Zugleich nehmen die Einwürfe ein
Überleitungspassage an, in der isolierte Intervall- wesentliches Moment des nachfolgenden zweiten
einwürfe der Holzbläser von der Sext bis zur Ok- Themas (T. 97 ff.) vorweg:
tave ein Echo sowohl der eingangs gebotenen
Die Achte und Neunte Sinfonie 215

Beispiel 13: 1. Satz, T. 97–100

Langsamer
97 1. Vl.

Es ist die Sext, die an das Intervallspiel im Haupt- für alle Sinfonien und ihre Sätze verbindliche
themenkomplex erinnert und außerdem vor Ort Formen im jeweils konkreten Werk mit individu-
den ausdrucksstarken Einschub der Obermediante ellem Leben zu erfüllen.
Cis-Dur zur neuen Tonika A-Dur bewirkt. Auch In der Neunten Sinfonie zeugt davon besonders
dieses Thema, das als durchaus traditionell ausge- eindringlich die Durchführung und die Art und
führtes ›Seitenthema‹ über eine am stärksten aus- Weise, wie an sie die Reprise anschließt. Es wurde
geprägte lyrisch-kantable Kontur verfügt, mündet hier gesagt, dass am Ende der Exposition eine Art
in eine wiederum breit angelegte Überleitung, Stillstand eintritt, und zwar auf dem Ton f, dem
deren Schlusspassage naturlautartige Einwürfe ›Rest‹ der den Formteil abschließenden Tonart F-
von Holz- und Blechbläsern enthält. Diese um Dur. Nahtlos setzt auf diesem Ton in Takt 227 die
Quart und Quint pendelnden Figuren bereiten Durchführung ein – der Stillstand wird gewisser-
deutlich auf das anschließende dritte Thema maßen zum ›Nullpunkt‹, von dem aus sich ein
(T. 167 ff.) vor, das in seiner Unisono-Grundstruk- neuerlicher Ansatz zur Entfaltung des ersten Teils
tur ebenfalls auf Vorgänger in Bruckners Sinfonien des Hauptthemakomplexes löst, untersetzt von
verweist. Mit seiner dynamisch verhalteneren einem zunächst diatonischen, dann chromatischen
Anlage reagiert es offensichtlich auf die beherr- Unisonogang der Streicher über dem gehaltenen
schende Rolle des Unisono-Abschlusses des Bassgrundton f. Unter Einbeziehung von Varian-
Hauptthema-Komplexes – es steigert sich gewis- ten des Blechbläserausbruchs (T. 19 ff.) bestreitet
sermaßen vorsichtig zu einem Fortissimo dieser erste Teil des Komplexes allein die Durch-
(T. 207 ff.), das es nach nur kurzer Dauer wieder führung bis Takt 276. Auf eine abschließende
zugunsten einer Pianissimo- bzw. Piano-Passage Fermate, die als ›Einhalt‹ wiederum ›Stillstand‹
verlässt. Sie ist zugleich der Ausklang der Exposi- signalisiert, folgt ein seltsam fremd wirkender
tion, in dem ein Intervallspiel herrscht, das Ele- Abschnitt, der im Gegensatz zum ersten Abschnitt
mente oder auch nur Partikel aus den aufgebote- der Durchführung eine klanglich weitaus geschlos-
nen drei Themen zu einem vorübergehenden senere Fläche bildet und motivisch sich auf den
Stillstand zu bringen scheint. B-Teil des dritten Themas (T. 191 ff.) bezieht.
Wenn von ›Exposition‹ die Rede ist, setzt dies Doch auch dieser Abschnitt führt gewissermaßen
voraus, dass die Form des Satzes nach dem Prinzip nicht weiter, bricht vor einer Generalpause ab
des Sonatensatzes gestaltet ist. Das ist bei Bruckner (T. 302), um einem weiteren Neuansatz Raum zu
bekanntlich in allen seinen Sinfonien der Fall. geben. Motivisches Material entnimmt Bruckner
Und nicht minder selbstverständlich ist, dass nach hierbei dem zweiten Thema, das bislang völlig
Beethoven jeder traditions- und metierbewusste ausgespart blieb und und nun wie durch eine
Komponist von Sinfonien besondere Anstrengun- Hintertür eingelassen wird. Diese Beiläufigkeit
gen, ja Strategien darauf zu richten hatte, Sona- des Thematischen hält nicht nur an, sondern lässt
tenform und authentische kompositorische Ge- alsbald auch seinen eigentlichen Sinn erkennen:
staltung weiterhin in Einklang zu bringen. Die Mit diesem Abschnitt beginnt der letzte der
harsche Kritik an diesen Bemühungen, voran die Durchführung, der als dynamische Steigerung
Richard Wagners, ist ebenso bekannt. Bruckner und damit zugleich als Überleitung zur Reprise
scheint, zumindest nach außen hin, dieses von angelegt ist.
Schubert bis Mahler nachdrücklich artikulierte Wo in dem Satz der Eintritt der Reprise erfolgt,
Problem nicht berührt zu haben. Bei ihm gilt das wird freilich nach wie vor unterschiedlich beur-
Prinzip, bestimmte, in strukturellen Eckpunkten teilt. So fallen für Ernst Kurth mit dem Wiederer-
216 Mathias Hansen

reichen des Unisonothemas (T. 333) Durchfüh- des ›Ausbruch‹-Motivs aus dem ersten Teil des
rungshöhepunkt und Reprisenbeginn zusammen Themakomplexes: Die Figuration des Zwischen-
(Kurth 1925, 695), während für Steinbeck eine spiels/der Überleitung aufnehmend, erhebt sich
Reprise überhaupt nicht stattfindet, denn, wie aus dem Pianissimo eine Kombination von Ok-
oben bereits zitiert, das Hauptthema ist »eben tavsprung-Motiv und dem ›Ausbruchs‹-Motiv, die
keine fertige, wiederholbare Gestalt wie früher«. nun auf eine letzte dynamische Steigerung hin
Mit Blick auf die Gesamtform des Satzes erscheint angelegt ist. Sie lässt den Satz in einem Klangstrom
Kurths Auffassung plausibler zu sein. Denn nicht enden, der seine Akzentuierung durch den punk-
die Abwesenheit eines geschlossenen Hauptthemas tierten Rhythmus beider Motive sowie durch den
ist entscheidend, sondern die Tatsache, dass mit wiederholten chromatischen Harmoniesprung d-
der Reprise der geschlossenste Teil des Hauptthe- Moll Æ Es-Dur Æ d-Moll erhält. Die Kernpunkte
makomplexes mit dem Oktavsprung-Motiv in des Hauptthemakomplexes setzen auch den
den Vordergrund rückt, an diesem Ort erst seine Schlusspunkt.
eigentliche, beherrschende Stellung erhält und
dass damit zugleich die Reprise innerhalb des
2. Satz
Formverlaufs eine neue, einzigartige Bedeutung
erlangt, die sie jeglichem ›Formalzwang‹ entzieht. Das Scherzo als zweiter Satz ist ein bemerkenswertes
Bestärkt wird dies dadurch, dass im Anschluss an Beispiel für Bruckners eigen- und neuartigen Um-
den dynamischen Höhepunkt des Satzes, den der gang mit Klangfarben als einem kompositionstech-
Zusammenfall von Durchführungsschluss und nischen Element, das er nun aus der bislang vor-
Reprisenbeginn auslöst (T. 333–354), nicht sogleich herrschenden Einbindung in Klangvorstellungen
wieder eine Überleitungspassage einsetzt, sondern der Orgelregistrierung löst und als selbstständiges
bis Takt 397 eine ununterbrochene Bewegung Darstellungsmittel einsetzt. Dieses Scherzo ist ein
anschließt, in der sich weiterhin Durchführungs- Stück ›Neue Musik‹, vergleichbar etwa den zweiten
und Reprisencharaktere überlagern. Erst Takt 400 Sätzen aus Mahlers Vierter und Sechster oder den
setzt eine Mischung von Zwischenspiel und Über- beiden Nachtmusiken aus dessen Siebter Sinfonie.
leitung ein, die dann in ›regelgerechte‹ Reprisen Dem eigentlichen Thema des Satzes, das erst Takt
des zweiten und dritten Themas mündet. 43 erscheint, geht ein formal durchaus nicht unge-
Die Coda schließlich gibt einen letzten Hin- wöhnlicher Vorspann voraus. Am Beginn steht ein
weis auf die beherrschende Rolle sowohl des irritierender vierstimmiger Akkord, den funktional
Teilthemas mit dem Oktavsprung-Motiv als auch zu deuten nicht recht gelingen will:

Beispiel 14: 2. Satz (Scherzo), T. 3–8


Bewegt, lebhaft 1. Vl. pizz.
Ob. 3

Kl. u.s.w.
2. Vl. pizz.

Handelt es sich um ›A-Dur‹ als Dominante zur Wirkung nach ›d (-Moll)‹. Sie gründet allerdings
Tonika d-Moll? Dann hätte man sich mit der in der ›synthetischen‹ Zusammensetzung des Ak-
Tatsache abzufinden, dass der Grundton fehlt und kords: Er besteht aus vier Leittönen (cis-gis-b-e)
statt seiner die beiden Leittöne gis und b erklingen. zum d-Moll-Dreiklang. Doch diese formale Be-
Oder ›cis-Moll‹, das sich ab Takt 6 im horizontalen stimmung wiederum (eine ›Leitton-Kombination‹
Aufklappen des Akkords einstellt? Der folgende als modifizierte Dominante A-Dur zu d-Moll)
Akkord (Takt 13) enthält ›D-Dur‹, wodurch ein erfasst nur eine Seite, und nicht die entscheidende.
funktionaler Bezug zu cis-Moll fragwürdig wird. Eine andere weist auf die eigenständige, eben
Der vierstimmige Akkord entwickelt jedoch ein- ›synthetische‹ Qualität des Akkords, die vor allem
deutig eine funktionale, nämlich dominantische als relativ funktionsunabhängiges Klangereignis
Die Achte und Neunte Sinfonie 217

zur Geltung kommt. Diese Seite des synthetischen Tonart denn Farbtönung um die Leittöne cis-gis
Charakters wird noch ergänzt durch farbliche herum. Und nicht anders ist es um die noch fol-
Differenzierungen auf mehreren Ebenen. 1. Oboe genden Zusammenklänge (verminderter Akkord,
und Klarinette, ab Takt 13 mit Trompete, bringen fis-Moll, Dis-Dur) bestellt.
den Akkord im Klangband, wobei die 1. Oboe Der Einsatz des Hauptthemas Takt 43 schafft
und dann auch die Trompete durchgehend auf dann, freilich eigenwillige, Klarheit: Dem auf-
den ›Hauptleitton‹ cis fixiert sind. Die Streicher trumpfenden d-Moll in Hörnern, Pauken und
(ohne Kontrabässe) teilen sich in die Aufgabe, den Streichern wird umgehend der Leittonakkord
Akkord als vertikalen wie horizontalen Impuls aufgepfropft, um die bis dahin verborgene Funk-
(einschließlich Gegenbewegungen) vorzuführen. tion des synthetischen Klangs zu enthüllen
Die ab Takt 13 folgenden Akkordveränderungen (T. 43–50). Sie besteht darin, farbliche Intensitäten
ordnen sich dem ›Leittondiktat‹ unter – auch das eines Zwitterklangs zu erzeugen und auszuspie-
›D-Dur‹ (T. 13 ff.) ist weniger funktionsbestimmte len.

Beispiel 15: 2. Satz (Scherzo), T. 43–50

43 Kl., Vl., Va.

Tp. u.s.w.

Hr., Str. Pos.

Die funktionalen Irritierungen durch Zwitter- les Tempo, huscht über einer ostinaten Achtel-
klänge bleiben nicht nur für den gesamten Satz Bewegung geisterhaft vorüber. Die thematischen
erhalten, sie greifen dann auch auf das Adagio Dreiklangsbrechungen in Fis-Dur werden von
über. Im B-Teil des Scherzos scheint die harmoni- Leittönen (eis-his) sowie durch motivische Ein-
sche Labilität etwas zurückgenommen zu sein würfe gefärbt, welche an den Zwitterklang des
durch eine tonal eindeutige, volksliedartige Melo- Hauptteils erinnern. Das Intervall der großen
dik, die, relativ breit entfaltet, wie die Vorweg- Sext, das den ›Leittonakkord‹ begrenzt (e-cis), ge-
nahme eines Trios anmutet. Doch unmittelbar aus winnt im zweiten Teil des Trios immer stärker
dieser Melodik heraus regen sich wieder Kräfte, motivische Bedeutung. Zusammen mit dem har-
welche auf die Wiederherstellung harmonischer monischen Einschluss des Zwitterakkords und
Mehrdeutigkeit zielen und eine Reprise des einer rhythmischen Stauung (Triolen werden zu
Hauptthemas herbeiführen. Duolen) bildet dieser Teil einen merklichen Bin-
Nicht minder überraschend ist das Trio des nenkontrast zum rahmenden ersten Teil.
Satzes. Es hat, als einziges im Gesamtwerk, schnel-

Beispiel 16: 2. Satz (Scherzo), Trio, T. 53–55

Schnell 2
53 1. Vl. 1. Tp.

2. + 3. Tp.
218 Mathias Hansen

Diese Konstellation wird, stets variiert, mehrmals übersteigerten Metaphern zu verbergen sucht, als
durchgespielt, so dass sich ein ungewöhnlich viel- dass sie von der Gewissheit getragen ist, wenigs-
gliedriger Aufbau des Trios ergibt. tens ein wenig von dem Geheimnisvollen zu lüf-
ten, das diese Musik umgibt. Vielleicht kommen
wir etwas weiter, wenn wir auch hier nach neuen
3. Satz
Aspekten, nach innovatorischen Zügen in diesem
Das weihevolle Adagio hat zahllose, seiner Stim- Satz fragen. Sie scheinen vor allem an seine beiden
mung zu entsprechen suchende Deutungen erfah- Hauptthemenkomplexe gebunden zu sein. Im
ren und wird diese zweifellos auch künftighin er- Gegensatz zu früheren Sinfonien ist das erste
fahren. Man kann sich allerdings nicht dem Ein- Thema, obwohl es im weiteren Verlauf erhebliche
druck verschließen, dass so manche Deutung ihre durchführungsartige Erweiterungen erfährt, ein
Ratlosigkeit angesichts der wohl unauflösbaren in sich geschlossener Komplex aus vier Motiven
Rätselhaftigkeit zumal dieses Satzes eher hinter (a–d):

Beispiel 17: 3. Satz (Adagio), T. l–3 (= a), T. 5 (= b), T. 7–9 (= c), T. 17 (= d)

Langsam, feierlich T. 5 (=b)


T. 1-3 (=a) Tp., 1. Vl.

1. Vl. marc.
markig, breit
Str., Tb. Pos., Str.

T. 17 (=d)
Fl., Vl.
T. 7-9 (=c) Ob.

Vl. Tp.
Kl., Va.
Vc., Kb.

Hr.

Das vierte Motiv (d) erinnert durch die Überlage- zweiteilige zweite Thema (T. 45 ff.), genauer: seine
rung mehrerer Dreiklänge bzw. Dreiklangsfrag- dramaturgische Funktion. Es drängt nach variati-
mente (fis/Fis-cis-E) an den Zwitterklang des ver Ausweitung, trägt dergestalt auch vorrangig
Scherzos und bindet hierin eine harmonische die epischen Dimensionen des Satzes und verweist
Sprengkraft, deren Entladung schubweise vorbe- mit seiner quasi singenden Prosa auf Themenbil-
reitet wird. Das eigentliche Novum aber ist das dungen des späten Beethoven:

Beispiel 18: 3. Satz (Adagio), T. 45–46

Sehr langsam
45 Vl.
Die Achte und Neunte Sinfonie 219

An diese Themenexposition schließen sich nun der Fall einer semantischen Aufladung durch Zitat-
schichtenartig variative Erweiterungen des The- bezug gegeben: Das zweite Thema dehnt sich zu
menmaterials an, die schließlich in die entschei- einer machtvollen Steigerung aus, auf deren Höhe-
dende Phase des Satzes münden, in seinen ›Ernst- punkt das Kopfmotiv des ersten Themas einbricht
fall‹, dem ein Selbstzitat vorausgeht – des »Miserere« (T. 199 ff.), das wiederum in eine gellende Disso-
aus der d-Moll-Messe (T. 181 ff.). Hier ist zweifellos nanz ohne Auflösung mündet (T. 206, 3. Viertel).

Beispiel 19: 3. Satz (Adagio), T. 199 f. und 206 (3. Viertel)


p
6 T. 206 (3. Viertel)
Fl., Ob., Kl.
199
Tp.

Tb., Pos., Va.

B-Tb., Vc., Kb., Fg.

In dieser Klimax fallen also beide Hauptthemen sollen, bei meinem hohen Alter und meiner Kränklich-
ineinander, bleiben sie nicht länger mehr relativ keit. Zum Spielen wird die Symphonie nicht leicht wer-
den. Das Adagio, das d’rinnen vorkommt, soll das
isolierte Ausdrucksbereiche, die, wechselseitig sich schönste sein, das ich geschrieben habe. Mich ergreift es
ergänzend, zur Entfaltung gelangen. Die Spreng- immer, wenn ich es spiele. Sollte ich vor der Vollendung
kraft der Klimax erfasst und zerstört den gesamten der Symphonie sterben, so muß mein Te Deum dann als
4. Satz dieser Symphonie verwendet werden. Ich habe es
musikalischen Organismus, er detoniert gleich- schon so bestimmt und eingerichtet.« (Göll.-A.4/3, 445)
sam. Das aber erinnert an den langsamen Satz aus
Franz Schuberts großer C-Dur-Sinfonie, der einen Seinem letzten behandelnden Arzt zufolge sollte
vergleichbaren Gang in die Katastrophe einschlägt. die Sinfonie »mit einem Lob- und Preislied an den
Anders aber als Schubert, bei dem nach diesem lieben Gott« enden. Und deshalb habe er auch mit
zerstörenden Ereignis die Musik keine ›geordne- Gott gewissermaßen einen Kontrakt geschlossen,
ten‹ Bahnen mehr findet, der die Auflösung aus- der da lautete: »›Wenn der liebe Gott will, daß er
komponiert und hierin einen Aspekt von Desillu- die Symphonie, die ja ein Preislied Gottes sein
sionierung vermittelt, lässt Bruckner aus Relikten sollte, fertigmache, so müsse er ihm eben solange
des ersten Themas und aus dem »Miserere«-Zitat das Leben schenken, stürbe er früher, so hat sich
eine verklärende Coda erwachsen, welche die vor- das der liebe Gott selber zuzuschreiben, wenn er
angegangenen Erschütterungen zu schlichten ein unvollendetes Werk bekommt‹« (zit. nach
sucht. Dass dieses Ende aber nur Bruckners letztes Phillips 1994/99, 142).
Wort und nicht sein letzter Wille ist, hätte nun Vorausgesetzt, dass die in Göll.-A. und von
das Finale zum Ausdruck bringen können, sollen, Max Auer 1924 nochmals in leicht variierter Form
vielleicht sogar müssen … publizierten Aussagen Bruckners authentisch
sind, zeugen sie nicht nur von einem bemerkens-
werten Selbstbewusstsein, sondern auch von einer
Die Finale-Fragmente (WAB 143)
ebensolchen Gelassenheit gegenüber der Bedeu-
In seiner letzten Vorlesung an der Wiener Univer- tung dieses Werkes. Hier ist weder geheimniskrä-
sität am 12. November 1894 sagte Bruckner: merische Versunkenheit noch an Hysterie gren-
zende Glaubensbeschwörung zu erkennen – ganz
»Drei Sätze meiner 9. Symphonie sind schon fertig, die anders als das, was dann in der Wirkungsge-
beiden ersten schon vollständig, nur im 3. Satze muß ich
noch etwas nuancieren. Mit der Symphonie habe ich mir schichte nach dem Tod Bruckners geschieht. Sie
noch eine starke Arbeit auferlegt. Ich hätte es nicht tun gerät zunächst in ein Gewirr von Gerüchten und
220 Mathias Hansen

Mythen um die Fragmentgestalt der Sinfonie, das Sinfonie – ähnlich wie im Fall der Zehnten Sinfonie
heutigentags durch neue Mythen um deren Ver- Gustav Mahlers – eine aufführbare Fassung zu
vollständigungsmöglichkeit, ja um die Notwen- erstellen. Diese Bemühungen gingen zunächst
digkeit solcher Vervollständigung erweitert und noch von Orels Publikation der Entwürfe und
– so ist zu befürchten – ad infinitum fortgeführt Skizzen aus. Im Oktober 1940 fand eine weitere
wird. ›Uraufführung‹ in Leipzig statt: Hans Weisbach
Anders als die Autographe der ersten drei Sätze dirigierte eine Bearbeitung der Exposition des Fi-
der Sinfonie, die nach Bruckners Tod in den Be- nales als eine Art Einleitung zum Te Deum. 1969
stand der Hofbibliothek und nachmaligen Öster- führte Ernst Märzendorfer eine eigene, 670 Takte
reichischen Nationalbibliothek gelangten, ging umfassende »Kompilation« auf und 1985 wurde
man mit den Skizzen und Entwürfen zum Finale eine weitere, 705 Takte umfassende Bearbeitung
außerordentlich sorglos um. Zwar heißt es in ei- von William Carragan bereits als »Vollendung«
nem »Protokoll« über die künstlerische Hinterlas- feilgeboten (Bruckner-Handbuch 1996, 434). Da-
senschaft Bruckners vom 18. Oktober 1896: neben gab es zumal in den 1970er Jahren mehrere
Rundfunkproduktionen von Fragmenten selbst.
»Die Herren Professoren Ferdinand Löwe und Josef
Schalk haben sich über Ersuchen des Testamentsexekutors »Erst Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca revi-
zur Sichtung des musikalischen Nachlasses des Meisters dierten für ihre 1986 bei Ricordi, Mailand, erschie-
Anton Bruckner bereit erklärt und haben dieselben am nene Ricostruzione Orels Arbeit und überprüften
heutigen Tage die Skizzen für den 4. Satz der IX. Sym-
phonie sorgfältig durchgesehen, wonach sich ergab, daß mehrere Wiener Originalmanuskripte. Eine er-
75 Partiturbogen vorhanden sind, welche die Paginierung schöpfende Analyse des noch vorhandenen Mate-
1.) bis 36.) aufweisen. Darunter beispielsweise P. 1–10 und rials sowie aller Primärliteratur wurde erst 1990
P. 2–8 etc. und übernimmt Joseph Schalk diese 75 Bogen,
um den Zusammenhang dieser Fragmente zu erforschen.
vom Herausgeber [John A. Phillips] vorgenom-
Dr. Reisch mp. Ferdinand Löwe mp. Joseph Schalk mp« men« (Phillips 1994/99, VIIf.).
(Göll.-A. 4/3, 608) Als Ergebnisse dieser Analyse erschienen bis-
lang in der NGA als Teilbände zu deren Band IX,
Doch diese »Sorgfalt« hat nicht verhindert, dass sämtlich herausgegeben von Phillips:
Teile des Nachlasses – etwa als ›Andenken‹ für – Anton Bruckner, IX. Sinfonie d-moll, Finale
Freunde und Schüler – verschwanden. »Die erhal- (unvollendet), Rekonstruktion der Autograph-
tenen Quellen […], die erst nach und nach wieder Partitur nach den erhaltenen Quellen, Studien-
auftauchten, sind heute unter etwa 30 Signaturen partitur, Wien 1994/99;
verschiedenster Herkunft in sieben Bibliotheken – Anton Bruckner, IX. Sinfonie d-moll, Finale
bzw. Museen […] sowie auch in Privatbesitz zu (unvollendet), Dokumentation des Fragments,
finden« (Phillips 1994/99, VII). Nach der von Partitur, Wien 1999/2002.
Ferdinand Löwe geleiteten Uraufführung der vor – Angekündigt sind weiterhin ein »Studienband«
allem in der Klanggestalt stark überarbeiteten sowie ein »Textband zu allen vier Sätzen«.
dreisätzigen Neunten Sinfonie mit dem Te Deum
als Abschluss am 11. Februar 1903 in Wien blieb Im Vorwort zu der hier bereits mehrfach zitierten
die Kenntnis der Finale-Fragmente trotz der Ver- »Studienpartitur« schreibt Phillips:
öffentlichung der Entwürfe und Skizzen durch
Alfred Orel 1934 noch lange Zeit lückenhaft. Ob- »Nach seiner Übersiedlung in das Kustodenstöckl des
Wiener Belvedere-Schlosses besserte sich Bruckners Ge-
wohl Orels Übertragung zahlreiche Irrtümer ent- sundheit […] zusehends, und der Komponist muß, wie
hält, kam in den nächsten Jahrzehnten [!] keine neueste Forschungen ergeben haben, innerhalb etwa eines
Korrektur dieser Ausgabe zustande. Diese missli- Jahres (ca. Juni 1895-Juni 1896) die Niederschrift bis weit
in die Coda hinein oder sogar bis zum Ende geführt ha-
che Lage endete erst 1996 mit der Faksimile-Aus- ben, zum Teil fertig ausinstrumentiert, zum Teil in
gabe sämtlicher autographer Notenseiten des Fi- durchgehendem Streichersatz. Danach scheint Bruckner
nales im Rahmen den NGA. die Fertigstellung der Instrumentation des Satzes begon-
nen zu haben, erkrankte jedoch Anfang Juli 1896 an einer
Parallel zu den quelleneditorischen Arbeiten schweren Lungenentzündung und konnte in den verblei-
setzten Bemühungen ein, aus den überlieferten benden Monaten seines Lebens auch geistig kaum mehr
Skizzen und Fragmenten zum Finale der Neunten ernsthaft an der Partitur weiterarbeiten, obgleich er noch
Die Achte und Neunte Sinfonie 221

einige Revisionen im Satzverlauf versuchte.« (Phillips ihnen die Geburt des Werkes als »Rekonstruktion«
1994/99, VII) erfolgen kann, ist ein Unterfangen, das angesichts
Im Anschluss daran macht Phillips sieben Ge- seiner realen Ergebnisse nur als Manipulation
sichtspunkte für seine »Rekonstruktion« geltend, oder, etwas deutlicher, als (gut gemeinte) Irrefüh-
von denen hier einige kurz zusammengefasst seien: rung bezeichnet zu werden verdient. So erscheint
Die Tatsache, dass Bruckner für den Fall, dass er es denn zweifelhaft zu sein, im klingenden Ergeb-
die Sinfonie nicht mehr vollenden kann, das Te nis, etwa in der Aufführung vom 22. April 2001
Deum als Schluss-Stück bestimmte, zeugt davon, durch die Philharmonia Hungarica unter Leitung
dass der Komponist sich »über die künstlerische von Benjamin-Gunnar Cohrs, den kompositori-
Notwendigkeit eines Finales« im klaren war. Die schen Geist Bruckners vernehmen zu wollen –
Intensität, mit der Bruckner ab etwa Juni 1895 bis und nicht den zwar wohlgemuten, doch hilflosen
zum Tod am Finale arbeitete, und der ungewöhn- Bastlerehrgeiz der Redaktoren. Besonders deutlich
lich große Umfang an (erhaltenen, bislang ver- wird dies etwa mit Beginn der Durchführung:
schollenen, verloren gegangenen) Entwürfen Der musikalische Verlauf gerät in ein Labyrinth
deuten darauf hin, dass sich Bruckner der Dimen- ohne erkennbaren Faden, seine klanglichen Ereig-
sionen und der Bedeutung des Werkes und insbe- nisse folgen bloßer Beliebigkeit und verraten bes-
sondere des Finales bewusst gewesen ist. Das Ma- tenfalls etwas von den eben gut gemeinten, doch
terial stellt Bruckner niemals vernehmbar machenden Ab-
»keineswegs eine zusammenhanglose Anhäufung von
sichten der Bearbeiter. Übertroffen wird die
Skizzen dar. Es handelt sich vielmehr a.) um eine stichhal- Dürftigkeit dieser Passage nur noch von dem
tige, kontinuierlich niedergeschriebene Orchesterpartitur Schlussteil, in dem mit Gesten von Ausbrüchen
auf durchgehend numerierten Bogen, der b.) eine Serie und Höhepunkten bzw. von geheimnisvollen
von Particell-Entwürfen vorausging […] Die bereits
weitgediehene Partitur des Finales ist deshalb weder Zurücknahmen gleichsam gewürfelt wird. Dass
Skizze noch Entwurf; sie muß vielmehr, ungeachtet ihrer dann die Schluss-Steigerung an eine Parodie auf
fragmentarischen Überlieferung, als ein im Entstehen diejenige des Rheingold erinnert, erscheint wohl
begriffenes Autograph bewertet werden.«
lediglich als unfreiwillige, doch unausweichliche
Die Konzeption des Satzes könnte Bruckner »be- Konsequenz solcher unauthentisch-inspirations-
reits einige Monate vor seinem Tode beendet [ha- fernen Bemühungen.
ben, da] die Handschrift des Komponisten […] Um es deutlich zu sagen: Als Dokumentation
bis in die letzten erhaltenen Bogen der Partitur der noch erhaltenen bzw. bislang bekannt gewor-
deutlich und konsistent bleibt« (Phillips 1994/99, denen autographen Skizzen und Fragmente
VIII ff.). Bruckners zum Finale seiner Neunten Sinfonie ist
»Fertig ausinstrumentiert«, »durchgehender die Arbeit von Nicola Samale, John A. Phillips
Streichersatz«: Diese Formulierungen suggerieren und Benjamin-Gunnar Cohrs nicht hoch genug
einen Stand der Arbeit an dem Finale der Sinfo- zu bewerten – das Problem aber entsteht mit je-
nie, der vielleicht stellenweise rein optisch, aber in dem Versuch, aus diesem Material etwas schaffen
keinem Fall in einem künstlerischen Sinn der zu wollen, das trotz aller einschränkender Beteue-
Niederschrift entspricht. Eine solche ›euphemisti- rungen den Anspruch erhebt und auch erheben
sche‹ Wahrnehmung aber wird nun zum Aus- muss, einen Eindruck von dem zu vermitteln, was
gangspunkt für eine »Rekonstruktion«, die recht Bruckner in diesem Finale gestaltet hätte.
eigentlich eine »Konstruktion« ist. Denn »Rekon- Die Versuche, aus den Entwürfen einen auf-
struktion« setzt doch wohl voraus, dass es ein führbaren Satz zu konstruieren, verfehlen nicht
einmal existierendes ›Gebäude‹ gegeben hat, das nur ihr Ziel, sondern befestigen, ja vergrößern
›wiederherzustellen‹ sei; der Begriff wird aber ab- durch deren willkürliche Ausführung, Erweite-
wegig angesichts eines Klanggebildes, das gewis- rung, Zusammensetzung nur unsere Unkenntnis.
sermaßen noch ungeboren im Kopf seines Autors Hätte nicht z. B. noch der Fall eintreten können,
verblieben ist. Die Zeichen, die Bruckner von dass Bruckner sich der neuartigen Gestaltung des
diesem Gebilde noch zu Papier brachte, als ver- Adagios in der Weise bewusst geworden wäre, dass
ständlich in dem Sinne zu bezeichnen, dass aus die klanglichen Erschütterungen, die zu dessen
222 Mathias Hansen

Schluss hin zu vernehmen sind, ihr Echo dann struktion‹ verkörpert, ja zelebriert diese Schwäche
auch im Finale finden? Daß er noch gesprächs- und gibt sie als Gelingen aus.
weise bekannte, die Sinfonie »mit einem Lob- und Wir stehen mit Bruckners Neunter Sinfonie vor
Preislied an den lieben Gott« (Phillipps 1994, 142) einem der großen Rätsel der Musik. Aber gerade
bzw. ersatzweise mit dem Te Deum enden zu las- dieses Rätselhafte, das beständig gleichermaßen
sen, muss nicht dagegen sprechen. Ein solches beunruhigt und fasziniert, gehört doch – wie ein
›Ende‹ hat der physisch und geistig geschwächte, Torso Michelangelos oder Mahlers Zehnte – zum
nicht der seiner kompositorischen Kräfte sich be- Schönsten und Tiefsten, was die Kunst zu bieten
wusst seiende Bruckner erwogen. Jede ›Rekon- hat.

Werkausgaben und Kritische Berichte


a) Achte Sinfonie 1.Satz – Scherzo & Trio – Adagio, kritischer Bericht zur
Erstdruck. Hrsg. von Josef Schalk. Verlag Haslinger- Neuausgabe von Benjamin-Gunnar Cohrs. Wien
Schlesinger-Lienau, Berlin 1892. 2001.
AGA VIII. Hrsg. von Robert Haas. Musikwissenschaft- Scherzo & Trio, Studienband zum 2. Satz. Hrsg. von
licher Verlag, Leipzig 1939. Benjamin-Gunnar Cohrs. Wien 1998.
NGA VIII/1 (1. Fassung 1887). Hrsg. von Leopold No- 2 nachgelassene Trios, Aufführungsfassung, Partitur incl.
wak. Musikwissenschaftlicher Verlag der Internatio- kritischer Kommentar und Stimmen. Hrsg. von
nalen Bruckner-Gesellschaft, Wien 1972. Benjamin-Gunnar Cohrs. Wien 1998.
NGA VIII/2 (2. Fassung 1890). Hrsg. von Leopld No- Finale (unvollendet), Faksimile-Ausgabe sämtlicher au-
wak. Musikwissenschaftlicher Verlag der Internatio- tographen Notenseiten. Hrsg. von John A. Phillips.
nalen Bruckner-Gesellschaft, Wien 1955. Wien 1996.
Finale (unvollendet), Rekonstruktion der Autograph-
b) Neunte Sinfonie Partitur nach den erhaltenen Quellen, Studienparti-
Erstdruck. Hrsg. von Ferdinand Löwe. Verlag Doblin- tur. Hrsg. von John A. Phillips. Wien 1994/99.
ger, Wien 1903. Finale (unvollendet), Dokumentation des Fragments,
AGA IX. Hrsg. von Alfred Orel. Musikwissenschaftli- Partitur einschl. Kommentar & Stimmen. Hrsg. von
cher Verlag, Wien 1934. John A. Phillips. Wien 1999/2002.
NGA IX. Hrsg. von Leopld Nowak. Musikwissenschaft- Finale, vervollständigte Aufführungsfassung. Hrsg. von
licher Verlag, Wien 1951. Nicola Samale und Benjamin-Gunnar Cohrs. Neu-
Hrsg. von Hans Ferdinand Redlich. Wien 1963. ausgabe mit kritischem Kommentar von Benjamin-
1. Satz – Scherzo & Trio – Adagio, kritische Neuausgabe Gunnar Cohrs. München 2005 (revidierter Nach-
unter Berücksichtigung der Arbeiten von Alfred Orel druck 2008, Repertoire Explorer Study Score 444).
und Leopold Nowak von Benjamin-Gunnar Cohrs,
Partitur und Stimmen. Wien 2000, 22005.

Literatur
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Finale der Achten Symphonie. In: Christoph-Hell- Symposion 1980). Linz 1981.
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Werk und Wirkung. Walter Wiora zum 30. Dezem- In: Renate Grasberger/Andrea Harrandt/Uwe Har-
ber 1986. Tutzing 1988, 7–32. ten/Barbara Karl/Elisabeth Maier/Erich Wolfgang
Floros, Constantin: Brahms und Bruckner. Studien zur Partsch (Hrsg.): Bruckner und die Musik der Ro-
musikalischen Exegetik. Wiesbaden 1980. mantik (= Bruckner-Symposion 1987). Linz 1989,
Geck, Martin: Von Beethoven bis Mahler. Die Musik 15–22.
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Goldmann, Friedrich: Probleme der Materialstruktur in Bruckners Fassungen oder: kein Ende. In: Öster-
Bruckners 8. Sinfonie. Diplomarbeit am Musikwis- reichische Musikzeitschrift 5 (1996), 330–335.
senschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Hanslick, Eduard: Bruckners III. In: ders.: Aus dem
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Die Achte und Neunte Sinfonie 223

Teil). Kritiken und Schilderungen. Berlin 1892, Kurth, Ernst: Anton Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925 (Repr.
307. Hildesheim 1971).
Hawkshaw, Paul: »Meine Achte ist ein Mysterium!«. Notter, Werner: Schematismus und Evolution in der
Zwischenbericht über die Quellen zu Anton Bruck- Sinfonik Anton Bruckners (= Freiburger Schriften
ners 8. Symphonie. In: Österreichische Musikzeit- zur Musikwissenschaft 14). München 1983.
schrift 64 (2009), 14–23. Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke. Aufsätze zur
Hinrichsen, Hans-Joachim: Anton Bruckner, VIII. Musik (Gesammelte Schriften 1). Hrsg. von Ivan
Sinfonie c-Moll. Reductio ad abstractum oder die Vojtech. Frankfurt a. M. 1976.
Konzeption sinfonischer Monumentalität. In: Hans- Steinbeck, Wolfram: Anton Bruckner. Neunte Sympho-
Joachim Hinrichsen/Laurenz Lütteken (Hrsg.): nie d-Moll (= Meisterwerke der Musik 60). München
Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der 1993.
Musik. 14 Werkporträts. Kassel u. a. 2004, 220–237. Wagner, Manfred: Der Wandel des Konzepts. Zu den
Korstved, Benjamin M.: Bruckner, Symphony No. 8 verschiedenen Fassungen von Bruckners Dritter,
(= Cambridge Music Handbooks). Cambridge Vierter und Achter Sinfonie. Wien 1980.
2000.
224

Geistliche Vokalmusik
von Melanie Wald-Fuhrmann

Einleitung Textfessel freie symphonische Schaffen« sehen


(Auer 1927, 11 f.). Einem Verständnis als einheitli-
Die für den liturgischen und religiösen Gebrauch che Werkgruppe stehen überdies die ganz dispara-
bestimmten Werke sind der einzige Gattungssek- ten institutionellen und funktionellen Bindungen
tor, mit dem sich Bruckner sein ganzes Leben der Stücke entgegen, die vom Studienstück über
hindurch auseinandergesetzt hat: Als sein erster das zeitverhaftete und politisch eindeutige Auf-
dokumentierter Kompositionsversuch gilt ein tragswerk bis hin zum konzertanten Bekenntnis
vierstimmiger Satz des Hymnus Pange lingua reichen. Damit ist allerdings nur bedingt eine
(WAB 31, entstanden zwischen 1835 und 1837 unter chronologische Reihe abgeschritten, so dass ein
der Obhut seines Vetters in Hörsching). Zu seinen narrativer Ansatz, der ganz auf Entwicklung und
letzten Werken zählen der 150. Psalm (WAB 38) das künstlerische Zu-sich-selbst-Kommen ausge-
und der Karfreitagshymnus Vexilla regis (WAB 51) richtet ist, ebenfalls verfehlt wäre.
von 1892. Auch bei den für seine kompositorische Will man diese Werkgruppe aber jenseits bio-
Entwicklung so bestimmenden Brüchen und graphischer Klischees ernst nehmen, rücken vor
Neuanfängen standen kirchenmusikalische Werke allem Aspekte des Lebensweltlichen und der mu-
stets im Zentrum der künstlerischen Selbstbesin- sikalischen Funktionsvielfalt in das Zentrum eines
nung. Die dadurch gerahmte Schaffensspanne ist angemessenen Verständnisses. Orte, an denen be-
denkbar groß und von so vielen radikalen äußeren stimmte Werke entstanden, das Publikum, an das
und inneren Veränderungen durchzogen, dass sich sie sich richteten, musikalische Zweckbindungen
– rein kompositionsgeschichtlich betrachtet – an Fest, Andacht oder Liturgie, kirchenpolitische
kaum Verbindungslinien herstellen lassen, sofern Konstellationen, theologische Haltungen, kurz:
man nicht erneut auf die rein intrinsische Motiva- die damalige eminent gesellschaftliche Funktion
tion zielen oder eine Teleologie bemühen will, die von Kirchenmusik in Österreich vermögen die
in den frühesten Werken schon deutliche Spuren Textwahl, Besetzung und kompositorische Faktur
des Brucknerschen Personalstils zu erkennen in vielen Fällen besser zu erklären als der stereo-
meint und die reiferen kirchenmusikalischen type Verweis auf die tief empfundene Frömmigkeit
Werke nahtlos in den Sinfonien zur Vollendung oder den sinfonischen Habitus Bruckners.
gelangen sieht. So machte Max Auer vor dem Kirchenmusik ist gleichsam Bruckners musika-
Hintergrund der Ideologie absoluter Musik lische Muttersprache. Er selber sprach in einem
Bruckners Beschäftigung mit vokaler und kirchli- freilich mit einer spezifischen Laufbahnabsicht
cher Musik für dessen verzögerte kompositorische verbundenen Schreiben davon, dass er »bei der
Entwicklung verantwortlich und konnte daher – Kirchenmusik aufgewachsen« sei (Briefe 1, 167):
bei aller Detailkenntnis und auch Bewunderung Sie war es – und eben nicht die bürgerlichen Gat-
für viele der Werke – das entsprechende Corpus tungen des häuslichen Musizierens –, die den
nur als Vorstufe für das eigentliche, »von jeder Großteil der musikalischen Welt sowohl für den
Geistliche Vokalmusik 225

Lehrerssohn als auch für den Chorknaben aus- dingt ins Repertoire eingegangen. Auch postum
machte. Kirchenlieder, Choralgesang und – teils entwickelte sich keine nennenswerte Aufführungs-
improvisierte – Orgelmusik prägten Bruckner tradition. Das liegt einerseits an der generell sehr
ebenso von frühester Jugend an wie mehrstimmige regional diversifizierten und nur selten repertoire-
liturgische Kompositionen in ihrer ganzen Breite bildenden Praxis der damaligen Kirchenmusik-
von der klein und flexibel besetzten »Landmesse« pflege, andererseits aber wohl auch an der in Linz
bis hin zum chorsinfonischen Großwerk. Die erfolgten bewussten Abkehr Bruckners von der so
Kirche bestimmte, in enger institutioneller Ver- lange eingeübten musikalischen Haltung. Bei aller
knüpfung mit der Schule, auch im 19. Jahrhundert Treue gegenüber der religiös-liturgischen Funktion
das musikalische Leben auf dem Lande und in entsprechender Kompositionen entwickelte
kleineren Städten. Lehrer fungierten immer auch Bruckner eine derart avancierte musikalische
als musikalische Funktionsträger in den Pfarrkir- Sprache, dass er die Überforderung der ausüben-
chen. Sie amteten an der Orgel, sangen – bisweilen den Kräfte ebenso wie des Publikums billigend in
zusammen mit ihren Frauen oder weiteren Fami- Kauf nahm und sein Schaffen damit von vornher-
lienangehörigen – das Ordinarium, leiteten klei- ein aus dem Repertoire ausschloss. Damit ging
nere vokal-instrumentale Ensembles oder schrie- die zunehmende Konzentration auf ein empha-
ben auch einmal ein Stück selbst, Aufgaben, auf tisch als solches verstandenes eigenes Œuvre ein-
die sie an den Lehrerausbildungsstätten entspre- her, das Bruckner indes über die für eine spätere
chend intensiv vorbereitet wurden. Für solche Einteilung so wichtigen Zäsuren hinweg konstru-
beschränkten musikalischen Verhältnisse existierte ierte. So unterzog er zwischen 1876 und 1890 die
ein nicht unerheblicher Markt an aktuellen Kom- Messen ähnlichen Umarbeitungsprozessen wie die
positionen: Messen für ein bis zwei Gesangsstim- Sinfonien und nahm ab den späten 1880er Jahren
men, Orgel und verschiedene andere Instrumente durch Revisionen und Publikationen auch frü-
ad libitum (etwa je zwei Violinen und Hörner), heste, ebenso simple wie funktionale Werke in die
deren leichte Ausführbarkeit als charakteristisches Gruppe des autorisierten und endgültig anerkann-
Merkmal jeweils bereits auf dem Titel vermerkt ten Werkbestands auf.
wurde, sind in weit größerem Maße entstanden als Gerade an der Kirchenmusik kann daher deut-
Chor-Orchester-Messen in der Nachfolge von lich werden, dass gängige Trennungen von funkti-
Haydn, Beethoven und Schubert. Dass sich onaler – und darum für ästhetisch geringerwertig
Bruckners eigene musikalische Entwicklung so gehaltenen – und künstlerisch autonomer Musik
lange weitgehend reibungslos in den Rahmen ei- bei Bruckner nicht greifen, so sehr seine Biogra-
ner Lehrerlaufbahn einfügte und auch mit Blick phie ihnen zuzuarbeiten scheint. Die Kirchenmu-
darauf gefördert wurde, sollte daher nicht verwun- sik ermöglicht vielmehr die in Bezug auf das
dern. Etliche Zeitgenossen blieben sogar ihr Leben 19. Jahrhundert scheinbar fremde Betrachtungs-
lang Lehrer und schufen dennoch teils ehrgeizige weise, dass die ästhetische Anmutung eines Kunst-
kirchenmusikalische Kompositionen. So haben werks unmittelbar aus verschiedenen lebensweltli-
sich im Archiv des Linzer Domes Mess- und Pro- chen und funktionalen Parametern entsteht, auf
priumskompositionen von Jordan Habert, Lehrer diese reagiert und mit ihnen unauflösbar verfloch-
in Linz und teilweise Aushilfe in Hörsching, Peter ten ist. Dass diese Zusammenhänge nicht nur für
Piel (1835–1804), Seminarlehrer in Boppard am kirchliche und vokale Musik gelten, wäre ein Fo-
Rhein, oder Bruckners Linzer Kollegen Engelbert kus, der sich aus dem genannten Umstand der
Lanz (1820–1904) erhalten. Aus dem Lehrermilieu Kirchenmusik als kompositorische Muttersprache
stammten auch Bruckners Wiener Kollegen Gott- leicht ableiten lässt.
fried Preyer und Franz Krenn, was bei beiden of-
fenbar völlig friktionsfrei in eine Karriere als Mu-
siker fortsetzbar war.
Und doch sind die kirchenmusikalischen
Werke Bruckners – einige der kleineren Motetten
vielleicht ausgenommen – zu Lebzeiten nur be-
226 Melanie Wald-Fuhrmann

Kirchenmusik und Lebenswelt Windhaager Messe lediglich einen Alt mit dem für
Kirchenlieder typischen geringen Ambitus c´-d´´
Im ländlichen Lehrermilieu (Windhaag – gesungen von der Windhaager Bürgerstochter
und Kronstorf 1841–1845) Anna Maria Jobst (1815–1891), Solistin des Kir-
Werke chenchores –, zwei Hörner und Orgel. Die Hörner
erhalten: WAB 25: Messe in C (»Windhaager Messe«), um bewegen sich zwischen dem leicht spielbaren drit-
1842  WAB 32: Tantum ergo in D, 1843  WAB 21: Libera ten und zehnten Partialton und dienen lediglich
me in F, zwischen 1843 und 1845  WAB 3/1 f. und 4: 3 der klanglichen Füllung und Markierung von
Asperges, zwischen 1843 und 1845  WAB 9: Messe für den
Gründonnerstag in F ohne Kyrie und Gloria, mit Gradua-
Höhepunkten. Die Sätze sind knapp gehalten (je
le (Christus factus est I) und Offertorium (Dextera Do- rund 20 bis 30 Takte für die textarmen, 60 für die
mini), 1844  WAB 12: Dir, Herr, dir will ich mich ergeben, beiden textreichen Sätze), doch finden sich einige
um 1844/45  WAB 43: Tantum ergo in A, 1844 oder 1845 Stellen, die Achtsamkeit für den Text und eine
verschollen: WAB 132: Litanei, um 1844  WAB 134: Salve gewisse Vertrautheit mit der Tradition der Mess-
Maria bzw. Salve Regina, um 1844  WAB 133: Requiem,
1845  WAB deest: Kyrie und Gloria, 1845 vertonungen erkennen lassen: etwa die bewusste
Entwürfe und Fragmente: WAB 146: Messe ohne Gloria Unterscheidung zwischen melodischer und dekla-
und Credo (»Kronstorfer Messe«) in d, 1844  WAB 140: matorischer Führung der Singstimme, der Einsatz
Missa pro Quadragesima in g, 1845 oder 1846 in Kronstorf der Mollvariante im »Christe«-Abschnitt des Kyrie,
oder St. Florian
Oktav- und Quintsprünge im Gloria, der Dreier-
Die frühesten bekannten und auf eine Aufführung takt im Credo, die mediantische Rückung nach
hin geschriebenen Werke Bruckners entstanden E-Dur bei »Dominus Deus« im Sanctus, die äu-
nach dem Abschluss der Präparandie auf seinen ßerst kantable Anlage des Benedictus oder das sich
zwei ersten Posten als Schulgehilfe in Windhaag, mit jedem Textdurchlauf intensivierende Agnus,
einer Stiftspfarre von St. Florian, und Kronstorf. das tatsächlich bereits an das spätere Formprinzip
Sie sind somit ein Zeugnis für die typische Ver- der sich steigernden Ableitung und Variierung
knüpfung des Lehrerberufs mit dem Kirchendienst denken lässt. Die Choralzitate, die Leopold No-
– zu dem auch das Glockenläuten und Ministrie- wak zu Beginn und Ende des Credo zu erkennen
ren gehörte – und lassen noch nicht auf einen meinte (Nowak 1988, 88), sind zwar nicht mehr als
darüber hinausgehenden künstlerischen Ehrgeiz eine vage Anspielung auf die ersten drei Töne der
schließen. Das musikalische Hauptgeschäft Bruck- Intonation, dafür verwendet Bruckner für das
ners bestand hier – wie noch in Linz – im eigenen abschließende »Et vitam venturi saeculi. Amen«
Musizieren auf Klavier, Orgel oder Geige. Kom- die Melodie des Anfangs wieder und zeigt damit
positionen entstanden nachgeordnet, entspre- ein gewisses Interesse für die zyklische Rundung.
chend unregelmäßig und unsystematisch. Neben Anderen Möglichkeiten der schlichten Land-
verschiedenen Versuchen in der Gattung der messe folgen die Kronstorfer Werke: Die Messen
Messe stehen Stücke des liturgischen Grundbe- in d und F sind für vierstimmigen Chor a cappella
darfs. So begleitete das Asperges me das Besprengen gesetzt, was generell auch als ein Reflex des Unter-
der Gläubigen mit Weihwasser zu Beginn einer richts bei Leopold von Zenetti und der Auseinan-
Messe, vor allem die Fastenzeit hindurch, während dersetzung mit Bachs Choralsätzen gedeutet wird.
das Tantum ergo (die fünfte und sechste Strophe Bei der Fragment gebliebenen Fastenmesse sollten
des eucharistischen Hymnus Pange lingua) regel- Gesang und Orgel anlassgerecht durch einen Po-
mäßig zur Aussetzung des Allerheiligsten nach der saunenchor ergänzt werden, während für das Re-
Messe oder zu einem sakramentalen Segen gesun- quiem eine Besetzung nur mit Männerstimmen
gen wurde. Das Libera me war die übliche Anti- und somit eine dunkle Klangfarbe vorgesehen
phon im Rahmen des Totengedächtnisses, und war.
mit dem Salve Maria ist auch die Sphäre des so Die Gründonnerstagsmesse WAB 9 ist ein
wichtigen marianischen Kultes abgedeckt. Beispiel dafür, wie auch mit geringen Kräften ein
Besetzung und Faktur all dieser Werke sind besonderer kirchlicher Feiertag festlich begangen
denkbar einfach und auf die jeweiligen (geringen) werden konnte: Kyrie und Gloria sind zwar ausge-
musikalischen Kräfte abgestimmt. So verlangt die spart (bzw. wurden nur choraliter gesungen; das
Geistliche Vokalmusik 227

Kyrie hat Bruckner 1845 in fugierter Weise nach- Fortschritt: Durch den gezielten Einsatz verschie-
komponiert, doch ging es verloren), dafür hat dener musikalischer Schreibweisen gelingt Bruck-
Bruckner die liturgisch vorgegebene Option er- ner, der sich unter Zenetti nicht nur mit Choral-
griffen und das Graduale (Christus factus est) und sätzen, sondern auch mit dem Bachschen Kontra-
das Offertorium (Dextera Domini) vertont, wo- punkt beschäftigte, auf engem Raum eine
durch herausgehobene Festtage musikalisch mar- planvolle, individuelle Abschnittsgestaltung. Ist
kiert wurden. Zu diesen liturgischen Propriengat- der imitatorisch komponierte Kerntext im ersten
tungen zählen denn auch die meisten späteren Asperges um die unisone Deklamation von »Mise-
Kirchenwerke Bruckners. rere« und »Gloria patri« erweitert, das sich ab
Eine Auffälligkeit der beiden frühen Messen »Sicut erat« zur Andeutung eines quasi doppelchö-
sind die Textauslassungen in Gloria und Credo. rigen (S/A vs. T/B) Satzes verwandelt, rahmen im
Offenkundig wurde hier – wohl vorwiegend aus zweiten zwei einander ähnliche, homophone Text-
pragmatischen Gründen – in Anlehnung an die durchläufe das choraliter zu singende »Miserere«
übliche antiphonale Vortragspraxis mancher Ordi- und »Asperges me« ein. Im zweiten Fall ist das
nariumssätze mit dem einstimmigen Vortrag des chorale Vorbild eines von einer Antiphon gerahm-
Vorsängers alterniert. Die Textaufteilung ent- ten Psalmverses mithin deutlicher zu erkennen als
spricht dabei freilich nicht dem Üblichen, sondern im ersten.
ist erkennbar auf größtmögliche musikalische Bruckner hat durchaus überdurchschnittlich
Wirksamkeit bzw. die jeweiligen Hauptaffekte viel Interesse an dem musikalischen Teil seiner
berechnet. So ist im Credo der Windhaager Messe Aufgaben als Hilfslehrer bewiesen, ein Interesse,
(WAB 25) nur der erste, Gott bekennde Abschnitt das in Windhaag zu Konflikten führte, in Kron-
komplett vertont. Dann geht es erst wieder mit storf jedoch freundliche Aufnahme und Ermunte-
dem ›dramatischen‹ Abschnitt von Passionsge- rung fand. Das kompositorische Bemühen war
schichte und Aufstehung weiter (ab »Qui propter dabei ganz auf den Gottesdienst gerichtet, auf den
nos homines«), ehe das »Et vitam venturi saeculi« Ordinariumszyklus ebenso wie auf häufig wieder-
den Beschluss macht. Noch knapper ist das Credo kehrende, populäre Einzelstücke, die Handlungen
in der Gründonnerstagsmesse angedeutet: Dem des Priesters begleiteten. Die melodischen Erfin-
Bekenntnis des Vaters und des Sohnes (bis »ex dungen sind dabei teilweise an den Choral ange-
Patre natum ante omnia saecula«) folgt nur noch lehnt, was Wiedererkennbarkeit ebenso garantiert,
der vor dem »Et incarnatus« stehende Satz. wie es ein Reflex der musikalischen Prägung durch
Dass Bruckner in der sogenannten Kronstorfer dieses Repertoire sein dürfte. Dennoch ist an kei-
Messe (WAB 146) sogar ganz auf Gloria und Credo ner Stelle zu erkennen, dass das kompositorische
verzichtete, mag auch als Eingeständnis künstleri- Schaffen in einen Querstand zur eingeschlagenen
schen Ungenügens zu werten sein, bereitete ihm Lehrerlaufbahn gerät. Sie scheint Bruckner – auch
die große Form und inhaltliche Vielfalt dieser mit dem in Aussicht gestellten Wechsel nach St.
beiden Sätze doch offenbar noch erhebliche Pro- Florian – noch immer der geeignete Rahmen für
bleme. Die anderen, affekteinheitlichen Sätze die Verfolgung seiner musikalischen Ambitionen.
hingegen sind durchaus gediegene kleine Chorstü-
cke. So weist das Graduale Christus factus est bei- St. Florian: Schulgehilfe und Organist
spielsweise eine etwas aufgelockertere Homopho- an einer traditionsreichen Institution
nie und Rhythmik auf, eine flexible Harmonik, (1845–1855)
die sich auf »(obediens usque ad) mortem« durch
Rückungen und Vorhaltsballungen intensiviert Werke
und erst über »crucis« wieder auflöst. erhalten: WAB 41: 4 Tantum ergo in B, As, Es, C, 1846 .
Auch die kleineren liturgischen Werke sind WAB 42: Tantum ergo in D, 1846 . WAB 17: »In jener
sämtlich für vierstimmigen Chor gesetzt, meist letzten der Nächte«, 1848 . WAB 39: Requiem in d, 1849 .
WAB 14: Kantate Entsagen, 1851 . WAB 34: 22. Psalm,
unter Hinzuziehung der Orgel. Die beiden Aperges 1852 . WAB 36: 114. Psalm, 1852 . WAB 24: Magnificat in
me WAB 3/1–2, wohl für die Fastenzeit 1845, do- B, 1852 . WAB 47 f.: zwei Totenlieder in Es und F, 1852 .
kumentieren einen merklichen künstlerischen WAB 22: Libera me in f, 1854 . WAB 44: Tantum ergo in
228 Melanie Wald-Fuhrmann

B, 1854 . WAB 29: Missa solemnis in b, 1854 . WAB 5: Ave aristokratischen Haushalten wirkte Bruckner als
Maria 4st., 1856 . WAB 37: 146. Psalm »Alleluja! Lobet Klavier- und Musiklehrer. In Linz machte er nä-
den Herrn«, wohl nicht nach 1856
Skizzen: WAB 139: Messe in Es here Bekanntschaft mit dem geselligen, vereins-
mäßig verfassten Chorwesen und bürgerlichen
Biographische Zäsuren markieren bei Bruckner Konzertformen: Anregungen, die für Bruckners in
immer auch künstlerische Neuansätze oder Um- diese Jahre fallende allmähliche musikalische
orientierungen. So zeigt sein Übertritt in den Identitätsbildung nicht ohne Einfluss gewesen
Dienst des Stiftes St. Florian – als Hilfslehrer an sein dürften. Umgekehrt stand in St. Florian ein
der dortigen Volksschule und Musiklehrer der umfangreiches, qualitätvolles kirchenmusikali-
Sängerknaben – das teilweise schon in Windhaag sches Repertoire zur Verfügung (Ausführungen
und Kronstorf zu beobachtende, in Linz dann dazu bei Praßl 2001 sowie zum Handschriftenbe-
geradezu planvoll wiederholte Muster aus anfäng- stand bei Lindner 2007), dem Bruckner gerade
licher kompositorischer Zurückhaltung, allmähli- anfangs nichts gleichwertiges Eigenes entgegenset-
chem Einstieg mit kleineren Werken und darauf- zen konnte. Pfeiler der regelmäßigen liturgischen
hin zunehmender Schaffensdichte. Selbst auf den Musikpflege – die in Werkauswahl und musikali-
Neuanfang in Wien reagierte Bruckner noch mit schem Habitus durchaus auch von politisch-re-
einer Schaffensunterbrechung. Die musikalischen staurativen Absichten im Sinne der Metternich-
Anregungen und Entfaltungsmöglichkeiten waren schen Ära bestimmt war – waren das vokal-instru-
in St. Florian – zusammen mit dem nahe gelege- mental vertonte Messordinarium sowie aus dem
nen Linz das musikalische und intellektuelle Proprium Graduale und Offertorium, selten auch
Zentrum Oberösterreichs – natürlich ungleich der Introitus.
größer als auf dem Land. Das Stift verfügte über Bruckner half zwar immer wieder an der Orgel
eine bedeutende Bibliothek (für 1835 werden min- aus, erhielt aber erst mit der Ernennung zum
destens 40.000 Bände genannt), Sammlungen von provisorischen Stiftsorganisten (zunächst 1848,
Gemälden, Kupferstichen und antiken Münzen bestätigt 1851) auch ein direkt musikalisches Amt.
sowie ein sogenanntes naturhistorisches Kabinett Erst von diesem aus unternahm er regelmäßigere
mit Mineralien, Vögeln, Insekten und Muscheln Vorstöße ins kompositorische Fach, freilich nicht
(zur Stiftsgeschichte bis in die 1830er Jahre vgl. ohne zuvor vom bisherigen Domorganisten Kat-
Stülz 1835). Die Chorherren traten auch im frühen tinger und vom Seitenstettener Organisten und
19. Jahrhundert noch als Geschichtsforscher und Komponisten Joseph Pfeiffer entsprechende Zeug-
Naturhistoriker in Erscheinung. Und während nisse eingeholt zu haben. Das weiterhin betriebene
Bruckners Amtszeit erweiterten sich die pädagogi- theoretische Musikstudium, sein schon früh al-
schen Tätigkeiten, indem eine hauseigene Ausbil- lenthalben hoch gelobtes Orgelspiel und letztlich
dungsstätte für den theologischen Nachwuchs auch das gelegentliche Komponieren sind daher
gegründet wurde, nachdem im späten 18. Jahr- noch immer vornehmlich als Qualifikationen zu
hundert auf Initiative St. Florians bereits in Linz verstehen, die seinem pädagogischen Hauptberuf
eine theologische Lehranstalt eröffnet worden war. nicht entgegenstanden, sondern ebenso wie die
Die oft wiederholte Auffassung, St. Florian sei Weiterbildungen zum Ober-, später Hauptschul-
Bruckners »geistige Heimat« gewesen, ließe sich lehrer Karrierechancen bedeuteten. Dafür spricht
– lägen Studien zum intellektuellen und kulturel- auch, dass Bruckner bis 1855 nichts unabhängig
len Profil des Stiftes im 19. Jahrhundert vor – also von seinen verschiedenen Schulstellungen und
gewiss noch über das Religiöse hinaus spezifizie- sozialen Bindungen komponiert zu haben scheint.
ren. Bruckner verhielt sich somit ganz wie zahlreiche
Zu den geistigen Stimulationen kam die Be- andere Lehrerkomponisten und schrieb Werke ad
gegnung mit neuen, genuin musikalischen Berufs- hoc, nach Bedarf und zu gegebenen Anlässen, also
bildern sowie mit der bürgerlich-städtischen Mu- vornehmlich äußerlich, nicht innerlich motiviert
sikpraxis und der damit verbundenen, von der und mit klar erkennbarem liturgischen oder gesel-
Religion entkoppelten Kunstauffassung von Mu- ligen Bezug.
sik. In verschiedenen privaten bürgerlichen und Es ist die Bruckner schon vertraute Form des
Geistliche Vokalmusik 229

Tantum ergo, mit dem er in einer kleinen Serie Freund Franz Sailer (der Bruckner testamentarisch
1846 erstmals in St. Florian als Komponist in Er- seinen Flügel vermachte) respektive dem neuen
scheinung trat. Verrät die Vierergruppe bei Abt Friedrich Mayr, für den er schon in Kronstorf
schlichter choralhafter Vertonung vielleicht so et- den »Versuch im Kammer-Style« Vergißmeinnicht
was wie das Bestreben, einen festen Repertoirebe- geschrieben hatte und zu dessen Namenstag er
stand zu bilden, ist das Tantum ergo WAB 42 nicht 1855 die Kantate »Auf, Brüder! auf, und die Saiten
nur das erste fünfstimmige Werk Bruckners, son- zur Hand!« komponierte. Eine weitere Kantate
dern exponiert auch eine größere harmonische mit Rezitativen, Arien und zwei Chören aus dem-
Breite inklusive chromatischer Reibungen (a-gis-a selben Jahr war an den Dechant Jodok Stülz ge-
im Sopran II gegen fis-f-fis im Alt gleich zu Be- richtet (»Sankt Jodok sproß aus edlem Stamme«),
ginn), wodurch die Stützung der Sänger durch die Verfasser einer Geschichte von St. Florian bis auf
Orgel nötig wurde. Mehr und mehr gibt es dyna- das Jahr 1835. Das Magnificat WAB 24 und das
mische Angaben in den Texten, die den Versuch freilich schon nach Linz gehörige Ave Maria WAB
erkennen lassen, den musikalischen Verlauf deut- 5 sind dem Regens chori Ignaz Traumihler zuge-
licher zu modellieren (nach Piano-Beginn im eignet, Bruckners musikalischem Dienstvorgesetz-
Tantum ergo WAB 42 wird Takt 12 ein Höhepunkt ten seit 1852. Die Zentralgestalt für Bruckner in St.
angesteuert – mediantische Rückung nach Fis- Florian war indes Prälat Michael Arneth, von 1823
Dur mit Hochton fis´´ im Sopran – und durch ein bis 1854 Abt von St. Florian. Er nahm Bruckner
Fortissimo akzentuiert). Dass damit keine Text- 1837 als Chorknaben auf, verschaffte ihm zusam-
ausdeutung im geläufigen Sinne verbunden ist, men mit Mayr 1845 die Anstellung als Lehrgehilfe
zeigt zum einen die von Stück zu Stück wechselnde und bewirkte seine Ernennung zum Stiftsorganis-
Dynamik, besonders deutlich aber auch der sche- ten. Arneth war eine wichtige Gestalt des österrei-
matische Forte-Piano-Wechsel alle zwei Takte chischen Katholizismus in der ersten Hälfte des
(und damit halben Verse) im dritten der Vier 19. Jahrhunderts, der insonderheit mit Schriften
Tantum ergo WAB 41. zur Schulbildung (Bemerkungen über die Mängel
Ganz anders als später bei den Messen, oder, der österreichischen Gymnasial-Einrichtung und
noch deutlicher, bei den Sinfonien ging es Bruck- Vorschläge zur Verbesserung derselben, 1849) und zur
ner hierbei also nicht um ein stets raffinierteres Schriftauslegung (Die Unterschiede zwischen der
Feilen an einem imaginierten Ideal-Modell. Viel- bloß rationellen und der katholischen Schriftausle-
mehr scheinen ihm die Tantum-ergo-Sätze und gung, 1816) an die Öffentlichkeit trat.
ähnlichere kleine Formen willkommene Gelegen- Die zwei Kantaten für Arneths Namenstag
heit zur Übung im vierstimmigen Satz gegeben zu (Entsagen WAB 14 und »Heil, Vater! Dir zum hohen
haben. Dafür spricht auch die Aneignung kompli- Feste« WAB 61b, recte a) scheinen dann auch di-
zierterer Tonarten wie Es- und As-Dur, während rekt nach der 1851 erfolgten Bestätigung im Stifts-
die Bereiche der Melodieführung oder Rhythmik organistenamte gleichsam den Auftakt zu regel-
deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren (man mäßigeren, nicht ausschließlich mehr anlass-
sehe etwa die schematische musikalische Umset- gebundenen Produktionen und Aufführungen
zung des daktylischen Rhythmus im Passionslied gegeben zu haben. Wenngleich man über das
In jener letzten der Nächte, WAB 17). Zustandekommen dieser Festkompositionen nicht
Dass Bruckners gelegentliches Komponieren in im Detail informiert ist, lässt sich doch vermuten,
St. Florian durchaus Aufmunterung erfuhr – und dass Bruckner hierbei auf die eine oder andere
dieser Aufmunterung offenbar auch bedurfte –, Weise initiativ gewirkt und die außerliturgische
zeigt die häufige Bindung von Werken an Stiftsan- Gelegenheit zu einer mit einer Huldigungsadresse
gehörige und die Rechtfertigung des Komponie- verbundenen Vorstellung des kompositorisch bis-
rens aus einem bestimmten Anlass heraus. So sind lang Erreichten genutzt hat. Zugleich dürfte er
die beiden ehrgeizigsten Werke der St. Florianer mithilfe der Widmungen auch versucht haben,
Zeit, das Requiem und die Missa solemnis, mit seine kompositorischen Vorstöße, die er vermut-
Personen seines direkten Umkreises verknüpft, lich als teilweise heikel empfand, von höherer
nämlich dem Stiftsschreiber und väterlichen Stelle legitimieren und autorisieren zu lassen; eine
230 Melanie Wald-Fuhrmann

Entlastungs-Praxis, die an sein häufiges Einholen mals erkennbar entwickelt und wenigstens brief-
von Zeugnissen erinnert. lich auch kommuniziert, ist eine künstlerische
Die mehrsätzigen Werke, dazu bei WAB 61b Persönlichkeit. Es zeugt von Bruckners lange an-
die üppige Blechbläserbegleitung (die wohl der haltenden Schwierigkeiten mit der erst nach und
Aufführungssituation »im Garten« geschuldet war, nach erkannten ›Berufung‹, wenn er sich diese
wie sie wenigstens für die Bearbeitung dieses Stü- zunächst nur mithilfe der für das Künstlertum seit
ckes für Mayrs Namenstag 1857 bezeugt ist) weisen dem beginnenden 19. Jahrhundert typischen Rol-
rein künstlerisch ebenso wie die ebenfalls auf den lenbestandteile Verkanntheit, Einsamkeit, gar
Sommer 1852 zu datierenden Vertonungen von Melancholie (siehe auch den Brief vom März 1852
Psalm 114 und Magnificat überdies auf eine erneute an Josef Seiberl; Briefe 1, 1) anzueignen vermochte,
allmähliche Annäherung an die Gattung Messe sich aber gleichzeitig weiter an seine Lehrerkarriere
hin. Die wechselnden solistischen und chorischen klammerte.
Teile, die variable, selbstständige und idiomatische In der Missa solemnis scheinen die Anforderun-
Instrumentalbegleitung sowie die flexible Beherr- gen des zeremoniell-liturgischen Festanlasses noch
schung harmonisch-homophoner und polyphoner mit Bruckners Bestreben, einen ehrgeizigen künst-
Satzarten gleichermaßen beweisen, dass Bruckner lerischen Habitus zu demonstrieren, verbunden.
mittlerweile auch größere formale Anforderungen Anders steht es um die wohl gänzlich anlasslosen
zu bewältigen gelernt hat. Immerhin gelangen Psalmen 22 und 114, für die man keinen liturgi-
Bruckner mit diesen Stücken erste kleine Reper- schen Ort ausmachen kann. Vielleicht entstanden
toire-Erfolge, sind doch für sie mindestens bis 1855 sie im Hinblick auf die durch zahlreiche Pro-
wiederholte Aufführungen in St. Florian doku- grammzettel dokumentierten Konzerte des Stifts
mentiert. Die Auszeichnung, die darin lag, mit (zum Konzertwesen in St. Florian Lindner 2007).
einem Werk wie dem Magnificat musikalisch zu Es ließe sich fragen, ob die Wahl der Texte, noch
einem kirchlichen Hauptfest beitragen zu können, dazu in deutscher Übersetzung (Ps. 22: »Der Herr
wiederholte sich dann beim Abtswechsel: Bruck- regieret mich, und nichts wird mir mangeln« resp.
ner durfte nicht nur das Begräbnis des verehrten Ps. 114: »Liebe erfüllt mich, weil der Herr die
Arneth mit einem Libera me und dem Männer- Stimme meines Flehens erhört hat«) in irgendeiner
chor Vor Arneths Grab ausschmücken, sondern Weise schon als persönliches Bekenntnis in Musik
erhielt die Erlaubnis, zur Amtseinsetzung (Infulie- zu werten ist. Immerhin findet sich in ihnen eine
rung) von Mayr eine eigene Messe aufzuführen. eminent ich-bezogene und ekstatische Gottesbe-
Die Missa solemnis in b-Moll WAB 29 wurde sein ziehung sowie eine ähnliche Rhetorik von Anfech-
bis dahin größtbesetztes und – neben dem Re- tung und Unglück, wie Bruckner sie zeitgleich in
quiem – umfangreichstes Werk, mit dem er gera- Briefen erprobte. Auch die besonders intensive
dezu einen Schluss-Stein unter sein Schaffen in St. Auseinandersetzung mit und stilistische Annähe-
Florian setzte. Messe und Psalm 114 sind es denn rung an Felix Mendelssohn Bartholdy (besonders
auch, mit denen er sein Weiterkommen als Kom- hörbar in Psalm 22) – zu der der kuriose Umstand
ponist einzuleiten versuchte, indem er sie mit Si- gehört, dass das Archiv von St. Florian ausgerech-
mon Sechter und Ignaz Aßmayr wichtigen Perso- net den 22. und 114. Psalm von Felix Mendelssohn
nen des österreichischen, speziell des Wiener Bartholdy besaß, die freilich mit Bruckners Arbei-
Musiklebens vorlegte. ten wegen der abweichenden Psalmzählung textlich
Dass Bruckner sich trotz dieser untrüglichen nichts gemein haben – könnte vielleicht als ein
Zeichen der Wertschätzung und Unterstützung nachdrücklich gesetztes Zeichen erwachten kom-
durch die Stiftsleitung schließlich in den Habitus positorischen Selbstverständnisses und einer
des Unverstandenen hineinsteigerte, mag absurd Emanzipation vom geltenden katholisch-klassi-
scheinen. Ein Satz wie der folgende von 1852 an schen Stilideal gedeutet werden. Mendelssohn re-
Ignaz Aßmayer in Wien: »Unser Stift behandelt präsentierte hier dann wohl so etwas wie die musi-
Musik und folglich auch Musiker ganz gleichgül- kalische Moderne und die bürgerliche Unabhän-
tig« (Briefe 1, 2), entbehrt schlichtweg jeder fakti- gigkeit. Aufschlussreich für diese Zusammenhänge
schen Grundlage. Was Bruckner damit aber erst- ist auch ein Brief des Freiherrn und Beamten Franz
Geistliche Vokalmusik 231

Scharschmid an Bruckner aus dem Jahre 1853 tenen Bindung an eine geistliche Institution
(Briefe 1, 4), da es hier sowohl um Bruckners offen- Bruckners Kontakte zu einem städtisch-bürgerli-
bar eklatante Orientierung an Mendelssohn wie chen Umfeld merklich und ermöglichte ihm die
um die Unsicherheiten in der Laufbahnplanung regelmäßige aktive wie passive Teilnahme an ei-
zwischen Broterwerb und innerer Berufung geht. nem abwechslungsreichen Musikleben (ein Über-
Lange Zeit war es in der Bruckner-Forschung blick über die Linzer Musikpflege bei Harrandt
in Anlehnung an die Deutungen von Göllerich- 2008). Der Statuszugewinn für Bruckner darf als
Auer üblich, Bruckners ›Genius‹ in dieser Zeit beträchtlich eingeschätzt werden. Freilich gibt es
durch äußere Fesseln gebunden zu sehen, nämlich nach wie vor kaum Hinweise auf einen komposi-
durch die katholisch-liturgische Tradition auf der torischen Hauptberuf. Bruckner behandelte ein
einen, durch die Mittelmäßigkeit der weltlichen eventuelles Interesse daran weiterhin diskret.
Texte auf der anderen Seite. Doch wenn man sich Stattdessen vertraute er seine materielle Sicherheit
die intellektuellen und künstlerischen Möglich- und seinen sozialen Status – und zwar offenbar
keiten vor Augen führt, die ein Ort wie St. Florian mit einer gewissen biographischen Weitsicht –
einem aufstrebenden jungen Künstler in Wirk- konventionellen musikalischen Betätigungsfeldern
lichkeit bieten konnte, dann dürfte Mathias Han- an: in erster Linie natürlich dem Orgelspiel und
sen mit seiner Idee, Bruckners verzögerte Ent- der kirchlichen Musizierpraxis. Bruckners Wir-
wicklung sei vor allem durch selbstauferlegte kungsstätte war einerseits der Alte Dom von Linz,
Zwänge, Verdrängungshandlungen und eine lang die ehemalige Jesuitenkirche, deren Inneres An-
andauernde Unklarheit über den einzuschlagen- fang der 1850er Jahre umgestaltet wurde. Die Orgel
den Weg begründet, wohl näher an der Wahrheit von Franz Xaver Chrismann war bereits 1790
sein (Hansen 1987). Dass Bruckner sich dennoch dorthin transferiert worden. Bruckner initiierte
im Laufe der St. Florianer Jahre zu dem Wagnis umfassende Reparatur- und Umbauarbeiten. An-
einer primär musikalischen Laufbahn durchrang, dererseits hatte er den Orgeldienst an der Stadt-
war – so wäre immerhin zu vermuten – eben nicht pfarrkirche zu verrichten, wo ihm eine 1852 neu
trotz, sondern wegen des besonderen Klimas dort erbaute zweimanualige Orgel von Ludwig Moser
möglich. zur Verfügung stand. Kapellmeister beider Institu-
tionen war Karl Zappe, der darüber hinaus auch
an der Schule des Musikvereins sowie am Theater
Linz: Domorganist für eine Diözese
tätig war. Als Leiter der Liedertafel »Frohsinn«
im Aufbruch (1856–1868)
gewann Bruckner außerdem Erfahrungen mit den
üblichen Formen städtischer Musikpraxis, indem
Werke
er öffentliche vokale wie instrumentale Konzerte
WAB 6: Offertorium Ave Maria 7st., 1861 . WAB 1: einstudierte und dirigierte. Der vordergründige
Offertorium Afferentur regi, 1861 . WAB 16: Festkantate
»Preiset den Herrn«, 1862 . WAB 35: 112. Psalm »Alleluja! Zweck der Studien bei Simon Sechter war schließ-
Lobet den Herrn ihr Diener«, 1863 . WAB 26: Messe in d, lich die letztlich auf Wien zielende Idee, das Orga-
1864 . WAB 27: Messe in e, komponiert 1866, aufgeführt nistendasein irgendwann gegen eine Stellung als
1869 . WAB 28: Messe in f, komponiert 1867 f., aufgeführt Lehrer, gar Professor für Tonsatz einzutauschen.
Wien 1872 . WAB 33: Hymnus Pange lingua et Tantum
ergo, 1868 . WAB 19: Offertorium Inveni David (I), 1868 .
Die Stadt Linz und die zu ihr gehörige Diözese
WAB 18: Hymnus Iam lucis orto sidere, 1868 für Wilhe- prägte zu dieser Zeit eine beträchtliche gesell-
ring schaftliche Dynamik, die nicht zuletzt unter den
Zeichen des Kulturkampfes stand (zur historischen
Der Gang nach Linz als Domorganist scheint in Situation Haider 1987 und Heilingsetzer 2008).
jeder Hinsicht folgerichtig zu sein: Die Entschei- Einerseits spiegelte sich im Chorverein, den Sän-
dung für eine Existenz als Musiker wurde dadurch gerfesten und der bürgerlichen Konzertpflege die
gleichzeitig öffentlich und verwirklicht, die Tätig- vornehmlich national-liberale Politisierung der
keit als Organist schließt nahtlos an die provisori- bürgerlichen Schichten während der Revolutions-
sche Stelle in St. Florian an und der Umzug in die und Restaurationszeit, die mit der Verfassung von
Landeshauptstadt intensivierte trotz der beibehal- 1861 (dem Februarpatent) und den daraufhin ein-
232 Melanie Wald-Fuhrmann

gerichteten Landtagen eine politische Stimme er- ausgetragen wurden und deren Spuren sich noch
hielten. Andererseits stand die Diözese für die in den teilweise sehr verschiedenen Besprechungen
wiedererstarkte Macht der Kirche über die Gesell- von Bruckners Werken in den liberalen und kir-
schaft, und gerade in das Jahr 1855 fallen zwei dafür chennahen Blättern finden. Mit seinem Kathed-
signifikante Ereignisse: Die österreichische Regie- ralamt und den schon früh aufgenommenen bür-
rung schloss mit Papst Pius IX. das Konkordat ab, gerlichen Tätigkeitsfeldern geriet Bruckner folglich
das in der endgültigen Aufhebung der josephini- durchaus in die Mitte der damaligen gesellschaft-
schen Reformen und in Reaktion auf die Erschüt- lichen Auseinandersetzungen.
terungen durch die Revolution ein Instrument Von großer Bedeutung waren darüber hinaus
gesellschaftlicher und geistiger Erneuerung und die sozialen Vernetzungen, die Bruckner in Linz
Stabilisierung sein sollte. Der Linzer Bischof Franz einging: Dazu gehören Freundschaften, vor allem
Josef Rudigier veranlasste in Reaktion auf das im aber kollegiale Kontakte und mäzenatische Unter-
Jahr zuvor erlassene Dogma von der unbefleckten stützungen. Auffällig dabei ist die erstmals große
Empfängnis Mariens den Bau eines neuen, diesem Rolle, die Gleichaltrige, gar Jüngere in Bruckners
Glaubenssatz geweihten Domes: ein Vorhaben, Umgebung spielen. Die Generationsgenossen
das sich zum größten damaligen Dombauprojekt Engelbert Lanz, 1845 und dann wieder ab 1855
in Europa ausweitete und erst 1924 mit der Weihe Leiter der Liedertafel, und Alois Weinwurm, 1857
des Mariä Empfängnis-Doms abgeschlossen Begründer eines zweiten Linzer Chorvereins (des
wurde. Bruckner erlebte daher lediglich die Sängerbunds), repräsentieren ähnliche Lebensläufe
Grundsteinlegung 1862 und – 1869 kurz nach sei- wie Bruckner. Vor allem Lanz hatte ebenfalls eine
ner Übersiedelung nach Wien – die Fertigstellung Lehrerausbildung durchgemacht, zeitweise für ein
des ersten Bauabschnitts mit der Votivkapelle. Stift gearbeitet und wusste die pädagogische, bür-
Rudigier (1811–1884), Bruckners Dienstvorgesetz- gerliche Laufbahn mit musikalischer und kompo-
ter, war einer der profiliertesten katholischen sitorischer Tätigkeit zu verbinden. Mit anlassbezo-
Theologen Österreichs. Streitbarer Fechter für die genen liturgischen Stücken, Messen, Motetten,
Freiheit der Kirche vom Staat, hatte er in diesem Kantaten, Liedern und Chören und unter Ausspa-
Sinne bereits als Professor für Kirchengeschichte rung der Instrumentalmusik war er in einem Re-
und Kirchenrecht im antijosephinischen Priester- pertoirebereich tätig, das dem Bruckners zu dieser
seminar in Brixen gewirkt. Zu politischem Einfluss Zeit aufs Haar gleicht. Alois’ Bruder Rudolf Wein-
gelangte er, als er in den 1840er Jahren kurzzeitig wurm dagegen versuchte seine zunächst unent-
der geistliche Erzieher des jungen Franz Joseph geltliche Tätigkeit als Leiter des Akademischen
wurde, der ihn 1852 für das Bistum Linz vor- Chorvereins in Wien in eine reguläre und besol-
schlug. dete Position umzuwandeln, was ihm schließlich
In seiner erst 1785 gegründeten Diözese suchte auch gelang. Damit bot er Bruckner offenkundig
Rudigier die Möglichkeiten des Konkordats um- ein Vorbild für dessen spätere ähnliche Versuche.
fassend umzusetzen, wofür er sich struktureller Otto Kitzler, Anton Storch und Ignaz Dorn hin-
und legislativer Mittel ebenso bediente wie gezielt gegen repräsentierten eine professionelle Musiker-
eingesetzter Predigten, Reden und Hirtenschrei- karriere an der neben Dom- und Stadtpfarrkirche
ben. Er förderte die Volksfrömmigkeit, suchte die zweiten öffentlichen musikalischen Institution,
kirchlichen Bindungen des Volkes zu intensivie- dem Stadttheater, sowie einen musikalischen Ho-
ren, gründete eine katholische Tageszeitung (das rizont, der über Österreich hinausging. Mit Men-
Linzer Volksblatt) und sorgte für die Neuansiede- delssohn, Schumann und Wagner stand nament-
lung verschiedener klösterlicher Gemeinschaften. lich Kitzler undogmatisch für die neueren musika-
Und als Mitglied im Landtag qua Amt bemühte er lischen Strömungen seiner sächsischen Heimat
sich ebenfalls um die Wahrung und Stärkung ein.
kirchlicher Interessen, was immer wieder zu Kon- Ein wichtiger Förderer Bruckners neben dem
flikten mit den liberalen politischen Kräften Bischof war der einflussreiche und ausgesprochen
Oberösterreichs führte, Konflikten, die auch pub- musikinteressierte Linzer Beamte Moritz von
lizistisch in den verschiedenen Linzer Zeitungen Mayfeld. Er führte die Gruppe der örtlichen
Geistliche Vokalmusik 233

Wagner-Enthusiasten an und veranstaltete private Vanhal, Tomaschek, Gänsbacher, Cherubini,


Musikabende bei sich, zu denen auch Bruckner Preindl, Eybler, Hummel) und wies einen typi-
regelmäßig geladen war. Bruckners erstes entschei- schen regionalen Einschlag auf (Glöggl, Schieder-
dendes Auftreten als Komponist (im Rahmen der mayr, Haslinger, Führer). Uraufführungen von
Erstaufführung seiner ersten Messe WAB 26 1864) örtlichen Komponisten fanden ebenfalls zuweilen
begleitete er publizistisch, beschrieb ihn als ausge- statt (1859 Messe von Kirchberger, 1862 Graduale
sprochen eigenständigen Komponisten und von Lanz, 1865 Messe von Dorn, dazu seit 1861
schürte in der Öffentlichkeit Erwartungen auf Werke von Bruckner selbst) und wurden in der
eine erste Sinfonie. Inwiefern er hierbei auf Aussa- Presse generell wohlwollend wahrgenommen
gen Bruckners zurückgriff oder eher seinen eige- (zahlreiche Dokumente zur Linzer Kirchenmusik-
nen Ideen Ausdruck gab, ist schwer abzuschätzen. pflege zu Bruckners Zeiten bei Maier 2009, zum
In jedem Falle konnte er Bruckner damit in der Repertoire und den Quellen siehe Kaiser/Jahn
öffentlichen Wahrnehmung als Komponisten 2008). Von einer gewissen auch musikalischen
etablieren und dürfte damit auch die Identitätsfin- Aufbruchsstimmung zeugt die Argumentation,
dung Bruckners unterstützt haben (zu einigen mit der Bruckner 1858 um die Trennung der Orga-
dieser Personen und zu Bruckners sozialen Netz- nistenämter an Stadtpfarr- und Domkirche bat:
werken vgl. Bruckner-Symposion 1994). Er verweist auf eine seit kurzem merkliche »Diens-
Ähnlich wie Bruckner von St. Florian aus regel- tesvermehrung«, führt »das neu erwachte, kirchli-
mäßige Besuche in Linz unternommen hatte, die che Leben« an und hebt besonders auf den Ge-
vor allem dem dortigen Musikleben galten, reiste meindegesang ab: »Vielleicht könnte so manches
er nun immer wieder nach Wien. Das systemati- längere Zeit verborgen gelegene Kirchenlied wie-
sche Tonsatzstudium bei Simon Sechter, mit dem der aus dem großen Schatze der katholischen
Bruckner auf sein neues Selbstverständnis als Mu- Kirchenlieder hervorgezogen und das Gemüth der
siker reagierte, brachte ihm neben der Fundierung Gläubigen dadurch erbaut werden« (Briefe 1,
und Erweiterung seiner satztechnischen Kennt- 12 f.).
nisse auch intensivere Kontakte in die Haupt- Rasch erwarb sich Bruckner eine besondere
stadt, zu dort wirkenden Persönlichkeiten des Aura als Organist, wie sie prototypisch etwa in
Musiklebens und zum dortigen Konzertrepertoire. einer Zeitungsnotiz von 1858 benannt wurde:
Bei alledem ist auffällig, dass Bruckner sich offen- »Brukner erhebt durch sein seelenvolles Spiel das
kundig weder in Linz noch in Wien erkennbar für Herz zur wahren brünstigen Andacht« (so der
das Schaffen in seinem eigenen, kirchenmusikali- Linzer Abendbote am 6.4.1858 über Bruckners
schen Bereich interessiert zu haben scheint. Statt- Orgelspiel während einer Aufführung von Haydns
dessen galten seine Konzertbesuche Gattungen, Nelsonmesse). Als Auszeichnung ist es zu werten,
die er selbst (noch) nicht pflegte: Oratorien, dass Rudigier ihn offenbar wiederholt zu einer
Opern und vor allem der Kammer- und Orches- »klingenden Andachtsübung« in die Kirche be-
termusik. stellte: »Er ließ sich von Bruckner erheben und
Der merkliche Ehrgeiz, mit dem Bruckner sein erschüttern, das war für ihn eine Herzenskur«,
Linzer Amt versah, dürfte sich mit Rudigiers Kir- berichtete das Wiener Fremdenblatt retrospektiv in
chenpolitik gedeckt haben. Die Dommusik an einem Artikel zu Bruckners 70. Geburtstag 1894.
Festtagen bestand regelmäßig aus einer Chor- und Dass Bruckner für Rudigier ein repräsentativer
Orchestermesse sowie eingelegtem Graduale und Pfeiler seiner geistlichen Herrschaft war, zeigt sich
Offertorium von anderen Komponisten. Bruckner auch auf andere Weise: So unterstützte er Bruck-
kam neben der Begleitung die Aufgabe zu, vor ners weitreichende und teure Pläne für den Um-
allen Stücken zu präludieren, sowie zum Ein- und bau der Orgel im Dom, stellte ihn wiederholt zur
Auszug zu spielen. Das Repertoire der aufgeführ- kompositorischen Weiterbildung in Wien frei und
ten Musiken speiste sich wie in St. Florian vor al- setzte sich schließlich sogar persönlich dafür ein,
lem aus der klassischen österreichischen Kirchen- dass Bruckner seine Organistenstelle nach seinem
musik und ihren Nachfolgegenerationen (beide Weggang nach Wien noch für einige Zeit reser-
Haydn-Brüder, Mozart, Diabelli, Beethoven, viert wurde.
234 Melanie Wald-Fuhrmann

Den Gegebenheiten der Linzer Kirchenmusik freilich die dem letzten Werk beigegebenen und
entsprach es, dass Bruckner nach Abschluss seiner nicht ausschließlich colla parte geführten vier Po-
Studien bei Sechter zunächst mit kleinen liturgi- saunen.
schen Werken kompositorisch in Erscheinung trat: Einen interessanten Brennpunkt für den Cha-
Sie gehörten zu den üblichen Beiträgen dilettieren- rakter und Anspruch der Linzer Kirchenmusik
der Komponisten und verraten generell noch kei- bieten die Feierlichkeiten zur Grundsteinlegung
nen emphatischen musikalischen Werkanspruch, des Doms am 30. April 1862: Zum Akt der Grund-
sondern passen sich dem liturgischen Ort an. Vor steinlegung selbst erklang eine bei Bruckner in
der ersten Messe stehen daher zwei Marien-Offer- Auftrag gegebene Festkantate mit Chören und
torien, ein weiterer Psalm sowie die Kantate zur Soli (WAB 16). Den an die Freiluftaufführung
Grundsteinlegung des neuen Domes. Signifikant angepassten Bläsersatz übernahm die Militärmu-
ist der gewissermaßen autobiographische Verweis sikkapelle. Das Musikprogramm des sich daran
des siebenstimmigen Ave Maria (WAB 6), schlägt anschließenden Gottesdienstes brachte die Auf-
es doch den Bogen von der Zeit in St. Florian und führung einer Messe von Antonio Lotti aus den
vor dem Unterricht bei Sechter, die mit dem Trau- 1730er Jahren (die in den nächsten Jahren im Re-
mihler gewidmeten vierstimmigen Ave Maria pertoire blieb) durch die Liedertafel, die durch ein
(WAB 5) beendet wurde, zu seinem kompositori- neu komponiertes achtstimmiges Graduale von
schen Neuanfang. Dieser Verweis war allerdings Lanz (Misit Dominus) sowie »das würdige, fromme
höchstens für enge Bekannte zu bemerken, hielt Offertorium Ave Maria« (so im Bericht der Katho-
Bruckner doch alles zuvor Komponierte unter lischen Blätter vom 3. Mai) von Bruckner ergänzt
Verschluss und trat in Linz gleichsam als komposi- wurde. Zur abendlichen Nachfeier erklang Haydns
torischer Debütant auf. Die rein chorischen Offer- Schöpfung. Die Entfaltung kirchlichen Prunks
torien schließen stilistisch an die bereits früher ge- ging hier einher mit der programmatischen Ein-
übte, für die Kirchenmusik der Zeit noch immer bindung der verschiedenen historischen und stilis-
typische Gattung der a-cappella-Motette an und tischen Traditionen katholischer Kirchenmusik
ließen sich offenbar mit dem bei Sechter Gelernten sowie einem starken lokalen Bezug. Für die theo-
zufriedenstellend gestalten. Die Lancierung 1861 logische Bedeutung des Anlasses steht der Kanta-
bei der jährlichen Messe zur Gründungsfeier der tentext von Maximilian Pammesberger, Professor
Liedertafel, die Bruckner zu der Zeit gerade leitete, an der örtlichen theologischen Lehranstalt und
lässt das Ave Maria wie eines der gängigen Gele- Redakteur der immer wieder wichtige Debatten-
genheitswerke erscheinen und kaschiert weiterhin beiträge liefernden Katholischen Blätter und
den doch längst entwickelten kompositorischen Christlichen Kunstblätter. Dass hier wie üblich die
Ehrgeiz. Zum selben Anlass wurde während Liedertafel die vokalen Anteile übernahm, doku-
Bruckners zweiter Periode als Chorleiter 1868 am mentiert Rudigiers Versuch, die tendenziell bür-
St. Antonius-Tag das zur Missa de confessore pon- gerlichen Kräfte in die episkopale Repräsentation
tifice gehörige Offertorium Inveni David (WAB einzubinden und die Sache des Dombaus zu ei-
19) aufgeführt und der Liedertafel gewidmet. nem Gemeinschaftsprojekt zu machen. Ferner
Der doppelchörige Psalm 112 hingegen, mit stellt die Aufführung einer Messe im ›alten‹ Stil
seiner Vielfalt an Satztechniken und dem unab- ein musikalisches Pendant zum neogotischen Stil
hängigen Orchesterpart, markiert zusammen mit des Domes (Baumeister war der auch für die Fer-
der Ouvertüre g-Moll (WAB 98) und der Studien- tigstellung des Kölner Doms zuständige Vinzenz
sinfonie (WAB 99) den Abschluss der zweiten Statz) und der damit verbundenen ideologischen
Studienphase und ist offenbar nie aufgeführt wor- Positionierung in einer lebendigen, doch kontinu-
den. Auch Bruckners späte Kompositionen für ierlichen kirchlichen Tradition dar. Die Beschäfti-
Linz, die als Propriums-Einlagen in die 2. Messe gung mit der alten Kirchenmusik hatte 1859 mit
(WAB 27) geplanten Pange lingua mit Tantum ergo der wohl ebenfalls programmatisch zu verstehen-
WAB 33 und Locus iste WAB 23 sowie das Inveni den Einstudierung von Palestrinas Missa Papae
David, bewahren die motettische a-cappella-An- Marcelli begonnen, die durch eine Artikelserie in
lage. Für einen ungewöhnlichen Akzent sorgen der Linzer Zeitung begleitet worden war (abge-
Geistliche Vokalmusik 235

druckt bei Maier 2009, 164–168). Lottis Messe war vollauf bewusst, dass er seine Messe eigentlich an
zusammen mit Bruckners Ave Maria erstmals zum den Bedingungen der Linzer Dommusik vorbei
Gründungsfest der Liedertafel am 12. Mai 1861 geschrieben hatte. Auf Weinwurms Vorschlag, die
erklungen und wurde zusammen mit dem Offer- Messe zum 500-Jahr-Jubiläum der Wiener Univer-
torium von Lanz bzw. ebenfalls Bruckner auch sität aufzuführen, reagierte er entsprechend enthu-
noch zur Grundsteinlegung des Allgemeinen siastisch. Freilich kam es erst im Februar 1867
Krankenhauses im September 1862 sowie zum tatsächlich zu einer Aufführung der Messe in
Gründungsfest der Liedertafel 1868 gespielt, einen Wien, und zwar unter der Leitung von Herbeck in
Tag nach der Uraufführung von Bruckners Erster der Hofkapelle, der auch das Afferentur und Ave
Sinfonie. Maria als Graduale und Offertorium spielen ließ:
Mit der Komposition seiner d-Moll-Messe über- ein Brucknersches Porträtkonzert, sozusagen. Die
schritt Bruckner erstmals den Bereich des Gängi- Besprechung durch Ludwig Speidel im Wiener
gen und direkt Orts- und Funktionsbezogenen. Fremdenblatt war weitgehend positiv und endete
Zwar ist das Komponieren einer Messe für einen vor allem mit einem nachdrücklichen Plädoyer für
Organisten an sich noch nichts allzu Ungewöhn- eine Anstellung Bruckners in Wien. Im Ergebnis
liches, doch die Dimensionen der Besetzung und ergeht an Bruckner der Auftrag der Hofkapelle für
der Formgestaltung sowie der hohe technische eine weitere Messe. Auch das zeigt noch einmal
Schwierigkeitsgrad, darüber hinaus die offenbar die Laufbahnfunktion dieses Werks. Als ähnlich
allein intrinsische Motivation (der zweiten und strategisch dürfte auch die Annahme eines Kom-
dritten Messe lagen dann wieder Aufträge zu- positionsauftrags des Stiftes Wilhering zu bewer-
grunde) sprechen eine eindeutige Sprache. Nach ten sein, fällt er doch in Bruckners letztes Linzer
allem, was bislang über das Linzer Musikleben Jahr und mithin in die Zeit seiner nachdrückli-
bekannt ist, war auch die Wiederholung als, so chen Bemühungen um eine andere Stelle. Der
Bruckner, »Concert spirituel« (Briefe 1, 47) im vierstimmig gesetzte Schutzengelhymnus Iam lucis
Konzertsaal gänzlich vorbildlos und ist ein aussa- orto sidere ist dem Abt von Wilhering gewidmet
gekräftiges Dokument für Bruckners zunehmende und wurde noch im selben Jahr als überhaupt erst
Hinwendung zur außerkirchlichen Musikpraxis. zweites Werk von Bruckner in Linz gedruckt.
Dass Bruckner mit diesem Werk vor allem auch Wegen der Verzögerungen der Dombauarbei-
die Beförderung seiner Karriere im Auge hatte, ten kam es erst nach Bruckners Fortgang 1869 zur
zeigt eine Äußerung gegenüber Weinwurm aus Uraufführung der bereits 1866 fertiggestellten
dem Jahre 1862, als er verschiedene taktische zweiten Messe in e-Moll, die die Einweihung der
Schritte überlegte, um im Anschluss an seine Prü- Votivkapelle begleiten sollte. Bruckner, und nicht
fung durch das Wiener Konservatorium dort eine der Kapellmeister Zappe, war es somit, der mit
Stelle zu erhalten. Die Lancierung eigener Kom- repräsentativen Werken für wichtige diözesane
positionen in Wien spielt dabei eine entscheidende Ereignisse betraut wurde und das musikalische
Rolle, Bruckner kann aber lediglich sein Ave Ma- Profil des neuen Domes verkörpern sollte, was
ria vorweisen und fügt dann an: »Am meisten angesichts der stilistischen Richtung, in die er sich
würden mir vielleicht Messen helfen. Später, künf- entwickelte und die in Linz durchaus wahrgenom-
tiges Jahr werde ich wohl fleißig componiren« men wurde, immerhin erstaunt.
(Briefe 1, 32). Und kaum, dass die beiden Auffüh- Linz ist – mit allen seinen musikalischen Mög-
rungen in Linz stattgefunden haben (am 20. No- lichkeiten, Foren und Persönlichkeiten – der Ort,
vember im Dom und am 18. Dezember im Redou- an dem sich schließlich Bruckners musikalische
tensaal) schreibt er Weinwurm von seinen Überle- Persona ausbildete, und zwar so nachdrücklich,
gungen, eine Reinschrift an Eduard Hanslick und dass der Mensch dahinter mehr und mehr ver-
den Hofkapellmeister Johann Herbeck zu schicken schwinden konnte. Entscheidend dafür war nicht
mit der Idee einer Aufführung »in einem Musik- zuletzt die regelmäßige öffentliche und erstaunlich
vereins-Conzerte«: »Denn in der Kirche glaube detaillierte Berichterstattung in Linz, in der sich
fordert sie zu viel Proben« (Briefe 1, 47 f.). Bruck- zur Charakterisierung Bruckners und seiner Musik
ner, dem erfahrenen Kirchenmusiker, war also bald ein festes Vokabular einbürgerte, das so dann
236 Melanie Wald-Fuhrmann

auch auf den Sinfoniker in Wien Anwendung Neuproduktionen auch in der gleichzeitigen Be-
fand. Schon die Berichte über sein Orgelspiel geisterung für alte und neue Werke sowie die sich
konzentrieren sich von Anfang an auf den über- bisweilen in ganzen Artikelreihen niederschla-
wältigenden Eindruck, die affektive Macht und gende publizistische Resonanz auf besondere kir-
die erbauende und vor allem erhebende Wirkung chenmusikalische Ereignisse. Bruckner stand dabei
und schrecken auch vor einem emphatischen – und das verdeutlicht zugleich seinen kontinuier-
»genial« nicht zurück. Das Ave Maria wird auf- lichen Aufstieg und den wachsenden Erfolg – im-
grund der Kenntnis von seinen Kontrapunktstu- mer wieder im Mittelpunkt intensiver und zumeist
dien zwar vor allem noch als klassizistische Kom- sehr wohlwollender bis enthusiastischer Bespre-
position wahrgenommen (»Reinheit des Satzes«, chungen und wurde gerade mit seiner ersten
»Gediegenheit der Komposition«, »Schönheit«; Messe zu einem Leitstern des anspruchsvollen
Abendbote, 14.5.1865), doch zielen Attribute wie modernen Komponierens für die Kirche erhoben.
würdig und fromm bereits auf die spezifische Seine Verlängerung des Wagnerschen Stils in die
Ausdruckshaltung. Die Kantate (WAB 16) gibt Kirchenmusik wurde dabei allgemein nicht als
Anlass zu Charakterisierungen wie prachtvoll, Problem wahrgenommen, sondern ausdrücklich
kräftig und majestätisch (Linzer Zeitung, 3.5.1862), begrüßt. Bruckners mit den 1860er Jahren – also
mit denen an die Wahrnehmung von Bruckners zeitgleich mit der »Freisprechung« als Komponist
Orgelspiel angeknüpft wird. Im Mittelpunkt der – wiederholt geäußerte Klagen über die Provinzi-
vielen Besprechungen der Messen steht dann die alität und das mangelnde Kunstinteresse der Lin-
»Auffassung«, die gelungene Verbindung von zer sind somit wiederum vor allem als Dokumente
avancierter, durchaus neudeutsch und wagner-nah einer biographischen Krise zu lesen, wie sie schon
ausgerichteter Schreibweise und dem affektiven am Ende der St. Florianer Zeit zu bemerken war.
Anspruch einer liturgischen Komposition, womit Angesichts der im Grunde lückenlosen lebens-
Verweise auf Bruckners religiöses Empfinden so- weltlichen und funktionellen Zuordnungen der
wie auf die originelle und einfühlungsreiche Text- geistlichen Werke (Auftrag des bischöflichen Kon-
behandlung verbunden werden. Dabei spielen die sistoriums, Komposition für die Liedertafel, Stu-
Affekte der Zerknirschung im Bewusstsein der dienwerk oder Karrieremittel) wäre überdies die
eigenen Schuld und auf der anderen Seite des immer wieder kolportierte Auffassung, Bruckners
Spektrums Gottvertrauen und Dankbarkeit die Frömmigkeit sei im Grunde der einzige, zutiefst
entscheidenden Rollen, sowie die aus ihnen ent- intrinsische Motivationsfaktor für diese Werke
springende Haltung des Lobens und Preisens, gewesen, zumindest zu relativieren. Auch die ma-
wofür in Reaktion auf den massiven Eindruck der rianische Thematik vieler Motetten erklärt sich
Werke ausgesprochen intensive Formulierungen direkt aus Rudigiers Diözesanpolitik und dem der
gebraucht werden. Besonders kann Bruckner mit Gottesmutter geweihten Neuen Dom. In letzter
seiner Ausdeutung der narrativ-dramatischen Konsequenz stellt sich sogar die Frage, ob Bruck-
Passagen in Gloria und Credo interessieren, denen ner geistliche Vokalmusik überhaupt als das geeig-
u. a. »plastische Anschaulichkeit«, zugleich aber nete Medium seines künstlerischen Ausdruckswil-
auch »Tiefe und Kraft der Charakteristik« beschei- lens betrachtet hat, oder ob er die entsprechenden
nigt wird (Linzer Zeitung, 29.12.1864). Als ein Formen und Genres – wie einst das Tantum ergo
Kondensat dieser Haltungen sei ein Gedicht von – nicht zu einem großen Teil als Gelegenheit zum
Mayfeld zitiert, das Bruckner noch im Dom zu- praktischen Studium und kompositorischen Ex-
sammen mit einem Lorbeerkranz überreicht periment benutzt hat.
wurde, auf dem dessen erste und letzte Zeile auf Genau, wie Bruckner lebenslang St. Florian
einem Band zu lesen waren: »Von der Gottheit verbunden blieb und auch weiterhin für die dor-
einstens ausgegangen,/ Muß die Kunst zur Gott- tige Kirche komponierte, brachen auch die Kon-
heit wieder führen« (ebd.). takte nach Linz 1868 nicht ab: Bruckner nahm an
Das Interesse an der geistlichen Musik in Linz der Uraufführung seiner zweiten Messe teil, wofür
war also ausgesprochen lebendig und dokumen- er vorab auch noch ein Graduale und Offertorium
tiert sich außer im reichen Repertoire und den komponiert hatte. 1878 erging an ihn ein Auftrag
Geistliche Vokalmusik 237

für Rudigiers silbernes Bischofsjubiläum (Marien- Anhänger (etwa den Regens chori von St. Florian,
gebet Tota pulchra es). Und auch der neue Bischof Ignaz Traumihler), andere gattungsgeschichtliche
Ernest Maria Müller wollte die Einhundertjahr- Impulse gingen nur von Einzelwerken aus (vor
feier des Bistums nicht ohne Brucknersche Musik allem von den Messen Liszts und Bruckners),
feiern und ließ ihn ein Proprienpaar (Virga Jesse blieben aber ohne Resonanz. Die gesellschaftli-
floruit und Ecce sacerdos, beide freilich dann zu chen und kulturellen Innovationen fanden im
dieser Gelegenheit nicht aufgeführt) komponieren Wien der Ringstraßenzeit anderswo statt, und
und nahm die revidierte Fassung der e-Moll-Messe nach und nach erreichte Bruckner, dass man sei-
ins Programm. nem sinfonischen Schaffen einen wichtigen Anteil
daran zumaß. Freilich begleiteten seine Sinfonien
erbitterte Kontroversen, da sie – im Positiven wie
Wien: Für Konzertsaal und Nachwelt
Negativen – vor allem unter den Auspizien der
(1868–1896)
Wagner-Nachfolge verstanden wurden. Während
Werke sich der Wiener Akademische Wagner-Verein also
WAB 23: Graduale Locus iste, 1869, für Linz . WAB 10: immer wieder nachdrücklich für Bruckner ein-
Graduale Christus factus est II, 1873 . WAB 46: Litanei setzte, hatte er bei den Konzerten der Gesellschaft
Tota pulchra es, 1878, für Linz . WAB 20: Offertorium der Musikfreunde lange einen recht schweren
Inveni David II, 1879, für St. Florian .. WAB 30: Gradu-
ale Os justi, 1879, für St. Florian . WAB 45: Te Deum, Stand.
1883 f. . WAB 7: Ave Maria, 1882 . WAB 11: Graduale Obwohl Bruckner in Wien als Professor am
Christus factus est III, 1884 . WAB 40: Salvum fac, 1884 . Konservatorium der Gesellschaft der Musik-
WAB 50: Hymnus Veni creator spiritus, um 1884 . WAB freunde nun erstmals eine rein bürgerliche, dem
13: Responsorium Ecce sacerdos magnus, 1885, für Linz .
kirchlichen Zugriff entzogene Stellung innehatte,
WAB 52: Graduale Virga Jesse floruit, 1885, für Linz .
WAB 8: Choral Ave Regina coelorum, um 1886 . WAB 38: blieb er der geistlichen Sphäre durch seine gleich-
150. Psalm Halleluja! Lobet den Herrn in seinem Heilig- zeitig angetretene Position als unbesoldeter, ab
tum, 1892 . WAB 51: Hymnus Vexilla regis, 1892, für St. 1878 dann besoldeter Hoforganist wenigstens lose
Florian verbunden. Freilich ergaben sich aus diesem Amt,
Revisionen: WAB 26: Messe in d, 1876 und 1881 f. . WAB
27: Messe in e, 1876, 1882, 1885 und 1896 . WAB 28: Messe das Bruckner vor allem als Statusinstrument ge-
in f, 1876 f., 1881, 1890–93 . WAB 18: Hymnus Iam lucis dient haben dürfte, keinerlei Kompositionsver-
orto sidere, 1886 . WAB 41: Vier Tantum ergo und WAB pflichtungen. Und Bruckner, nun auf die Sinfonie
42: Tantum ergo, 1888 . WAB 31: Pange lingua, 1891 . konzentriert, scheint auch nur bedingt Anstren-
WAB 39: Requiem, 1892
gungen unternommen zu haben, die Hofkapelle
Trotz Hofkapelle, Erzbischofssitz, der Bedeutung systematisch zur Pflege oder gar Erweiterung des
der Religion für das monarchische System des eigenen Repertoires zu nutzen. Immerhin führte
Vielvölkerstaates und überhaupt der führenden er seine Messen wiederholt dort auf (siehe etwa
kulturellen Rolle in der nunmehrigen k.u.k.-Mo- Briefe 1, 280 f.). Doch insgesamt wurde die geistli-
narchie war Wien im letzten Drittel des 19. Jahr- che Musik radikal zu einem Nebenschauplatz sei-
hunderts alles andere als ein Zentrum der geistli- nes Schaffens abgewertet: Während die Sinfonien
chen Musik (zur Situation Antonicek 1987 und in steter Folge entstanden, widmete sich Bruckner
anhand zeitgenössischer Quellen Litschauer 1988). kirchlichen Werken ein Jahrzehnt lang fast gar
Zwar komponierten die ansässigen Kapellmeister nicht, dann nur sporadisch und – von wenigen,
und Organisten wie Rudolf Bibl, Gottfried Preyer, dann aber spektakulären Ausnahmen abgesehen
Herbeck und Bruckners Konservatoriums-Kollege – infolge eines Auftrags von außerhalb, aus Linz
Franz Krenn regelmäßig, teilweise sogar in be- oder St. Florian. Neue Messen entstanden keine
trächtlicher Anzahl kleinere und größere kirchen- mehr, Bruckner blieb bei kleineren Propriengat-
musikalische Werke, doch konnte nichts davon tungen wie Antiphon, Graduale und Offertorium
den Kirchenraum und den usuellen Entstehungs- und Hymnus. Dennoch machte er zu Beginn der
kontext verlassen, und nur ganz wenig wurde ge- 1870er Jahre noch einmal als Messenkomponist
druckt. Der sich in den 1860er Jahren konstituie- von sich reden: 1869 wurde die Linzer Votivkapelle
rende Cäcilianismus fand in Österreich nur wenige endlich mit seiner 2. Messe (e-Moll) geweiht, in
238 Melanie Wald-Fuhrmann

Salzburg führte man ein Jahr darauf die 1. Messe läum, das bereits in der Votivkapelle des Neuen
(d-Moll) wieder auf, und im Juni 1872 kam es Doms gefeiert wurde. In St. Florian galt es, das
endlich zur erfolgreichen Uraufführung seiner 3. Fest des Ordensheiligen Augustinus mit einem
Messe (f-Moll) in Wien, zunächst in der auch für neuen Graduale und Offertorium zu schmücken
die Öffentlichkeit zugänglichen Augustinerkirche, und dabei auf die mittlerweile entwickelten cäcili-
anschließend in der Hofburgkapelle. Immerhin anischen Tendenzen Traumihlers Rücksicht zu
versuchte Bruckner aus der positiven Aufnahme nehmen. An seinen alten Wirkungsstätten blieb
dieses Werks und besonders aus der Resonanz bei Bruckner mithin ein Komponist, den man gerne
Hofe Kapital zu schlagen: So erinnerte er in sei- zu herausragenden, das Selbstverständnis der je-
nem an das Unterrichtsministerium gerichteten weiligen Institutionen dokumentierenden Ereig-
Gesuch um die Verleihung einer Universitätspro- nissen aufführte, was eine Reaktion auf seinen
fessur an den Beifall, den der Minister, Fürst Ho- wachsenden Ruhm und die Stilistik seiner geistli-
henlohe-Schillingsfürst, der Messe gezollte hatte, chen Musik gleichermaßen gewesen sein dürfte.
und legte seinem zweiten, nun direkt an die Uni- Aus eigenem Antrieb hat sich Bruckner der
versität gerichteten Schreiben außer Teilen der geistlichen Musik erst wieder im Zuge seiner zwei-
Zweiten und Vierten Sinfonie auch die f-Moll-Messe ten intensiven Wiener Schaffensspanne angenom-
zur Begutachtung bei. men: Noch während der Arbeit an der Sechsten
Erst im Dezember 1873 stand ein neu kompo- Sinfonie begann Bruckner mit dem Entwurf seines
niertes geistliches Werk auf dem Programm der Te Deum, das er, wie er später in einem Brief an
Hofkapelle, sein Christus factus est (II) für acht- Hermann Levi zu Protokoll gab, »Gott widmete
stimmigen Chor, Streicher und Posaunen. Im zur Danksagung für so viel überstandene Leiden
November 1879 probierte Bruckner sein für Trau- in Wien« (Briefe 1, 259), führte es aber erst 1884
mihler geschriebenes Os justi dort aus. Die einzi- nach Abschluss der Siebten weiter: ein Zeugnis
gen weiteren bekannten Erstaufführungen in der dafür, dass das sinfonische Schaffen für ihn höchste
Hofburgkapelle betreffen das dritte Christus factus Priorität hatte. Dennoch ist das Werk keine Kir-
est, welches – liturgisch ebenso ungewöhnlich, da chenmusik, sondern ebenso wie der 1892 folgende
der Text eigentlich zum Gründonnerstagsritus 150. Psalm von Anfang an für den Konzertsaal ge-
gehört – am 9. November 1884 als Einlage zu sei- dacht. Es ist der Wagner-Verein mit Bruckners
ner f-Moll-Messe gegeben wurde, sowie an Mariä Schülern Josef Schalk und Ferdinand Löwe, die
Empfängnis 1885 das im Frühherbst beendete Bruckner 1885 zu dessen Ehrenmitglied gemacht
Virga Jesse. hatten, der sich für das Werk einsetzt: Eine erste
In die kompositorische Besinnungsphase nach Aufführung durch den Verein mit zwei Klavieren
der ersten Sinfonienreihe zwischen 1876 und 1879, statt des Orchesterparts im Mai 1885 hatte als
die Bruckner auf Revisionen verwandte, bezog er Werbeveranstaltung tatsächlich Erfolg. Im Okto-
auch seine drei Messen mit ein. Sein zunehmendes ber 1886 fand in einem Gesellschaftskonzert der
Bewusstsein für ein eigenes Œuvre im emphati- Musikfreunde unter Hans Richter die reguläre
schen Sinne, für ein in seinen Teilen miteinander Uraufführung statt. Dem Te Deum kommt ein
in Beziehung stehendes und als Corpus der Nach- großer Anteil an der wachsenden Popularität des
welt zu überlieferndes Werk richtete sich nun also Brucknerschen Schaffens ab den 1880er Jahren zu.
auch auf die großen kirchenmusikalischen Kom- Das Werk verbreitete sich umgehend und fun-
positionen der Linzer Zeit. Aus den einstigen gierte oftmals als eine Art ›Türöffner‹ für andere
Auftragswerken wurden so sukzessive (die Revisi- Arbeiten Bruckners. Der Wagner-Verein nahm
onen wurden in den 1880er und 1890er Jahren daraufhin auch andere geistliche Werke Bruckners
fortgesetzt) eigenständige Kunstwerke. In dieselbe in seine Programm auf: 1888 führte Schalk das
Zeit fielen zudem Aufträge aus Linz und St. Flo- siebenstimmige Ave Maria auf, 1893 die f-Moll-
rian, die Bruckner wohl auch wegen der illustren Messe. So etwas war zwar seit dem ausgehenden
Anlässe und der für ihn damit verbundenen Eh- 18. Jahrhundert nichts völlig Ungewöhnliches
rung erfüllte: In Linz wollte man eine marianische mehr, und auch in Wien nahmen die verschiede-
Antiphon zu Rudigiers silbernem Bischofsjubi- nen Konzertveranstalter hin und wieder einzelne
Geistliche Vokalmusik 239

geistliche Stücke in ihre Programme auf, doch wurden auch der 150. Psalm und Vexilla regis un-
scheint sowohl die Aufführung kompletter Messen mittelbar nach ihrer Erstaufführung publiziert.
in einem Konzert als auch das Komponieren geist- Die beiden anderen Messen folgten 1894 und 1896
licher Werke direkt für den Konzertsaal eher ein bei Doblinger, nachdem ein entsprechender Ver-
Phänomen des protestantischen Raums gewesen trag schon 1892 geschlossen worden war. Bruck-
zu sein. Für die Jahre 1848 bis 1868 verzeichnet ners geistliche Musik wurde also insgesamt recht
Hanslick etwa nur drei konzertant aufgeführte früh und – was die autorisierten, aufgeführten
Messen, und zwar Beethovens Missa solemnis, Werke betrifft – noch zu Lebzeiten weitgehend
Liszts Graner Festmesse sowie die h-Moll-Messe von vollständig gedruckt: ein Vorgang, der im Ver-
Bach (Hanslick 1870/1979). Und die bis 1848 be- gleich mit den anderen damaligen Wiener Kom-
stehende Reihe von Concerts spirituels, die überdies ponisten von Kirchenmusik als ausgesprochen
vorwiegend Sinfonien brachten, scheint keine ungewöhnlich zu bezeichnen ist. Nicht weniger
kompletten Messen auf ihre Programme gesetzt zu aufmerken lässt auch der Umstand, dass Bruckner
haben. Wenn Bruckner also bereits für seine erste sich unabhängig von Wiederaufführung oder
Messe in Linz eine konzertante Aufführung Drucklegung 1891/92 zwei weiteren frühen Wer-
durchsetzte (und die Messe vielleicht überhaupt ken zuwendet: Indem er das Requiem und das
mit Blick darauf konzipierte) und mit Te Deum Pange lingua (WAB 31), seine allererste Komposi-
und 150. Psalm daran anschloss, dann muss man tion, noch einmal vornahm, konstruierte er im
das als ein bedeutungsvolles Dokument seines Rückblick eine biographische Folgerichtigkeit und
künstlerischen Selbstverständnisses und wohl auch kontinuierliche kompositorische Entwicklung, die
als ein Anknüpfen an Beethoven interpretieren. In so wohl in Wirklichkeit nie gegeben war.
den 1890er Jahren etablierten sich dann sogar alle Hatte die Wiener Wagner-Partei Bruckner von
drei Messen im Wiener Konzertleben: 1897 wurde Anfang an als einen der Ihren betrachtet und
zum Gedächtnis an Bruckner die d-Moll-Messe entsprechend für ihre Gefechte zu instrumentali-
konzertant gegeben, 1899 auch die e-Moll-Messe. sieren gesucht, so machte die Präsenz seiner geist-
Im Umfeld des Te Deum begannen geistliche lichen Kompositionen Bruckner ab den 1880er
Kompositionen überhaupt wieder eine größere Jahren auch zu einer geeigneten Projektionsfläche
Rolle zu spielen: 1884/85 entstand eine Reihe ent- für die verschiedenen christlich-sozialen und ka-
sprechender Werke, und zugleich gab Bruckner tholischen gesellschaftlichen und politischen
die Distanz zu seinen älteren Kirchenwerken auf. Strömungen. Das zeigt noch ex negativo die im
In einem weiteren Akt der Œuvre-Sicherung und Brahms-Kreis verbreitete Assoziation von Bruck-
-Konstituierung sichtete er sein Schaffen, unterzog ner mit den »Pfaffen von St. Florian«, obwohl sich
einige Werke – meistens im Hinblick auf Auffüh- Bruckner selbst in Wien mit seinem Konservato-
rungen oder Drucklegungen – einer oder mehre- riumsamt und der recht weitgehenden komposi-
ren Revisionen und ließ eine ganze Reihe von torischen Abstinenz von Kirchenwerken auffällig
Publikationen zu (um Verhandlungen und gege- kirchenfern einzuführen gesucht hatte. Umgekehrt
benenfalls Vorfinanzierungen kümmerten sich dokumentiert das Ansinnen, den 150. Psalm zur
freilich Freunde und Förderer, dazu Hilscher Eröffnung der Wiener Musik- und Theaterausstel-
1997): 1885/86 erschienen bei Rättig in Wien das lung von 1892 aufzuführen, wie diese Art von ins
Te Deum sowie die vier Graduale Locus iste, Virga Öffentlich-Weltliche gewendeter geistlicher The-
Jesse, Os justi und Christus factus est (III). 1887 matik einen Nerv der Zeit getroffen hat. Wenn
brachte Wetzler, ebenfalls in Wien, die zwei Mari- Bruckners Sinfonien ästhetisch auch lange eine
enstücke Ave Maria und Tota pulchra es heraus, von den Hörern nicht immer bewältigte Heraus-
ehe der Innsbrucker Verlag Gross 1892/93 die d- forderung blieben, so erwiesen sich doch seine
Moll-Messe sowie als einzige St. Florianer Werke Männerchöre und dann vor allem seine geistliche
die Tantum ergo WAB 41 und 42 sowie das frühere Musik als zeit- und gesellschaftspolitisch ausge-
Ave Maria druckte und 1895 das schon zweimal in sprochen anschlussfähig. Bruckners geistliches
Zeitschriften der Cäcilianer publizierte Pange lin- Werk dürfte damit, ganz unerachtet des kompli-
gua et Tantum ergo folgen ließ. Wie das Te Deum zierten und gebrochenen Verhältnisses, das sein
240 Melanie Wald-Fuhrmann

eigener Schöpfer zu ihm hatte, entscheidend zur Gottesdienstbesucher vermitteln und hier in ihren
Vermittlung und Kenntlichmachung seiner ästhe- wesentlichen Punkten vorgestellt seien.
tisch-ideologischen Haltung beigetragen haben, So galt es zunächst klarzustellen, dass der Gläu-
worauf nicht zuletzt die früh einsetzenden Erklä- bige mit dem Priester zusammen das Messopfer
rungen der Sinfonien mithilfe der großen Kir- verrichtete, seine Passivität also nur eine schein-
chenwerke deuten. bare war. Entscheidend für diesen »inneren Got-
tesdienst« in Ergänzung zum äußeren der kirchli-
chen Riten war einerseits die Herstellung und
Erhaltung einer wahrhaften Andacht, andererseits
Messen und Requiem das richtige Verständnis für den Ablauf des Ritu-
als. Letzterem Zweck dienten die Messerklärun-
Theologie und Liturgie der Messe
gen. Sie unterrichteten über die Teile der Messe
im 19. Jahrhundert
(Vormesse mit Gebeten und Belehrungen durch
Die Messe in ihrem lateinischen Ritus war auch Lesungen; eigentliche Messe mit Opferung,
im 19. Jahrhundert die zentrale Form des katholi- Wandlung und Kommunion, so etwa bei Brugier
schen Gottesdienstes und stand in ihrer Durch- 1869) und deren einzelne Bestandteile aus Prop-
führung wie Auslegung in einer langen und – un- rium und Ordinarium. Das Kyrie wurde als an alle
erachtet aller innerkirchlichen Reformen – konti- drei göttlichen Personen gerichteter »Ruf zu Gott
nuierlichen Tradition. Sie galt in erster Linie und um Erbarmen« beschrieben, das Gloria als »Jubel-
in mehrfacher Hinsicht als Opfer: als Erinnerung gesang einer Seele, die im Rufen zu Gott den Trost
an das Selbstopfer Jesu zur Versöhnung der Men- und die Hoffnung des Heiles geschöpft«, als »ein
schen, ja, als seine performative Nachahmung in Lobgesang, der uns mit freudigem Vertrauen zu
der Symbolsprache der zeremoniellen Handlun- Gott erfüllt«, das Credo als geistiges »Opfer des
gen und Gebete mit dem zentralen Ereignis der Glaubens«, das Sanctus als Erinnerung an den
Kommemoration und Gegenwart verschmelzen- Einzug Jesu in Jerusalem, als Lobgesang der Sera-
den Eucharistie und als darauf reagierendes geist- phim sowie als der durch ein Glockenzeichen
liches Opfer der anwesenden Gläubigen. Während markierte heilige Moment, »in dem sich uns der
die Gründonnerstagsgeschichte gleichsam die äu- Herr voll Gnade naht«, das Agnus Dei als erstes
ßere Form des Opfers vorgab und als seine Einset- Anreden des nun im Opfer anwesenden Christus
zung verstanden wurde, vergegenwärtigte der und als eindringliche Friedensbitte, da nur ver-
Ablauf das Passionsgeschehen, das die allegorische söhnt mit Gott die wahre Begegnung im Genuss
Auslegeordnung und den Fokus für die Bedeutung der Kommunion gelingen kann (zusammengestellt
der Messe zugleich vorgab. Im Mittelpunkt der aus Brugier 1898, 24–52, und Walter 1895, 2. Teil).
Empfindungen der Gläubigen sollten dabei die Auch die einzelnen rituellen Handlungen fanden
vier Haltungen Anbetung, Versöhnung, Bitte und Berücksichtigung, vor allem das Verneigen des
Dank stehen. Hauptes als Zeichen der Ehrfurcht vor heiligen
Es war eine Folge sowohl der Aufklärung als Bildern, beim Aussprechen heiliger Namen und
auch der konservativen Initiativen zur Intensivie- vor dem Crucifix, und die Kniebeuge vor dem »im
rung des religiösen Lebens, dass man seit dem 18. Altarsakramente gegenwärtigen Heilande« (Bru-
Jahrhundert nicht nur verstärkt Wert auf die An- gier 1898, 16 f. und 30 f.).
wesenheit der Gläubigen bei der Messe legte, In Ergänzung dazu setzten die Messbücher auf
sondern diese auch durch katechetische Unterwei- eine Anleitung zum »andächtigen Zugegenseyn
sung und religiöse Literatur über das rechte Mess- bey der heil. Messe« (so der Text einer gedruckten
verständnis und die beste Weise, der Messe beizu- Wiener Predigt, Rummelsberger 1822) und stellten
wohnen, zu unterrichten suchte. So entstand eine den Gläubigen eine Folge von Gebeten und (Pas-
Vielzahl von teils immer wieder aufgelegten Mess- sions-)Betrachtungen zur Verfügung, die an den
büchern und -erklärungen für alle Altersgruppen einzelnen Punkten des Messgeschehens zur Verge-
und Bevölkerungsschichten, die ein deutliches genwärtigung des Kreuzestodes anzuwenden wa-
Bild damaliger Messpraxis aus der Perspektive der ren (z. B. Erhard 1891). Hierbei ging es um die
Geistliche Vokalmusik 241

Messe als »Gnadenquelle« (Rummelsberger 1822, er uns finden/ Den Frieden, seine Huld« (Erhard
6) und »Inbegriff aller Geheimnisse unserer Erlö- 1891, 70).
sung« (Walter 1895, 73). Der gläubige Messbesu- Dass sich daraus ganz konkrete Anweisungen
cher wurde dazu angehalten, sich selbst geistig auf an Kapellmeister und Komponisten ableiten lie-
dem Altar mitzuopfern, indem er das vierfache ßen, dokumentieren die der Kirchenmusik gewid-
»Opfer zur Ehre des unendlichen Wesens«, »zur meten Abhandlungen Franz Xaver Glöggls, von
Versöhnung unserer Sünden«, das »Dankopfer für 1798 bis zu seinem Tode 1839 Kapellmeister am
die empfangenen Wohlthaten« und das »Bittopfer, Linzer Dom. Seine Kirchenmusik-Ordnung hebt
wodurch wir alles das erhalten können, was wir an mit folgender Bestimmung an: »Den echten in-
Leib und Seele bedürfen«, darbrachte (Rummels- nern Gottesdienst und die Andacht zu erheben,
berger 1822, 8). Wichtig dabei war der affektive trägt die Behandlung des äußern Kirchengebrau-
Bezug auf die eigene Innerlichkeit, die »fromme ches viel bei, wozu vorzüglich die Tonkunst als
Rührung«: Die Betrachtung der eigenen Sünden zweckmäßig in dem heiligen Tempel des Herrn
sollte Empfindungen der Reue und Wehmut er- schon in den frühesten Zeiten eingeführt wurde,
wecken und direkt in die aufrichtig geäußerte welche auch gegenwärtig einen Theil des äußern
Bitte um Vergebung und Versöhnung einmünden, Gottesdienstes ausmacht« (Glöggl 1828, II). Der
deren Einlösung dann in der »andächtigen dreifache Charakter der Kirchenmusik, den er
Geisteserhebung« vorweggenommen wurde, in anführt, stellt dann offenkundig einen Reflex der
der sich die Seele »auf den Flügeln der Andacht geistigen Haltungen dar: »1. Lob, Triumph oder
zum Throne des Allgütigen« aufschwingen sollte Freude; 2. Bitte; 3. Trauer« (ebd., 8).
(Rummelsberger 1822). Dieser Zusammenhang von Geheimnis, An-
Die immer wieder unterstrichene Rolle der dacht, Gotteslob, zerknirschter Bitte, Versöh-
Andacht sowie der verschiedenen affektiven Mo- nungshoffnung und Präsenz der göttlichen Majes-
mente in diesem geistlichen Passionsschauspiel der tät nun stellt einen religiös-affektiven Rahmen
Messe stellen nun den entscheidenden Kontext für dar, der ganz offenkundig von hohem Aufschluss
die Kirchenmusik dar: Sie sollte in erster Linie für Bruckners Messen und geistliche Musik ist. So
eben der Erzeugung der heilsnotwendigen An- ungewöhnlich und emphatisch manches kompo-
dacht dienen und im stillen Beter die je angemes- sitorische Detail auch anmutet, Bruckner schuf
senen geistlichen Empfindungen erzeugen. Der damit geistliche Werke, die ausgesprochen genau
eigentlich offizielle Charakter des althergebrachten auf die liturgischen Vorgaben des Messrituals re-
liturgischen Textes wurde durch eine individuelle agierten und sich dessen Zweck auf besonders
kompositorische Behandlung ebenfalls bis zu ei- nachdrückliche Art und Weise zu eigen machten.
nem gewissen Grade individualisiert und stellte so Die Innigkeit, Intensität und Unmittelbarkeit der
ein Identifikationsangebot für die Gläubigen dar. hier ausgedrückten Empfindungen sind insofern
In diesem Sinne heißt es in Joseph Walters Buch alles andere als subjektivistisch, sondern tragen in
Die Heilige Messe der größte Schatz der Welt (erst- erster Linie einer institutionell gestützten und
mals 1882), dass die heute dem Chor überantwor- angeleiteten, zwar persönlichen, aber nicht indivi-
teten Teile »ehemals vom ganzen Volke« gesungen duellen Empfindungshaltung Rechnung.
worden seien. Und er offenbart auch gleich den
Effekt des gemeinsamen Singens: »wie muss sich
Bruckners Messenmodell: Gliederung,
da jeder mit dem hl. Opfer aufs engste verbunden
Formbildung und Topoi
gefühlt haben?« (Walter 1895, 123). Die gereimten
Lieder der deutschen Singmesse, die Caspar Er- Die mit Chor, Solisten und Orchester besetzte
hard seinem Katholischen Meßbüchlein anfügte, Ordinariumsmesse ist eine Gattung mit dichter
setzen genau das um, wenn es zum Agnus bei- Tradition und einem relativ hohen Grad an for-
spielsweise heißt: » Betrachtet ihn mit Schmerzen,/ maler Einheitlichkeit und tonsprachlicher Typik,
Wie er sein Blut vergießt!/ Seht, wie aus Jesu Her- freilich auch mit funktionalen Binnendifferenzie-
zen,/ Der letzte Tropfen fließt!/ Er nimmt all unsre rungen. An Bruckners fünf Gattungsbeiträge aus
Sünden,/ Er trug all uns’re Schuld;/ Bei Gott läßt St. Florian und Linz ist wegen ihrer Besetzung,
242 Melanie Wald-Fuhrmann

Ausdehnung und Festgebundenheit der Maßstab tige, textbezogene Art und Weise ausdifferenziert.
der »Missa solemnis« anzulegen, wie ihn für das Auf die durch die Choralversionen etablierten
Österreich des späten 18. und beginnenden Zäsuren rekurriert Bruckner dabei genauso wie
19. Jahrhunderts etwa die Orchestermessen von auf die Traditionen der Messenvertonung. Die
Mozart, Haydn, Beethoven und Schubert doku- dadurch entstehenden Gruppen zeichnen sich
mentieren. Momente direkter Textausdeutung durch verschiedene Verlaufsgestaltung aus, wobei
und -illustration, liturgischen Handlungsbezugs, die Steigerung ein häufiges und für Bruckners
textgezeugter Formgebung und zyklischer, also Personalstil generell typisches Moment ist. Den
absolut-musikalischer Überformung gehen dabei kontrastierenden, langsamen Seitensatz kenn-
eine für die Gattung charakteristische Allianz ein. zeichnet meist ein Bezug auf Christus. Paratakti-
Freilich tendiert die Forschung dazu, die rein sche, semantisch motivierte Reihung, punktuelle
musikalischen Gestaltungselemente gegenüber Höhepunkte, allgemeine Steigerungsanlage und
den liturgiebezogenen deutlich überzubetonen zyklische Rundung überlagern sich folglich im
und die Werke damit im Sinne einer autonomen Sinne des von Ernst Kurth so bezeichneten »dyna-
Kompositionsgeschichte aus ihrem gottesdienstli- mischen Formprinzips« (Kurth 1925, 1197). Typi-
chen Bezug herauszulösen, was in einem verstärk- sche Binnenzäsuren erfolgen im Gloria bei »Gratias
ten Maß auch für die Messen Bruckners gilt (eine agimus«, »Domine deus agnus dei« bzw. »Qui
rein formalästhetische, nichtsdestoweniger auf- tollis« und »Quoniam tu solus«, im Credo ebenso
schlussreiche Auseinandersetzung mit den drei traditionsgemäß beim »Et incarnatus est«, »Et re-
reifen Messen bei Scholz 1961). So war Ernst Kurth surrexit«, »Et in spiritum« oder »Et vitam« (zu
davon überzeugt, es leite »stets ein absolut-musi- Bruckners Credo-Sätzen vergleichend Gruber
kalischer Formgrundzug die Anlage seiner vokalen 1988). Die Zäsuren zum »Quoniam« im Gloria
Werke, schließt die verborgenen und meist viel- und »Et in spiritum« im Credo haben dabei zu-
deutigen Formforderungen der Texte mit ein und meist einen reprisenähnlichen Effekt: Nach einem
überwältigt sie als die umfassende Gestaltungs- langsameren Mittelteil kehrt hier das Tempo I
kraft« (Kurth 1925, 1189; ähnlich auch Kirsch 1958). zurück, das Kopfmotiv wird wiederaufgenommen
Dabei ließe sich umgekehrt leicht zeigen, dass und zu einer Schluss-Steigerung geführt. Eine
gerade auch die formbildenden Maßnahmen der besonders große motivische Einheitlichkeit liegt
meisten Messkompositionen – also in erster Linie zumeist im Credo vor, wo die meisten der Glau-
Abschnittsgliederung und Herstellung von Zykli- benssätze, mindestens aber die Bekenntnisse zur
zität – genuin mit dem theologischen Verständnis Dreieinigkeit auf dasselbe Motiv vorgetragen wer-
des Messtextes und des Messrituals verbunden den. Darüber hinaus sucht Bruckner die plastische
sind. Gestaltung gerade der textreichen und inhaltlich
Die wichtigsten kompositorischen und gestal- disparaten Gloria- und Credo-Sätze durch ab-
terischen Merkmale von Bruckners Messen kön- schnittsweise wechselnde, zu ähnlichen Passagen
nen folgendermaßen zusammengefasst werden: Er wiederaufgenommene Kennmotive im Orchester
vertont ab 1854 den vollständigen Text der Ordi- zu gewährleisten. Diese in ähnlicher Weise später
nariumssätze unter differenziertem Einsatz des auch in die Sinfonik übernommenen ostinaten
Chores, der Solisten und des Orchesters und im Begleitmotive haben häufig eine ausgesprochen
Sinne der sinfonischen Vertonungstradition. Die dynamisch-bewegte Anmutung und ein hohes
sechs Sätze Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedic- Erregungspotenzial. Neben diesen Momenten
tus und Agnus Dei werden nicht in Nummern satzinterner Zyklusbildung, die seltener auch im
untergliedert, eigenständige solistische Sätze feh- Kyrie und Sanctus anzutreffen sind, konstruiert
len. Lediglich der Missa solemnis (WAB 29) liegt Bruckner in den drei großen Messen durch die
bei Gloria und Credo noch die Anlage als Num- regelmäßige, doch immer anders gelöste motivi-
mernmesse zugrunde. Stattdessen werden die sche Bezugnahme des »Dona nobis pacem« auf
Sätze, teils in Anlehnung an das Sonatenprinzip das Kyrie sowie durch ein dichtes Netz von Motiv-
(Hauptsatz, Seitensatz, veränderte Reprise, Coda), bezügen innerhalb der Sätze einen großformalen
durchkomponiert, dabei intern jedoch auf vielfäl- Zusammenhang, der aber traditionell auch und in
Geistliche Vokalmusik 243

erster Linie eine theologische Grundaussage der artige ausbrechenden Charakter und eint sie auch
Messliturgie zur klingenden Erscheinung bringt. durch den gemeinsamen Moll-Ton. Damit weicht
In der konkreten musikalischen Umsetzung ist er vom klassischen Typus der Festmesse ab und
die klar konturierte und periodisierte Melodie als orientiert sich an der theologischen Funktion des
Idee weitgehend suspendiert zugunsten von ak- Kyrie, das zuallererst Einsicht in die Schuldhaftig-
kordischer Deklamation bzw. kurzen Motiven, die keit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ist.
einen basalen rhythmischen und/oder melodi- Intensive, dringliche Aufmerksamkeit erfahren
schen Kern exponieren und dann Gegenstand außerdem die verschiedenen Erinnerungen an die
motivischer Arbeit werden. Darin wie in der zu- Passion, vor allem die entsprechenden Passagen in
nehmend selbstständigeren, motivisch pronon- Gloria und Credo, sowie die Bitten um Erbarmung
cierten Rolle der Instrumente hat man wohl zu in Kyrie, Gloria und Agnus Dei. Während die auf
recht eine Orientierung an Wagner gesehen (etwa Gott Vater und in erster Linie seinen Ruhm, seine
Auer 1927, 88). Zentral für Bruckners motivische Majestät und Herrlichkeit bezogenen Textab-
Arbeit in seinen Messen ist aber auch die symbo- schnitte durch eine ganze Reihe immer gleicher
lische Ebene: Auf- und absteigende Linien, ver- musikalischer Mittel vertont sind (homophone
minderte Akkorde, harmonische Rückungen oder Deklamation, Unisoni, plötzlich ausbrechendes
bestimmte Intervalle wie Quarte und Oktave Fortissimo, Einsatz des gesamten Orchesters, Ok-
verwendet er ganz offenkundig im Sinne der tra- tavsprünge), werden die Christus-Passagen cha-
ditionellen, von ihm neu intensivierten und zu rakterlich davon deutlich abgesetzt und erhalten
enormer theologischer Bedeutungshaltigkeit ge- einen intimeren, innigeren Ausdruck. Überhaupt
führten imitativen Bedeutung und gelangt gerade eint insbesondere die drei großen Messen Bruck-
durch die verschiedenen Stadien ihrer Weiterfüh- ners eine besondere Betonung der christologischen
rung und Verarbeitung (besonders Umkehrung Abschnitte, was zweifellos ein Reflex auf das typi-
und Dur-Moll-Wechsel) zu symbolischen Aussa- sche Verständnis der Messe als symbolische Imita-
gen. In deren Zentrum stehen trinitarische Glau- tio und rituelles Wirksam-Machen des Passionsge-
bensinhalte (etwa Christe-Motiv als Umkehrung schehens ist. Einen traditionell geheimnisvoll-
des Kyrie-Motivs, selbes Motiv zu den Credo-Be- heiligen Habitus teilen die Sanctus-Sätze als der
kenntnissen zu Vater, Sohn und Heiligem Geist), liturgische Moment, in dem sich die himmlische
das Geheimnis von Menschwerdung und Passion Liturgie mit der irdischen in Vorbereitung des
sowie Schuld und Sühne (Umkehrung und/oder Messopfers vereint. Meditatives Kernstück ist je-
Dur-Verwandlung im »Dona nobis pacem« von weils das ungeachtet seines knappen Textes breit
flehenden Motiven aus dem Kyrie). Ein auffälliges ausgeführte Benedictus, mit dem unmittelbar nach
und wohl ebenfalls symbolisch zu verstehendes (oder vor, hier weichen die Erklärungen voneinan-
kompositorisches Merkmal sind auch punktuelle der ab, was für eine von Ort zu Ort leicht unter-
und großformale Kontraste: Der im Gloria und schiedliche Praxis spricht) der Wandlung auf die
Credo je mehrmals ausgespielte fundamentale Realpräsenz Gottes reagiert wurde.
Gegensatz von triumphalem Gotteslob und Pas- Die auffälligsten kompositorischen Mittel wie
sion liegt etwa auch dem kontrastierenden Ver- Homophonie, Deklamation, Polyphonie, harmo-
hältnis von Kyrie und Gloria – die ja in der Messe nische Ausweichungen und der Einsatz von Soli-
unmittelbar hintereinander erklingen – zugrunde. sten werden durch typische Textmarken erzeugt:
Er ist zu verstehen als die musikalische Evokation Homophonie und Deklamation reagieren auf die
von Himmelsvision und Erdenleid, erhabener Verherrlichung und Darstellung von Gottes Ruhm
Überwältigung und inniger Andacht, Ewigkeit und Erhabenheit, die Polyphonie dient der be-
und Zeitlichkeit. trachtenden Versenkung oder dem heilsgewissen
Viele Sätze oder Satzabschnitte haben einen Bekenntnis, Solisten färben die wiederum vor al-
immer wiederkehrenden, typischen Ausdruck und lem auf Christus, sein Leiden und Erbarmen be-
schließen so an die gängigen Messerklärungen an: zogenen Aussagen individueller. Besondere har-
So exponiert Bruckner in allen Kyrie-Sätzen einen monische Abläufe finden sich vor allem bei den
verhaltenen, flehenden, nur sporadisch ins Groß- Momenten der Menschwerdung, des Marienbe-
244 Melanie Wald-Fuhrmann

zugs und der zweimaligen Erwähnung der »mor- Dennoch kann das Kapitel über mögliche Ein-
tuorum«. flüsse auf Bruckners Messenverständnis noch
Viele immer wiederkehrende und daher sche- kaum als eröffnet gelten, da ein profunder Über-
matisch anmutende Formlösungen stehen zudem blick über die Messenkomposition zwischen
in einem unmittelbaren Bezug zum liturgischen Schubert und Bruckner noch immer fehlt. Auf-
Ablauf: Die subito piano- und Längungs-Effekte grund der reichhaltigen, regional geprägten und
bei »Adoramus te« und »Jesu Christe« im Gloria, nicht primär vom später von der Musikgeschichte
»Jesum Christum«, »ex Maria virgine« und »adora- definierten Kanon zehrende Pflege der Gattung
tur« im Credo verweisen musikalisch auf die hier um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist es aber zu-
jeweils geforderte Verneigung. In einer der ersten mindest zu bezweifeln, dass der Weg ausschließlich
Besprechungen zur d-Moll-Messe ist das eigens und direkt von Haydn, Beethoven oder Mozart zu
betont: »Die Worte gratias agimus tibi, Jesu Bruckner führte. Die offenkundigen Anregungen
Christe, suscipe deprecationem nostram, bei wel- durch Schuberts späte Messen (As-Dur, D 678,
chen der fungirende Priester nach Vorschrift der und Es-Dur, D 950) sind wegen der Unsicherheit
Liturgie das Haupt neigt oder entblößt, da ihnen über Bruckners Repertoirekenntnis noch nicht
eine hohe Bedeutung zukommt, sind gebührend systematisch in den Blick genommen worden, von
hervorgehoben« (Christliche Kunstblätter, den Gattungsbeiträgen unmittelbarer Zeitgenos-
4.1.1865, zit. nach Maier 2009, 245 f.). Die traditio- sen ganz zu schweigen.
nellen Fugen bei »In gloria dei patris. Amen« Schon bei den ersten Besprechungen in Linz
(Gloria) und »Et vitam venturi saeculi. Amen« fielen die Schlagwörter, mit denen man auch wei-
(Credo) – mit denen Bruckner freilich sehr flexibel terhin einen Zugang zu Bruckners als neuartig
umgeht, in jedem Fall gestaltet er jedoch eine und zukunftsweisend verstandenem Mess-Schaffen
durch Imitation gekennzeichnete Zäsur – beglei- suchte: Wagnerismus und poetisch-dramatische
ten das dazu zu machende Kreuzzeichen. Der ei- Auffassung. Besonders Gloria und Credo gaben
gene, langsamere Abschnitt des »Et incarnatus est« Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen, die das
erinnert nicht nur an das tropologische Urbild des Verhältnis von auch tonmalerisch gestützter Nach-
Messopfers, nämlich die Passion, sondern auch an erzählung und -gestaltung der disparaten Affekte
die hierbei einzunehmende knieende Haltung, (Gloria) und reichen Ereignisketten (Credo), von
wie ähnlich auch der innige Ton des Agnus die harmonischer, polyphoner und instrumentaler
gewünschte gebeugte, gar ebenfalls knieende Hal- Avanciertheit zum erhaben-ernsten Grundcharak-
tung, das bußfertige Schlagen an die eigene Brust ter der Messe betrafen. Die Haltung gegenüber
begleitet. Ein nicht unwesentlicher Teil der plötz- Bruckners Messen ist dabei überwiegend wohl-
lichen, kleiner- oder weiterräumigen Veränderun- wollend, gar enthusiastisch.
gen im Gewebe des Tonsatzes muss daher auch als
komponierte Handlungsanweisung für den Mess-
Diskussionen über die Kirchenmusik
besucher sowie als Hörbachmachung priesterlicher
Handlungen verstanden werden. Die Geschichte der Messkomposition im 19. Jahr-
Bruckners Messen sind zwar auf ihrer klangli- hundert wird überwiegend als eine durch Behar-
chen Ebene ein ausgesprochen individueller Gat- rung und Traditionsbezug geprägte erzählt, aus
tungsbeitrag, doch stellen sie dezidiert keine sub- deren Kontinuum nur wenige Werke solitär und
jektivistischen Auslegungen dar, sondern bleiben folgenlos herausragen, wozu neben Liszts beiden
in der Auslegung des Messtextes unbedingt zeit- Festmessen für die Habsburger in erster Linie auch
konform und von großer theologischer Präzision. Bruckners Messen gerechnet werden. In der zwei-
Bruckners Anknüpfung an die süddeutsch-öster- ten Jahrhunderthälfte finden vor allem die kir-
reichische Messentradition ist damit zwar offen- chenmusikalischen Reformbestrebungen, die
kundig, doch intensiviert er einige Momente auf schließlich in den Cäcilianismus mündeten, Er-
eine den Zusammenhang nachgerade gefährdende wähnung (Überblicke bei Seidel 1976 und Lodes
Art und Weise, während er andererseits in man- 1998). Wie lebhaft und vielstimmig das Thema
cher Hinsicht von dieser Tradition abweicht. aber in Wirklichkeit diskutiert wurde, wie dyna-
Geistliche Vokalmusik 245

misch die Gattungsentwicklung war, zeigen neben chenmusikverständnis derer, die – wie Bruckner
der Vielfalt der neu komponierten Werke beson- – in Österreich aktiv an der Aufführung älterer
ders die zahlreichen als Monographien oder Zeit- und der Schaffung neuer Werke beteiligt waren.
schriftenartikel entstandenen publizistischen Die klassischen Werke repräsentieren für Lorenz
Stellungnahmen. Die Kirchenmusik stand nicht sowohl formal als auch inhaltlich das Ideal katho-
weniger im Zentrum der Debatten um den musi- lischer Kirchenmusik. So seien in Mozarts Requiem
kalischen Fortschritt als Sinfonie und Oper. Dabei »die strengsten kirchlichen Typen mit der gewal-
wird zugleich deutlich, wie zentral die Frage nach tigsten dramatischen Wirkung, die schönste äu-
Ritual und Kunst im Rahmen der innerkatholi- ßere Rundung der Formen mit der tiefsten,
schen Erneuerungsbestrebungen war, die gleicher- wahrhaftigsten religiösen Empfindung« vereint,
maßen von innen und durch den Druck der (ka- während es Haydn in seinen Messen gelungen sei,
tholischen) Liberalen und der als ästhetische die »Herrlichkeit seines Schöpfers jubelnd zu
Meinungsführer agierenden Protestanten angeregt preisen, ihm gerührt zu danken, in Demuth und
wurden. Reue Vergebung von ihm zu erflehen« (Lorenz
Es ist der von allen (Katholiken) geteilte Kon- 1866, 27 und 30). Auch dem immer wieder kritisch
sens, dass die Kirchenmusik dem liturgischen Ri- diskutierten Phänomen der Tonmalerei und mu-
tual auf selber Anspruchshöhe begegnen und sikalischen Narration steht er positiv gegenüber,
dessen Segnungen und Erbauungspotenzial einlö- da der liturgische Text selber die »Mannigfaltigkeit
sen muss: Die entscheidenden Begriffe dafür sind der Objekte« vorgebe (ebd., 39). In der Summe
Größe, Würde, Hoheit, erhabener Ernst, Samm- plädiert Lorenz – ausgehend von der deeskalierend
lung, Andacht, Erhebung, aufrichtige religiöse gemeinten Idee, die Kirchenmusik sei nicht so
Empfindung und Weihe. Der Dissens setzt erst sehr ein »integrirender Theil der heiligen Hand-
bei der Frage nach den dafür geeignetsten musika- lungen selbst« als ein »schöner, aber für die Reli-
lischen Mitteln sowie bei der Stellung der Kir- gion nicht unbedingt wesentlicher Schmuck der-
chenmusik innerhalb des Rituals ein. Die Haltun- selben« (ebd., 72) – für eine von aufrichtiger
gen reichten hier von der absoluten Präferierung Frömmigkeit geleitete, dann jedoch ästhetisch
des Chorals und der alten Vokalpolyphonie über freie und mit der Geschichte fortschreitende
einen gemäßigten Konservatismus und die Ideali- Kunst (ebd., 75 f.) sowie die Bewahrung des plura-
sierung der zwischen Fux und Beethoven entstan- listischen Erbes (ebd., 80 f.).
denen Kirchenmusik bis hin zu einer emphati- Dieser undogmatische Zugang war in Öster-
schen Unterstützung neuer Auffassungen und reich als kirchenmusikalische Alltagspraxis offen-
Kunstmittel auch in der Kirche. Entsprechend bar weithin verbreitet. Ein besonders deutliches
wurde der »Beruf, eine neue Kirchenmusik zu Zeugnis hierfür legt Linz ab, wo während Bruck-
schaffen« (Hanslick 1870, 155), der eigenen Gegen- ners Amtszeit mit derselben Neugierde und Of-
wart ab- oder zugesprochen. fenheit a-cappella-Messen von Palestrina und
Ein Gegenstand besonderer Kontroversen war Lotti, das klassische Repertoire der Orchestermes-
die österreichische Kirchenmusik um 1800, na- sen und neue Werke mit ausgesprochen moderner
mentlich Haydns Messen, die wahlweise als völlige Tendenz aufgeführt werden konnten. Bruckners
Dekadenz des kirchenmusikalischen Gedankens erste Messe wurde in diesem Zusammenhang als
oder als sein würdiger Höhepunkt gehandelt wur- ein origineller und Neues in Gang setzender Wurf
den: Ein interessantes Dokument dafür ist die in bei gleichzeitiger Einlösung des religiösen Anspru-
Wiener Neustadt verfasste, 1866 erschienene Ab- ches akklamiert. Und es war offenbar gerade die
handlung Haydn, Mozart und Beethoven’s Kirchen- Verbindung traditioneller mit modernen Mitteln,
musik und ihre katholischen und protestantischen die die Attraktivität des Werkes begründeten. Je-
Gegner des promovierten Musikpublizisten Franz denfalls wird die Rolle der Polyphonie, die allein
Lorenz. Zwar sah sich Lorenz als einsamer Rufer »der höchsten Ideen würdig« sei, ebenso gelobt
gegen eine starke Phalanx von Verächtern des wie die »plastische Anschaulichkeit«, »Tiefe und
entsprechenden Repertoires, doch spiegeln seine Kraft der Charakteristik« oder das »Erhabene,
Ausführungen durchaus das pragmatische Kir- Edle, Interessante« (Zitate bei Maier 2009). Ein
246 Melanie Wald-Fuhrmann

Bewusstsein für die verschiedenen Charakteristi- meinen Totengedächtnissen. Entsprechend um-


ken der einzelnen Stile sowie das Ringen um den fangreich war der Florianer Bestand. Manfred
angemessenen Kirchenmusikstil verrät auch eine Schuler hat für die Jahre von 1845 bis 1849 die
Besprechung einer Ende November 1865 uraufge- Aufführung von mindestens 17 verschiedenen
führten Messe des Theaterkapellmeisters und er- Werken meist regionaler Komponisten nachwei-
klärten Wagnerianers Ignaz Dorn in den Christli- sen können, bis 1855 kamen zehn weitere hinzu
chen Kunstblättern. Dort heißt es, dass der neu- (Schuler 2001, 127 f.). Dabei existierte wie bei der
deutsche Stil, den diese Messe viel unmittelbarer normalen Messe eine sich auch im musikalischen
als die erste Brucknersche exponierte, der »unter Aufwand niederschlagende Hierarchie. Bruckners
allen am wenigsten kirchliche Stil sei und sein Requiem gehörte dabei eher in die untere Hälfte,
könne« (zitiert nach Maier 2009, 271). wie etwa der Umstand zeigt, dass es beim Tod von
Ein Phänomen wie die Brucknersche Kirchen- Propst Arneth nur am zweiten Tag der Exequien
musik muss für ein historisches Modell, das einer- aufgeführt wurde.
seits auf wenige kompositionsgeschichtlich her- Die Wahl der Tonart d-Moll ist völlig norm-
ausragende Solitäre, andererseits auf die cäciliani- konform, wenngleich Bruckner sie viel später im
schen Reformbestrebungen fixiert ist, als Zusammenhang mit seiner Neunten Sinfonie als
geschichtlich nicht anschlussfähig erscheinen. seine Lieblingstonart bezeichnet und ihr Aus-
Doch aus der Kenntnis der breiten österreichi- drucksspektrum als »feierlich, mysteriös« be-
schen Diskussion um die Kirchenmusik in der schreibt (Göll.-A. 4/3, 458 und 4/2, 691). Auch
zweiten Jahrhunderthälfte ergeben sich Anknüp- sonst ist der Bezug zu dem ihm im Grunde nur
fungspunkte und Kontexte, auf die Bruckner of- aus St. Florian bekannten Repertoire der Gattung
fenbar – freilich mit enormem Ehrgeiz und Inno- überdeutlich, doch ist die Anlehnung an Mozarts
vationswillen – reagierte und die ihm öffentliche Requiem, die immer wieder behauptet wurde, zu
Wahrnehmung garantierten. relativieren: Zwar schätzte Bruckner das Werk
außerordentlich, doch erreicht er selbst an keiner
Stelle Mozarts Niveau in Ausdruck und komposi-
Requiem d-Moll (WAB 39)
torischer Beherrschung auch nur annähernd,
Das in Reaktion auf den Tod seines Bekannten motivische Anklänge oder parallele formale Ge-
und Förderers Franz Sailer, Aktuar und Schreiber staltungen finden sich ebenfalls nicht. Von einer
in St. Florian, komponierte Requiem ist Bruckners subjektiven Auffassung oder einer individuellen
erster Versuch in der zyklischen Messkomposition Auseinandersetzung mit den Themen Tod und
seit seinem Weggang aus Kronstorf und überdies Erlösung kann kaum die Rede sein. Bruckners
sein umfangreichstes Werk bis zu dieser Zeit über- Requiem ist damit in erster Linie ein Zeugnis für
haupt. Es spiegelt das neue Lebensumfeld in die kompositorische Alltagspraxis der Zeit in der
Umfang, Besetzung und Anspruch gleichermaßen Fortführung der klassizistischen Tradition und
und zeigt sich in der Idee einer persönlichen Mo- sollte entsprechend verstanden werden. Dennoch
tivation durchaus als zeittypisch. Erstmals aufge- wahrte Bruckner diesem Werk gegenüber eine
führt wurde das Werk 1849 am ersten Jahrestag gewisse Anhänglichkeit, überarbeitete es in den
von Sailers Tod, dann wieder 1852 und 1854 zu 1890er Jahren leicht und nahm es in sein autori-
Ehren weiterer verstorbener Funktionsträger des siertes Œuvre auf.
Stiftes, an Allerseelen 1887 und 1896 am Tag nach Die Besetzung ist mit Streichern, drei Posaunen
Bruckners Beisetzung. Aufführungen außerhalb und B-Horn (dieses nur im Benedictus) relativ
von St. Florian sind für Kremsmünster (Dezember schlicht und erinnert beispielsweise an die von
1849) und Steyr (Dezember 1895) bezeugt. Michael Haydn bekannte Salzburger Praxis. Von
Ein Requiem war ein Stück liturgischer Musik, den liturgischen Teilen einer Totenmesse vertont
das relativ häufig Verwendung finden konnte: Bei Bruckner Introitus, Kyrie, Sequenz, Offertorium,
den drei Exequientagen für verstorbene Stiftsange- Sanctus, Benedictus, Agnus Dei und Communio.
hörige, anlässlich des Todes von Würdenträgern Graduale und Tractus lässt er, wie es meist ge-
von Kirche und Reich, an Allerseelen und allge- schieht, aus. Introitus und Kyrie sowie Agnus und
Geistliche Vokalmusik 247

der Beginn der Communio werden zusammenge- blockhaften Deklamation. Zu besonderen Mo-
zogen, Offertorium und Communio je in drei menten wird entweder in die Polyphonie oder ins
Einzelsätze aufgespalten. Die umfangreichen Texte Unisono gewechselt: Die erste polyphone Auffä-
sind relativ knapp vertont, was ebenso wie die nur cherung im Introitus bei »Exaudi orationem
gelegentliche Abtrennung von Einzelsätzen auf die meam« scheint ein Reflex auf die Ich-Perspektive
Pragmatik der Aufführung innerhalb einer nicht der Bitte, während der nach einer Zäsur anschlie-
allzu solennen Messe zu beziehen ist. Eben dieser ßende Ruf »ad te« durch seine unisone Ausführung
pragmatischen Haltung dürfte es auch geschuldet Gott als den alleinigen Adressaten aller menschli-
sein, dass sich eine dezidierte Anlehnung an die chen Bitten vorstellt. Der Unisono-Einsatz des
beiden künstlerisch profiliertesten Formen der Kyrie hingegen ist ein kompositorisches Mittel,
Messkomposition – Nummernmesse und sinfoni- das sich bei fast allen für St. Florian bezeugten
sche Messe – nicht feststellen lässt. Requiemwerken findet. Das beinahe komplett
Erstmals begegnet hier Bruckners später gera- unisono gesetzte »Cum sanctis tuis« (sonst durch-
dezu zum Personalstilistikum avancierende Tech- aus eine Stelle für eine zweite Fuge) dient offen-
nik, die Identität eines Satzes mittels eines durch- kundig einer emphatischen Schlussgestaltung im
laufenden ostinaten Begleitmotivs herzustellen; Sinne der vom Text evozierten Einheit der Seligen
eine Technik, für die es durchaus klassische Vor- vor Gott in der Ewigkeit.
bilder gibt: Im Introitus/Kyrie ist dies etwa ein Eine große formale Herausforderung stellt die
synkopisches Streichermotiv, in der Sequenz auf- strophenreiche Sequenz Dies irae dar. Bruckner
und abwärts gerichtete Sechzehntelläufe, die nur entscheidet sich nicht für eine Unterteilung in
während der solistisch vorgetragenen Strophen Einzelnummern, sondern komponiert einen fort-
4–7 und 11–14 und gegen Ende bei den Strophen laufenden, wenngleich im Inneren ausdifferenzier-
17 und 20 zugunsten anderer Begleitmotive unter- ten Satz. Einheit stiftet, abgesehen von dem
brochen werden. Auch die »Quam-olim-Abrahae«- Streichermotiv, auch der musikalische Aufgriff der
Fuge wird durch nicht am thematisch-kontra- vom Text und der Choralvorlage exponierten
punktischen Geschehen beteiligte Achtelketten in Strophenform in den Chorabschnitten: Parallel
den Streichern grundiert, während zum Agnus die zum Choral teilen sich die Strophen 1, 2, 8 und 20
beiden Violinen mit einem aus einer Sextole, einer dasselbe musikalische Modell. Zu einer weiteren
Triole und drei repetierten Achteln gebildeten Melodie sind die 3. und 4. Strophe gesetzt. Im
Motiv dialogisieren. Der zentrale Effekt dieser Weiteren überwiegen dann allusive Strophenge-
Technik ist einerseits die musikalische Vereinheit- staltungen, wobei die solistischen Passagen freier
lichung eines textlich und gesangsmotivisch gesetzt und teils durch Melismen geläufiger ge-
durchaus disparaten Abschnitts, aber auch eine macht sind. Auffällig ist hier und an anderen
gewisse Dynamisierung des Verlaufs durch den Stellen Bruckners Schwierigkeit, längere melodi-
Perpetuum mobile-Charakter, der diesen Begleit- sche Bögen zu entwerfen. Stattdessen arbeitet er
figuren zumeist anhaftet. mit der Addition, Sequenzierung, Rekombination
Die Bandbreite von Satzarten, die Bruckner in und Fortspinnung von relativ unprägnanten Ein-
diesem Werk vorführt, ist durchaus vielfältig, ja und Zweitaktgruppen. Und solange Bruckner
geradezu buntscheckig: Neben vollen Chor-Or- noch mit einem selbstständigen mehrstimmigen
chester-Passagen mit selbstständiger Instrumen- Satz Probleme hat, überträgt er das Verfahren auch
tenführung stehen reduziertere Besetzungen, ak- in die Vertikale und generiert Polyphonie und
kordische oder melodische Begleitungen, lied- und Abwechslung durch Stimmvertauschungen. In der
arienhafte Melodiebildungen, Solo-Abschnitte in Sequenz lässt sich dieses additiv-kombinatorische
verschiedenen Stimmkombinationen und – Verfahren freilich auch als Verweis auf die im
durchaus altmodisch – mit obligatem Solo-Instru- Grunde ähnlich verfahrende Choralmelodie lesen,
ment und selbst a-cappella-Sätze (Hostias, zweites deren schlichtem Charakter auch die stereotype
Osanna, Requiem-Abschnitt in der Communio). Bauweise aller Brucknerscher Strophen nach dem
Die Gestaltung der Chorpassagen ist normaler- Prinzip aa-bb-c entspricht. Zu dieser choralnahen
weise homophon, mit einer gewissen Tendenz zur und dadurch überindividuellen Haltung passt
248 Melanie Wald-Fuhrmann

auch die Beobachtung, dass bei der Verteilung des rium dienen. Diese zeigt – bei allen feststellbaren
Textes auf Chor und Soli offenbar nicht die Spre- Inspirationen etwa durch Haydn, Mendelssohn
cherperspektive – und damit eine zur Identifika- oder Schubert – durchaus einen Überbietungswil-
tion anregende Vertonungsidee – ausschlaggebend len. Doch insgesamt lässt sich aus den Beobach-
war: Aussagen in der ersten oder dritten Person tungen zu Anknüpfungen an die Tradition und
werden unterschiedslos sowohl dem Chor als den originellen Einfällen kein kohärentes Bild gewin-
Solisten anvertraut. nen. Die Frage, ob Bruckner mit seinem Requiem
Der Binnengliederung und Textverdeutlichung überhaupt schon einen über die bloße Normerfül-
dienen abrupte Wechsel der Satztechnik ebenso lung hinausreichenden Kunstanspruch verband,
wie markante Umschläge in der Dynamik: So ist kaum zu beantworten.
steigert sich etwa die imitatorisch gesetzte Strophe
»Oro supplex« vom Piano ins Forte, ehe der Chor
Missa solemnis b-Moll (WAB 29)
bei »Lacrimosa dies illa« fortissimo zur akkordi-
schen Deklamation über einen verminderten Die frühen, vor Bruckners Wechsel nach St. Flo-
Septakkord auf h anhebt, wozu gleichzeitig die rian entstandenen Messen sind durch innere und
Sechzehntelläufe der Violinen und Posaunenak- äußere Beschränkungen derart disparat, dass sie
korde einsetzen. Überhaupt dienen die Posaunen kaum als Dokumente eines konkreten Kunstwil-
in erster Linie zur Markierung der direkt mit dem lens gelten können. Vielmehr sind sie in erster
Tod und seinem Schrecken assoziierten Textab- Linie lebensweltliche Zeugnisse der in den öster-
schnitte, wie sie überhaupt die etablierten Instru- reichischen Dörfern und Kleinstädten üblichen
mente für Totenriten sind (vgl. von Bruckner etwa und durchaus reich gepflegten Messformen einfa-
auch die zwei Aequale WAB 114 und 149 für Posau- chen Typs wie der Land-, Pastoral- oder Orgel-
nen, das Libera me WAB 22 und den Chor Vor messe in ganz verschiedenen Besetzungen und
Arneths Grab WAB 53). Andere Momente punktu- textlichen Verkürzungen.
eller Textausdeutung stellen etwa die Dezimen- Demgegegnüber entfaltet die Missa solemnis
sprünge zu »Rex gloriae«, kurz danach der chro- von 1854 erstmals einen nachdrücklichen An-
matische Abstieg von d bis a zu »defunctorum de spruch und ist zurecht als »summa musices« des
poenis inferni« oder die f(f ) markierten Hochtöne Dreißigjährigen vor dem Unterricht bei Sechter
bei »lux« oder »luceat« dar. apostrophiert worden (Nowak, Vorwort zu NGA
Die einer zyklischen formalen Gestaltung ei- XV). Das Werk wurde am 14. September 1854 zur
gentlich hilfreich entgegenkommenden Angebote Amtseinführung des neuen Abtes von St. Florian,
einzelner Abschnitte (Introitus, Kyrie, Osanna) Friedrich Mayr, uraufgeführt, ihm auch gewidmet
greift Bruckner bezeichnenderweise nicht auf. und in St. Florian wenigstens noch am Florianstag
Auch aus liturgischen Vorgaben wie etwa rah- 1886 und 1898 gespielt. Es ist Bruckners erste voll-
mende chorische Antiphon und eingelagerter so- ständige Vertonung des Messordinariums und
listischer Psalmvers bei Introitus, Offertorium und wartet mit der – nach Glöggls Kirchenmusik-
Communio gewinnt er keine Formideen, abgese- Ordnung – den höchsten Festcharakter markieren-
hen vielleicht davon, dass die Psalmverse in den den Besetzung Chor, vier Solisten, zwei Oboen,
beiden letztgenannten Fällen durchaus ungewöhn- zwei Fagotte, drei Posaunen, zwei Trompeten und
lich als selbstständiger a-cappella-Satz in Erschei- Pauken, Streicher und Orgel auf. Mit einer Auf-
nung treten. führungsdauer von einer guten halben Stunde fügt
Während Bruckner offenkundig noch kaum sich das Werk angemessen in einen entsprechen-
ein Bewusstsein für die formale Ebene beim Kom- den Gottesdienst ein. Insgesamt ist es charakteri-
ponieren entwickelt hat, richtet er seinen künstle- siert durch eine weitgehend am klassischen Stan-
rischen Ehrgeiz zur Gänze auf die Ausstellung dard orientierte Tonsprache, merklichen kompo-
seiner Tonsatzkenntnisse, wofür ihm die homo- sitorischen Ehrgeiz sowie immer wieder zu
phonen Chorpassagen, Orchesterkontrapunkte, bemerkende Beschränkungen in Satztechnik und
vor allem aber die groß angelegte Doppelfuge auf selbstständiger Stimmführung. Dennoch stellt die
»Quam olim Abrahae« zum Beschluss des Offerto- Messe für Bruckners damaligen Ausbildungsstand
Geistliche Vokalmusik 249

eine beeindruckende Leistung dar und zeugt so brechungen die Gott lobenden und verherrlichen-
für die ausgesprochen intensiven und fruchtbaren den Passagen begleiten. Qui tollis, Et incarnatus
Anregungen, die die Florianer Musikpflege zu sowie Sanctus entfalten sich über einem langsam
bieten hatte. pulsierenden Streichergrund, den Bruckner hier
Zu den traditionsverbundenen Momenten ge- und auch später noch als Symbol des Geheimnis-
hören die formale Gliederung, die instrumentale vollen und der innigen Versenkung einsetzt (siehe
und vokale Melodieerfindung (geradezu arienhaft auch das Sanctus im Requiem). Allenthalben ist der
ist etwa das melismenreiche Sopran-Solo bei »Et Wille zu spüren, im Textausdruck nicht hinter die
in spiritum sanctum«), die weitgehend diatonische Standards zurückzufallen: Der Glaubenskern der
Harmonik und die musikalische Charakterisie- Dreifaltigkeit beispielsweise ist durch die poly-
rung bestimmter Textpassagen. Die Hervorhebung phone Auffächerung des bislang homophonen
der Wörter »mortuos« und »mortuorum« im Et Satzes bei »ex patre natum« und die Rückkehr zu
resurrexit beispielsweise mutet geradezu muster- homophoner Dreiklangsmelodik bei »Deum de
schülerhaft übertrieben an. Deo« angedeutet. Und die auffällige chromatische
Ein erstes Indiz für kompositorischen Ehrgeiz Gesangslinie zu Beginn des Resurrexit wird bei »et
bietet gleich die ungewöhnliche Anfangstonart exspecto resurrectionem mortuorum« sinnvoll
b-Moll, die sich dann im Verlaufe der Messe zu wieder aufgenommen. Harmonische Effekte zur
B-Dur aufhellt. Von künstlerischem Anspruch Darstellung von Heiligkeit und göttlicher Präsenz
zeugen auch die beiden Fugen: Die Gloria-Fuge erzielt Bruckner in erster Linie durch plötzliche
exponiert vier Durchführungen des Themas und Umschläge nach Moll (so bei »Dominus Deus« im
einen frei polyphonen, vom Solisten-Quartett Sanctus, wo statt bislang F-Dur unvermittelt f-
angestimmten Amen-Schluss. Die Instrumente Moll erklingt, oder bei »qui venit« im Benedictus,
laufen dabei, abgesehen von den Trompeten, weit- wo das Pendel von Es-Dur und As-Dur nach as-
gehend colla parte mit einer der Vokalstimmen. Moll verfärbt wird). Der a-cappella-Beginn des
Die letzte Durchführung erhält durch die Koppe- Agnus Dei ist eine weitere Reminiszenz an Bruck-
lung des Hauptthemas mit seiner Umkehrung ners großes Interesse für den reinen Chorsatz,
und das Einmünden in den homophonen Vortrag zeichnet sich aber gegenüber seinen früheren Ver-
von »Dei patris« besonderes Gewicht. Das Credo suchen in diesem Stil durch eine flexiblere, mit
wird dann von einer sicherlich symbolisch zu Durchgängen arbeitende Stimmführung aus und
verstehenden Tripel-Fuge beschlossen. In der drit- fungiert zugleich als klangliches Zeichen für die-
ten Durchführung wird das erste der drei Themen sen besonders zur Einkehr ladenden Moment der
mit seiner Umkehrung enggeführt, das zweite Messe.
Thema verkürzt und sequenziert und schließlich Bruckners technische Grenzen zeigen sich ei-
in den Amen-Teil übernommen. Der wiederum nerseits immer dann, wenn er aus einem rein ho-
frei polyphone Schluss beginnt mit einer Diminu- mophonen oder als Figur-Grund-Kontrast gestal-
tion und Engführung des ersten Themas, ehe teten Stimmgefüge zur polyphonen Differenzie-
Motivteile aus den anderen Themen in freier rung ansetzt: Statt selbstständiger Linienführung
Kombination und Weiterführung (und wiederum gelingt ihm dann noch immer kaum mehr als die
durch einen solistischen Passus getrennt) zu lang stimmvertauschte Repetition eines eintaktigen
ausschwingenden Amen-Akkorden führen. Modells. Das gilt gerade für die ambitionierten
Die zwei textreichen Teile sind in drei (Gloria) Fugen, aber etwa auch zu Beginn des Credo, wo
bzw. vier (Credo) Einzelsätze aufgespalten. Wie Bruckner sich um ein besonders charakteristisches
schon im Requiem greift Bruckner auch hier zu Ostinato-Motiv bemüht, das aus einem eintaktigen
dem Mittel, die einzelnen Sätze durch ein ostina- Motiv in der ersten Violine besteht, dem ein obli-
tes Begleitmotiv musikalisch sowohl zu charakte- gater Kontrapunkt in der zweiten Violine beigege-
risieren als auch zusammenzubinden. Aufmerk- ben ist. Wie sehr ihm die selbstständige Stimmfüh-
samkeit erregt das durchlaufende und ebenfalls rung jenseits eines akkordisch-harmonischen Zu-
analog zum Requiem synkopische Streichermotiv sammenhangs noch Probleme bereitet, zeigt sich
im Kyrie, während im Gloria punktierte Akkord- auch in den oft parallel laufenden Stimmen, was
250 Melanie Wald-Fuhrmann

hier ganz offenkundig noch nicht im Sinne der sensibilisiert wurde. Man darf überdies annehmen,
späteren Klangfarbenmixtur zu verstehen ist. dass die Beschäftigung mit dem ihm von Kitzler
Auch im Bereich der Formgestaltung kann vorgelegten Repertoire und dann vielleicht auch
Bruckner noch nicht an Haydn, Beethoven oder die beginnende Pflege von a-cappella-Werken in
Schubert anschließen. Besonders auffällig wird Linz bei Bruckner ein Bewusstsein für die Ge-
dieser Umstand angesichts des völligen Mangels schichtlichkeit von Musik sowie die Bedeutung
an zyklischer Vereinheitlichung (einige Skizzen von Personalstil und künstlerischer Originalität
zeugen indes von der anfänglichen Idee, Kyrie und hat entstehen lassen. Jedenfalls sind es genau diese
Dona nobis pacem in Beziehung zueinander zu Aspekte, die den Qualitätsunterschied zwischen
setzen; Wessely 1987, 17). Doch gilt das auch für der d-Moll-Messe und ihren Vorgängerwerken
die Einzelsätze, deren Formbildung eher assoziativ ausmachen, und in Bruckners Selbstwahrneh-
abläuft, als dass sie distinkt zu fassen wäre. Die mung begann nicht zufällig erst hier seine eigent-
sich beim Kyrie anbietende A-B-A-Form beispiels- liche »Kompositionszeit« (Göll.-A. 3/1, 203). Mit
weise wird durch einen zunächst kontrastierenden der an Bruckners Entwicklung immer wieder
Christe-Teil und die verkürzte Reprise des Kyrie frappierenden Plötzlichkeit ist hier in diesem
lediglich angedeutet, dabei zugleich durch die In- »Lebensereignis« (Kurth 1925, 1197) der Weg zur
einanderblendung von Kyrie- und Christe-Text, sinfonischen Messe im Gewande eines ausgespro-
durch Fortspinnungseffekte und Motivaustausch chen eigenwilligen musikalischen Tonfalls gefun-
zwischen Kyrie- und Christe-Rufen überlagert. den. Formgebung, Harmonik, Gesangs- und In-
Dass das als unbefriedigend wahrgenommen strumentalstil werden souverän beherrscht und
wurde, zeigen entsprechende Eingriffe bei der der Gestaltungsabsicht dienstbar gemacht. Das
Textunterlegung im Klavierauszug von 1934 von etwas schülerhafte Übermaß stilistischer Ansätze
Ferdinand Habel. Die für Gloria-Sätze tyische ist zugunsten einer charakteristischen Erscheinung
Wiederaufnahme eines Anfangsmotivs erscheint reduziert. Klassische Harmonik und Melodiebil-
bei Bruckner relativ zufällig: So wiederholt sich dung, Arienhaftigkeit und Allerweltsverzierungen
einzig die Melodie von »factorem coeli et terrae, werden zu den Akten gelegt. Und vor allem findet
visibilium omnium et invisibilium« am Ende des Bruckner damit zu seiner ureigensten Auffassung
ersten Credo-Satzes zu »et propter nostram salu- von festlicher geistlicher Musik, die er bei allen
tem«, wohl höchstens annäherungsweise im Sinne Unterschieden im Detail und in der Grundstim-
einer Rundung. Weitere motivische Bezüge zwi- mung nicht nur in den beiden folgenden Messen,
schen den Credo-Abschnitten gibt es dann nicht, sondern auch in den ebenfalls chor-sinfonischen
sie sind gleichsam wie musikalische Prosa am Text Werken Te Deum und 150. Psalm beibehalten wird.
entlang durchkomponiert. Das einheitsstiftende Zwar lassen sich weiterhin Anknüpfungspunkte
Momentum ist zur Gänze den instrumentalen aus der klassischen ebenso wie nun auch aus der
Begleitfiguren aufgetragen. älteren Tradition benennen, doch werden sie nicht
länger patchworkhaft zusammenaddiert, sondern
durchlaufen einen assimilierenden Transforma-
1. Messe d-Moll (WAB 26): Beginn
tions- und Aneignungsprozess.
des eigentlichen Komponierens
Die Messe wurde 1864 komponiert und am 20.
Nach der b-Moll-Messe vergingen genau zehn November zum Cäcilienfest im Linzer Dom unter
Jahre, ehe Bruckner sich dieser Gattung erneut Bruckners Leitung aufgeführt. Einen Monat spä-
zuwandte. Dazwischen lag die intensiv genutzte ter folgte die Wiederholung in einem concert spiri-
Lehrzeit bei Simon Sechter und Otto Kitzler, in tuel im Linzer Redoutensaal, ebenfalls mit dem
der er nicht nur über jeden Zweifel erhabene Dirigenten am Pult. 1867 erklang sie als erstes
Kenntnisse in Harmonielehre und Kontrapunkt Werk Bruckners überhaupt in Wien in der Hof-
vermittelt bekam, sondern wohl auch erstmals für burgkapelle und diente in einer von Bruckners
die Modellierung größerer, im Grunde sinfoni- Wiener Förderern initiierten Kampagne, ihn nach
scher Formzusammenhänge mit den Mitteln von Wien zu holen, als zentrales Argument. Bruckner
Struktur und Instrumentation gleichermaßen führte das Werk dann ab 1879 wiederholt in der
Geistliche Vokalmusik 251

Hofburgkapelle auf, und der Briefwechsel gibt Da ist zunächst das im Vorspiel anhebende,
Hinweise auf geplante und tatsächliche Auffüh- sukzessive imitatorisch in den drei oberen Strei-
rungen in Linz, Salzburg, Steyr, Preßburg, Ham- chern vorgestellte Kyrie-Motiv aus Tritonussprung
burg (durch Mahler 1893) und Berlin. Dabei aufwärts und verzögerter Auflösung durch einen
häufen sich ab Ende der 1880er Jahre Aufführun- kleinen Sekundschritt abwärts, wobei je nach
gen im Konzertsaal (besonders in den protestanti- Anfangsstufe mindestens einer der Töne eine Dis-
schen Orten Hamburg und Berlin, aber auch in sonanz zum darunter liegenden Orgelpunkt auf d
Wien und Preßburg). Die Verbreitung über den bildet. Noch während des Vorspiels spaltet sich
österreichischen Raum hinaus wurde dabei durch daraus die fallende kleine Sekunde als eigenes
die 1892 erfolgte Drucklegung erleichtert. Soweit motivisch behandeltes Element ab und gemahnt
es der bislang nur sehr lückenhafte Überblick über vor allem wegen des länger ausgehaltenen ersten
die Aufführungsgeschichte von Bruckners geistli- Tons deutlich an den Topos des Seufzermotivs,
cher Musik zulässt, dürfte die erste Messe neben wie ja auch das Tritonus-Motiv aus dem Fundus
dem Te Deum das erfolgreichste größere Werk der musikalischen Klagefiguren schöpft. Das Seuf-
Bruckners gewesen sein, wohl auch, weil sich zermotiv erscheint auch in seiner aufwärts gerich-
technische Anforderung und klangsinnliche At- teten Umkehrung, und schließlich stimmt auch
traktion hier eher die Waage halten, als das bei der der Bass in das Um- und Umwenden des Seufzers
sinnlich weniger extrovertierten zweiten oder der ein. So entsteht mit den sparsamsten, doch präzi-
technisch ausgesprochen anspruchsvollen dritten sesten Mitteln ein motivisch ausgesprochen dich-
Messe der Fall ist. ter und zugleich ungemein ausdrucksstarker Satz,
Aufgrund der verschiedenen erhaltenen Hin- der die für den Messbeginn und die im Kyrie
weise ist anzunehmen, dass Bruckner ungefähr im ausgesprochene Bitte um Erbarmen so notwendige
Mai 1864 mit der Komposition der Messe begann. Einkehr und die Empfindung wahrer Buße und
Er nahm sich die Sätze nicht in der liturgischen Zerknirschung evoziert.
Reihenfolge vor, sondern schrieb zunächst das Wenn dann Takt 21 der Chor (im unisono von
Gloria, dem Kyrie und Credo folgten. Im Septem- Sopran und Alt sowie, einen Takt später einset-
ber wurden dann nacheinander auch das Sanctus, zend, Tenor und Bass) im Piano mit dem Tritonus-
das Agnus und das Benedictus fertig. Jeder liturgi- Motiv anhebt, ist es, als würde hier nachträglich
sche Teil wird in einem zusammenhängenden das Vorspiel zu Sprache. Das Seufzermotiv wird
musikalischen Satz aufgefangen, eine Unterteilung über »eleison« gelängt zu einem chromatischen
in Nummern gibt es nicht mehr. Die Instrumen- Abstieg von g zu e. Die drei oberen Streicher be-
tierung entspricht erstmals der vollen sinfonischen gleiten den Chor mit einem zweistimmigen und
Orchesterbesetzung der späten Wiener Klassik, (wiederum) synkopischen Kontrapunkt. Der
also zusätzlich zum Streichersatz doppelte Holz- zweite Kyrie-Ruf ist gegenüber dem verhaltenen
bläser inklusive Flöten, dazu im Blech zwei Hörner ersten deutlich emphatischer: Im Forte und uni-
und Trompeten sowie drei Posaunen. Das bemer- sono ruft der Chor nun dreimal sein »Kyrie«, zu-
kenswerteste Moment dieser Messe ist wohl die nächst wiederum in Verwendung des Sekundmo-
geglückte Verbindung von detailliertem, symboli- tivs, ehe mit dem dritten Ruf ein crescendierender
schen wie affektiven Textbezug, motivischer Arbeit Aufstieg in halben Noten von f bis es beginnt,
und sinfonischer Durchgestaltung. wozu die Streicher auf- und abrauschende Drei-
klangsbrechungen in Triolen spielen, ehe alles in
ein strahlendes Es-Dur mündet (T. 32), das durch
Kyrie
den Basston g jedoch als neapolitanischer Sextak-
So werden im Kyrie einige gradezu archaische kord im Zusammenhang von d-Moll zu verstehen
motivische Elemente exponiert, die auch im wei- ist und sich so in die Schmerzenstopik fügt.
teren Verlauf der Messe eine Rolle spielen und Dem Septanstieg antwortet ein entsprechender
schließlich im »Dona nobis pacem« zu einer zyk- Abstieg in den Oboen durch die Oktave von Es-
lischen Erfüllung finden (siehe hierzu die nachste- Dur, und damit ist neben Tritonus/Quarte und
hende Zusammenstellung der Motive). kleiner Sekunde das dritte motivische Element der
252 Melanie Wald-Fuhrmann

Motivtabelle 1: 1. Messe d-Moll

1. Kyrie
Vorspiel
T. 2f.: Tritonus-Motiv T. 11ff.: Seufzermotiv
(= 1. Kyrie - Motiv)

Vl. 2

T. 25f.: 2. Kyrie-Motiv T. 29ff.: Septaufstieg


cresc.
S.

Ky ri e Ky ri e e lei i son.
T. 43f.: Umkehrung des Tritonus-Motivs
Solo
S.

Chri ste
T. 100f.: Oktavsprung und Seufzermotiv gekoppelt

S.

Ky ri e
T. 114ff.: Übernahme des Oktavabstiegs der Holzbläser in den Gesang

S.

Ky ri e e lei i son
T. 124f.

Vl. 2
poco a poco dim.

3. Credo
T. 1f. T. 13f. T. 215f.

S.

Pa trem o mni po ten tem et in u num Do mi num Et in Spi ri tum Sanc tum

T. 280ff. poco a poco cresc.


A.

Et vi tam ven tu ri sae cu li


T. 307ff.: Vgl. 1. Kyrie-Motiv

S.
a men
Geistliche Vokalmusik 253

5. Benedictus
T. 1f.: Hauptmotiv (Ableitung aus dem Kyrie)

Vl. 1

T. 10: rhythmische Halbierung

Ob. 1, 2

T. 22ff.: Übernahme in den Gesangspart


solo
S.

be ne di ctus qui ve nit

T. 38f.: veränderte Umkehrung T. 41f. T. 48f.

S.

be ne di ctus be ne di ctus be ne di ctus


T. 65ff.: Oktavabstieg

S.

qui ve nit in no mi ne Do mi ni
T. 83f.: Oktavaufstieg

S.

be ne di ctus qui ve nit

6. Agnus Dei
T. 2ff. T. 12ff.

S.

A gnus De i mi se re re no bis

T. 80ff.: vgl. »Et vitam« im Credo T. 82ff.: vgl. Kyrie-Nachspiel T. 124f.


S. 2
A.

do na no bis pa cem do na no bis pa cem


T. 93ff.
dim.
S.

pa cem
T. 96ff.: Umkehrung des zweiten Kyrie-Motivs; Oktavanstieg
S. cresc.
A.

do na pa cem do na no bis pa cem


T. 110ff.: Oktavabstieg

S.

do na no bis pa cem
T. 130f.: vgl. Kyrie-Nachspiel

Vl. 2
254 Melanie Wald-Fuhrmann

Messe eingeführt, nämlich die Oktave, und genau verklingendes »eleison« folgt ab Takt 100 der Hö-
wie die Quarte tritt es im weiteren Verlauf sowohl hepunkt des Satzes: Im Fortissimo setzt in Es-Dur
als Sprung wie als ausgefüllter Gang auf. Über ei- (wiederum als Sextakkord mit g im Bass) eine neue
nem verminderten Septakkord auf e setzt ein Serie von Kyrie-Rufen an, zunächst als Oktav-
zweiter – um eine Sekunde von d nach e heraufge- sprung abwärts, verlängert durch die kleine Se-
rückter unisoner Kyrie-Komplex ein, der die Se- kunde, dann beim dritten, nun pianissimo begin-
kundfigur umkehrt, zum dritten Ruf wiederholt nenden Kyrie der Septaufstieg von e aus in der
sich der Septanstieg (diesmal von g bis f unter Dur-Skala mit Abschluss in G-Dur, wiederholt in
Einschluss der übermäßigen Quarte cis), das Ein- As- mit Kadenz in Es-Dur (erstmals mit dem
münden in den Neapolitaner und die Beantwor- Grundton im Bass). Diesen Höhepunkt führt die
tung durch die Oboen. Verlagerung des als Oboenlinie eingeführten Ok-
Das Takt 43 anhebende »Christe« scheint eine tavabstiegs in die Frauenstimmen, erweitert zu
andere Welt: Der Basston ist um eine Duodezime einer kleinen Dezime von es bis c und, unterlegt
hinaufgehoben, statt des weitgehend unisono ge- von Oktavsprüngen abwärts in den Männerstim-
führten Chors singen die Solisten imitierend und men, sowie eine Antwort, die motivisch auf
sukzessiv einsetzend und werden von Akkorden Quarte, Quinte und Sekunde zurückgreift, zu ei-
der hohen Holzbläser umhüllt, während die Strei- nem rundenden Abschluss.
cher erstmals schweigen. Doch das Christe-Motiv Dieser motivisch so ausgesprochen dicht gear-
ist erkennbar eine Ableitung aus dem Tritonus- beitete Satz stellt einerseits eine völlig überzeu-
Motiv des Kyrie: Statt der verminderten Quinte gende zyklisch gerundete A-B-A’-Form dar, bei
erscheint hier jedoch eine reine, zugleich ist das der der B-Teil gleichsam als heller gestimmter ly-
Motiv zuerst umgekehrt, beim Alteinsatz fehlt risch-geheimnisvoller Mittelteil fungiert und die
dann die angehängte Sekunde, während der Tenor Wiederkehr von A als Steigerung angelegt ist.
die Quinte zu einer kleinen Terz verkürzt. Darauf- Zugleich scheint Bruckner hier aber auch die
hin setzt der Chor wieder ein, mit ihm die Strei- theologische Bedeutung dieser drei Abschnitte im
cher (wobei die Bratsche erneut das Tritonus- Sinn zu haben, deutet man doch den ersten Teil
Motiv in seiner Originalgestalt bringt), während üblicherweise als an Gott Vater gerichtet, den
die Bläser erneut pausieren. Das »eleison« wird zweiten an Gott den Sohn und den dritten an
wieder als chromatischer Abwärtsgang gesungen Gott den Heiligen Geist. Sowohl die Demutshal-
und auch die weiteren Christe-Rufe exponieren tung des ersten Kyrie als auch die lieblichere Hal-
die fallende, dann auch die aufsteigende Sekunde. tung des Christe folgen dieser Unterscheidung der
Die Dynamik wird immer verhaltener, die Ein- Personen deutlich. Vielleicht lässt sich die Expo-
satzdichte verringert sich, der harmonische Verlauf nierung der auf- und abwärts gerichteten Oktave
kommt auf einem Pendel zwischen einem durch im zweiten Kyrie daher verstehen als die zwischen
Vorhalte zusätzlich dissonant geschärften vermin- Himmel und Erde vermittelnde Kraft des Heiligen
derten Dreiklang auf a und Es-Dur zum Stehen, Geistes. In jedem Fall gelingt Bruckner hier zu-
wobei der Bass erneut die kleine Sekunde expo- gleich mit der Evokation einer demütig-bittenden
niert. Eine hoch registrierte instrumentale Über- Haltung durch die enge Verflechtung von motivi-
leitung führt schließlich in die Reprise des Kyrie scher Kohärenz und kontrastierender Ableitung
ab Takt 71. Der auch motivischen Reprise ab Takt eine musikalische Darstellung des theologischen
82 sind jedoch zwei Kyrie-Rufe vorgeschaltet, die Verständniskerns der Dreifaltigkeit, ein Ergebnis,
mit einem unisonen Oktavsprung aufwärts begin- das quasi auf einen Punkt gebannt Bruckners
nen, der mit zwei fallenden Terzen sowie einem fromme Haltung, seine neu gewonnenen stupen-
leittönigen kleinen Sekundschritt aufwärts beant- den Einsichten in die Möglichkeiten modernen
wortet wird. Die Wiederholung der Kyrie-Motivik Komponierens sowie ein theologisches Verständnis
erfolgt in intensivierender und ausgedehnterer beweist, die alles andere als durchschnittlich sind.
Weise, wobei dynamisch weitgehend zwischen
kräftigen Kyrie-Rufen und der verhaltenen Bitte
unterschieden wird. Auf ein solches pianissimo
Geistliche Vokalmusik 255

tere Umkehr des Anfangsmotivs. Bei Takt 63


Sanctus
kommt es zu einem homophon deklamierten
Ein ähnlicher Grad an motivischer Vereinheitli- Fortissimo-Höhepunkt auf D-Dur mit anschlie-
chung und zugleich ausgesprochen charakteristi- ßendem abwärts gerichteten Oktavgang, akzentu-
scher Gestaltung kennzeichnet auch die anderen iert lediglich durch Akkorde der Blechbläser.
textarmen Sätze: Das Sanctus (D-Dur) ist in einen Diesem Moment folgt ab Takt 70 eine Art Reprise,
langsamen, leise beginnenden Maestoso-Teil (die freilich mit neuer Begleitmotivik in den Strei-
Engelsrufe) und ein weitestgehend fortissimo ge- chern, bei der das Seufzermotiv eine entscheidende
setztes Allegro moderato (»Pleni sunt« und »Ho- Rolle spielt. Durch die dichte motivische Arbeit
sanna«) gegliedert, doch prägen beide Teile auf- des Streicher- und Holzbläserchors sowie der Hör-
und absteigende Oktavskalen, Quint- und Okav- ner, dann auch der Gesangsstimmen erhält der
sprünge sowie diatonische und chromatische Passus einen bewegteren, emotionaleren Charak-
Sekundketten. Auch die Orchesterstimmen neh- ter. Nach einem ruhigen, die Kontemplation
men an der motivischen Vereinheitlichung teil. rundenden Klangbild von Streichern und Hörnern
Das klanglich aufgehellte und zunächst von den folgt – erstmals in Bruckners Messen – die identi-
Solisten vorgetragene Benedictus (G-Dur) entfaltet sche Wiederholung des »Hosanna«.
in der langen instrumentalen Einleitung eine
Neuinterpretation der Grundmotive: Oktavskalen
Agnus Dei
(siehe etwa die Flöten ab Takt 8) und Sekundver-
bindungen liegen in den Nebenstimmen, in der An den hohen Schlussklang des »Hosanna« an-
ersten Violine kommt ein punktiertes Motiv aus knüpfend beginnt das Agnus Dei mit einem uniso-
auf- und abspringender Quarte und angehängtem nen Abwärtsschreiten der Streicher durch mehr als
großen Sekundschritt abwärts hinzu, wird ab Takt zwei Oktaven: eine Erweiterung des Oktavmotivs
10 in seinen Notenwerten halbiert, dann als rhyth- und zugleich ein Mittel, den ungeheuren Abstand
misches Motiv abgespalten und von einzelnen zwischen Gott in seiner himmlischen Herrlichkeit
Holzbläsern und den Hörnern präsentiert, ehe es und den Leiden Jesu erfahrbar zu machen. Im
auch in die Gesangsmelodie eingebettet wird. Die unisono hebt auch der Chor mit seinem ersten
für das Benedictus liturgisch so zentrale Präsenzer- Agnus-Ruf an und exponiert dabei den zu den
fahrung Christi nach (oder direkt vor) der Wand- Motivelementen gehörenden Quintsprung auf-
lung wird hier musikalisch mittels eines Motives wärts. Die drei oberen Streicher nehmen dann
umgesetzt, das die Auflösung der Schmerzens- und motivisches Material u. a. aus Kyrie und Sanctus
Sehnsuchtsintervalle des Kyrie-Beginns präsentiert auf und transformieren es weiter, während die
und durch die Textierung dann explizit als das »Miserere«-Bitten ebenso wie das folgende Strei-
Kommen Christi im Namen Gottes offenbart cherzwischenspiel an die Sekundmotivik anknüp-
wird. Auch hier geht ein rein instrumentales Emp- fen. Das zweite Agnus steht in der Dominante und
findungsbild dem Textvortrag voran: Zunächst ist eine Fortstpinnung des ersten. Wieder beginnt
geht es also um die Kontemplation, das Einstim- der Solo-Bass mit dem »Miserere«. Nach einem
men in die liturgisch gebotene Empfindung, ehe weiteren Zwischenspiel setzt fortissimo und zusam-
Erklärungen und die Aktivierung der Ratio folgen. men mit dem gesamten Orchester das dritte Agnus
Der weitere Verlauf dieses ausgedehnten Satzes ein, wieder in der Grundtonart d-Moll und insge-
führt die Kontemplation fort: Die wenigen Text- samt in bedrängterer, düsterer und verzweifelterer
bestandteile werden verschiedenen Motiven un- Anmutung. Ein Paukenwirbel leitet zum »Dona«
terlegt, die allesamt auf die Grundmotive Bezug über, in dem es zu einer musikalisch vorwegge-
nehmen (Sept- und Oktavsprünge, kleine Sekun- nommenen Einlösung der Bitte um Frieden und
den, Skalengänge) und gleichsam eine andächtige Versöhnung kommt. Das geschieht in Anknüp-
Gedankenreihe bilden. Die motivische Vielfalt ist fung an die traditionelle Dona-ut-Kyrie-Regel
eingebettet in einen zyklischen Formverlauf: Mit durch motivische Rückgriffe auf das Kyrie und die
Takt 36 beginnt ein B-Teil, gekennzeichnet durch Auflösung der dort gebündelten Topoi von Angst,
die intervallisch und rhythmisch etwas exponier- Schmerz und Verzweiflung in eine weitgehend
256 Melanie Wald-Fuhrmann

reine Dur-Sphäre: An seiner musikalischen Ober- dritte als veränderte Wiederkehr des ersten kom-
fläche ist der Satz freilich zunächst eine in einen poniert ist: Erstmals gewinnt Bruckner die musi-
geraden Takt übertragene weitestgehend identische kalische Form von Mess-Sätzen konsequent aus
Wiederkehr des »Et vitam venturi saeculi«; escha- der textlichen. Andere Gestaltungsmittel wendet
tologischer Heilsglaube und die Friedensbitte er indes in Gloria und Credo an, die durch ihre
werden also verknüpft. Zugleich ließe sich der Texte einen disparateren und teilweise geradezu
Motiv-Kopf des »Dona« mit seinen zwei absteigen- dramatischen Charakter haben, den Bruckner
den Terzen aber auch als diatonische Entspannung kaum zu nivellieren versucht.
der vielen vorherigen chromatischen Gänge hören;
der synkopische Quartsprung aufwärts im Sopran
Gloria und Credo
(T. 83) ist eine Reminiszenz an das instrumentale
Motiv aus dem Kyrie-Nachspiel (T. 124 ff.), das Bruckner nimmt die Herausforderungen der man-
seinerseits mit dem Kyrie-Thema verwandt ist. nigfaltigen Textideen an und gestaltet jede einzelne
Durch ein Fortissimo und die sich teilenden So- in Gesangsvortrag und instrumentaler Begleitung
prane ist dann der Durchbruch zu einem strahlen- charakteristisch. Dabei gibt es starke emphatische
den D-Dur herausgehoben, der in den erstmals im Gesten: Abrupte Konstraste nicht scheuend, ist
Kyrie eingeführten Oktavgang abwärts in Sopran klar zwischen Lob (Fortissimo-Deklamation in
und Tenor mündet (T. 93). Der nächste Vortrag hoher Lage und Blechbläsereinsatz) und Anbetung
des »Dona« rekurriert auf den zweiten Kyrie-Ruf (tiefe Lage, verhaltene Dynamik, Einsatz der So-
und treibt dann hintereinander zwei Septimenauf- listen) unterschieden. Die Nennung des Namens
stiege in Halben aus sich heraus, die genau wie im Jesu wird jeweils als Noema in langen Notenwer-
Kyrie mit einer absteigenden Viertelnoten-Skala ten und entrückten Harmonien hervorgehoben
im Holz (nun statt der Oboen die erste Flöte) be- (wiederum ein Mittel, das den Satzzusammenhang
antwortet werden. Im bestätigenden unisonen eigentlich gefährdet). Zu einem Mittelteil im
Fortissimo nehmen die Chorstimmen diesen Ab- langsameren Tempo wird der Passus ab »Agnus
stieg auf (T. 110 ff.), ehe in den Holzbläsern noch Dei« ausgebaut, ehe mit »Quoniam« eine Reprise
einmal das Anfangsmotiv des »Dona« erscheint einsetzt. Auch hier wirkt also übergeordnet eine
und der Satz in der Kombination von Oktavauf- dreiteilige Bogenform als Strukturprinzip. In sei-
und -abstieg, reiner Quinte und Sekunde und ner erneuten Bitte um Erbarmen an Christus
schließlich in der Wiederkehr des Themas aus dem durchziehen diesen Teil, besonders die »Miserere«-
Kyrie-Nachspiel leise und versöhnt verklingt. Rufe, Anklänge an die Thematik von Kyrie und
Die zyklische (und zugleich theologisch be- Christe. Die Reprise ist nicht musikalisch exakt.
dingte) Idee dieser Messe ist es also, die im Kyrie Die Verbindung zum ersten Teil stellen insonder-
eingeführten Motivelemente der menschlichen heit der chromatisch abwärts schreitende Instru-
Zerknirschung, Verzweiflung, Angst, kurz: Erlö- mentalbass und andere Instrumentalmotive, kaum
sungsbedürftigkeit im »Dona« im wahrsten Sinne jedoch die Gesangsparts her. Den codaartigen
aufzulösen: Aus verminderten Intervallen (Trito- Beschluss macht eine Fuge auf das »Amen« (»in
nus, Septime) werden vollständige (Quinte, Ok- gloria Dei patris« war unisono auf d durchdekla-
tave), aus Dissonanzen Konsonanzen, aus Moll- miert worden), der ein selbstständiger polyphoner
klängen solche friedlichen Durs. Ganz offensicht- Satz der drei oberen Streicher beigegeben ist. Der
lich liegen der hier so überaus auffälligen und Kopf des Fugenthemas wird aus einem Sekund-
vernetzten Motivarbeit auch Ideen von Intervall- schritt abwärts gebildet (e-d g-fis), rekurriert also
symbolik zugrunde. Absolut-musikalische Mittel wiederum auf die Elementarmotive dieser Messe.
eines großformalen zyklischen Zusammenhangs Im Anschluss an die zweite Durchführung wird
sind damit zugleich auch Vokabeln einer musiko- auch die Umkehrung des Motivs eingeführt. Nach
religiösen Semantik. einer Generalpause hebt im Piano der als großes
Die bis hierhin vorgestellten textarmen Sätze Crescendo komponierte Schlußabschnitt mit einer
unterliegen also vergleichbaren Formbildungs- Engführung des Motivs an, Oktav- und Quint-
prinzipien. Zumeist sind sie dreiteilig, wobei der sprünge werden eingebaut, ehe der Chor in langen
Geistliche Vokalmusik 257

Akkorden zusammenfindet und zum Orchester- dem Text hier viel mehr Raum gibt als zuvor. Auch
tutti noch einmal das Kopfmotiv singt. die instrumentalen Weiterführungen am Ende der
Ähnlich funktioniert auch das Credo: Bruckner einzelnen Abschnitte geben den Gläubigen gleich-
lässt wie üblich beim »Et incarnatus est« einen sam Zeit zum andächtigen Nachsinnen über das
langsamen Mittelteil beginnen, dem sich zum zentrale Geheimnis des Christentums. Dies Ge-
»Resurrexit« ein ausgesprochen bildhaft-dramati- heimnis der Menschwerdung wird überdies sym-
scher anschließt, ehe das Bekenntnis des Heiligen bolisiert durch die Verwandlung der Harmonik
Geistes zu einer freien Reprise führt. Die Coda nach C-Dur bei »homo factus est«: Wie zwischen
bildet das »et vitam«, das hier allerdings gegen die Fis-Dur und C-Dur der denkbar größte Abstand
Tradition keine Fuge ist, sondern nur frei poly- auf dem Quintenzirkel liegt, sind die zwei Natu-
phon gestaffelt beginnt. Unterhalb dieser fünftei- ren Jesu vorzustellen. Das C-Dur bringt hier auch
ligen Form laufen wiederum kleinteilige Prozesse die Assoziation des absolut Reinen mit ein.
der musikalischen Wort- und Satzdarstellung ab, Das »Cruxifixus« wird dann als unruhiger und
die – bei einem theologisch so zentralen Text wie affektiv aufgewühlter Abschnitt vertont, dem das
dem Credo kaum anders zu erwarten – ausgiebig »passus et sepultus est« als a-cappella-Satz mit
Gebrauch von musikalischen Symbolen machen. chromatischer Motivik entgegengestellt ist. Ihm
Der grundsätzliche Ton dieses Credo ist der der folgt ein Nachspiel der Orgel und dann der Blech-
Herrscherakklamation und Verherrlichung: Dieser bläser, das noch einmal auf das Motiv des Oktav-
wird durch einen weitgehend deklamatorischen, abstiegs zurückgreift. Der dramatische Höhepunkt
oft zum unisono gesteigerten Chorsatz, bewegte des Satzes ist zweifellos das »Resurrexit«, das die
Instrumentalbegleitung und den reichen Einsatz Szenerie von Auferstehung und Himmelfahrt ge-
von Trompetenfanfaren erreicht. Das Bekenntnis radezu filmmusikalisch umsetzt: Nach und nach
zu den drei göttlichen Personen wird durch die baut sich aus Bass und Paukenwirbel ein vibrieren-
Verwendung desselben Deklamations- und Begleit- der Orchesterklang auf, bis mit dem gestaffelten
modells zugleich zu einem Bekenntnis zur Dreifal- Choreinsatz die Violinen in Sechzehnteln chroma-
tigkeitslehre. Dieselbe Absicht leitet auch die lange tisch zwei Oktaven durchlaufen. Auch das »Ascen-
unisone Deklamation zu »genitum, non factum, dit« wird mit entsprechenden Mitteln (Drei-
consubstantialem Patris«. Die Allmacht und die klangsaufstieg im Chor, Oktavsprünge in den
Schöpfung der ganzen Welt werden durch Oktav- Violinen) nachgemalt, ehe zu »sedet ad dexteram
sprünge bzw. einen Oktavgang symbolisiert. patris« die Musik der göttlichen Majestät zurück-
Ist dieser erste, theologisch-abstrakte Teil des kehrt, die bei »cum gloria« einen weiteren Höhe-
Credo vorwiegend mit den Mitteln musikalischer punkt erreicht. Zum Verweis auf das jüngste Ge-
Symbolik und der Evokation von Majestät und richt ändert sich die Szene ins Bedrohliche, mit
Herrlichkeit vertont worden, beginnt mit der Le- »cuius regni« kehrt der Jubelton zurück und das
bensgeschichte Jesu ein narrativ-mimetischer Ab- »non erit finis« erhält den üblichen Akzent.
schnitt: Schon das »descendit de coelis« wird von An der Reprise fallen bei allen Abweichungen
den Streichern in der Überleitung zum Mittelteil vom Beginn des Credo einige programmatisch
gleichsam nachgezeichnet, wenn sie zu einem ri- gemeinte motivische Reminiszenzen auf: So ist das
tardando und diminuendo in Stufen zwei Oktaven »qui cum patre« ein Solo-Abschnitt und verwen-
herabsteigen. Dieses Motiv grundiert dann auch det die fallende Quinte aus dem Christe-Motiv
das »Et incarnatus«, das durch die Rückung nach des Kyrie, aus dem auch das Streichernachspiel
Fis-Dur freilich einer völlig anderen Sphäre zuge- entwickelt wird. Die restlichen Glaubenssätze
ordnet ist. Für ein anderes Klangbild sorgen auch werden bis zum Beginn der Coda unisono und
der Einsatz der Solisten sowie – meist zwischen forte durchdeklamiert. Diese erhält ihren besonde-
den Textpassagen – einzelne Tonfolgen in den ren Charakter u. a. durch die geteilten Soprane,
Holzbläsern. Nicht nur an der Wiederholung des einen flirrenden Streicherteppich und Bläser-
ersten Satzes, die zugleich zu einem emphatischen klänge, die miteinander ein großes Crescendo
Höhepunkt zu »ex Maria virgine« (über einen bilden, das nach aus einem Hochton fließendem
Septimabstieg) führt, zeigt sich, dass Bruckner Septimabstieg – wie so oft bei Bruckner – abbricht
258 Melanie Wald-Fuhrmann

und nach einer Generalpause im p(p) erneut an- Zuge vermehrter Aufführung und der Druckle-
setzt. Die Amen-Rufe nehmen dabei wiederum gung, riss sie zu Bewunderung hin. So schrieb
das Sekundmotiv der Amen-Fuge aus dem Gloria, Theodor Helm am 5. Januar 1893 an Bruckner:
aber auch die zweite Kyrie-Motivik wieder auf. »ihr hoher Ernst, ihre inbrünstige Frömmigkeit
und die wunderbare technische Meisterschaft, dies
Alles musikalisch auszusprechen! Manchmal bin
Wirkung
ich wirklich im Zweifel, wer an unserem Bruckner
Diese theologisch wie musikalisch hoch an- größer: der Meister der Symphonie oder der Meis-
spruchsvolle Messe wurde, wie erwähnt, in Linz ter der Kirchenmusik. Preisen wir uns glücklich,
als »ungewöhnliche Sensation« ausgesprochen daß wir beide besitzen!« (Briefe 2, 201)
positiv aufgenommen. In der Linzer Zeitung, dem
Abendboten und den Christlichen Kunstblättern
2. Messe e-Moll (WAB 27): Ein Gegenmodell
erschienen sowohl nach der kirchlichen als auch
der konzertanten Aufführung Besprechungen. Die Nachdem sich Bruckner mit seiner Kantate Preiset
Linzer Zeitung widmete der Messe sogar eine fünf- den Herrn (WAB 16) und vor allem seiner ersten
teilige Artikelserie, in der auch die grundlegende Messe als Komponist festlich-repräsentativer Kir-
Frage nach Tradition und Zukunft der Kirchen- chenmusik empfohlen hatte, lag es für Bischof
musik angesprochen wurde. Der Rezensent der Rudigier offenbar nahe, ihm auch den Auftrag für
Christlichen Kunstblätter lobte vor allem die litur- die Messe zur Weihe der Votivkapelle des Neuen
gisch-theologische Angemessenheit der Messe, Domes zu erteilen. Bruckner komponierte das
deutete kompositorische Details symbolisch aus, Werk von August bis November 1866, doch kam
wies aber auch auf hohem analytischem Niveau seine Aufführung unter Bruckners Leitung auf-
auf Motivbezüge und Formbildung hin. Immer grund von Verzögerungen bei den Bauarbeiten
wieder wurden der Ernst, der majestätische Jubel, erst am 29. September 1869, dem Michaelistag,
die innige Andacht einzelner Passagen sowie die zustande. Nach der Aufführung erwies der Bischof
Behandlung der Instrumente und die insgesamt Bruckner eine besondere Auszeichnung, indem er
neue »Auffassung« gepriesen. Die Kritik an der ihn zur anschließenden Festtafel einlud. In Vorbe-
bisweilen »vielleicht zu wörtlichen Auslegung der reitung der zweimaligen Wiederaufführung zum
Worte« (Linzer Zeitung zum Credo, zitiert nach hundertjährigen Diözesan-Jubiläum 1885 (am 26.
Taub 1987, 52) bleibt punktuell. Moritz von May- September und 4. Oktober) erinnerte sich Bruck-
feld – Bruckners Förderer und Initiator der Kon- ner in einem Brief an den Linzer Chorherren und
zertaufführung – schrieb im Linzer Abendboten Chordirigenten Johann Baptist Burgstaller an die
vom 20. Dezember: »Die ganze Messe ist in so Erstaufführung »an dem herrlichsten meiner Le-
großartigen Proportionen angelegt, die dramati- benstage […] Bischof u. Statthalter toastirten auf
schen Elemente des Textes sind in so würdiger und mich bei der Bischöfl. Tafel« (Briefe 1, 264). Rudi-
dabei hochwirkungsvoller Weise behandelt (…), gier ist auch der Widmungsträger des Werks.
und namentlich die Polyphonie des ganzen Wer- Die Feier vor dem unfertigen Bauwerk brachte
kes ist eine so außerordentlich ausgezeichnete, daß es mit sich, dass die Messe unter freiem Himmel
der Schöpfer desselben zu den höchsten Erwar- stattfand. Aus diesem Umstand erklärt sich auch
tungen für die Zukunft berechtigt.« Ludwig die Besetzung mit achtstimmigem Chor ohne Soli
Speidel, der Kritiker des Wiener Fremdenblattes, und reiner Bläserbegleitung (je zwei Oboen, Kla-
der über die Wiener Erstaufführung von 1867 be- rinetten und Fagotte, vier Hörner, zwei Trompeten
richtete, konstatierte zwar einige zu neudeutsch- und 3 Posaunen), die ein Vorbild in den sogenann-
poetische Effekte, »grelle Instrumentaleffekte« ten Militärmessen hat, aber natürlich ein radikal
und »harte harmonische Fortschreitungen« (zitiert anderes Klangbild als die erste (WAB 26) und
nach Maier 2009, 281), würdigt aber die Gesamt- dann auch dritte (WAB 28) Messe Bruckners zur
erscheinung und nimmt seine Besprechung zum Folge hat. Und so war es gerade die Besetzung mit
Anlass, für Bruckner eine Anstellung in Wien zu ihren langen a-cappella-Passagen sowie die weitge-
fordern. Und auch viele Jahre später noch, im hend polyphone Durchgestaltung, die für Allusio-
Geistliche Vokalmusik 259

nen mit der klassischen Vokalpolyphonie sorgte fisch und verdichtet sich – von einem erstmals
und dem Werk das Etikett des cäcilianistischen Takt 35 ff. eingesetzten kleinen Melisma abgesehen
Einflusses eintrug. Ernst Kurth nahm eine – nie zu wiedererkennbaren Gestalten. Takt-
»Durchgeistigung der Form« wahr (Kurth 1925, schwerpunkte werden verschleiert. Die einzelnen
1235), während Max Auer äußerte, die Messe rage Passagen sind dynamisch variabel gestaltet und
»über alle Gipfel neuzeitlicher Meßkomposition stellen zumeist Crescendo-decrescendo-Bögen vor.
gigantisch hinaus« (Auer 1927, 111). Dabei nimmt die Intensität der f-Höhepunkte
Tatsächlich ist das Werk ein durch und durch von Mal zu Mal zu; der letzte Höhepunkt kommt
modernes in der zyklischen Durchgestaltung der dann ohne ein vorbereitendes Crescendo aus.
Sätze und des Gesamtverlaufs sowie in der chro- Eine besondere Behandlung wird auch der
matisch erweiterten Harmonik. In den einzelnen Harmonik zuteil: Die meisten Akkorde erscheinen
Momenten der Textgestaltung knüpft es an die nicht in ihrer Grundform, sondern in einer Um-
Tradition der Messenvertonung ebenso an wie an kehrung, auch betonte Silben erhalten dissonante
das bereits in der ersten Messe prototypisch Um- Harmonien, der funktionale Zusammenhang der
gesetzte. Dennoch treffen die Aussagen zur Beson- Klänge hat nur noch vage Gültigkeit. Auch har-
derheit dieser zweiten Messe ins Zentrum der monisch sind also Aspekte folgerichtiger musika-
Werkkonzeption. lischer Entwicklung außer Kraft gesetzt. Zugleich
dient die Harmonik aber auch der affektiven Ge-
staltung des Kyrie und seines angstvoll-flehenden
Kyrie
Gestus. Höhepunkt sind auch hier die mit Takt 92
Maßstäbe setzt gleich das Kyrie, jedoch weniger in neu ansetzenden homophonen »Kyrie«-Rufe, de-
formaler als in klanglicher Hinsicht: Der Satz ist nen eine dissonante, mehr chromatisch als funk-
wiederum in A-B-A’-Form komponiert, wobei die tional vermittelte Akkordfolge zugrunde liegt
A-Teile jeweils aus zwei Unterabschnitten beste- (z. B. verminderter Septakkord auf fis statt Fis7 vor
hen. Im ersten folgen ein Abschnitt für Frauenchor H-Dur oder Quintfallfolge verminderter Akkorde
und ein gleich beginnender, dann jedoch anders über einem chromatischen Bassgang, teils mit
endender für Männerchor aufeinander. Hörner verminderter Septime).
kommen nur an den jeweiligen Forte-Punkten
hinzu. Frei polyphone Anfänge werden in weitge-
Gloria
hend homophonem Vortrag aufgefangen. Nach-
dem auch das Christe mit einem imitatorischen Auf diesen verhaltenen, schmerzvoll-intensiven
Abschnitt des Frauenchores begonnen hat, treten a-cappella-Satz folgt ein deutlich dynamischeres,
nach und nach die Männerstimmen hinzu, bis zügig durchlaufendes Gloria in C-Dur. Ebenfalls
Takt 66 erstmals alle acht Stimmen, verstärkt dreiteilig mit einem langsamen, sparsamer instru-
durch die Posaunen, zusammen erklingen und mentierten Abschnitt zu »Qui tollis … miserere
einen Höhepunkt bilden, von dem aus die drei nobis« und einer Fugen-Coda stellt den Zusam-
obersten Frauenstimmen in einer diatonischen menhang hier neuerlich ein durchlaufendes in-
Skala abwärts gleiten. Das zweite Kyrie besteht aus strumentales Begleitmotiv her, und zwar abwech-
einem polyphonen, teilweise imitatorischen Teil, selnd auf- und abwärts geführte gebrochene
der an das erste Kyrie anschließt, und einem weit- Drei- und Vierklänge (oft mit plagalem Bezug).
gehend homophonen zweiten. Dessen Beginn Der Vokalsatz alterniert je nach Textphrase zwi-
(T. 92) ist durch Fortissimo-Vorschrift und Einsatz schen Piano-, Mezzoforte- und Forte-Passagen,
von Hörnern und Posaunen als wichtigster und polyphonem und deklamatorischem Stil, charak-
letzter Höhepunkt dieses ersten Satzes gestaltet. teristische motivische Gestalten gibt es auch hier
Seine genuine, eigentümlich schwebende Cha- nicht. Das permanente An- und Abschwellen des
rakteristik erhält dieses Kyrie aber eben nicht nur Klangs aus dem Kyrie ist durch blockhafte Kon-
durch diese wellenförmige Höhepunktfolge, son- traste ersetzt. Der Mittelteil lässt Zeit zur Betrach-
dern mehr noch durch klangliche Effekte: Die tung: Eingeleitet durch ein neues Begleitmotiv in
Motivik ist melodisch und rhythmisch unspezi- den Hörnern wird das »Qui tollis« jeweils piano
260 Melanie Wald-Fuhrmann

und mit dissonanten Akkordbildungen vom Frau- brochen, das nach Fis-Dur entrückt wird. Zum
enchor vorgetragen, pianissimo schließen der Amen erklingt die Exposition einer Doppelfuge
Männerchor allein, bzw. Männer- und Frauenchor mit Motivverkürzungen, -umkehrungen und
gemeinsam ihre Bitten an. Das »Qui sedes« wird freier polyphoner Fortführung, zu der nach und
dann entsprechend der Herrschaft fortissimo vom nach colla parte die Bläser hinzutreten, bis sie ho-
Tutti deklamiert. Ihm folgt, wiederum in der mophon in C-Dur endet.
Demutsgeste dissonanter, leiser Klänge, das letzte
»miserere«, das in E-Dur mündet. Markiert durch
Credo
die Wiederaufnahme des ersten Begleitmotivs im
Fagott, setzt im Tempo primo der A´-Teil bei Ein Satz mit geradezu monothematischer Anlage
»Quoniam tu solus sanctus« ein. Der kräftige, ist das Credo (siehe nebenstehende Zusammenstel-
zügige Duktus wird nur bei »Jesu Christe« unter- lung der wichtigsten Motive):

Motivtabelle 2: 2. Messe e-Moll

3. Credo
T. 1f. T. 11ff.

S.

Pa trem o mni po ten tem Et in u num Do mi num Je sum Chri stum

T. 20ff.

(etc.)

an te o mni a sae cu la De um de De o lu men de lu mi ne


T. 155f. T. 163f.

Et in Spi ri tum sanc tum qui cum pa tre

T. 55f.

S.

Et in car na tus est

5. Benedictus
T. 1ff. (vgl. T. 19ff., 43 - 52, 61 - 69)

Hr. 1
8

6. Agnus Dei: Kyrie-»Dona«-Kongruenz


Kyrie, T. 33ff. decresc.

T. 1/2

Agnus Dei, T. 60ff.: Beginn des »Dona«

Ob. 1, 2;
Klar. 1, 2
hervortretend

Fag. 1, 2
hervortretend
Geistliche Vokalmusik 261

Zum »Patrem omnipotentem« wird im Uni- hochgestimmt und deklamatorisch ein und hält
sono eine diastematisch und rhythmisch charakte- diese Höhe bis zum »Judicare«. Das »Et ascendit«
risierte Drehfigur eingeführt, die auch ein instru- wird tonmalerisch durch den unisonen Oktavauf-
mentales Echo erhält und von nun an als Emblem stieg der Chorstimmen wesentlich knapper ausge-
jeden Glaubensartikel begleitet. Dabei fungiert malt als in der ersten Messe, worin man vielleicht
diese Figur nicht nur als Kopfmotiv. Streckenweise eine Reaktion Bruckners auf entsprechende kriti-
ergeben sich ganze Sätze aus ihrer Addition und sche Stellungnahmen sehen könnte.
Sequenzierung, wobei genauso wie beim instru- Die Reprise des ersten Teils setzt mit dem
mentalen Echo das Unisono weitestgehend beibe- nächsten Glaubensartikel zum »Et in spiritum
halten bleibt. Wie sehr das als trinitarisches sanctum« ein. Das Bekenntnis zur katholischen
Zeugnis gemeint ist, zeigt sich bei der Phrase Kirche ist neuerdings unisono in taktweise aufstei-
»Genitum, non factum…«, wo die Holzbläser gendem Duktus vertont, während zum »Confiteor
ebenso im Unisono wie der hier nur vierstimmige unum baptisma«, »et exspecto« und »Et vitam
Chor neun Takte hindurch im Fortissimo dasselbe venturi saeculi« jeweils das Hauptthema wieder-
Motiv repetieren (T. 32–40) und so dem Hörer die kehrt. Zum Schluss wird es allerdings verlangsamt
substanzielle Einheit zwischen Gott, Vater und und mit einem pulsierenden Akkordteppich un-
Sohn geradezu einhämmern – eine ausgesprochen terlegt, der sich dann zu den zwei akkordischen
Brucknersche Stelle. Beim »Qui propter nos ho- Amen-Rufen wieder beschleunigt. Zum ersten
mines« kommt die Drehfigur in einem dissonan- Ruf zielt die Harmonik noch einmal auf eine
ten, in Achteln repetierten Akkord zum Stehen. Dissonanz (die zwei Silben erklingen zu f-Moll
Das Herabsteigen vom Himmel ist durch ein in- und einem f-Moll-Septakkord), ehe sie beim zwei-
strumentales Nachspiel musikalisch vorgestellt. ten nach C-Dur findet.
Als langsamer Seitensatz fungiert das »Et incar-
natus est«: A cappella setzt der wieder achtstimmig
Sanctus
aufgefächerte Chor ein, wobei die Soprane eine
Variante der Drehfigur in Terzparallelen vortragen. Das relativ kurze, zweiteilige Sanctus besteht aus
Der Passus bis »et homo factus est« wird zweimal einem polyphonen, als allmähliches Crescendo
hintereinander identisch vorgetragen. Zum har- angelegten a-cappella-Satz und – ab »Dominus
monischen Ereignis wird indes das »Maria«, ver- Deus« – homophon-unisoner Fortissimo-Dekla-
wandelt sich doch das lang gehaltene F-Dur hier mation mit Blechbläserbegleitung. Die »Sanctus«-
erst unvermittelt und diminuendo zu A-Dur, dann Rufe werden als ein besonders heiliger Moment
beim zweiten Mal zu As-Dur. Eine weitgehend aus der Messe in frei auf- und niederschwebender,
sehr langsam schrittweise herauf- und wieder her- motivisch kaum festgeprägter Polyphonie zu sus-
absteigenden Halben bestehende Gesangslinie zu pendierten Taktschwerpunkten und weitgehend
einem synkopischen Begleitrhythmus in den tiefen konsonanten Klängen besonders hervorgehoben:
Holzbläsern erklingt dann zum »Cruxifixus«, Die Menschenzeit scheint bei dieser Himmelsmu-
beide Gestalten folgen bei »etiam pro nobis« bzw. sik aufgehoben. Eine entsprechende Assoziation
»passus et sepultus« in leicht veränderter Harmo- stellte sich auch bei dem österreichischen Cäcilia-
nik und Diastematik noch einmal aufeinander. ner Johann Evangelist Habert ein, der in seiner
Die Posaunen beenden den Mittelteil mit einer dreiteiligen Besprechung des Werks im Linzer
absteigenden Sextakkordkette, die deutlich an die Volksblatt, die auch in der Zeitschrift für katholische
Gattung des Begräbnis-Aequals erinnert. Wie das Kirchenmusik abgedruckt wurde, notierte, man
Kyrie ist auch der Mittelteil des Credo durch Cre- würde im Sanctus »unwillkürlich an die Töne der
scendi und Decrescendi durchformt. Engel erinnert« (zitiert nach Taub 1987, 83).
Im Allegro und in F-Dur hebt der zweite Teil Wie üblich, ist die Besetzung beim Benedictus
des Christus-Bekenntnisses an. Im Gegensatz zur reduziert und der kurze Text wird mehrmals, in
ersten Messe ist hier nicht die Auferstehung als diesem Falle: fünf Mal, hintereinander auf je an-
mühsamer Prozess nachgeahmt, sondern der Teil deren harmonischen Stufen vorgetragen und dabei
setzt nach einem knappen Crescendo sogleich musikalisch verschieden beleuchtet. Als motivi-
262 Melanie Wald-Fuhrmann

sche Klammer fungiert eine zuerst im Horn er- Das »dona« beginnt subito pianissimo im ersten
klingende chromatisch-auftaktige Figur, die jeweils C-Dur-Klang dieses Satzes, der sich sogleich me-
zu scharfen Vorhaltsdissonanzen auf der Takt-Eins diantisch nach E-Dur verschiebt. Nach der ersten
führt. Die Figur wiederholt sich mehrere Male der insgesamt vier Bitten erklingt in den Holzblä-
aufwärts sequenziert und erklingt mit Einsatz des sern das kurze Melisma-Motiv aus dem Kyrie, das
Chors auch im ersten Sopran. In den Abschnitten den Satz bis zum Ende begleitet und so doch eine
2 bis 4 spielt sie ebenfalls eine Rolle. Und wenn- zyklische Rundung bewirkt. Weitere harmonische
gleich die Abschnitte in eine gewisse Steigerungs- Stufen durchschreitend klingt der Satz mit einem
dramaturgie eingebunden sind (Vergrößerung der finalen Decrescendo über der plagalen Kadenz zu
Besetzung, stufenweise Anhebung der Dynamik), »pacem« aus.
sind sie in sich als dynamischer Bogen angelegt,
der im Laufe des »Benedictus« jeweils einen Hö-
Wirkung
hepunkt erreicht und beim »qui venit« zur Homo-
phonie findet und wieder herabsinkt. Im Laufe In ihrem teilweise geradezu asketischen Klangbild,
des zweiten Abschnitts tritt in den Holzbläsern der dissonanzenreichen, aus ihren funktionalen
eine neue Begleitfigur hinzu, die als gebrochener Zusammenhängen recht weitgehend gelösten
Dreiklang in Sechzehnteln die Intensität erhöht. Harmonik und ihrem großräumigen Verzicht auf
Am Ende des dritten Abschnittes (T. 54 ff.) ver- konkrete Themenbildung ist die e-Moll-Messe von
langsamt sich die Begleitung, während der Chor ausgesprochener Eigenständigkeit und Avanciert-
das »Benedictus« auf der stehenden es-Moll-Terz heit. Der Verweis auf die klassische Vokalpolypho-
deklamiert. Zu »Domini« erfolgt im Pianissimo nie erklärt diese Besonderheit nur unzureichend.
die Verwandlung zu einem G7-Klang ohne Terz. Und auch eine Festmesse würde man sich eigent-
Die Auflösung nach C-Dur geschieht dann textlos lich anders vorstellen. Auf einer höheren Ebene
in einem Echo-Klang der Bläser. Wie in entrückter könnte aber doch ein Bezug zwischen der heraus-
Anbetung vor dem Wunder der Präsenz Gottes ist ragenden Faktur mit der Bestimmung der Messe
der vierte Abschnitt sehr verhalten vertont, ehe bestehen: Das Bekenntnis zur katholischen Tradi-
der knappe fünfte nach einem kurzen Crescendo tion und Zukunft gleichermaßen sowie zu einer
in einen dreimaligen »Hosanna«-Ruf ausbricht. großartigen Raumwirkung, das im neugotisch
Im Sinne der grundsätzlich geringeren zykli- geplanten Dom zu Stein werden sollte, scheint
schen Motivbildungsstrategien dieser Messe sind durchaus einen ideellen Hintergrund auch für
beide »Hosanna«-Passagen weder deutlich abge- diese Messe zu bieten. Das bedeutete, dass Bruck-
setzt noch musikalisch miteinander verwandt. ner offenbar über die ideologischen Intentionen
des Projekts nicht nur informiert war, sondern sie
auch verstand und so verinnerlichte, dass er ein
Agnus Dei
überzeugendes musikalisches Stilpendant dafür
Das Agnus Dei überformt den textlichen Aufbau finden konnte. Der Kontext für diese Messe wäre
AAA’ mit einer musikalischen Fortstpinnungsform also nicht im Cäcilianismus und den kirchenmu-
im Sinne von AA’A’’ auf den Stufen I, V, I. Anru- sikalischen Reformanstrengungen zu suchen,
fung und Bitte sind dabei jeweils musikalisch un- sondern in der unmittelbaren Linzer Situation.
terschieden. Homophone Deklamation in ge- Dafür spricht auch, dass der Linzer Diözesan-
dämpfter Dynamik dominiert. Harmonisch hellt Kunstverein – Herausgeber der Christlichen Kunst-
sich der Satz von einem dissonant geschärften e- blätter, die den Dombau mit zahlreichen Artikeln
Moll zu einem friedlich-lichtvollen E-Dur auf. kunstgeschichtlicher Art begleiteten – Bruckner
Die ersten beiden »Agnus« teilen eine Begleitfigur am 21. Oktober 1869, also wohl in direkter Reak-
in den Bläsern, die bei dem »miserere« schweigt. tion auf die Erstaufführung der e-Moll-Messe, zum
Die beiden »miserere« sind ihrerseits in einen dis- Ehrenmitglied ernannte (Briefe 1, 113).
sonant crescendierenden Vorder- und einen a Wiederum waren die Besprechungen in Linzer
cappella ausschwingenden, harmonisch helleren Zeitung und Linzer Volksblatt ausgesprochen posi-
Nachsatz geteilt. tiv. Der besondere Eindruck, den die Musik auf
Geistliche Vokalmusik 263

alle Anwesenden gemacht habe, wurde ebenso der Nervenzusammenbruch und Bruckners Kur-
hervorgehoben wie die besondere religiöse Inten- aufenthalt in Bad Kreuzen. In den September 1867
sität. Habert stand auch von persönlichen Aussa- fiel überdies Sechters Tod, der Bruckners Anstren-
gen nicht ab und berichtete: »Als die letzten Ak- gungen, eine Anstellung in Wien zu finden, ein
korde [des Gloria] verklungen waren, stand ich da, konkretes Ziel und offenbar auch den Anstoß gab,
und hätte gerne so recht von Herzen geweint, mit der Komposition zu beginnen. In die Zeit der
denn diese zwei Sätze, Kyrie und Gloria hatten Fertigstellung der Messe fallen dann die Berufun-
mich mächtig ergriffen. Ich sehnte mich allein, gen zum Nachfolger Sechters am Konservatorium
ungesehen zu sein, um meinen Gefühlen freien (Juli 1868) und zum unbesoldeten Hoforganisten
Lauf lassen zu können. Das muß eine gute Musik (Anfang September). Es ist folglich kein Wunder,
sein, die eine so mächtige Wirkung, so edle Ge- dass der zuerst bei Göllerich-Auer hergestellte
fühle hervorzubringen imstande ist. Mit Verehrung Zusammenhang zwischen Bruckners Genesung
sah ich auf den Kompositeur, der die Aufführung und dem Beginn der Arbeiten an der Messe immer
leitete, von dem ich bei dieser Gelegenheit das wieder zitiert und gar zum eigentlichen Antrieb
erste Werk hörte« (zitiert nach Taub 1987, 83). Der für die Komposition überhöht wird. Dazu fügt
Kritiker des Volksblattes teilte diese Empfindung sich auch die häufig zitierte Anekdote, Bruckner
implizit, wenn er als das flehende Subjekt im Agnus habe die Idee zum Benedictus in der Weihnachts-
ein »gegen die unendliche Gottheit in Nichts nacht empfangen. Doch mit Blick auf Bruckners
zerfallende[s] Ich«, die zerknirschte, andächtig Messenschaffen (und für die Sinfonien gilt das
betrachtende Seele bestimmte (ebd., 88 f.). letztlich auch) fungierte die tiefe psychische Krise
weniger als eine Zäsur denn als ein retardierendes
Moment, nach dem Bruckner den eingeschlage-
3. Messe f-Moll (WAB 28): Sinfonie
nen Weg nur umso konsequenter fortsetzte.
mit Gesang
Erstmals ist mit dieser Messe das Problem der
Wie die zweite ging auch die dritte Messe aus ei- Fassungen und Revisionen verbunden, das für
nem Auftrag hervor: Nach der erfolgreichen Bruckners Sinfonik dann so erhebliche Auswir-
Wiener Erstaufführung der d-Moll-Messe 1867 kungen zeitigen sollte: Wohl aufgrund von Kritik
bestellte der Hofkapellmeister Herbeck bei Bruck- und Verständnisproblemen, die bei ersten Proben
ner ein neues Werk für seine Institution. Bruckner im Winter 1868/69 geäußert worden waren, ent-
komponierte noch in Linz ab September 1867 für schied sich Bruckner noch vor der Erstaufführung
ein gutes Jahr an dem Werk, das dann freilich erst für Kürzungen und Umarbeitungen. Zu einer
am 16. Juni 1872 uraufgeführt wurde. Die Wid- Aufführung kam es dann erst nach Bruckners
mung wurde Anton Ritter Imhof von Geißlinghof, Orgelreisen und den weit fortgeschrittenen Arbei-
einem Förderer im Obersthofmeisteramt, angetra- ten an der Zweiten Sinfonie. Er mietete 1872 für die
gen. In dem entsprechenden Brief an Imhof kün- Aufführung in der Augustinerkirche das Wiener
digte Bruckner an, die Messe sei »großartig ange- Opernorchester und dirigierte ebenso wie bei der
legt« und er gebe sich mit ihr »höchste Mühe« Folgeaufführung in der Hofkapelle selbst. Weitere
(Briefe 1, 75). Die orchestral-sinfonische Anlage Revisionen folgten 1876 (Bruckner verbesserte die
und die enorme Dauer von ungefähr einer Stunde Periodisierung aller drei großen Messen), sowie
müssen also wohl als ›imperial‹ verstanden werden. 1877 und 1881 im Zusammenhang mit weiteren
Das Werk stellt den Höhe- und Endpunkt von Aufführungen in der Hofkapelle, wobei es jeweils
Bruckners Messenschaffen dar und knüpft in um die Instrumentierung bzw. Faktur des Credo
Stillage, Formgebung und der sinfonischen Eigen- ging. Die Version von 1881 gilt als zweite und au-
ständigkeit der Instrumentalstimmen an das mit thentische Fassung, während spätere Überarbei-
der d-Moll-Messe erprobte Modell an. tungen der Instrumentation zumeist von Bruck-
Die Entstehungsgeschichte der dritten Messe ners Schüler Josef Schalk durchgeführt wurden
ist untrennbar verbunden mit wichtigen Lebens- und auch – ohne dass Bruckners Zustimmung
ereignissen: Zwischen den Auftrag aus Wien und dazu als gesichert gelten kann – in den Partitur-
den Beginn der kompositorischen Arbeiten traten druck der Messe von 1894 einflossen.
264 Melanie Wald-Fuhrmann

Die einzelnen Sätze der Messe wurden ausweis- und der zweite »Kyrie«-Abschnitt des in A-B-A’-
lich der autographen Datierung weitgehend in Form vertonten Satzes verlaufen in mehreren
ihrer üblichen Reihenfolge komponiert – beson- Steigerungsbögen, die zusammen auf den ausge-
ders lange dauerte lediglich die Fertigstellung des haltenen Höhepunkt ab Takt 113 zulaufen. Das
Gloria –, allerdings wurde das Credo als erstes in erste Kyrie nimmt mit seinen drei dynamisch an-
Angriff genommen. Erstmals vertonte Bruckner und wieder abschwellenden Anrufungen formal
auch die Intonationen des Priesters im Gloria und deutlich Bezug auf den liturgischen Textvortrag.
Credo, was u. a. Auer als Hinweis auf eine von Der zweite Ruf bringt die bislang nur im Bass er-
Anfang an in Erwägung gezogene Konzertdarbie- klungene Umkehrung des Quartmotivs erstmals
tung verstand (Auer 1927, 143). in der Oberstimme. Die Begleitmotivik ist flexi-
Der Umstand, dass Bruckner die Komposition bel, eine selbstständige Rolle spielen vor allem
mit dem Credo begann, ist nicht nur ein Detail der Figurationen in den Violinen. Der Ausdruck
Entstehungsgeschichte, sondern der Schlüssel zur changiert zwischen Demut, Dringlichkeit und der
Anlage des ganzen Werks, das in der Tat als eine Hoffnung auf Erhörung.
Credo-Messe bezeichnet werden kann. Dafür Beim »Christe« findet die übliche Charakter-
sprechen nicht nur die in die »Et vitam«-Fuge veränderung und Subjektivierung der Bitte statt:
einmontierten »Credo«-Rufe, die ein eher konven- Zu einem Violinsolo und Holzbläserlinien tragen
tionelles Moment von Credo-Messen darstellen, die ersten zwei Rufe nur Sopran und Alt unisono,
oder der ein Drittel der ganzen Messe einneh- dazu Solo-Bass und -Sopran vor. Die Harmonik
mende Umfang des Satzes, sondern besonders die ist vor allem am Anfang nach C-Dur aufgehellt.
motivischen Vor- und Rückbezüge, die sich aus Das Hauptmotiv besteht aus einer fallenden klei-
dem Credo durch das gesamte Werk ziehen (dazu nen Terz und einem Sekundschritt aufwärts. Erst
erstmals Kurth 1925, 1236–1262). Im Mittelpunkt beim dritten »Christe«-Ruf ab Takt 49 wird die
stehen dabei die Terz und vor allem die Quarte. melodische Richtung aufwärts gewendet, und
zwar mit einer rhythmisch variierten Version des
Quartmotivs und zu aufwärts gerichteten Skalen-
Kyrie
figurationen der Streicher. Der vierte »Christe«-
Das Kyrie beginnt mit einem Streichervorspiel, das Ruf bildet den Höhepunkt des B-Teils, der mit
bereits das Hauptmotiv der Messe, eine von einem Takt 67 eine Art Plateau erreicht, das durch gleich
gelängten Anfangston absteigende Quarte (mit bleibende bewegte Begleitfigurationen und Takt-
dem Halbton zumeist vor dem letzten Ton), vor- wiederholungen gehalten wird, ehe es nach und
trägt und durch die Umkehrung sogleich in einen nach ausläuft und Takt 74 im Pianissimo die ver-
motivischen Entwicklungs- und Ableitungsprozess änderte Reprise des Kyrie einsetzt. Für den gegen-
verwickelt (siehe Motivtabelle). über dem A-Teil intensivierten Ausdruck sind
Mit Blick auf das Credo haben wir es hier mit zunächst die Achtelfigurationen der Violinen so-
dem Krebs oder der Umkehrung des zweiten wie eine synkopische Figur in den Holzbläsern
Themen-Motivs zu tun. Besonders das »Christe« verantwortlich. Beim zweiten »Kyrie«-Ruf kehrt

Motivtabelle 3: 3. Messe f-Moll

1. Kyrie
T. 13f. T. 25f.

S.

Ky ri e Ky ri e
T. 38f. T. 49ff.
Solo dim.
S.

Chri ste Chri ste Chri ste


Geistliche Vokalmusik 265

T. 97ff. dim.
S. 1

Ky ri e, e lei i son
2. Gloria
T. 1ff.: Gloria-Motivik T. 13ff.

S. 1

Glo ri a in ex cel sis De o Lau da mus te be ne di ci mus te


T. 238ff.: Fugenthema und obligate Kontrapunkte

S.

A men, a men

A.

A men

T.
8
In glo ri a De i Pa tris a men
3. Credo
T. 1ff.
Choral-Credo I
S.

Et in u (num Dominum) Cre do, cre do in u num De um


T. 438ff.: Thema der Credo-Fuge

S.

et vi tam ven tu ri sae cu li. A men.


4. Sanctus
T. 2f. T. 12ff.

S.

Sanc tus Do mi nus De us Sa ba oth!


6. Agnus Dei
T. 1ff.

Vl. I

T. 9ff. T. 19ff.
Solo
S.

Ag nus De i mi se re re mi se re re
T. 67: Beginn des »Dona« T. 107ff.: Schluss der Messe
a2 Ob. 1.
Ob. 1, 2 Ob. 1
decresc.
T. 75f.
decresc.
S. S.

Do na do na no bis pa cem.
266 Melanie Wald-Fuhrmann

sich das Quartmotiv wiederum um (mit phrygi- Achteln durchlaufende Bewegungspuls. Das »Qui
schem ersten Sekundschritt), ein Crescendo setzt tollis« ist dem Text entsprechend dreiteilig nach
ein, und nach und nach schrauben sich die Rufe dem Schema AA’ B angelegt und durchmisst – wie
vom f ’ bis zum gis’’ zum Fortissimo-Höhepunkt die kontemplativen Abschnitte zumeist – verschie-
hinauf, bei dem die Geigen zu Sechzehntel-Skalen dene Intensivierungsphasen. Die Harmonik ist,
übergehen. Das »eleison« bringt eine Kadenz nach insbesondere bei theologischen Schlüsselwörtern,
H-Dur, von der aus ab fis’ ein zweiter Anstieg be- chromatisch-expressiv. »Peccata« und »miserere«
ginnt und bis zum as’’ reicht, ehe das »eleison« nach werden durch ein ähnliches, in Achteln absteigen-
As-Dur einmündet. Der dritte Steigerungsbogen des Melisma hervorgehoben, bei »suscipe« kommt
nimmt die Kyrie-Motivik des vorangegangenen es zu einem ersten Höhepunkt, der bis auf das
Abschnitts auf (der vierte Ton stellt statt eines folgende »Qui sedes« ausgeweitet wird. Das letzte
weiteren Abwärtsschritss einen Quartsprung auf- »miserere« knüpft in der Motivik (kleiner Sext-
wärts dar). Bass- und Sopransolo treten erneut zum sprung abwärts, absteigende Achtelkette) an das
Chor hinzu, bis ein durch vor allem durch Quart- erste an, ist aber affektiv vom verhaltenen Flüstern
aufsprünge dynamisiertes weiteres Höhepunkts- bis zum emphatischen Aufschrei geweitet. Die
Plateau erreicht ist (auf Ces-Dur). Ein weiterer Reprise wird vom Solo-Sopran im Aufgriff des
Kyrie-Passus bildet eine Art Nachklang und führt »Gratias«-Modells angestimmt, womit erneut das
über Anklänge in den Singstimmen zum abstei- Wechselspiel von gedämpfteren und lauten Passa-
genden Quartmotiv zurück, das über unisonen c- gen mit ihren eigenen Begleitfiguren beginnt,
Deklamationen durch die Streicher wandert. obwohl dem Text nun entsprechende Hinweise
fehlen. Ein emphatisches Mittel der Textdeklama-
tion ist das Unisono bei »in gloria dei patris«, wo
Gloria
die Silbe »glo-« fünf Takte lang in hoher Lage
Das Gloria beginnt im Chor mit einer wörtlichen ausgehalten wird.
Vorwegnahme des Credo-Anfangs, während der Die großartig angelegte Fuge verläuft neuerlich
gleichzeitig erklingende Quartabstieg in den weitgehend auf einem expressiven Plateau, ledig-
Oboen auf die zweite Themenhälfte bezogen ist, lich der zweite thematische Ansatz ab Takt 292
und weist die übliche vierteilige Anlage auf: Zwei führt zu einer Schluss-Steigerung, die sich in ei-
im Duktus und der Motivik ähnliche schnelle nem dreifachen Forte, unisoner Deklamation in
Teile in C-Dur umrahmen das breit ausgeführte, langen Notenwerten sowie unisonem Vortrag
langsame »Qui tollis« in d-Moll. Coda-artig weniger, taktweise wiederholter Begleitfiguren im
schließt sich eine Fuge über »In Gloria dei patris. Orchestertutti Bahn bricht. Das viertaktige
Amen« an. Im A-Teil baut Bruckner die Unter- Hauptthema, das von Anfang an mit zwei ver-
scheidungen zwischen Lob/Ruhm und Anbetung/ schiedenen Amen-Motiven (Oktavsprung abwärts
Dank geradezu systematisch aus, indem er beiden bzw. Septsprung aufwärts und Rückführung in die
Aspekten ein in Deklamationsart, Lage, Dynamik Quarte) kontrapunktiert wird, exponiert in seiner
und Begleitmotivik unterschiedliches musikali- ersten Hälfte einen Oktav-, Quint- und Sept-
sches Modell beigibt und diese dann entsprechend Sprung, in der zweiten Hälfte folgen zwei aufstei-
den Textmarkierungen alternieren lässt. Beim gende große Terzen, deren wichtige kontrapunk-
»Gratias« tritt dabei erstmals eine Solo-Passage tisch-motivische Funktion sie als weiterer Anklang
hinzu. Der Chorvortrag ist weitgehend homo- an die Credo-Thematik ausweist. Die unablässige
phon-deklamierend, das erste Unisono zu »unige- Einsatzfolge verdichtet sich nach einiger Zeit,
nite« eindeutig wortbezogen. Wiederum entstehen Umkehrungen, Abspaltungen und Engführungen
so, namentlich durch die Multiplikation eintakti- treten als weitere Momente der Steigerung hinzu.
ger Begleitmuster, relativ statische Expressions- Bemerkenswert ist der Amen-Schluss des ersten
Plateaus. Der facettenreiche Text wird in einzelne Durchlaufs, der als absteigende Sequenzfolge klei-
Bilder unterteilt, die dann eins nach dem anderen ner Sekunden vertont ist, woraus sich eine Kette
musikalisch vorgestellt werden. Für musikalischen dissonanter und in keiner funktionalen Beziehung
Zusammenhang sorgt vor allem der zumeist in stehender Akkorde ergibt (T. 283 ff.).
Geistliche Vokalmusik 267

Die Holzbläser sorgen mit leise gestoßenen Akkor-


Credo
den für einen Klanguntergrund, über dem sich
Im Credo erklingt dann endlich das Haupt-Motiv Soli von erster Violine, Bratsche und Sängern
der Messe in seiner Grundgestalt, und zwar bereits entfalten. Der instrumentale Bass schweigt bis
zur eigentlich dem Priester vorbehaltenen Intona- zum »et homo factus est«. Der Tenor trägt den Satz
tion. Im Terzaufstieg, mit dem das Motiv beginnt, bis »Maria virgine« zunächst allein in einer emp-
mag man zudem eine Reminiszenz an das beinahe findungsvollen Melodie vor, wiederholt ihn dann,
in allen Strophen des gregorianischen Credo I wozu der Frauenchor hinzutritt. Bei »Maria vir-
präsente Kopfmotiv sehen. Damit ist die zentrale, gine« – zu dem der Chor gleichzeitig »de spiritu
Inhalt und Anlage der gesamten Messe bestim- sancto« singt, was eine schöne Andeutung der
mende Bedeutung dieses Satzes nachdrücklich Verkündigungsszene ist – blüht die Harmonik auf,
herausgestellt. Die Konzeption des ebenfalls in ehe sie beim »incarnatus« kurz in die Sphäre der
C-Dur stehenden Satzes ist offenkundig an die in B-Tonarten wechselt. Mit dem »incarnatus« be-
der e-Moll-Messe gefundene Lösung angelehnt: ginnt überdies eine synkopische Achtelfigur in den
Das Hauptmotiv passt sich dem jeweiligen Text beiden Solo-Streichern, die auch die mehrmaligen
flexibel an und dient so zum Vortrag sämtlicher Wiederholungen des »homo factus est« und den
Bekenntnisinhalte, auch dies in gewissem Sinne Kreuzigungs-Passus begleiten. Das »Crucifixus«
ein Choralelement. Durch die aufwärtsstrebende beginnt in Es-Dur, dunkelt dann aber zunehmend
Melodik, Paukenschläge, parallel geführte Trom- ein. Besonders das »passus« wird im Wechsel von
peten und das Orchestertutti wird es triumphal Solo-Bass und Chor mehrfach wiederholt, dabei
überhöht. Im Bass laufen ununterbrochene Viertel orchestral und melodisch zunehmend reduziert,
als einigendes Band durch den gesamten Allegro- bis es in einem zum Largo verlangsamten a-cap-
Teil. Gleichzeitig bleibt Platz für individuellen pella-Satz ausklingt, dem – wie schon in der e-
Wortausdruck: Bei »factorem coeli et terrae« schert Moll-Messe – aequalartige Posaunentakte folgen.
die Standardmelodie zunächst nach oben aus Wiederum komponiert Bruckner das Herz-
(»coeli«), um dann bei »terrae« in die Unteroktave stück des Credo als ein affektives Andachtsbild aus,
zu fallen. Zu »Filium dei« erscheint das Motiv das den Gläubigen die Versenkung in die Ernied-
nach Moll verfärbt und bringt so einen für Bruck- rigung und das Leiden Christi erlauben soll. Zu-
ner typischen Akzent. Kontrastierende, wiederum gleich strebt er aber den musikalischen Nachvoll-
wortdarstellende Formulierungen etwa zu »visibi- zug der geschilderten Ereignisse in ihrer Prozess-
lium omnium…« und »ex Patre natum…« fungie- haftigkeit, vor allem der Menschwerdung selbst
ren zudem als strukturelles Decrescendo, von dem und des Leidens und Sterbens an, wozu er kompo-
sich der Fortissimo-Neuansatz des Kopfmotives sitorische Effekte wie harmonische Umfärbungen,
umso strahlender und formal klarer abhebt. Bei auf- und abschwingende Begleitmotivik sowie
»Deum de deo« wird der Chor geteilt. Der erste auskomponierte Decrescendi symbolisch auflädt.
trägt im Fortissimo die christologische Aussage Die Auferstehungsepisode in E-Dur ist dann
vor, der zweite wiederholt den Passus als Echo im weniger prozessual – das orchestrale Crescendo zu
Pianissimo. Das Unisono zu »consubstantialem Beginn ist wiederum knapp gehalten – denn als
patris« und der mehrere Takte lang ausgehaltene neuerliche Plateaubildung entworfen. Akkordische
Ton zu »omnia« stellen weitere regelmäßig bei Deklamation, Pauken, Blechbläser und besonders
Bruckner zu findende Mittel der Wortillustration der inneren Bewegtheit der statischen Akkorde
dar. Das »descendit de coelis« wird als Überleitung dienende Figurationen in Streichern und Holzblä-
zum langsamen Mittelsatz breit und durch die ser suchen einmal mehr den Hörer mit dem Ein-
unisono auf-, dann absteigenden Skalen im Or- druck des Wunderbaren und der Majestät Gottes
chester geradezu imitativ auskomponiert. zu überwältigen. Die Wiederkehr Jesu lässt durch
Das mit E-Dur terzverwandte und Moderato Rückung nach d-Moll und eine unisone Drehfigur
misterioso überschriebene »Et incarnatus« ist eine der Holzbläser das Majestätisch-Strahlende ins
ausgesprochen feinsinnige Gestaltung des christli- Schreckliche kippen (verminderter Septakkord
chen Glaubensgeheimnisses der Menschwerdung: über as beim letzten »Venturus« T. 247 f.), wo-
268 Melanie Wald-Fuhrmann

durch bereits auf das Weltgericht gedeutet wird. gen bringt. (Über Unterschiede der Fassung von
Das »Judicare« ist in Rufe der einzelnen Chorstim- 1881 gegenüber dem Autograph und der Erstauf-
men aufgefächert und wird von wiederholten führungsversion von 1872 informiert das Vorwort
Bläserfanfaren in Anspielung auf die Posaunen des der Eulenburg-Ausgabe von Hans Redlich.) So-
jüngsten Tages begleitet. wohl Kurth (Kurth 1925, 1247) als auch Auer (Auer
Wie gewohnt setzt die Reprise mit »Et in spiri- 1927, 160) standen nicht davon ab, diesen Satz als
tum sanctum« ein. Davon abgesetzt wird der Ab- den Höhepunkt der Geschichte der katholischen
schnitt ab »qui cum patre et filio«, wodurch dieses Kirchenmusik zu bezeichnen.
Credo einen besonderen Akzent auf den Heiligen
Geist setzt: Verlangsamt zum Moderato setzt zu
Sanctus
einer reinen Streicherbegleitung sukzessive das
Solisten-Quartett mit derselben melodischen Das ebenfalls in C-Dur gesetzte Sanctus schlägt
Phrase ein. Das »simul adoratur« trägt der Chor zunächst einen Ton entrückter, lichtvoller Heilig-
pianissimo in zwei unisonen Strängen zu einem keit und Transzendenz an: Die Bässe schweigen,
Streichertremolo vor. Ein Crescendo führt zum das Akkordfundament bieten Oboen und Klari-
»conglorificatur«, das die Solisten – wieder piano netten, während die Violinen und Flöten verschie-
– übernehmen und bis zum »locutus est per pro- dene Motivlinien ineinanderweben. Getrennt
phetas« fortführen. Das nächste Fortissimo-Plateau voneinander fügen die Frauen- und Männerstim-
beginnt mit dem Bekenntnis zur katholischen men unisono je drei stets um eine Sekunde herauf-
Kirche, wiederum weitgehend unisono und zu versetzte »Sanctus«-Rufe über basaler Quart- bzw.
lebhaften Instrumentalfigurationen gesetzt. Mit Oktavmotivik hinzu, die an den »Christe«-Teil des
»et exspecto« kehrt Bruckner zur Satztonika zu- Kyrie erinnert. Taktschwerpunkte bleiben unbe-
rück und knüpft in der Instrumentation und der tont, so dass neuerlich ein schwebender, der Zeit
majestätischen Haltung wiederum an den ersten enthobener Duktus entsteht. Das »Dominus
Motivkomplex an. Das »mortuorum« ist diesmal Deus« ist ein plötzliches, geradezu epiphaniearti-
besonders stark abgesetzt, da der Klangstrom un- ges Fortissimo-Ereignis mit Akkord-Deklamation,
vermittelt abbricht, zwei Takte lang nur ein leises parallelen Blechbläsern und aufwärtsrauschenden
Paukentremolo erklingt, ehe die vier Silben uni- Streicherskalen, das wiederum die Credo-Terz in
sono a cappella in ganzen, chromatisch von c nach sich fasst. Homophon-prächtig ist auch das »Pleni
as absteigenden Noten gesungen werden. sunt coeli« in F-Dur aufgefasst, aus dem unmittel-
Der fugierte Schlussabschnitt zum »Et vitam bar, durch ein Sopran-Solo eingeleitet, das »Ho-
venturi saeculi. Amen« ist als groß angelegter sanna« hervorgeht. Durch den Wechsel zum
Steigerungsprozess entworfen: Die einzelnen, das Dreiertakt und die gehende Achtel-Begleitung
Credo-Thema melodisch wiederaufnehmenden erhält dieser Passus einen regelmäßigen, rasch be-
Vorträge des Textes fügen zunächst jedes Mal eine wegten Rhythmus.
Stimme mit einem neuen Kontrapunkt hinzu, ehe Mit einem Streichervorspiel, in dem die emp-
ein erster Teil mit mehreren thematischen Einsät- findungsvolle Melodie bei den Celli liegt, beginnt
zen kommt, dem sich andere Variantenbildungen das zunächst in der Tonika-Parallele As-Dur ste-
anschließen. Dazwischen treten jeweils homophon hende, dann in einem weiten Bogen nach F-Dur
und im Fortissimo vorgetragene doppelte »Credo«- leitende Benedictus. Mit der Cello-Melodie heben
Rufe, die in Rhythmus, Habitus und der Beglei- auch nacheinander die Solisten an, bis zum Bass-
tung wiederum auf das Haupt-Motiv zurückgrei- Solo der Frauenchor mit einem Wechselnoten-
fen: eine ausgesprochen eigenständige Bezug- Gegenmotiv einsetzt. Ein drittes sich durch den
nahme auf die Tradition der sogenannten Satz ziehendes Motiv erklingt erstmals Takt 41 in
Credo-Messen. Nach einer Zäsur beginnt mit ei- der ersten Violine und wird unmittelbar danach
nem kurzen Duett von Sopran- und Bass-Solo der dem Solo-Sopran übertragen. In Takt 59 beginnt
Schlussteil, der noch einmal unisono und einge- mit ihm ein zweiter Abschnitt des Satzes, wenig
hüllt in einen aus dem »Resurrexit« übernomme- später tragen es die allein spielenden Violinen
nen Tutti-Klang das »Credo. Amen« zum Erklin- mehrmals sequenziert hintereinander in seiner
Geistliche Vokalmusik 269

Umkehrung vor, das harmonische Fundament zusätzlich zum Chor kommt bei Takt 87 zu einem
wird durch zahlreiche Alterationen verfremdet, bis Halt auf Es-Dur. Ein a-cappella-Einschub fungiert
Takt 75 die ohne Solisten auskommende Reprise als retardierendes Moment, bis drei sich dyna-
einsetzt, die von einem Streichernachspiel be- misch steigernde »Dona«-Rufe einen letzten For-
schlossen wird. Das folgende Hosanna stellt neu- tissimo-Höhepunkt zur Streicherfigurationen und
erlich eine exakte Wiederholung des ersten dar. Bläserakkorden erreichen, der in einem weiteren
Ruf ausklingt. Das letzte Erscheinen des abstei-
genden Quartmotivs in der ersten Flöte und un-
Agnus Dei
getrübtem F-Dur ganz zum Schluss der Messe –
Das Agnus Dei schließlich fasst die christliche nachdem es aufsteigend im Chor zur Bitte von
Kernthematik von Schuld, Passion und Erlösung »dona« und »pacem« erklungen war – mutet nach-
– abgesehen von den üblichen Mitteln wie Wandel gerade wie eine himmlische Antwort und die
von Moll nach Dur und thematischen Rückgriffen gnädige Gewährung der so innig vorgetragenen
auf die vorhergegangenen Sätze – in eine Art mu- Bitte an, wobei Bruckner sich die sphärische Kon-
sikalischen Essay über die Quarte und andere notation der Flöte ebenso zunutze macht wie den
Tonsymbole. Erste Violine und Flöte tragen ein- Gestus der herabschwebenden melodischen Linie
zeln und insgesamt dreimal ein eintaktives Motiv und der Dur-Auflösung.
vor, das aus einem Quartsprung und einem an- Der besondere, sinfonische Charakter dieser
schließenden (verminderten) Quartgang abwärts Messe, aber auch ihre enorm hohen technischen
besteht. Mit Takt 4 geht das Motiv für einige Zeit Anforderungen prädestinierten das Werk geradezu
in den Bass über, wo es diastematisch zwar verän- für eine Konzertaufführung. Dennoch blieb das
dert wird, doch Rhythmus und Quartabstieg er- Stück zunächst weitgehend auf die Hofkapelle
halten bleiben. Auch die beiden Schlusstakte des beschränkt (Bruckner führte es, je mit eigenen
Vorspiels exponieren in der Oberstimme die ab- Einlagen, zwischen 1872 und 1884 mindestens
steigende Quarte. Wenn dann der Chor – getrennt achtmal dort auf; für 1877 ist eine Aufführung in
in die unisono gesetzten Frauen- und Männer- Ofen bezeugt). Ab 1890 engagierten sich Bruck-
stimmen – einsetzt, bewegt sich die Melodik zu- ners Bewunderer im Wiener Wagner-Verein für
nächst zwar eher im Terz- und Quintraum, auffäl- das Werk und brachten zunächst, zum Jahres-
lig sind dann vor allem die kleinen Terzen zu »Qui schluss 1890, eine konzertante Aufführung mit
tollis«, doch das den Solisten übertragene »Mise- zwei Klavieren zustande. 1893 folgten dann gleich
rere« ist ein harmonisierter Quartaufstieg, wobei zwei Aufführungen mit Orchester (am 25. März
die erste Quarte nur vermindert, die zweite rein und am 28. Dezember) und ein Jahr später setzte
ist. Die aufsteigende Quarte findet sich auch zu der Dirigent Wilhelm Gericke das Werk für das
Beginn des fortissimo gesetzten Chor-Abschlusses erste Gesellschaftskonzert der Philharmoniker auf
des ersten Rufes. In c-Moll (bei Verrückung der den Spielplan, als Ehrung zu Bruckners 70. Ge-
Gesangspartien um eine Sekunde herauf oder he- burtstag. 1894 erschien der Erstdruck der Messe in
rab) folgt eine Wiederholung des Abschnitts. Der Partitur, der freilich etliche Eingriffe Josef Schalks,
dritte Ruf intensiviert die Bitte durch Forte-Be- des Dirigenten von 1893, konserviert.
ginn, die polyphone Auffächerung des Agnus-
Motivs, Textwiederholung und Sechzehntelfigura-
Zum Verhältnis von Messe und Sinfonie
tionen der Streicher und Durchbruch zu C-Dur
bei Bruckner
beim letzten »Agnus Dei« (T. 63).
Mit dem nach Dur verwandelten ersten Kyrie- »Bruckners Messen sind die Vorhallen zu dem
Motiv des Quartabstiegs hebt dann der »Dona«- unendlich sich weitenden Freilichtdome seiner
Abschnitt in den Holzbläsern an. Bereits Takt 71 Symphonien.« Mit dieser Aussage eröffnete Auer
erscheint das Motiv ebendort in seiner aufwärts seine Besprechung der drei großen Messen Bruck-
strebenden Umkehrung und wird danach auch in ners (Auer 1927, 85) und gab damit einer Überzeu-
die Vokalstimmen eingeführt. Ein emphatischer gung Ausdruck, die in der Bruckner-Forschung
Abschnitt mit Orchestertutti und Solo-Sopran omnipräsent ist. Kaum ein Text über seine Sinfo-
270 Melanie Wald-Fuhrmann

nien kommt ohne mehr oder minder ausführliche bewegten Ereignisplateaus, das Denken in immer
Hinweise auf motivische, harmonische oder habi- höher wogenden Steigerungsbögen, der plötzliche
tuelle Verwandtschaften zu den Messen aus. Um- Abbruch und Neuanfang, überhaupt der Uranfang
gekehrt werden Auseinandersetzungen mit den aus einer minimalen musikalischen Keimzelle und
Messen grundiert von der Idee, hier die Wurzeln die Prinzipien der Motivbildung und Instrumenta-
von Bruckners ganzem späteren Schaffen, ja, tion. Andere Merkmale teilen beide Gattungen,
gleichsam die textierten Urformen seiner sinfoni- ohne dass in jedem Falle die Spender- und die
schen Themen vor sich zu haben. Freilich werden Empfängergattung sicher zu bestimmen wären:
Diagnosen von Motiv-Übernahmen wohl etwas Dazu gehört vor allem die motivische Verknüpfung
zu übereifrig gestellt. Und kaum je fragt man ge- der einzelnen Sätze im Sinne einer zyklischen
nauer nach dem Status eines solchen »Zitats«: Ist Großform, besonders der Rückbezug des Finales
es ein intentionaler, semantisch oder œuvrekonsti- auf den Kopfsatz, eine formale Strategie, die in
tuierend gemeinter Bezug oder eher ein Reflex Bruckners Messen-Lösungen freilich eine unmit-
personalstilistischer Einheitlichkeit? telbare religiöse Evidenz entfaltet. Und was eine
Für ein solches Verständnis leitend ist zum ei- Beschäftigung mit den Messen tatsächlich lehren
nen der tatsächlich ungewöhnliche schaffensbio- kann, ist Bruckners ausgeprägtes tonsymbolisches
graphische Umstand, dass Bruckner wohl der Denken, das sicherlich auch in seinen Sinfonien
einzige Komponist sein dürfte, bei dem eine bei- eine Rolle spielt und somit ein sicherer Hinweis
nahe ausschließlich und zum Schluss ambitioniert darauf ist, dass Bruckner sein Komponieren nicht
der geistlichen Musik gewidmete Phase von einer auf rein musikalische Strukturprozesse um ihrer
beinahe ebenso ausschließlich auf die Sinfonik selbst willen reduziert wissen wollte, sondern sein
konzentrierten abgelöst wurde. Zum anderen ist Gestaltungsinterese auf die musikalische Epiphanie
das Bild des überfrommen Bruckner, zumindest in ideeller Gehalte – auf Sinnstiftung im weitesten
der älteren Forschung, derart dominant, dass man Sinne also – konzentrierte.
sich seine Hinwendung zur weltlichen Instrumen- Offenkundig nahm Bruckner beide Gattungen
talmusik im Grunde genommen nicht erklären in ihrem kompositorischen Anspruch und ihrem
konnte und daher bereitwillig Zuflucht nahm zu Gehalt als ähnlich wahr. Immerhin scheint er nie
der Idee, die Sinfonien seien nichts anderes als versucht zu haben, für beide getrennte stilistische
textlose Messen und die Fortführung des geistli- Haltungen zu entwickeln. Die mehrsätzige monu-
chen Komponierens mit den Mitteln der absolu- mentale Großform zeugt ebenso dafür wie das
ten Musik. Je nach der ideologischen oder ästheti- große, geradezu Alles umspannende Spektrum der
schen Verankerung eines Autors wird der grund- expressiven Charaktere und die enorme Ernsthaf-
sätzlich teleologisch gedeutete Übergang vom tigkeit. Es darf auch nicht vergessen werden, dass
Messen- zum Sinfonienschaffen entweder als Be- Bruckners zunächst in den Messen Gestalt gewin-
freiung von der Textfessel, als Ablegen der religiö- nender kompositorischer Neubeginn nicht zuletzt
sen Zwangsjacke und als Offenbarung des eigent- durch die sinfonischen Studien bei Kitzler vorbe-
lichen Selbst oder aber umgekehrt als religiöse reitet wurde, wie überhaupt die Kompositionsge-
Überhöhung der Sinfonie interpretiert. Die ästhe- schichte beider Gattungen seit dem ausgehenden
tische Überzeugung vom Primat der absoluten 18. Jahrhundert miteinander verbunden war. Man
Musik hat an den entsprechenden Konzepten könnte also überlegen, ob die Konzeption dreier
keinen unerheblichen Anteil. groß angelegter sinfonischer Messen und die dabei
Tatsächlich ist es unleugbar, dass Bruckner sei- nötige Orientierung an religiöser Semantik, theo-
nen Personalstil wesentlich in den Messen entwi- logischer Symbolik und zeitlicher Suspendierung
ckelte und sich hier zum ersten Mal die zentralen ebenso wie dramatisch-narrativer Prozessualität
Grundgestalten seines musikalischen Ausdrucks- Bruckner dabei half, für ihn grundsätzlich gültige
spektrums finden: die Gegensatzpole von ekstati- Motiv- und Formbildungsprinzipien sowie expres-
schem Ausbruch, lyrisch-innigster Versenkung und sive Modelle zu entwickeln. Immerhin war die
Schmerzenskontemplation, das Mittel des pulsie- Formbildung vor dem Unterricht bei Kitzler sein
renden, durch repetitive, ostinate Motive innerlich kompositorisches Hauptproblem gewesen.
Geistliche Vokalmusik 271

Wenn Bruckner sich aber letztlich doch mit Liturgische Einzelwerke


allergrößtem Nachdruck der Sinfonie zuwandte,
Gradualien und Offertorien: musikalische
so wohl auch darum, weil das hier zur Verfügung
Andachtsbilder
stehende viersätzige Verlaufsmodell seinem musi-
kalischen Gestaltungswillen eher entgegen kam als Den wichtigsten Anteil liturgischer Musik neben
das einer sechssätzigen, relativ buntscheckigen der Messe stellten die Proprienkompositionen dar.
und teilweise redundanten Messe. Das kyriehafte Von den vier möglichen Stücken wurden im 19.
Anfangen erscheint ihm dabei auch in der Sinfonie Jahrhundert im Grunde ausschließlich nur Gradu-
als plausibel. Ebenso ist der Themenkontrast des ale und Offertorium polyphon vertont. Während
Kopfsatzes im Gloria mit seinen zwei gegensätzli- das Graduale als genetisch ältester Proprientext
chen Gestalten vorgeprägt. Die so typische Über- seinen Platz nach der Epistellesung bzw. vor dem
lagerung von Gruppenbildung und einem alles Alleluja hat, begleitet das Offertorium die Gaben-
überziehenden dynamischen Formverlauf scheint bereitung. Beide schaffen im Rahmen des Messab-
dabei vor allem an Gloria und Credo erprobt. Die laufs Raum für Betrachtung und Gebet. Beim
auch in Bruckners Sinfonik nicht unzutreffend als Offertorium spielt zudem der Aspekt, einen relativ
Verklärung benannten Momente entspringen umfangreichen stillen Handlungsvollzug musika-
ideell aus dem »Dona nobis pacem«. Im Adagio lisch zu überbrücken, eine Rolle. In Bezug auf die
finden sich Haltungen aus den Christus-Passagen musikalischen Abläufe vermittelt das Graduale
von Kyrie, Gloria, Credo und Benedictus verbun- zwischen Gloria und Credo, während das Offerto-
den. Was ihm die Messe jedoch nicht gestattete, rium direkt vor dem Sanctus steht.
war ein Charakter wie der in seinen Scherzo-Sätzen Zwar hätte auch das Stundengebet, insbeson-
jeweils pointiert explizierte sowie ein triumphaler dere die Vesper Gelegenheit für die Aufführung
Tutti-Schluss. Beides war ihm aber offenbar, so ambitionierter und groß besetzter mehrstimmiger
legen es jedenfalls die Sinfonien nahe, ein funda- Werke gegeben, doch hat Bruckner daran entwe-
mentales kompositorisches Bedürfnis. der kaum ein Interesse gehabt oder keine Aufträge
Wie konkret Motivübernahmen oder allgemei- erhalten. Das einzige größere Vesper-Stück ist sein
nere musikalische Verwandtschaften in diesem noch in St. Florian entstandenes Magnificat WAB
veränderten Kontext noch als semantisch aufgela- 24, das Traumihler gewidmet wurde und zwischen
den verstanden werden müssen, oder ob sich der 1852 und 1855 mehrmals, hauptsächlich an Mari-
eindeutig christlich-katholische Bezugsrahmen zu entagen, aufgeführt wurde. Die Besetzung mit
einem weltanschaulich allgemeineren und abstrak- Trompeten, Pauken und Streichern, Chor und
teren Bekenntnisgestus im Sinne von an beiden Solisten, sowie das Fugen-Finale dokumentieren
Orten vorkommenden Satzüberschriften wie »mi- den solennen Charakter des Werks.
sterioso«, »feierlich«, »majestoso« erweiterte, kann Bruckner komponierte Proprienstücke – von
kaum abschließend geklärt werden (zum Religi- den Einlagen in seine Kronstorfer Messe für den
ösen in Bruckners Sinfonik vgl. Wiora 1988 und Gründonnerstag WAB 9 und dem vierstimmigen
Steinbeck 1999). Zudem darf nicht vergessen wer- Ave Maria WAB 5 einmal abgesehen – nur in Linz
den, dass in den frühen Sinfonien die zitathaften und Wien, wenngleich einige der Stücke als Auf-
Anklänge an die neue Erfahrungswelt von Wag- träge für St. Florian entstanden. Zu den Gradua-
ners Musikdramatik den Motivanleihen aus der lien gehören die drei Christus factus est (für Grün-
eigenen Kirchenmusik an Quantität kaum nach- donnerstag und das Fest der Kreuzerhöhung; 1844,
stehen. Da aber in der zweiten Hälfte des 19. 1873 und 1884), Locus iste (Kirchweih und für ein
Jahrhunderts die Sinfonie, und zwar gerade auch Patrozinium der Jungfrau Maria; 1869), Os justi
als »absolute« Musik, ohnehin zu einem zentralen (Fest für einen Kirchenlehrer; 1879) und das Virga
Medium für weltanschauliche Bekenntnisse und Jesse floruit (anstelle des Graduale an einem Mari-
staatspolitische Stellungnahmen geworden war, enfest in der Osterzeit; 1885). Oft ist das Alleluja
würden entsprechende Gehalte die Gattung wohl in die Komposition mit einbezogen. An Offerto-
kaum überstrapazieren. rien wären zu nennen Afferentur regi (am Fest einer
Jungfrau und Märtyrerin; 1861), zwei Inveni David
272 Melanie Wald-Fuhrmann

(für einen Bekenner und Papst; 1868 und 1879). sonderheit von Bruckners kleineren liturgischen
Die drei ebenfalls als Offertorien verwendeten Ave Einzelwerken ist ihre – mit ganz wenigen Ausnah-
Maria (zu Marienfesten; 1856, 1861 und 1882) men – rein chorische Anlage. Dabei hatte die
stellen eine Besonderheit dar, insofern sie jeweils Proprienkomposition seit dem 18. Jahrhundert
den vollen Gebetstext präsentieren – das liturgi- denselben Weg wie die Messkomposition beschrit-
sche Proprium hingegen endet bereits nach »fruc- ten, war also eine genuin instrumentenbegleitete,
tus ventris tui« – und zwei von ihnen Geschenke konzertierende Form. Die Aufführung unbegleite-
Bruckners an ihm nahestehende Personen waren. ter Stücke war weitgehend auf die Fastenzeiten
Das stellte aber offenbar kein zeremonielles Pro- beschränkt und auch dort nicht bindend. Die
blem dar. Überhaupt ist für das 19. Jahrhundert verschiedentlich zu findende Erklärung mit einer
von einer ziemlich weitgehenden Flexibilität in Nähe zu den Cäcilianern trifft weder ideologisch
Bezug auf die Textauswahl für das Proprium aus- noch sachlich zu. Bruckners persönliche Abnei-
zugehen; die entsprechenden Stücke waren tat- gung gegen die ästhetischen Prämissen der Cäcili-
sächlich oft nichts weiter als ›Einlagen‹ (siehe als aner ist bekannt. Überdies pflegte Bruckner die
einzige umfangreiche Studie zur Proprienkompo- a-cappella-Motette von Anfang an und somit
sition im 19. Jahrhundert Krombach 1986). Bei schon lange bevor vom Cäcilianismus überhaupt
Bruckner gilt das freilich nicht für seine Wir- die Rede war. Und sein weitgehend homophoner,
kungsorte St. Florian und Linz: Soweit rekonstru- dabei harmonisch avancierter und ausdrucksstar-
ierbar, standen die gewählten Einlagen hier in ei- ker Chorsatz erinnert höchstens in der Anlehnung
nem unmittelbaren Bezug zum jeweiligen Tag. an die alten Tonarten und nicht-funktionalen
Erst bei den Aufführungen von Bruckners Messen Akkordfolgen an das vokalpolyphone Ideal der
samt eigenen Einlagen in Wien erscheint der Be- entsprechenden Reformer.
zug bisweilen gelockert, etwa, wenn zusammen Ähnlich wie die Messen werden auch Bruck-
mit der d-Moll-Messe 1867 mit Afferentur und Ave ners Motetten immer wieder als klingende Zeugen
Maria eigentlich zwei Offertorien erklangen, oder seiner besonderen, sich in der Musik subjektiv
am 9. September 1884 zur f-Moll-Messe auch das äußernden Frömmigkeit angerufen. Doch scheint
Christus factus est und Os justi gespielt wurden. es durchaus möglich, die Parameter des sich hier
Hier überwog offenbar bereits die konzerthafte niederschlagenden religiösen Empfindens in der
Anmutung eines reinen Bruckner-Programms die allgemeinen Frömmigkeitshaltung der Zeit und
konkrete liturgische Funktion der Musik. anderen religiösen Kunstformen wiederzufinden.
Neben ihrer liturgischen Funktion scheint Lieblichkeit versus Überwältigung, historisierende
Bruckner die entsprechenden Werke immer wie- Traditionsanspielungen, Personalisierung von
der auch als persönliche Aussage oder Widmung Gebet und Gottesdienst sind nur einige der
verwendet zu haben: So markiert das vierstimmige Schlagworte, die hier Aufschluss geben könnten
Ave Maria als Geschenk an Traumihler seinen (erste Gedanken dazu bei Kirsch 2001). Auch die
Abschied von St. Florian, während sein sieben- für Bruckners geistliche Musiksprache immer
stimmiges Pendant das Erstlingswerk seiner Rück- wieder in Anschlag gebrachte Kennung »mystisch«
kehr ins freie, selbstbestimmte Komponieren ist. müsste wohl auf ihre Bedeutung und Relevanz im
Das dritte Christus factus est schenkte er seinem 19. Jahrhundert allgemein befragt werden, ehe
Schüler Oddo Loidol zu dessen Primiz am 2. Mai man sie als rein subjektivistisches Stilmerkmal
1885 in Kremsmünster (Briefe 1, 275). einordnet.
Ähnlich wie für die Messen und die Sinfonien
etablierte Bruckner eine Art Normalform für seine
Ave Maria WAB 5, 6 und 7
kleineren geistlichen Chorwerke, die Parameter
der Formbildung ebenso umfasst wie solche der Erhellend für Bruckners reifes Motetten-Ideal ist
Textdarstellung, Harmonik und des dynamischen ein Vergleich der beiden seine Studienzeit umrah-
Verlaufs. Die auffälligste, in ihrer kompositionsge- menden Ave Maria WAB 5 und 6: Beide haben die
schichtlichen Querständigkeit allerdings noch gar Tempobezeichnung »Andante« und sind in F-Dur
nicht zur Kenntnis genommene musikalische Be- gesetzt. Das frühere ist vierstimmig. Colla parte
Geistliche Vokalmusik 273

läuft die Orgel mit. Das Satzbild ist bewegt poly- in derselben kurzgliedrigen Phrasierung die männ-
phon. Im Abstand von anderthalb Takten setzen liche Sphäre Jesu (»et benedictus fructus ventris
die Stimmen mit einem viertaktigen, rhythmisch tui«). Wiederum gibt es – wie auch im letzten,
und melodisch bewegten Thema auf den Text der Luise Hochleitner gewidmeten Ave Maria WAB 7
Anrufung ein. Jeweils im zweiten Thementakt tritt für Altstimme und Tasteninstrument von 1882 –
in zwei anderen Stimmen eine homophone Dekla- drei Jesus-Rufe in langen Notenwerten, der erste
mation desselben Textes in Achteln als Gegenfigur nur in den Männerstimmen, der zweite klanglich
hinzu. Die folgenden Zeilen von »gratia plena« bis heraufgerückt in den vier Alt- und Tenor-Stim-
»ventris tui« sind einem Alt- und einem Sopran- men, der dritte im Fortissimo und vollstimmig.
Solo anvertraut. Zum »Jesus«, das dreimal vorge- Die Seligpreisung Mariens wird so von derjenigen
tragen wird, verlangsamt sich das Tempo und der Christi übertroffen. Und auch die Harmonik – zu
Chor singt (ohne die Orgel) plagale akkordische »Jesus« wird ausschließlich A-Dur gesungen – ist
Fortschreitungen mit einem emphatischen Höhe- ein Symbol der Menschen- und Gottesnatur zu-
punkt auf dem dritten Ruf, der das Stück in die gleich: Bei »fructus« beginnt eine durch minimale
tonartlich ferne Sphäre von Es-Dur und As-Dur chromatische Verschiebungen verlaufende Modu-
entrückt. Im normalen Tempo schließen sich dann lation, die den verminderten Akkord der siebten
unter Binnenwiederholungen zwei Durchläufe der Stufe mit noch dem C-Dur zugehörigen Quart-
das Gebet abschließenden Bitte im gesamten Chor und Sekundvorhalt in einen nur durch die Terz dis
an, wobei die Oberstimme zunächst selbstständig angedeuteten H-Dur-Akkord verwandelt (dessen
über dem homophonen Satz verläuft. Im Bereich Grundton an dieser Stelle schon wieder in die
von »nobis peccatoribus« kommt es zur Eintrü- tonartfremde kleine Septime und Sekunde aufge-
bung nach c-Moll. spalten ist), dem ein E-Dur-a-Moll-Pendel folgt,
Die noch um zwei Takte kürzere siebenstim- bis das über einen regulären Quintfall im Bass er-
mige Vertonung mutet demgegenüber auf den reichte A-Dur das Ziel dieser Verwandlungen of-
ersten Blick wie ein künstlerischer Rückschritt an: fenbart. Die funktionsharmonische Verbindung
Der Satz ist fast durchweg homophon deklamie- zwischen der Marien- und der Christus-Tonart
rend, mit Generalpausen nach einzelnen Text- fasst symbolisch das Mutter-Sohn-Verhältnis,
phrasen und ohne jede rhythmisch-melodische während der mediantische Bezug zugleich die
Prägnanz. Stattdessen geht es Bruckner – und das überhöhte, göttliche Natur Jesu andeutet. Das
wird für alle seine folgenden geistlichen Chorstü- klangfarbliche und melodische Aufsteigen der
cke gelten – um eine ausgesprochen klare Art der Rufe und der plötzliche Fortissimo-Ausbruch
Textdarstellung und um die Verlagerung des Aus- fungieren zugleich als musikalisch vermittelte
drucks in Dynamik und Harmonik: So beginnen Schau Gottes, die blitzhafte Vision seiner herrli-
die drei Frauenstimmen mit den drei Phrasen des chen Präsenz.
Engelsgrußes in nur sanft dynamisch moduliertem Die zweite Texthälfte – wiederum zweimal
Piano. Der Klang bleibt auf F-Dur liegen, ledig- vorgetragen – bringt zunächst eine doppelchörig
lich die halben Noten erhalten eine d-Moll-Farbe, vorgetragene, sich vom Mezzoforte zum neuerli-
damit aber eben keinen harmonischen Entwick- chen Fortissimo steigernde Anrufung Mariens, die
lungsimpuls. Bei »benedicta tu in mulieribus« harmonisch nach F-Dur zurückführt und auf
brechen sie plötzlich, zu dem ersten Dominantak- »Dei« über B-Dur, verminderte Sept-Non-Klänge
kord und zur ersten betonten Dissonanz, ins Forte und C-Dur lang ausschwingt. Die Bitte um Für-
aus. Die Phrase endet in der reinen Oktave c–c, sprache ist im Piano gehalten, beginnt allein in
womit harmonisch die Dominante, symbolisch den Bässen und entfaltet sich dann in aufgelocker-
aber vor allem der Grund für das »benedicta« ter Homophonie über einem Orgelpunkt auf c.
enthüllt ist, nämlich Mariens Reinheit. Nach Die Todesstunde und die dann eintretende Für-
dieser Darstellung der weiblichen Sphäre Marias bitte Mariens werden besonders durch eine chro-
(wobei man den Frauenchor natürlich auch als matisch von a bis c aufsteigende Basslinie sowie
klangliche Evokation der Engelsstimme verstehen die damit verbundene Aufhellung der Harmonik
kann), präsentiert der vierstimmige Männerchor um zwei Grade auf dem Quintenzirkel (B-Dur zu
274 Melanie Wald-Fuhrmann

C-Dur) ausgedeutet. Die verkürzte Wiederholung wegnahme himmlischen Jubels, und dann auch
der Bitte legt eine besondere Emphase auf das die Einführung Mariens in den Tempel Gottes,
ausgefaltete »nobis«. Das »Amen« ist als plagale des Königs, bleibt hier in der Ferne der Ankündi-
Kadenz gesetzt und betont damit noch einmal die gung und gewinnt keine klingende Präsenz.
eigentümlich bedeutungsvolle Harmonik. Das Inveni David ist ein Stück nur für Männer-
In diesem kurzen Stück sind, ähnlich wie in der chor und Posaunenunterstützung und wurde von
drei Jahre später entstandenen ersten Messe, alle Bruckner der Liedertafel »Frohsinn« 1868 für die
von nun an für Bruckners Motetten charakteristi- jährliche Messe zu ihrem Gründungsfest gewid-
schen Stilmomente enthalten: die äußerste Reduk- met. Der Text entstammt dabei dem für diesen
tion der musikalischen Mittel, der klare, geradezu Tag – 10. Mai als Gedenktag des heiligen Bischofs
blockhafte Aufbau, die Verwendung der Harmo- Antonius – vorgesehenen Messformular. Das dem
nik zur Ausdeutung des Wunderbaren und Ge- Graduale folgende Alleluja ist hier fortissimo als
heimnisvollen, das unvermittelte Nebeneinander ausgedehnter Schlussteil mitvertont.
von kontemplativer Versenkung, andächtiger zeit-
enthobener Schau eines heiligen Bildes und plötz-
Locus iste WAB 23
licher Ekstase (zu den beiden Polen Versenkung
und Ekstase als Darstellungsziele von Bruckners Das Locus iste – ein Kirchweih-Graduale – wurde
Motetten siehe Kirsch 2001). Im Fokus von als Einlage zur 2. Messe und somit ebenfalls für die
Bruckners musikalischen Betrachtungen stehen Einweihung der Votivkapelle des Neuen Domes in
dabei im Grunde ähnlich wie in den Messen das Linz komponiert. Es kam in Linz aber erst einen
Geheimnis des Wesens Jesu und die besondere Monat später, am 29. Oktober 1869, zur Auffüh-
Rolle Marias, sowie – je nach Text – das Heilige rung. Bruckner hat es mindestens 1876, 1877 und
überhaupt. – Bruckner hat das Stück außerordent- 1881 zusammen mit dem Ave Maria und seiner
lich geschätzt, es z. B. bei seiner Bewerbung um dritten bzw. ersten Messe auch in der Hofburgka-
den Posten am Mozarteum einstudiert und wie- pelle aufgeführt. Zusammen mit dem dritten
derholt seiner ersten Messe als Einlage beigefügt. Christus factus est, Virga Jesse floruit und Os justi
nahm es Rättig 1886 in seinen Druck mit vier
Gradualien Bruckners auf.
Afferentur regi virgines WAB 1 und
Vierstimmig a cappella und in der kurzgliedri-
Inveni David I WAB 19
gen homophonen Setzweise des Ave Maria beginnt
Ein zugleich mit dem Ave Maria (WAB 6) 1861 es mit dem mehrmaligen, sich steigernden und
entstandenes Werk, das Offertorium Afferentur wieder beruhigenden Vortrag des Kerngedankens:
regi, ist auf einen weiteren Marien-Text kompo- »Dieser Ort ist von Gott gemacht«. Kadenzen
niert und insofern ein für das Linzer Marien-Pat- fallen auf d-Moll, G-Dur, C-Dur, G-Dur. Die
rozinium bestimmtes Werk. Seine Erstaufführung Oberstimme lockert die akkordische Deklamation
fand allerdings am 13. Dezember 1861 in St. Florian durch eine fließend-melodiöse Führung auf. Wie
statt. Wiederum im marianischen F-Dur exponiert meist sind Wiederholungen, zumal steigernde, als
dieses Stück jedoch einen imitatorischen Stil und Sequenz angelegt. Der emphatische Höhepunkt
setzt an Phrasenhöhepunkten und generell zur des Stückes liegt bei »inaestimabile sacramentum«,
Verstärkung colla parte einen Posaunenchor ein. also dem »unschätzbaren Geheimnis«: Hier gestal-
Das Kopfmotiv (Quintsprung abwärts, Quart- tet Bruckner eine um mehr als eine Oktave auf-
sprung aufwärts) dient zur Abschnittsbildung, steigende, harmonisch von g-Moll über B-Dur
indem es auch die Phrasen ab »proximae eius« und nach A-Dur führende viertaktige Forte-Phrase, die
»adducentur« sowie die Schlussphrase prägt. Da- um eine große Sekunde heraufversetzt im Fortis-
zwischen ist – nach dem einzigen Fortissimo-Hö- simo wiederholt wird. Die Hinführung in fremde
hepunkt zu »afferentur tibi in laetitia«: eine kurze harmonische Sphären dient hier wiederum der
Vision der himmlischen Freuden – ein kontrain- Darstellung göttlicher Geheimnisse. Die mehrma-
tuitiv zurückgenommener, thematisch freier Passus lige Wiederholung von »irreprehensibilis est« (»er
zu »exsultatione« eingefügt. Die ekstatische Vor- ist ohne Tadel«) stellt durch Pianissimo-Vorschrift,
Geistliche Vokalmusik 275

tiefere Lage, engen Ambitus, Dreistimmigkeit und Klanggewalt auf. Orgelpunkte auf as, b, dann eine
harmonische Auflösungen erst in der zweiten Basslinie von fis bis d führen in großem Bogen zur
Takthälfte nicht nur einen Kontrast zum Vorher- Zieltonart D-Dur, in der das Stück nach einer
gehenden dar, sondern expliziert einmal mehr die wieder nur vierstimmig a cappella gesungenen,
bei Bruckner häufig zu findende Idee, dass sich decrescendierenden Wiederholung des letzten
das Heilige nicht einfach nur triumphal oder in Gedankens schließt. Diese Steigerungsverläufe
fast tonloser Anbetung erschließt, sondern in der sind gleich in mehrfacher Hinsicht symbolisch
dialektischen Verbindung beider Ausdruckswerte aufgeladen: Schon die schiere Länge des Abschnitts
und gerade auch dem durch den plötzlichen Um- stellt die Bedeutung der Erhöhung aus demütiger
schlag ausgelösten Schock. Der Passus ist über Selbsterniedrigung und Tod heraus. Der Klang-
eine chromatisch absteigende Unterstimme ge- aufbau bei gleichzeitigem Streben in die Höhe (e,
setzt, was zur nicht-funktionalen Alternation von fis, beim dritten Mal a als absoluter Hochton des
terzverwandten Dur- und Moll-Akkorden führt Werks) ahmt die Erhabenheit Christi nach, die
(H-Dur, g-Moll, A-Dur, f-Moll). Danach schließt harmonischen Ausweichungen verweisen auf die
sich eine am Ende verlängerte Reprise des ersten Unfassbarkeit des göttlichen Wesens. Schließlich
Teils an. Den eigentlich vor der Wiederholung entfaltet dieser Passus auch eine pastorale Funk-
stehenden Fürbitten-Vers hat Bruckner nicht ver- tion, indem er durch die dem Hörer geradezu
tont. aufgezwungene besondere Beschäftigung mit der
Textpassage die Kontemplation und somit ein
gedankliches wie affektives Realisieren des Vorge-
Christus factus est II und III WAB 10 und 11
tragenen ermöglicht.
Der Text des Christus factus est scheint Bruckner in Auch in Bruckners letztem Christus factus est
besonderer Weise zur Beschäftigung mit der Erlö- WAB 11, das am 9. November 1884 in der Hof-
sungstat Christi herausgefordert zu haben (zu sei- burgkapelle uraufgeführt und 1886 in den bei
nen drei Vertonungen dieses Textes Fellinger 1988). Rättig erschienenen Gradual-Druck aufgenom-
Dasjenige von 1873 (WAB 10) – es erklang erstmals men wurde, macht das »super omne nomen« mehr
zu Mariä Empfängnis in der Hofburgkapelle – als die Hälfte der Komposition aus. Davor sind
gibt dem Chor einen Streicher- und Posaunensatz insonderheit das »oboediens usque ad mortem«
hinzu, wenngleich Bruckner die Weglassung der (Textwiederholung, Synkopatio, schrittweisendes
Violinen empfiehlt. Das Stück durchläuft eine Fallen des Basses, Decrescendo, Absinken in die
grandiose Steigerung in den vier Abschnitten, in untersten B-Tonarten) und das »exaltavit« (auf-
die Bruckner den Text geteilt hat. Auf den uniso- steigende Melodik, Erhebung in die Kreuztonar-
nen p-Vortrag des ersten Gedankens in d-Moll ten) bedeutungsvoll auskomponiert. Das »super
(»Christus ist um unseretwillen bis zum Tode am omne nomen« wird zunächst in drei Anläufen
Kreuz gehorsam gewesen«) in Sopran und Alt machtvoll bis zum Hochton des ganzen Stückes
folgt ein vierstimmig imitatorischer und nach A- (a) und dreifachen Forte gesteigert. Das an dieser
Dur modulierender Passus (»Deshalb hat Gott ihn Stelle erreichte A-Dur dient dann als Ausgangs-
erhöht«) mit forte-Markierung und aufsteigender punkt für ein allmähliches Verklingen des Stückes
Linie beim letzten »exaltavit«. Wiederum piano, im dreifachen Piano und der das anfängliche d-
homophon in Chor und Streichern setzt der dritte Moll auflösenden Zieltonart D-Dur. Auch hier ist
Teil ein (»und er gab ihm einen Namen«) und der Ausdrucks-Bogen wieder ausgesprochen weit
führt über eine chromatische Basslinie zu einem gespannt, dienen ekstatische Überwältigung und
ersten Chor-Orchester-Tutti – die Posaunen er- stillste Einkehr gleichermaßen der Evokation des
klingen nur hier – in einem nicht voll bestätigten Heiligen. Zugleich durchläuft das Stück damit
Des-Dur unter Verdoppelung der Chorstimmen. aber auch eine Betrachtungsfolge von allmählicher
Der vierte Teil, das breit ausgeführte »der über Einfühlung, Vision des Erhabenen und anbeten-
allen Namen ist«, beginnt genau in der Mitte des der Betrachtung, wie sie wohl als prototypisch für
Stücks. Unter Streicherbeteiligung baut es sich die Andachtspraxis der Zeit gelten kann.
dreimal sukzessive von unten nach oben zu voller
276 Melanie Wald-Fuhrmann

messen je einen Crescendo-Decrescendo-Bogen.


Os justi WAB 30
Das relativ längste Verweilen im Forte beim zwei-
Eine gewisse Sonderstellung unter Bruckners litur- ten Abschnitt sowie das nochmalige Anschwellen
gischen a-cappella-Werken nimmt das Os justi ein: zu dessen Schluss-Wort (»judicium«) setzt hier
Einem Brief Bruckners an den Widmungsträger zudem den Haupthöhepunkt des ganzen Stücks,
Ignaz Traumihler lässt sich entnehmen, dass es of- was insgesamt zu einer ausgewogenen und in sich
fenbar auf einen Auftrag seines ehemaligen Vorge- ausdifferenzierten Bogenform führt. Choraliter
setzten zurückgeht. Traumihler war einer der weni- schließen sich eine Alleluja-Kadenz sowie der zum
gen österreichischen Kirchenmusiker, die sich rela- Tag gehörige Psalm-Vers Inveni David WAB 20
tiv weit auf den Cäcilianismus eingelassen hatten, an, dem noch einmal das Alleluja folgt.
und darauf wollte Bruckner Rücksicht nehmen. So Als Reverenz gegenüber Traumihler ebenso wie
erläuterte er Traumihler in seinem Brief: »Wenn als persönliche Vorliebe kann die Wahl des Lydi-
ich nicht irre, so wünschten H Regens von mir ein schen als Tonart gelten. Sie ist freilich nur insofern
»Os justi«. Ich erlaube mir, solches zu übersenden, verwirklicht, als h statt b erklingt. In der jeweiligen
u war so keck, Euer Hochwürden es zu dediciren; Ambitusgestaltung der Stimmen jedoch ist das
(d. h. wenn Sie es annehmen.) […] Sehr würde ich modale Moment nurmehr vage erkennbar.
mich freuen, wenn E H ein Vergnügen daran fin-
den sollten. Ohne  u b; ohne Dreiklänge der 7.
Virga Jesse floruit WAB 52
Stufe; ohne 6/4 Akkord, ohne Vier- u Fünfklänge.
Ich will es in der Hofkapelle Ende Oktober bei Die letzte Gradual-Komposition, die Bruckner
Gelegenheit der Aufführung meiner D Messe exe- schrieb, ist wiederum ein Marienstück und war
cutiren« (25.7.1879; Briefe 1, 182 f.). Aufgeführt zusammen mit dem unmittelbar davor entstande-
wurde das Werk dann zuerst am 28. August, dem nen Ecce sacerdos magnus WAB 13 als Einlage zur
Festtag des heiligen Augustinus, der im Augustiner- Wiederaufführung seiner e-Moll-Messe am 4. Ok-
Chorherrenstift St. Florian einen Höhepunkt im tober 1885 anlässlich des 100. Diözesanjubiläums
jährlichen Festkalender bezeichnete. von Linz gedacht. Die erste Aufführung fand dann
Das überwiegend vierstimmige Stück weitet aber doch erst an Mariä Empfängnis in der Wiener
sich an besonderen Höhepunkten zur Achtstim- Hofburgkapelle statt. Auch dieses Stück wurde
migkeit aus und folgt mehr als die anderen geistli- 1886 in dem bei Rättig erschienenen Gradual-
chen Chorwerke Bruckners einer tatsächlich mo- Druck veröffentlicht.
tettischen, also abschnittsweise verschieden kom- Es weist noch einmal die üblichen Charakteris-
ponierten Anlage: So ist der erste Satz zunächst tika des Brucknerschen a-cappella-Stils auf: Piano-
akkordisch und melodisch wie harmonisch statisch Beginn in Moll (hier e-Moll), weitgehend homo-
gesetzt, zu seiner Wiederholung findet die erste phoner Satz, klare Gliederung anhand der Textzä-
Aufspaltung in die Achtstimmigkeit sowie – als suren, Heraufsequenzierung ganzer Textabschnitte,
gleichzeitiges Melisma zu »meditabitur« und »sa- Steigerungsbögen mit einem Haupthöhepunkt,
pientiam« – in die Polyphonie statt. Mit »et lingua bei dem der dynamische und der melodische Hö-
eius loquebatur iudicium« setzt ein ausgedehnter hepunkt mit einem besonderen harmonischen
imitatorisch-polyphoner und insofern primär Ereignis zusammenfallen, weiter harmonischer
melodisch geprägter Abschnitt ein, der mit Ach- Ambitus mit Passagen im B- und solchen im
telketten und sogar Sechzehnteln für eine Dyna- Kreuz-Tonartenbereich, plötzliche und eklatante
misierung des Verlaufs sorgt. Wiederum homo- dynamische Kontraste, Schluss in der gleichnami-
phon-akkordisch schließt sich der dritte Abschnitt gen Dur-Tonart. Momente der Textausdeutung
an – der zu diesem Graduale gehörige Psalmvers fallen hier etwa auf das »floruit« (Melismenbil-
»Lex dei eius in corde ipsius« –, der sich zu dem dung, aufsteigender Melodieverlauf, crescendo und
vielfach wiederholten »corde« polyphon auffaltet, Wendung nach Dur als Zeichen des Aufblühens),
um zur statischen Deklamation zurückzufinden, das die doppelte Natur Christi benennende
der in knapper Deklamation der Schluss-Satz »Deum et hominem« (weite Lage, auf- und abstei-
folgt. Die ersten drei der vier Abschnitte durch- gende Oktavlinien zu »Deum«, unisono in Mittel-
Geistliche Vokalmusik 277

lage auf »hominem«), das die Zentralidee des direkte Anklänge an Choralmelodik sind nicht zu
Stückes benennende »pacem Deus reddidit« (lange finden, wenngleich der melodische Duktus und
Steigerung, von C-Dur aus erste Hinführung in die modale Anlage namentlich der Solo-Phrasen
die Kreuztonarten, dreifaches Forte bei der letzten hier ihr typologisches Vorbild haben.
Wiederholung von »pacem«). Ausgesprochen Das »tota pulchra« ist musiksymbolisch reprä-
festlich-hymnisch ist das gut ein Drittel des Werks sentiert in der gerundeten Melodik des Tenor-
ausmachende finale »Alleluja« gestaltet, mit teil- Solos, den reinen Dreiklängen, vor allem dem
weiser polyphoner Auffächerung, mehreren dyna- schön klingenden Sextakkord zu »pulchra«, und
mischen Höhepunkten, punktiertem Kopfrhyth- dem Wechsel vom auf zwei Oktaven gespreizten
mus und schließlich dem befriedeten Verklingen reinen g-Klang nach F-Dur über »Tota«, wobei die
im dreifachen Piano. Mittelstimmen die Oktave g–g in der Mitte zu
einem unisonen c schließen. Zur Apostrophierung
Marias als »gloria Jerusalem« und »laetitia Israel«
Liturgische Stücke für Linzer Diözesanfeste
schwillt die Dynamik unvermittelt an, die Orgel
setzt in vollen Akkordgriffen in strahlendem C-
Tota pulchra es, Maria WAB 46
Dur ein und der Chor vervielfacht sich kurzzeitig
Das Werk ist, wie die meisten Marien-Stücke bis zur drei Oktaven umfassenden Neunstimmig-
Bruckners, für Linz komponiert. Die Erstauffüh- keit – vielleicht eine aufblitzende Reverenz an die
rung fand am 4. Juni 1878 in der Votivkapelle des neun Engelschöre. Innig leise wird der Gesang bei
Linzer Neuen Domes zur Feier von Bischof Ru- der Anrede Marias als Anwältin der Sünder (Moll-
digiers 25-jährigem Amtsjubiläum statt. Das klänge und im Sopran eine absteigende, Disso-
schön ausgestattete und geschriebene Widmungs- nanzen erzeugende Synkopatio), mit dem der
exemplar mit goldenem Widmungsaufdruck an zweite, um Fürsprache bei Christus bittende Teil
Rudigier hat sich im Linzer Domarchiv erhalten. vorbereitet wird. Dieser bringt trotz der Aufgriffe
Als Textgrundlage fungiert das litaneiartige Gebet aus dem ersten harmonische Versetzungen und
(und nicht die nur zwei Verse daraus verwenden- Schärfungen, besonders in Richtung der B-Tonar-
den zwei Vesperantiphonen, wie in WAB und ten (Des-Dur bei »Mater clementissima«). Der
NGA zu lesen, die auch als Verse zu Graduale Fortissimo-Höhepunkt hier fällt auf das erste
und Tractus in der Messe Verwendung finden) »intercede pro nobis«. Die letzte Erwähnung
zur vorbereitenden Novene und dem Fest der Christi ist dann eine in sich kaum bewegte leise
unbefleckten Empfängnis, dem Patrozinium des Deklamation auf E-Dur.
Baus. Dieser Litaneibezug erklärt auch das Alter-
nieren von Solo-Tenor und vierstimmigem Chor,
Ecce sacerdos magnus WAB 13
zu denen an wenigen Stellen die voll registrierte
Orgel hinzutritt; die Textaufteilung entspricht Diesem Werk liegt der Text des Responsoriums
exakt derjenigen der Litanei. zum Empfang eines Bischofs zugrunde. Es ist also
Tragen Vorsänger und Chor denselben Text entgegen WAB und MGG2 keine Antiphon. Mit
vor, schreibt Bruckner auch eine musikalische Hinblick auf das hundertjährige Jubiläum der Diö-
Wiederholung. Der erste Abschnitt, der auch in zese Linz wurde es vom dortigen Regens chori,
der Mitte des Werks zu »O Maria« wieder erklingt Johann Baptist Burgstaller, bei Bruckner in Auftrag
und eine veränderte Reprise einleitet, zitiert – dia- gegeben, der ihm das fertige, für Chor, Posaunen
stematisch leicht verändert – die entsprechende und Orgel gesetzte Stück am 18. Mai zusammen
Choralmelodie in der Version der Editio Medicea mit einigen Hinweisen auf Revisionen an der zu
(Graduale 1871, 355), auch der Quartsprung auf »et diesem Anlass wiederaufgeführten e-Moll-Messe
ma(cula)« zu Beginn der zweiten Zeile ließe sich zuschickte (siehe Briefe 1, 264). Zu einer Auffüh-
als Allusion an den Choral verstehen. Auch die rung kam es jedoch nicht.
Zeilen »Tu gloria Jerusalem« und »tu laetitia Israel« Die Textstruktur ist bindend für den musikali-
beginnen auf demselben Ton wie der Choral und schen Aufbau: Am Anfang stehen zwei selbststän-
folgen ihm in den zwei, drei ersten Tönen. Weitere dige, je zweiteilige Verse. Der zweite (»Ideo jureju-
278 Melanie Wald-Fuhrmann

rando«) wird auch als vierter und sechster Teil jedoch mit der Betonung des »dedit illum«, so dass
vorgetragen, was Bruckner durch identische musi- sich das wiederkehre »Ideo jurejurando« umso
kalische Wiederholungen aufgreift. Die an fünfter prächtiger davon abhebt.
Stelle stehende Doxologie setzt er syllabisch-cho- In diesem Stück stehen für einmal nicht die
raliter und in Anlehnung an eine schlichte Choral- Herrlichkeit Gottes oder das Geheimnis des Wesens
melodie, jedoch unter Umgehung der melodisch von Christus oder Maria im Vordergrund, sondern
viel ausgreifenderen und melismenreichen Melo- die Verherrlichung eines Kirchenfürsten. Man
die des Responsoriums. kommt kaum umhin, es als ein Propagandawerk
Dem Festcharakter und der Huldigungsfunk- für den Linzer Bischof (zu dieser Zeit schon nicht
tion des Stücks entsprechend beginnt es im Ge- mehr Rudigier, sondern der gerade inthronisierte
gensatz zu fast allen anderen liturgischen Chor- Ernest Maria Müller) und die Diözese an sich zu
werken Bruckners im dreifachen Forte. Die zu- hören und Bruckner einmal mehr in der Rolle des
nächst auf a-Moll einsetzende Deklamation wird bischöflichen Linzer Festkomponisten zu finden.
zweimal heraufsequenziert und zielt in einem
Paenultima-Melisma über c-Moll und f-Moll nach
Hymnen und Choräle
C-Dur. Der zweite Versteil ist durch Piano-Dyna-
mik, imitatorisch-sukzessive Einsätze und das Zu Bruckners kirchlichen Werken gehören
Schweigen der Posaunen charakterlich vom ersten schließlich noch etliche kleine, usuelle Stücke aus
abgesetzt, um den Inhalt – »der in seinen Tagen dem Randbereich der Liturgie. Die in der Mehr-
Gott gefiel« – hervorzuheben. zahl sehr frühen Tantum ergo- bzw. Pange lingua-
Der Refrainteil »Ideo jurejurando« dürfte eine Vertonungen begleiteten als strophisch vierstim-
der ekstatischsten Chorschöpfungen Bruckners mig gesetzte Hymnen die Sakramentsverehrung.
außerhalb seiner Messen sein: Frauen- und Män- Der Schutzengelhymnus »Iam lucis orto sidere«,
nerstimmen werden zu zwei Chören geteilt und von dem Fassungen ohne und mit Orgel sowie
zur Drei- bzw. Vierstimmigkeit aufgefächert. Jeder eine späte, transponierte und für Männerchor
Chor deklamiert die Phrase für sich viermal in eingerichtete existieren, wurde im letzten Linzer
einem zweitaktigen Modell, wobei der Männer- Sommer für die Schutzengelbruderschaft des Stif-
chor einen Takt später einsetzt und von den Po- tes Wilhering komponiert, später aber auch den
saunen begleitet wird, so dass man den Textbeginn Schülern im Stift Kremsmünster zugedacht und
insgesamt achtmal hintereinander hört. Die Text- 1886 in der Familienzeitschrift An der schönen
wiederholungen erfolgen zudem jeweils um eine blauen Donau gedruckt. Zu den Hymnen zählen
Terz herauftransponiert, was einen jeder harmoni- auch der Pfingsthymnus Veni creator spiritus WAB
schen Logik entkleideten (die Harmonien sind 50 (um 1884) und Bruckners letztes geistliches
terzverwandte Moll-Dur-Folgen und enden Werk, Vexilla regis WAB 51 (1892). Der im Stil
wiederum auf C-Dur), überwältigenden Steige- seiner a-cappella-Motetten stehende und St. Flo-
rungseffekt hervorruft. Der zweite Versteil bringt rian gewidmete dreistrophige Vesperhymnus zu
eine kurze Entspannung in nur vierstimmigem a- Palmsonntag wurde ausweislich eines Briefes von
cappella-Gesang, dessen an das damals freilich Bruckner »nach reinem Herzensdrange compo-
noch gar nicht komponierte Gralsmotiv aus Wag- niert« (7.3.1892; Briefe 2, 170) und ist ein letztes
ners Parsifal erinnernde Schlusswendung häufig Beispiel für die oft als »mystisch« bezeichnete
bemerkt worden ist, ehe das »in plebem suam« im Verhaltenheit und Versenkung in Bruckners geist-
lautesten Unisono beginnt und zu »su(-am)« in lichen Chorwerken.
Sopran und Bass einen ekstatisch-synkopischen Wenn Bruckner die meisten dieser Stücke auch
Oktavsprung aufwärts in das von Bruckner sonst nie zu seinen Werken im emphatischen Sinne ge-
nie geforderte b’’ herausschleudert, von dem aus rechnet hat, so zeigen doch die teils mit dem Blick
eine entspannende Abwärtsbewegung nach A-Dur auf eine Veröffentlichung in den späten 1880er
einsetzt, auf dem der Vers ausklingt. Der dritte Jahren vorgenommenen Bearbeitungen und Neu-
Vers ist vergleichsweise verhalten und wiederum fassungen sowie die in das letzte Linzer Jahr fal-
unter Verwendung des »Grals«-Aufstiegs gestaltet, lende neuerliche Vertonung des Pange lingua
Geistliche Vokalmusik 279

(WAB 33), dass Bruckner immerhin ein gewisses Nicht-liturgische Werke


persönliches Interesse an ihnen hatte.
Mit dem Pange lingua ist überdies ein weiterer Bruckners geistliche Werke erschöpfen sich nicht
cäcilianischer Bezug verbunden, entschied sich in einem konkreten Bezug zu den liturgischen
Bruckner doch einmal mehr für eine modale An- Ritualen von Messe und Stundengebet, sondern
lage (in diesem Falle für phrygisch), was die Auf- greifen immer wieder auch in die Sphäre des welt-
merksamkeit der Cäcilianer erregte. Franz Xaver lichen Konzertes aus. Das gilt in besonderem
Witt gab das Werk dann auch, wohl ohne Bruck- Maße für die insgesamt fünf deutschen Psalmver-
ners Wissen und Zustimmung, 1885 als Musikbei- tonungen und das Te Deum, das zu seinen erfolg-
lage seiner Zeitschrift Musica sacra bei (S. 44), al- reichsten Kompositionen überhaupt gehört. Die
lerdings nicht ohne einige Eingriffe in Harmonik, relativ große Präsenz geistlicher bzw. religiöser
Stimmführung und metrischen Verlauf vorzuneh- Werke in der außerkirchlichen Sphäre hängt mit
men (beschrieben in NGA XXI, Revisionsbericht, der auch im 19. Jahrhundert und trotz allen libe-
75), die Bruckner sehr ärgerten. 1888 veröffent- ralen und antikirchlichen Strömungen in Öster-
lichte Witt das Stück noch einmal. reich noch immer ausgesprochen großen Rolle der
Doch auch die choralnahe Einstimmigkeit Religion für Staat und Gesellschaft zusammen, die
hatte für Bruckner eine gewisse Attraktivität (zu in der politisch propagierten Idee einer supranati-
Bruckners kompositorischer Beziehung zum Cho- onalen, rein christlichen Monarchie gipfelte.
ral vgl. Maier 1987 und Maier 1988). So entstand
1884 das Salvum fac populum tuum WAB 40 auf
Psalmen
die Schlussverse des Te Deum, bei dem sich solis-
tisch vom Bass vorzutragende, als »Choral« be- Die christliche Tradition der mehrstimmigen
zeichnete, doch frei komponierte Versanfänge mit Psalmvertonung hängt eigentlich mit dem Stun-
Psalmtonharmonisierungen im Falso-bordone-Stil dengebet und besonders mit dem Jahrhunderte
und homophonen Abschnitten abwechseln. Über hindurch ähnlich festlich wie die Messe gestalteten
eine eventuelle Aufführung dieses seltsamen Stü- Vesper-Offizium zusammen. Das gilt auch für das
ckes oder über einen möglichen (para-)liturgischen 19. Jahrhundert noch, wie entsprechende Werke
Kontext ist nichts bekannt. von Bruckners Zeitgenossen Robert Führer und
Das wohl zur selben Zeit entstandene Veni Johann Baptist Schiedermayr belegen. Vor allem
creator spiritus WAB 50, dem im Autograph kein im protestantischen Raum etablierte sich aber
Text unterlegt und die irrtümliche Überschrift auch die Vertonung deutscher Psalmen als litur-
Veni sancte [spiritus] (das ist die Pfingstsequenz) gisch nicht konkret festgelegte geistliche Kompo-
beigegeben ist, hat in der Solo-Stimme die in F- sition. Als Beispiele wären hier Felix Mendelssohn
(Dur) gesetzte und an den Versschlüssen leicht Bartholdy oder Friedrich Schneider zu nennen.
ausgezierte Choralmelodie in ganzen Noten. Dazu Dass Bruckners Psalmen keine Offiziumskom-
tritt eine Orgelharmonisierung in Drei- und Vier- positionen sind, zeigt sich in ihrer deutschen
klängen, wobei der Grundton des jeweiligen Ak- Textgrundlage, entnommen der päpstlich appro-
kordes fast immer auch im Bass liegt, was für bierten Vulgata-Übersetzung von Franz Allioli
Bruckner sonst nicht selbstverständlich ist. Auch (zuerst Landshut 1851). Die Aufführungskontexte
hier herrscht über Intention oder mögliche Auf- sind, soweit dies rekonstruiert werden kann,
führungen völlige Unklarheit. durchaus verschieden: Für die drei ab 1852 in St.
Einen Choralvortrag in gleich langen Noten- Florian entstandenen Psalmen 22, 114 und 146
werten zu einer selbst erfundenen Melodie mit kann man vielleicht von einer Aufführung in den
Orgelharmonien bringt auch das zwischen 1885 dort regelmäßig stattfindenden Stiftskonzerten
und 1888 entstandene Ave Regina coelorum WAB 8, ausgehen. Kurios ist der Umstand, dass zu den
die in der Fastenzeit zum Abschluss der Vesper musikalischen Beständen von St. Florian eben der
oder Komplet zu singende Antiphon. Wiederum 22. Psalm op. 78 und der 114. Psalm op. 51 von
ist keine Aufführung zu Lebzeiten des Komponis- Felix Mendelssohn Bartholdy gehörten, denen
ten dokumentiert. aber wegen der von der Vulgata abweichenden
280 Melanie Wald-Fuhrmann

Zählung der Luther-Bibel andere Texte zugrunde keit zugunsten einer Trennung von Frauen- und
liegen. Bruckners 112. Psalm entstand 1863 als Männerstimmen abändernden B-Teil machen
letztes Studienwerk unter den Augen Otto Kitzlers dabei die je mit »Wer ist wie der Herr, unser Gott«
und war entsprechend nie primär auf eine klang- beginnenden Verse aus, in denen Bruckner Raum
liche Realisierung hin geschrieben worden. Der für die musikalische Ausdeutung einzelner Wörter
nächste, erst 1892 folgende 150. Psalm wurde mit und Phrasen findet. Der C-Teil ist wiederum eine
Blick auf eine internationale Wiener Ausstellung Fuge über das Alleluja mit eigenständigem Kon-
geschrieben und am 13. November in einem Ge- trapunkt in den Violinen.
sellschaftskonzert des Wiener Musikvereins urauf- Der Duktus des ausgesprochen klangschönen,
geführt und stellt somit ein Werk dar, das dezidiert zwischen vokalen und instrumentalen Stimmen
für die breiteste Öffentlichkeit bestimmt war. idiomatisch unterscheidenden Werkes ist ganz
Die beiden frühesten Psalmen 22 und 114 sind offenkundig an Mendelssohn angelehnt, der
abschnittsweise durchkomponiert. Der 22. Psalm Bruckner schon in St. Florian beschäftigte und
(»Der Herr regieret mich, und nichts wird mir einen wichtigen Platz im Unterricht von Kitzler
mangeln«) ist für vierstimmigen Chor und Solis- einnahm (zu Bruckners Mendelssohn-Kenntnis
tenquartett mit Klavierbegleitung gesetzt, der 114. vgl. Wessely 1975).
Psalm (»Alleluja, Liebe erfüllt mich«) für fünfstim-
migen Chor und drei Posaunen, die an besonderen
150. Psalm WAB 38
Stellen eingesetzt werden und den insgesamt ar-
chaischen Charakter des Werkes unterstreichen. Der Komposition von Bruckners letztem Psalm
Beide Werke enden wie das zur selben Zeit ent- liegt ein Auftrag des Dirigenten, Komponisten
standene Magnificat mit einer Fuge. und Musikkritikers Richard Heuberger für eine
Dieselbe Formidee liegt auch dem 146. Psalm Kantate oder Hymne zur Eröffnung der Internati-
(»Alleluja, lobet den Herrn, denn lobsingen ist onalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen
gut«) zugrunde, doch erscheint dieser – dessen Wien im Jahr 1892 zugrunde. Bruckner entschied
Datierung wegen fehlender autographer Einträge sich von den zwei ihm angebotenen Texten für
und Aufführungsdokumente unsicher ist, aber den 150. Psalm (in der Luther-Übersetzung) »we-
wohl auch noch auf die St. Florianer Jahre angesetzt gen seiner besonderen Feierlichkeit« (Göll.-A. 4/3,
werden muss (Hawkshaw 1999 und NGA XX) – in 231). Tatsächlich sind im Laufe der Musikge-
einer ungleich umfangreicheren Ausführung und schichte Vertonungen des letzten Psalms immer
ist zu einer veritablen Psalmkantate mit selbststän- wieder zu besonders prächtigen und geradezu
digen Chor-, Rezitativ- und Arioso-Sätzen sowie apologetisch gemeinten Verherrlichungen der je-
einer ambitionierten Schluss-Fuge ausgebaut. weils modernsten Musik im Dienste des Gottes-
Bruckner scheint hier ähnlich wie mit der Missa lobs geworden. Der Festcharakter wird durch die
solemnis in einem Akt des Ehrgeizes versucht zu Tonart C-Dur, die große Orchesterbesetzung
haben, umfangreich Zeugnis für seine mittlerweile (doppelte Holzbläser, vier Hörner, drei Trompeten
erreichte Fähigkeit als Komponist abzulegen. und Posaunen, Kontrabasstuba, Pauke und Strei-
Der 112. Psalm (»Alleluja, lobet den Herrn, ihr cher) sowie die gut ein Drittel des Stückes ausma-
Diener, lobet den Namen des Herrn!«) ist das chende Schluss-Fuge unterstrichen. Da das Werk
Abschlusswerk der Studien in Instrumentation nicht rechzeitig zur Ausstellungseröffnung fertig
und Formenlehre bei Otto Kitzler und wurde im wurde, das dann für die Uraufführung in den
Sommer 1863 abgeschlossen. Der Psalm ist dop- Blick genommene Tonkünstlerfest des Allgemei-
pelchörig angelegt und mit einem vollen Orches- nen Deutschen Musikereins abgesagt wurde, setzte
tersatz versehen. Die abschnittsweise Vertonung, der Dirigent Wilhelm Gericke das Werk auf das
bei der sich Bruckner teilweise wiederum des Programm eines Gesellschaftskonzertes der Phil-
Mittels ostinat durchlaufender Begleitfiguren be- harmoniker, wo es am 13. November 1892 neben
dient, wird überwölbt von einer A-B-A-C-(A)- Werken von Schubert, Liszt, Strauss und Men-
Form. Den dynamisch zurückgenommenen, delssohn zur Aufführung gelangte. Aus der Entste-
leichter instrumentierten und die Doppelchörig- hungsgeschichte ergibt sich mithin ein Kontext
Geistliche Vokalmusik 281

für den erhabenen, geradezu bombastischen Ton folglich gleich im Halleluja (siehe Motivtabelle):
des Stückes, der in die Sphäre spätgründerzeitli- eine übergebundene halbe Note auf einem Hoch-
cher Wiener Selbstdarstellung und politisch ge- ton wird von drei tief(er) ansetzenden Achteln
färbter Männerchor-Bewegung führt, wie sie ein gefolgt. Dieser Motivkern prägt sowohl den Or-
Jahr später auch den sozio-ideologischen Hinter- chester- als auch den Chorpart, die es alternierend,
grund für Helgoland (WAB 71) abgab. jedoch in verschiedener Konkretisierung und
Das Werk ist in seinem Stil, in Harmonik, Fortführung vortragen, wobei in allen Fällen auch
Formaufbau, Höhepunktsbildung und Instru- eine doppelte Punktierung eine Rolle spielt. Dass
menteneinsatz ganz offenkundig an Bruckners das Orchester und der Chor je im Unisono gesetzt
spätem sinfonischem Schaffen (er arbeitete damals sind, begründet nicht nur die Durchschlagskraft
gerade am Beginn der Neunten Sinfonie) orientiert dieser Stelle, sondern ist wohl auch als Evokation
und ähnelt darin dem Te Deum (zu wichtigen des panharmonischen Weltenklangs zu verstehen:
Aspekten des Werks siehe Kirsch 1988). Die Form Instrumente und menschliche Stimmen tragen
weist wegen der abschnittsweisen Orientierung an beide denselben Lobpreis vor. Der Rest des ersten
den Textversen einerseits eine klare Gliederung Verses ist dynamisch deutlich zurückgenommen,
auf. Andererseits verbindet Bruckner hier eine alle zunächst in den Frauenstimmen imitatorisch ein-
Teile überwölbende großartige Steigerungsanlage geführt und mit verschiedenen selbstständigen
mit einer Bogenform. Das eröffnende 22-taktige Instrumental-Motiven begleitet. Dabei wird zum
Halleluja kehrt nach dem letzten Psalmvers Takt »Lobet« ein Quartsprung-Motiv eingeführt, das in
143 wieder. Ab Takt 165 folgt eine Fuge über die transformierter Weise auch weitere Zeilenanfänge
Schlusszeile und ab Takt 229 beschließt eine nun prägen wird: Vers 3 etwa bietet eine Umkehrung
wieder dem Text entsprechende weitere Reprise und in der zweiten Zeile eine Spreizung auf eine
des Halleluja das Werk. Dazwischen gruppiert kleine Sexte.
Bruckner den Rest des ersten mit dem zweiten Im selben verhaltenen Duktus wie Vers 1 be-
Psalmvers zu einem lyrisch-innigen Abschnitt mit ginnt auch der zweite Vers. Die erste Zeile wird
abschließender Steigerung, die zu den nächsten vom hier dreistimmigen Frauenchor vorgetragen,
gemeinsam vertonten Versen 3 bis 5 führt. Damit die zweite, zurückgenommen ins Pianissimo, vom
reagiert Bruckner einerseits auf die Formvorgaben vierstimmig geteilten Männerchor. Bei dem
des Psalms: Das »Halleluja« ist gleichsam ein Vor- Schlüsselwort »Herrlichkeit« bricht sich zu einem
spann vor den pro Vers je zwei Aufforderungen Dominantseptakkord ein Fortissimo Bahn, in
»Lobet ihn«, während der letzte Vers aus diesem dem sich beide Chöre zu einer achtstimmig a
Reihungsmuster ausbricht. Andererseits realisiert cappella deklamierten Wiederholung der Zeile
Bruckner hier aber auch den rhetorisch-inhaltli- vereinen. Der nächste Abschnitt hat wieder ein
chen Verlauf des Textes: Denn während die Verse bewegteres Tempo, setzt das Fortissimo fort und
1 und 2 jeweils »lobet ihn in …« lauten, wechselt ist durch einen Orgelpunkt auf g sowie durchlau-
der Fokus ab Vers 3 zu »lobet ihn mit …«. In der fende Achtelfigurationen der Violinen musikalisch
ersten Hälfte steht also die Vision Gottes in seiner zusammengebunden. Weitere Motive kommen in
himmlischen Herrlichkeit im Mittelpunkt und den Holz- und Blechbläsern hinzu, vor allem ein
wird u. a. durch eine C-Dur-Fläche symbolisiert. auftaktiges Motiv mit einer Achtel-Triole und
In der zweiten richtet sich der Fokus dann auf die anschließender langer Note. Der wieder vierstim-
Gott mit den Mitteln der Musik lobpreisenden mige Chor deklamiert die Zeilen weitestgehend
Menschen; Abschnitte, die Bruckner tonartlich homophon. Der vierte Vers ist harmonisch durch
äußerst bewegt und beständig modulierend ver- zwei chromatisch aufsteigende Linien im Sopran
tont. Das »Halleluja« ist dabei zugleich eine Art deutlich bewegter und durchläuft ein Crescendo.
Kürzestformel für den Inhalt, da es ja selber nichts Auf dieses antwortet der fünfte Vers und sinkt in
anderes bedeutet als »Lobet Gott«. Der letzte Vers einem langen Decrescendo zweimal vom Hochton
»Alles, was Odem hat, lobe den Herrn« bringt eine a herab, am Ende ganz ohne begleitende Instru-
bestätigende Zusammenfassung des Ganzen. mente, und schließt mit einer Kadenz in E-Dur.
Die wichtigsten Motive des Werks finden sich Der sechste Vers folgt hier zunächst als weiterer
282 Melanie Wald-Fuhrmann

Motivtabelle 4: 150. Psalm


Varianten des Hauptmotivs
T. 1ff.

Orch.

T. 2ff.

Chor

Hal le lu ja!
T. 10ff.

Chor

Hal le lu ja!
»Lobet«-Motive
T. 23ff. T. 37ff.

A.

Lo bet den Herrn Lo bet ihn in der Fe ste


T. 77ff. T. 83ff.

S.

Lo bet ihn mit Po sau nen lo bet ihn mit Psal ter und Har fen
T. 109

A.

Al les, was O dem hat

lyrisch-polyphoner Kontrastabschnitt: Ohne Bass auch Diminutionen und Umkehrungen exponiert.


und mit einer Kantilene der Solo-Violine fächert Mit der dritten Durchführung ist der volle Or-
sich zweimal hintereinander der Vers auf, beim chesterklang erreicht, und die Stimmen setzen
zweiten Mal um eine verminderte Terz heraufver- zusammen mit obligaten Kontrapunkten in enge-
setzt. Beim dritten Mal tritt noch ein Sopran-Solo ren Abständen ein. Der fünfte Themenansatz Takt
mit melismenreicher Melodieführung hinzu, die 203 führt zu einer sich chromatisch heraufschrau-
ab dem zweiten Takt bereits auf die Streicherver- benden Streicherfigur – eine in sich kreisende
sion des Halleluja-Motivs Bezug nimmt. Auch Quint-Quart-Brechung der Oktave, wie sie in
dieser Abschnitt verklingt im A cappella, zum Bruckners Sinfonik zu der Zeit üblich ist – rasch
Schluss im Unisono auf einem e. Mit der folgen- in die Homophonie. Und die motivischen Oktav-
den Reprise des Halleluja ist der Psalmtext voll- sprünge werden ebenfalls in Orchester und Chor
ständig vertont. Die Wiederholung des letzten chromatisch bis zum Höhepunkt b hinaufsequen-
Verses in Fuge und Halleluja-Reprise ist eine rein ziert. Auf dem Hochton entlädt sich ein dreifaches
ästhetisch begründete Zugabe, in der sich die Forte, von dem aus der Chor in einen D-Dur-
Aussageabsicht und der hochgestimmte Ton des Akkord herabsinkt. Immer noch erklingt die
Lobpreisens noch einmal bündeln und zum eksta- Streicherfigur, während sich im Bass, nun verkürzt
tischen Höhepunkt steigern. auf Viertel, die Oktavsprünge fortzeugen.
Das Fugenthema ist ausgesprochen unsanglich Die nochmalige Wiederholung des Textes Takt
erfunden: Auf einen Oktavsprung abwärts folgen 219 ff. erfolgt dann zu einem musikalischen Wie-
ein um eine kleine Sekunde hinaufverrückter deraufgriff des fünften Verses Takt 97 ff., führt in
Oktavsprung nach oben und eine kurze Kadenz- einer noch einmal um eine kleine Sekunde herauf-
formel. Einige Instrumente laufen mit den Stim- versetzten Wiederholung aber zur triumphalen
men mit. Die beiden Violinen tragen selbststän- Rückkehr nach C-Dur, auf dem der letzte Halle-
dige, intern aufeinander bezogene Kontrapunkte luja-Teil einsetzt. Hier ist der motivische erste Teil
vor. Bereits mit der zweiten Durchführung werden verkürzt zugunsten zweier lang gehaltener, in die
Geistliche Vokalmusik 283

sich immer wiederholenden Orchestermotive ein- also, wie der Kritiker der Orchester-Aufführung
gebetteten Rufe, die Takt 239 sogar das hohe c er- von 1886 schrieb, »in einem Moment, wo die öf-
reichen. Zu Trompetenfanfaren, die aus dem Trio- fentliche Meinung freudig erregt ist, etwa nach
lenmotiv hervorgehen, und dem unisonen Achtel- einem großen Staatsakte oder einem siegreich be-
Motiv in Klarinetten, Fagotten und Streichern endigten Feldzug« (Wiener Fremdenblatt vom
endet das Stück in einem pulsierenden C-Dur, eine 19.1.1886; zitiert nach Göll.-A. 4/2, 401). Aufgrund
ausgesprochen sinfonische Schlussgestaltung. der habsburgischen Politik des Gottesgnadentums
spielte das Te Deum auch in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts eine eminente Rolle in den
Te Deum WAB 45
politischen Zeremonien. 1881 konnte Bruckner
Das Te Deum wurde ausweislich der in Krems- das Te Deum von Hector Berlioz in Wien hören
münster erhaltenen Skizzen im Mai 1881 entworfen und schöpfte daraus vielleicht die Anregung für
und dann im September 1883 bis März 1884 voll- eine eigene Version, so jedenfalls der Bericht Göl-
ständig ausgearbeitet. Damit fügt es sich zeitlich lerichs (Göll.-A. 4/2, 141 f.). Ein äußerer Anlass zur
in den Beginn des letzten Schaffensschubs ab der Komposition scheint nicht vorgelegen zu haben;
Sechsten und besonders der Siebten Sinfonie ein, vielmehr ist zu vermuten, dass das Te Deum als
für die er die weitere Beschäftigung mit dem Werk eine religiös-politische, musikalisch traditionell
zurückstellte. ausgesprochen großartig angelegte Gattung
Bruckners Freunde beim Wiener Akademischen Bruckner ganz grundsätzlich interessierte und
Wagner-Verein setzten sich nachdrücklich für das seiner Ästhetik entgegenkam. Und bedenkt man,
Werk ein und initiierten eine Erstaufführung mit dass Bruckner in den 1870er und 1880er Jahren am
zwei Klavieren für den 2. Mai 1885. Bruckner diri- Schluss seiner Orgeldienste in der Augustinerkir-
gierte selbst. Bereits Ende des Jahres lag das Te che verschiedentlich über das »Gott erhalte« im-
Deum dann gedruckt vor. Und am 10. Januar 1886 provisierte – den zweiten, nun direkt österreichi-
fand die sinfonische Uraufführung durch die Phil- schen monarchistischen Bekenntnisgesang also –,
harmoniker statt. Dem Werk war ein unmittelba- dann dürfte auch das Moment der politischen
rer, internationaler Erfolg als Konzertstück be- Demonstration eine Rolle dabei gespielt haben.
schieden und verschiedentlich fungierte es als Bruckner indes hat das Werk verschiedentlich
›Türöffner‹ für den Sinfoniker Bruckner. Dennoch als weitgehend privates Frömmigkeitszeugnis zu
spielten die religiösen Assoziationen eine Rolle: etablieren versucht. So schrieb er an Hermann
Richard Hellmesberger plante, es bereits im No- Levi über den Erfolg der Erstaufführung des Te
vember 1884 zur Feier der Erhebung des Wiener Deum, »welches ich Gott widmete zur Danksa-
Erzbischofs Cölestin Josef Ganglbauer – 1876 bis gung für so viel überstandene Leiden in Wien«
1881 Abt des Stifts Kremsmünster – in den Kardi- (10.5.1885; Briefe 1, 259). Wie auch immer die
nalsstand in der Hofburgkapelle aufzuführen. Auf Authentizität oder die rhetorische Funktion sol-
das offenkundige Interesse des Salzburger Dom- cher Aussagen zu werten ist, deutlich wird immer-
chordirektors Johannes Peregrin Hupfauf an dem hin, dass Bruckner den Beginn der 1880er Jahre als
Werk reagierte Bruckner mit dem Nachsatz: »Die eine Zäsur wahrnahm, nach der ihm deutlich
größte Freude hätte ich, würde ichs einmal im mehr öffentliche Anerkennung zuteil wurde.
herrlichen Dome Salzburgs ertönen hören!« Bruckner zerlegt den langen und facettenrei-
(11.5.1885; Briefe 1, 262). Und Mahler setzte die chen Text, der den Habitus des Gloria mit Textan-
erste und zweite Aufführung des Werks in Ham- klängen aus Sanctus, Credo, Requiem und Kyrie
burg 1892 und 1893 je für den Karfreitag an. verbindet, in fünf separate Sätze: »Te Deum« bis
Das Te Deum hat als liturgischer Gesang »pro »Judex crederis esse venturus«, »Te ergo«, »Aeterna
gratiarum actione« – für Dankgottesdienste – eine fac«, »Salvum fac« bis »speravimus in te« und »In
bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition als te, Domine«. Die größte Textmenge wird im ers-
Herrschaftsmusik. Es erklang am Schluss von ten Satz vertont, den Sätzen 2, 3 und 5 liegt je nur
Messen für Siege, Krönungen, fürstliche Hochzei- ein Choralvers zugrunde. Folglich gestaltet Bruck-
ten und andere politisch-dynastische Ereignisse, ner in den textreichen Sätzen 1 und 4 mit den
284 Melanie Wald-Fuhrmann

Mitteln musikalischer Formbildung weitere Un- fangs an, die auf die nächsten Verse ausgedehnt
terabschnitte. wird. Der C-Dur-Bereich wird in der Folge davon
neuerlich verlassen. Die zunächst nur die Quint-
und Oktavtöne berührende Begleitfigur markiert
Te Deum
ab Takt 88 wiederholt auch Sext- und Septakkorde
Die ersten zwei Verse formt Bruckner zum musi- und führt über Es- und As-Dur nach G- und F-
kalischen Kennbild des Werks: Liegende Akkorde Dur. Das trinitarische Bekenntnis des Te Deum ab
in den Holzbläsern und der Orgel sowie eine per- »Patrem immensae majestatis« schließt Bruckner
manent auf derselben Stufe wiederholte halbtak- direkt an den vorherigen Passus an, reduziert aber
tige Ostinatofigur unisono in allen Streichern »wie mit der Dynamik auch die Besetzung auf unisone
ein festliches Geläute« (Auer 1927, 167) bilden den Streicher (weiterhin mit der ostinaten Figur) und
Klanggrund, vor dem sich der Chor, ebenfalls im unsiono deklamierenden Chor. Die fünf Christus
unisono und verdoppelt von den Blechbläsern, gewidmeten, je mit dem Pronomen »tu« begin-
deklamierend abhebt. Bis auf die in die Domi- nenden Verse lässt Bruckner im dreifachen Forte
nante leitende Kadenz ist der ganze Abschnitt und Orchestertutti (Streicherostinato, Blechbläser
nichts als ein in sich pulsierender Quintklang über colla parte und liegende Akkorde in den Holzblä-
c. Der archaische Charakter der Harmonik, der sern). Beim »Tu ad liberandum« – der Erinnerung
diese und parallele Stellen kennzeichnet, verdankt an die Menschwerdung – pausiert das Orchester
sich nämlich nicht nur der psalmtonähnlichen erstmals wieder, aus dem Unisono wird homo-
Deklamation, sondern insbesondere der Ausspa- phon-akkordische Klangführung und die Sänger
rung der Terz. Die nächsten zwei Verse haben tragen zweimal eine absteigende Linie als Symbol
nicht mehr den Lobpreis der ganzen Erde, sondern für die Herabkunft Gottes vor. Der dritte mit »tu«
den der Engel zum Thema und sind den Solisten beginnende Vers bringt erstmals wieder die poly-
in Sopran, Alt und Tenor anvertraut. Die Beglei- phone Auffächerung des Satzes über einem Orgel-
tung ändert sich im Duktus kaum, jedoch in der punkt auf g, dem pianissimo zu intonierenden und
Dynamik, da der Klang auf die drei Streicher diastematisch abgeänderten Streicherostinato und
(wobei die zweite Violine und die Bratsche nicht der colla parte spielenden Klarinette und Tenorpo-
mehr unisono mit der ersten Violine mitspielen, saune. Die zweite Vershälfte (»aperuisti credenti-
sondern eine Umkehrung der Hauptfigur bieten) bus regna coelorum«) wird breit auskomponiert:
und liegende Akkorde in Oboen und Klarinetten zunächst a cappella, dann ausgedünnt polyphon
reduziert ist. Das Alternieren von Sopran und unter Hinzutritt freier Holzbläserlinien und in
Tenor, das der Alt nur am Zeilenende ergänzt, ist fremdartiger Harmonisierung.
eine Vorwegnahme des bei Jesaja 6, 2 f. beschriebe- Ein Paukenwirbel leitet einen diesen ersten
nen Sanctus-Gesangs der zwei Seraphim (»clama- Satz beschließenden musikalischen Reprisenteil
bant alter ad alterum«), der dann in den nächsten zum »Tu ad dexteram Dei sedes« ein, der indes im
Versen folgt, von Bruckner indes als Chor-Cre- Gegensatz zum Anfang in der Mitte aus dem C-
scendo vertont wird, das mit dem dritten Sanctus- Dur ausweicht. Das ostinate Streichermodell er-
Ruf das Fortissimo und C-Dur erreicht. Der scheint zum Ende nicht mehr als Quart-Quint-
zweite Teil des Rufes (»Pleni sunt coeli et terrae«) Sprung abwärts, sondern als Oktavsprung abwärts
steigert den Preischarakter des Abschnittes durch und aufwärts.
das dreifache Forte, das Orchestertutti und die
Doppelchörigkeit (unisone Frauenstimmen gegen
Te ergo
geteilte akkordische Männerstimmen) noch ein-
mal und führt zwischenzeitlich in die Sphäre der Die Absetzung des Verses »Te ergo quaesumus,
B-Tonarten. Aus der erfolgt über einen sekund- tuis famulis subveni« in einem eigenen musikali-
weisen Abstieg der Begeitfigur in den Violinen die schen Satz ist liturgisch dadurch begründet, dass
Rückführung nach C-Dur. an dieser Stelle ein Kniefall zu erfolgen hat. Ähn-
In Takt 71 hebt zum Vers »Te gloriosus Aposto- lich wie im »Et incarnatus« der Messe fungieren
lorum chorus« eine musikalische Reprise des An- die musikalische Zäsur und der Charakterwechsel
Geistliche Vokalmusik 285

hier als eine Handlungsanweisung für die anwe- bei den folgenden drei hinauf-, dann wieder her-
sende Gemeinde. Die Bitte um den Beistand für abschwingenden Melodiebögen nahe an den
die Menschen, die Jesus mit seinem Blut erlöst Chorstimmen mitzulaufen. Diese Auf- und Ab-
hat, rührt zudem einmal mehr an das Mysterium wärtsbewegung (T. 237–248) wird durch ein Cre-
des Christentums. scendo und Decrescendo plastischer moduliert.
Bruckner entscheidet sich für einen reinen Nach einer kurzen Generalpause beginnen im
Solo-Satz mit kammermusikalischer Instrumenta- dreifachen Forte unvermittelt Orchester und Chor
tion, der in f-Moll anhebt und in F-Dur endet. noch einmal nahezu in einem totalen Unisono,
Aus den drei Versteilen macht Bruckner durch die ehe der Satz mit einigen a-cappella-Takten in A-
Wiederholung des letzten eine vierteilige Form Dur schließt.
nach dem Modell aa’bb’. In allen vier Abschnitten
fungiert der Tenor als Vorsänger, dessen Gesang
Salvum fac
die anderen drei Solisten nur am Versende in ei-
nem a-cappella-Satz verstärken. Die Wiederholung Dieser Satz bringt zunächst eine in einigen Details
der Strophen erfolgt je um eine Sekunde herauf- veränderte Version des Te ergo. Durch den Einsatz
versetzt (also f, g, cis, es). Neben einem in gestoße- des Chores an den Versschlüssen entsteht hier al-
nen Achteln von den Bratschen vorgetragenen lerdings ein etwas intensivierterer Charakter. Mit
Orgelpunkt verdoppeln in den a-Teilen die Klari- dem zweiten Vers (»Et rege eos«) geht die Funk-
nette und die Bässe den Sänger an einigen wenigen tion des Vorsängers vom Tenor auf den Bass über,
Stellen. Zum b-Teil erklingen auch die Violinen der Orchestersatz ist weiter ausgedünnt und ver-
wieder und bilden mit den Celli und dem Tenor stummt ganz, ehe mit »in aeternum« der Satz
einen homophonen Chor, der durch den Brat- durch sukzessive, von Flöte, Violinen und Oboe
schen-Orgelpunkt und ein Violinsolo ergänzt aufgenommene Einsätze der Chorstimmen sanft
wird. Wie in Erinnerung an die »Et incarnatus aufblüht, ein Eindruck, zu dem auch eine durch
est«-Sätze seiner Messen lässt Bruckner auf den a- alle Stimmen wandernde Achtel-Umspielung und
cappella-Ausklang vier Posaunen-Akkorde folgen. die Rückkehr nach Dur beitragen.
Mit dem Vers »Per singulos dies« erklingt nach
einer Generalpause eine weitere musikalische Re-
Aeterna fac
prise des Te-Deum-Blocks, die diesen und den
Der dritte Satz nimmt im Habitus den ersten auf, nächsten Vers (»Et laudamus nomen tuum«) um-
steht allerdings in d-Moll und bringt außer der schließt, die beide einen Wiederaufgriff der Lob-
veränderten ostinaten Streicherfigur eine weitere preisungs-Idee bringen. Zu »Dignare Domine«
repetitive Ostinatofigur mit absteigenden Vierteln wird der Satz leicht modifiziert und ins Piano he-
in je der Hälfte der Holz- und Blechbläser sowie runtergestimmt. In der Mitte der hier folgenden
Trompetenfanfaren. Erstmals unterteilt Bruckner »Miserere«-Passage erklingt wiederum nur der a-
den Text hier anders als in der Choralvorlage: Er cappella-Chor. Der letzte Vers »Fiat misericordias
exponiert ein zweitaktiges unisones Deklamati- tua Domine super nos« ist dynamisch eine Anti-
onsmodell zu »Aeterna fac cum sanctis tuis«, das klimax, musikalisch durch die Ausfaltung in län-
direkt wiederholt wird. Dieser Ablauf wird dann gere polyphone Linien und das Hinzutreten von
zweimal je um eine Sekunde herauftransponiert. Klarinette und Posaunen, schließlich gar eines
Zum Schluss werden die Soprane und Tenöre ge- Paukenwirbels zu den Streichern eine Intensivie-
teilt, was einen ebenso großartigen wie brachialen rung. Der Schlussklang dieses in sich sehr vielge-
Eindruck macht. Der zweite Versteil »in gloria staltigen Satzes fungiert daher als Doppelpunkt,
numerari« schließt auf dem erreichten Hochton der zum Finalsatz überleitet.
an und steigt dann in Vierteln abwärts, eine Bewe-
gung, die zu einem neuen zweitaktigen unisono-
In te Domine speravi
Belgeitmotiv wird. Nach der zweiten Wiederho-
lung dieses Textteils schweigen die Bläser, und das Dem letzten Satz liegt wiederum nur ein einziger
Streichermotiv verändert sich wiederum, um dann Vers des Te Deum zugrunde. Dessen zwei Kern-
286 Melanie Wald-Fuhrmann

Gedanken – das absolute Vertrauen auf Gott und nende Variante der Te-Deum-Passage anstimmt.
die Gewissheit, nicht zuschanden zu werden – Kurz bricht der Satz zu einem Piano zusammen,
werden zunächst als vierstimmiger solistischer Satz doch erhebt sich daraus ein weiterer Crescendo-
vorgetragen, den eine homophone Antwort von Bogen, der in ein dreifaches Forte mündet. Dieses
Chor und Orchester rundet. Dieser Introduktion aufnehmend, doch a cappella zelebriert der Chor
folgt, wie typisch für die mehrteiligen und groß Takt 491 seine Rückkehr ins Unisono geradezu.
besetzten geistlichen Chor-Orchester-Werke Darauf antwortet ein Fanfarenmotiv in den Trom-
Bruckners, eine ausladende, in diesem Falle recht peten und mit Takt 499 ist dann die Schlussreprise
freie Fuge mit Coda. in C-Dur erreicht, das bis zum Ende Takt 513 nicht
Die zwei Hauptthemen der Fuge – eines für mehr verlassen wird. Der Anfang ist hier also
jeden Gedanken – entsprechen rhythmisch den durch die Trompetenfanfaren, das auch an Versen-
im Solo-Vorspann exponierten und sind auch den nicht mehr verlassene C-Dur und die Verdop-
melodisch an sie zumindest angelehnt. Zugleich pelung von Tenor und Sopran, die die Terz- und
steht das »non confundar«-Thema mit dem Ada- Quinttöne des Klanges ergänzen, noch einmal fi-
gio der Siebten Sinfonie in Beziehung (vgl. dort nal gesteigert.
T. 4 f., T. 160–177). Dazu erklingen in den Strei- Vergleichbar dem 150. Psalm erreicht Bruckner
chern selbstständige Gegenmotive, wie auch die die höchste musikalische Überwältigungswirkung
thematisch nicht gebundenen Chorstimmen wei- gerade durch die weitgehende Reduktion der mu-
tere Kontrapunkte beifügen. In der sukzessiven sikalischen Kunstmittel: Unisone Deklamation,
Vergrößerung der Stimmenanzahl, dem Einsatz Fortissimo-Abschnitte, Wiederholungs- und Se-
kontrapunktischer Kunstmittel wie Umkehrung quenzierungsverläufe, wenige Begleitmotive prägen
(Bass ab T. 424) und der zunehmenden chromati- das Werk über weite Strecken. Max Kalbeck äu-
schen Stimmengestaltung liegen weitere Momente, ßerte in seiner Besprechung das Dictum, das Stück
die zur Steigerungsanlage dieses Abschnittes bei- sei »bald keine [Musik] mehr« (Neue Freie Presse
tragen. Textlich erhält das »non confundar« gegen- vom 7.1.1886; zitiert nach Göll.-A. 4/2, 404). Für
über dem »In te Domine« zunehmend die Über- Tiefe des Ausdrucks sorgen außer den wenigen
hand. Und wenn nach dem Verebben der Fuge kontrastierenden (Solo-)Passagen insbesondere die
mit Takt 449 ein neuer Formteil beginnt, wird nur sich funktionsharmonischen Gefügen mehr denn
noch das »non confundar« vorgetragen. je verweigernden Akkordfortschreitungen.
Waren die Abschnitte bis hierhin Zeugnisse
festen Bekenntnisses, wird die Überzeugung von
Wirkung
der eigenen Rettung in Ewigkeit hier in einem der
für Bruckner typischen, ganz unten ansetzenden Es ist kein Wunder, dass angesichts einer solchen
und sich bis zur Ekstase steigernden Entwick- musikalisch-klanglichen Faktur die zeitgenössi-
lungsprozesse gleichsam erst erarbeitet. Nachein- schen Reaktionen auf dieses Werk alle dasselbe
ander und leise tragen die einzelnen Chorstimmen Vokabular aufweisen: So schrieb sein Freund Ru-
das »non confundar« vor, wie überlegend und dolf Weinwurm nach der Uraufführung mit Or-
seine Bedeutung prüfend. Es ist dann Takt 456 der chester an Bruckner von dem »mächtigen Ein-
Bass, der als Erster das »in aeternum« singt und druck« des »großartigen Werks« und nahm Bezug
dabei durch ein Forte und den Oktavsprung ab- auf »grandiose und zugleich erhabene Effekte«, die
wärts als sicher bestätigt. Diese hier aufblitzende in ihm »Begeisterung […] entflammt« hätten
Gewissheit setzen die Solisten, die hier ein letztes (13.1.1886; Briefe 1, 283 f.). Ähnlich klang auch
Mal zum Einsatz kommen, fort, indem sie den Bruckners Linzer Bekannte Betty von Mayfeld,
gesamten Teilsatz zweimal hintereinander in einer die Bruckner schrieb: Es ȟberlief mich gleich bei
Linie aufsteigender Halben präsentieren und in den ersten Tönen des Te Deum’s ein Gruseln über
As-Dur enden. Das überbietet nun der Chor, also den Rücken, und mit Macht wirkte es auf mich u.
das antwortende, kollektive Wir, der zusammen Moritz ein, riß uns zu wahrer Begeisterung hin«
mit dem Orchester eine harmonisch freilich noch (23.1.1886; Briefe 1, 285). Im Wiener Fremdenblatt
instabile und noch nicht unisone, auf dis begin- besprach Ludwig Speidel das Konzert. Wie es
Geistliche Vokalmusik 287

häufig geschah, nannte auch er Bruckner den Er- Diese Begeisterung für das Grandiose, Mitrei-
ben Beethovens in Bezug auf kompositorischen ßende und bis zum Gewaltsamen Erhabene ist ein
»Enthusiasmus«. Aufschlussreich ist seine Deu- Charakteristikum des späten 19. Jahrhunderts und
tung der zwei Grundcharaktere des Stückes: Die ein Erfahrungsbereich, den Bruckner in seinen
Tutti-Passagen versteht er als das musikalisch bis Messen, Sinfonien und den späten Chor-Orches-
aufs Äußerste getriebene Lob Gottes. Bei den in- ter-Werken immer wieder ansprach, der also nicht
strumental zurückgenommeneren, sanglicheren aufs Religiöse beschränkt war. Doch haben wohl
Abschnitten hingegen »öffnen sich die Tiefen des gerade die Bindung an den Text und die allgemein
Himmels, die Tiefe des Gemütes. Es ist ein entzü- mit diesem assoziierten Affektlagen und lebens-
ckendes Schauen und Hören der Geheimnisse des weltlichen Bezüge – und das zeigt der unmittelbare
Glaubens, ihrer Höhen und Abgründe. Da rückt Erfolg des Te Deum auch bei Personen, die Bruck-
die menschliche Stimme in den Vordergrund als ners Sinfonik zu diesem Zeitpunkt noch mit
das beseelte Organ, das allein solche Mysterien zu Vorbehalten begegneten – diesem Habitus in sei-
tragen imstande ist« (19.1.1886; zitiert nach Göll.- nen befremdlichen und über die tonsprachlichen
A. 4/2, 401). Auch im Te Deum greift Bruckner Standards der Zeit hinausragenden Aspekten ein
mithin auf den in den Messen entwickelten dop- größeres Verständnis verschafft. Jedenfalls übertraf
pelten Zugang zum Heiligen und Unsagbaren der Erfolg des Te Deum noch denjenigen seiner
zurück, die Überwältigung durch Gottes Majestät populärsten Sinfonien bei weitem. Diese im Te
und die Epiphanie der himmlischen Herrlichkeit Deum wie im 150. Psalm ziemlich weitgehende
einerseits, die religiöse Empfindung des einzelnen Verschränkung des ›Weltlichen‹ mit dem ›Geistli-
Menschen und die innige Verbindung, die Gott chen‹ ist schließlich auch insofern bezeugt, als die
mit den Menschen eingegangen ist, andererseits. von Bruckner vorgeschlagene Verwendung des
»Enthusiasmus« und »Mysterium« (so die Begriffe Werkes als Schluss-Satz der unvollendeten Neun-
Speidels) sind insofern dialektisch verknüpfte ten Sinfonie – wobei die Authentizität dieser Lö-
Modi der Annäherung an das Göttliche und als sung freilich auf sehr wackligen dokumentarischen
diese den Zeitgenossen offenbar leicht verständ- Belegen beruht – immer wieder als äußerst plausi-
lich gewesen. bel angesehen wurde.

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290

Weltliche Vokalmusik
von Ivana Rentsch

Bruckners Ruf als Komponist weltlicher Vokalmu- sich begab« (Louis 1905, 171). Der dem Liedschaf-
sik ist keineswegs über alle Zweifel erhaben. So fen unterstellte Dilettantismus basierte laut Louis
zeigte sich beispielsweise Rudolf Louis an der auf Bruckners Unfähigkeit, sich musikalisch in
Wende zum 20. Jahrhundert davon überzeugt, eine »fremde dichterische Individualität« einzu-
dass Bruckner »auch mit dem besten Willen kein fühlen (ebd.). Entsprechend konstatierte auch
wertvolles Lied« zustande bringen konnte (Louis Max Morold, dass Bruckner »der literarische Zug«
1905, 170). Louis rekurrierte in diesem Zusam- gefehlt habe – ein Topos, der sich in neuerer Zeit
menhang auf eine Anekdote, derzufolge »die be- bei der von Wolfram Steinbeck ganz selbstver-
rühmte Sängerin Rosa Papier« angeblich Bruckner ständlich verwendeten Formel vom »unliterari-
gefragt habe, »warum er denn keine Lieder schreibe sche[n] Komponist[en]« wiederfindet (Morold
wie ›der Doktor Brahms‹«, worauf der Komponist 1912, 40; Steinbeck 2000, 1094).
– überliefert in der unvermeidlichen Dialektum- Als Stein des Anstoßes kristallisiert sich in der
schrift der Bruckner-Rezeption – geantwortet ha- Regel das Wort-Ton-Verhältnis von Bruckners
ben soll: »I könnt’s schon, wenn i wollt’, aber i will weltlichen Vokalwerken heraus, das den Erforder-
nit« (Louis 1905, 170). Wie bereits zuvor Max Graf nissen einer adäquaten Vertonung nicht genüge.
war sich jedoch auch Louis sicher, dass »der Meis- Während die geistlichen, zu »stereotypen Formeln«
ter sich darin sehr täuschte«, denn: erstarrten Texte dem gläubigen Katholiken entge-
gengekommen seien, gebrach es Bruckner bei lite-
»Was von derartigen Versuchen erhalten ist, macht einen rarischen Vorlagen angeblich am dichterischen
höchst kindlichen, um nicht zu sagen: kindischen Ein-
druck. Es entbehrt nicht nur jeglicher höheren Originali- Verständnis. Schließlich sei er nicht in der Lage
tät, sondern ist auch so unbeholfen und ungeschickt in gewesen, den »in Worten ausgesprochenen, be-
der Mache, daß man sich erstaunt fragen muß, ob das grifflich fest umgrenzten Inhalt«, den »der Text
denn wirklich derselbe Mann geschrieben habe, dem wir
Symphoniesätze wie das Adagio der Siebenten oder das
dem Vokalkomponist aufdrängt«, für seine »musi-
Scherzo der Neunten verdanken.« (Louis 1905, 170 f.) kalische Phantasie« fruchtbar zu machen (Louis
1905, 169). Die Einschätzung, dass die Vertonun-
Dieses von Louis formulierte Urteil wirkt in einem gen – auch unabhängig von genuin musikalischen
Maße vernichtend, dass sein – im Rahmen einer Qualitäten – dem dichterischen Potenzial der
insgesamt apologetischen Monographie erforder- Vorlagen tendenziell nicht gerecht würden, zieht
licher – Versuch, auch diesen Kompositionen sich im 20. Jahrhundert als Tenor durch die spär-
noch irgendetwas Positives abzugewinnen, nur liche Literatur zu Bruckners weltlichem Vokal-
kläglich ausfallen konnte: »[J]edenfalls gibt es schaffen. Immerhin scheinen für eine defizitäre
keinen schlagenderen Beweis für die künstlerische Textbehandlung sowohl die zurückhaltende Ver-
Ehrlichkeit Bruckners als diese erstaunliche Tatsa- wendung von Lautmalereien zu sprechen, als auch
che, daß er geradezu zum Stümper wurde, wenn die offenkundige Tendenz zu einer vom Gedicht
er auf ein seinem innersten Wesen fremdes Gebiet vergleichsweise unabhängigen musikalischen
Weltliche Vokalmusik 291

Formbildung: Demzufolge hätte sich der Kompo- unterlaufen wurden, als theoretische Bezugspunkte
nist im Kleinen über den Wortsinn hinweggesetzt jedoch die Lieddefinition des ganzen 19. Jahrhun-
und zugleich im Großen die poetologische Archi- derts nachhaltig bestimmen sollten: »Popularität«
tektur ignoriert. Trotz der leicht nachzuprüfenden und »Sangbarkeit« (Schwab 1965). Vor diesem
Richtigkeit dieses Befundes scheint es freilich ge- Hintergrund erscheint auch die »unleugbare Tat-
boten, den daraus resultierenden Schluss vom sache«, dass Bruckner »wiederholt zweit- oder
»unliterarischen Komponisten« kritisch zu hinter- drittrangige Dichtungen wählte« (Ringer 1999,
fragen. Zum einen verfasste Bruckner zwischen 28), in einem veränderten Licht. Inhaltlich lässt
1843 und 1892 fast durchgehend weltliche Vokal- sich das irritierende Moment insofern auflösen, als
werke, und dies in der Regel für konkrete Anlässe: die Vorliebe für patriotische Texte und vor allem
Er war in den betreffenden Gattungen folglich für die Gedichte August Silbersteins im Einklang
nicht nur routiniert, sondern orientierte sich auf- mit der deutschnationalen Stoßrichtung der öster-
grund des von vornherein festgelegten Auffüh- reichischen Männerchorbewegung stand – ein
rungszweckes zweifellos an der Erwartungshaltung Phänomen, auf das in letzter Zeit mehrfach hin-
seiner Zeitgenossen. Und zum anderen spricht gewiesen worden ist (Ringer 1999, 28–31; Lütteken
insbesondere der unbestreitbare Erfolg seiner 2002, 342–345; Howie 2004, 64 f.; Harrandt
Chorwerke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- [i. Dr.]). In kompositionspraktischer Hinsicht er-
derts gegen ein liedästhetisches Versagen: Als scheint hingegen maßgebend, dass auch eine
Komponist weltlicher Vokalmusik im Allgemeinen künstlerisch ›zweitrangige‹ Vorlage durchaus die
und patriotischer Männerchöre im Besonderen entscheidende Anforderung liedhafter Simplizität
genoss Bruckner zu Lebzeiten höchste Popularität. erfüllen konnte. Und nicht zuletzt dürften litera-
Der Germanenzug (WAB 70) des gefeierten Chor- risch minder elaborierte Gedichte demjenigen
komponisten erschien sogar in zwei unterschiedli- Verfahren entgegengekommen sein, das sich für
chen Verlagen: 1864 bei Josef Kränzl (Ried) und Bruckners weltliche Vertonungen als charakteris-
1892 bei Adolf Robitschek (Wien). tisch erweist: Sie dienten gleichsam als variables
Die Diskrepanz zwischen der positiven Rezep- Ausgangsmaterial, dessen großformale Struktur
tion von Bruckners weltlichem Vokalwerk im zugunsten der gezielten Hervorhebung zentraler
19. Jahrhundert einerseits und dessen tendenziell Textpassagen an Verbindlichkeit einbüßte.
kritischer Bewertung im 20. Jahrhundert anderer- Ganz im Sinne des traditionellen Liedverständ-
seits lässt im Grunde keinen Zweifel daran, dass nisses scheint Bruckner nicht den Fokus auf eine
die jeweils geltenden liedästhetischen Prämissen kleinteilige Wortausdeutung gerichtet, sondern
nicht deckungsgleich sind. Es liegt auf der Hand, vielmehr nach einer übergeordneten Einheit des
dass Bruckners Vertonungen, die aufgrund ihrer Affektes gesucht zu haben. Während sich jedoch
Entstehung dem deutschen Chorwesen und des- seine Zurückhaltung bei Tonmalereien durchaus
sen gesellschaftspolitischer Ausrichtung verpflich- im ästhetischen Rahmen des klassischen Liedbe-
tet waren, nur begrenzt den späteren Erfordernis- griffs bewegte, so erweist sich ein weiteres gat-
sen eines ästhetisierten Kunstliedes für den Kon- tungstypisches Moment als trügerisch: die Domi-
zertsaal Genüge leisten können. Vor diesem nanz zwei- und viertaktiger Phrasen. Weder erge-
Hintergrund sind seine weltlichen Vokalkomposi- ben sich in der Addition notwendigerweise
tionen denn auch weniger unter absolut ästheti- geschlossene achttaktige Perioden, noch sind die
schen Gesichtspunkten »als frappante Belege für musikalischen Phrasen mit den Zäsuren der Stro-
die Schranken seiner Begabung« zu werten (Louis phen unbedingt deckungsgleich. Es offenbart sich
1905, 171), sondern vielmehr auf der Folie der be- ein kompositorisches Verfahren, in dessen Verlauf
stimmenden funktionalen Intention zu betrach- die zugrunde liegende Dichtung mithilfe von in-
ten. Damit rücken Kriterien in den Blick, die zwar strumentalen Zwischentakten, Wort- und Vers-
dem Liedbegriff des späten 18. Jahrhunderts zu wiederholungen ihrer ursprünglichen Form ent-
entstammen scheinen und in der Kompositi- äußert wird, um sie schließlich in eine scheinbar
onspraxis spätestens seit den Balladen von Johann ungebrochene Viertaktigkeit zu gießen. Unter der
Friedrich Reichardt oder Johann Rudolf Zumsteeg liedhaften Oberfläche wird in Bruckners weltlicher
292 Ivana Rentsch

Vokalmusik ein Wort-Ton-Verhältnis greifbar, das erprobte – ein Verfahren, das in der Sinfonik ab
weder die Vertonung eindeutig in den Dienst des den mittleren 1870er Jahren geradezu notorisch
Textes stellt, noch umgekehrt die Gedichtstruktur werden sollte (vgl. Grandjean 2001; Hawkshaw
rhapsodisch in der Komposition auflöst. Vielmehr [i. Dr.]). Damit aber erweist sich das weltliche
zeigt sich eine dramaturgisch wirksame Tendenz Vokalwerk nicht nur als dezidiert traditionsbe-
zu gezielten Steigerungsabschnitten, die einerseits wusster Gattungsbeitrag, der genau den Chorgeist
unmittelbar mit dem Textinhalt zusammenhän- seiner Zeit traf, sondern durchaus auch als Fenster
gen, andererseits weitgehend an einer regelmäßi- zu den Grundlagen von Bruckners musikalischem
gen Phrasenlänge festhalten. Dass die gattungsty- Denken überhaupt.
pische Simplizität, die durch die grundlegende
Viertaktigkeit suggeriert wird, oft eine nur vorgeb-
liche ist, offenbart sowohl die harmonische Kon-
zeption vieler Vokalwerke als auch die Tendenz zu Lieder
Steigerungsabschnitten, die in der gezielten Her-
vorhebung einzelner Formulierungen gipfeln. Werke
Während die vorgegebene Gedichtstruktur nur WAB 138: »Mild wie Bäche« [Skizze], 1845 . WAB 137:
bedingt für formale Gestaltung nutzbar gemacht »Wie des Bächleins Silberquelle« [Skizze], 2 Soprane, 1845 .
wird und der Rahmen harmonischer Geschlossen- WAB 68: Frühlingslied (Heinrich Heine), 1851 . WAB 58:
»Wie bist du, Frühling, gut und treu« (Oskar von Red-
heit stark strapaziert erscheint, verdankt sich der
witz, aus: Amaranths Waldeslieder), 1856 . WAB 72:
liedhafte Eindruck der meisten Vertonungen einer Herbstkummer (evtl. Ernst Marinelli), 1864 . WAB 79:
paartaktigen Satzanlage. Die metrische Struktur Mein Herz und deine Stimme (August von Platen),
eines musikalischen ›Rhythmus im Großen‹ ent- [1860er Jahre] . WAB 75: Im April (Emanuel Geibel),
spricht jedoch nicht nur ganz unmittelbar dem [vor September 1865] . WAB 94: Volkslied (Josef Winter),
1882 [auch in Chorfassung]
Simplizitäts-Gebot der Gattung, sondern lässt
darüber hinaus auch unweigerlich an die grundle- Nur wenige Sololieder von Bruckner sind bekannt
gende Bedeutung der metrischen Ordnung für – auch ist fraglich, ob es überhaupt mehr gab. Das
Bruckners Œuvre denken. Immerhin eignet der schmale Œuvre umfasst bloß einen Lied- und ei-
zunehmenden Konsequenz, mit der Bruckner seit nen Duett-Entwurf sowie sechs vollständige Lie-
den 1870er Jahren nach metrischen Gesetzmäßig- der, die mit einer einzigen Ausnahme zwischen
keiten suchte, im weltlichen Vokalschaffen inso- 1851 und Mitte der 1860er Jahre vertont wurden
fern eine greifbare Dimension, als die satztechni- und entsprechend zum Frühwerk gehören. Aus
sche Ordnung bereits im Liedideal vorgeprägt war. späterer Zeit ist nur das Volkslied (WAB 94) über-
Mit anderen Worten: Was im sinfonischen Schaf- liefert, das Bruckner 1882 für einen Wettbewerb
fen in die Sphären musikalischer Naturgesetze der österreichischen Deutschen Zeitung sowohl in
und damit in geradezu mystische Dimensionen einer Version für Solostimme und Klavier als auch
entrückt scheint, bleibt in Chören und Liedern vor allem in einer Chorfassung setzte – entspre-
durch den Gattungs- und Textbezug weitaus chend ist die choralartige Vertonung stilistisch der
transparenter. Auch wenn der ästhetische An- Männerchortradition verpflichtet. Zu Bruckners
spruch der Sinfonien nicht mit der funktionalen Liedschaffen zählen außerdem im weiteren Um-
Ausrichtung der Vokalwerke übereinstimmt und feld die zu Studienzwecken verfassten Fragmente
die beiden Gattungen in künstlerischer Hinsicht und sieben vollständigen Vertonungen im soge-
bloß bedingt vergleichbar sind, findet sich in der nannten »Kitzer-Studienbuch«, das Bruckners
ausgeprägten Suche nach einem metrischen Unterricht bei Otto Kitzler zwischen Herbst 1861
Gleichgewicht ein entscheidender kompositions- und Frühjahr 1863 dokumentiert: O habt die Träne
praktischer Konnex. Und so dürfte es kein Zufall gern, Nachglück, Herzeleid, Von der schlummernden
sein, dass es im »Kitzler-Studienbuch« ausgerech- Mutter, Des Baches Frühlingsfeier, Wie neid’ ich
net Lieder waren, mit denen Bruckner in der dich, du stolzer Wald, Last des Herzens, Es regnet,
Formenlehre nicht nur die Periodik übte, sondern Wunsch und Der Trompeter an der Katzbach (vgl.
auch erstmals die Verwendung metrischer Ziffern Pachovsky in: NGA XXIII/1, 49–52).
Weltliche Vokalmusik 293

Einen seltenen Eindruck von Bruckners musi- »Mild«, »wallen«, »Vater« und »Glück« auf erste
kalischem Dasein in St. Florian vermitteln die Zählzeiten fallen (T. 1–5), oder das an sich met-
mutmaßlich 1845 entstandenen beiden Skizzen risch gewichtete »die« musikalisch unbetont hinter
»Mild wie Bäche« (WAB 138), »Wie des Bächleins den exponierten »Blumen« zurückstehen muss
Silberquelle« (WAB 137) und das vollständige (T. 2). Bemerkenswert mutet vor allem die Fort-
Frühlingslied (WAB 68) aus dem Jahr 1851. Insbe- setzung des A-Teils an: So verweist die einzige
sondere der Duett-Entwurf »Wie des Bächleins Angabe für die rechte Hand in der ganzen Skizze
Silberquelle« scheint deutlich von Mendelssohn auf die Absicht, die melodische Schlusswendung
beeinflusst, und zwar sowohl in der auf Akkord- des Vordersatzes, »stets dein Glück«, instrumental
brechungen und einfachen Durchgängen basie- aufzugreifen und damit zur nächsten Gedichtzeile
renden Melodieführung als auch in der typischen überzuleiten (T. 5 f.). Durch diesen verbindenden
Abfolge von variierter Wiederholung des ersten Zwischentakt wird insofern eine formale Balance
solistischen Einsatzes durch die andere Stimme erzeugt, als er den nachfolgenden Viertakter zu
und anschließender Parallelführung in Terzen. einer – dem Beginn entsprechenden – (Pseudo-)
Das annähernd zeitgleich skizzierte »Mild wie Fünftaktphrase verlängert. Zugleich bildet der
Bäche« ist dem Duett zwar insofern verwandt, als genuine Viertakter aber auch das Gegenstück zum
es ebenfalls auf einer A-B-A’-Form basiert. Wäh- letzten Viertakter des A-Teils (T. 11–14). In musi-
rend Bruckner jedoch in »Wie des Bächleins Silber- kalischer Hinsicht ergibt sich folglich eine klare
quelle« eine klare Gliederung in Viertaktphrasen dreiteilige Struktur von 5 + (1 + 4) + 4 Takten, die
beibehielt und Textwiederholungen auf eine Echo- erstens As-Dur exponiert, zweitens in die Medi-
Wirkung zwischen den beiden Stimmen im B-Teil anttonart C-Dur moduliert und drittens die neue
und eine emphatische Repetition der allerletzten Tonart bestätigt. Dass diese Gliederung nicht
Zeile zum Schluss beschränkte, griff er in »Mild ohne textliche Eingriffe mit einer vierzeiligen
wie Bäche« markant in die Struktur der Gedicht- Strophe in Einklang gebracht werden kann, liegt
vorlage ein. Der musikalischen Bogenform liegt auf der Hand. Und obwohl im Kleinen durchge-
ein zweistrophiges Gedicht (womöglich von Ernst hend das Bemühen um eine prosodisch adäquate,
Marinelli) zugrunde, auf dessen erste Strophe der taktmetrische Rhythmisierung ersichtlich ist, setzt
A-Teil, auf die zweite hingegen der B- und A’-Teil sich die Vertonung im Großen bereits ab der drit-
entfallen. In diesem großformalen Rahmen er- ten Zeile über die dichterische Struktur hinweg.
probte Bruckner nun eine Phrasenbildung, die Bruckner spielte geradezu mit liedästhetischen
zwar durch die ständigen Wechsel von trochäi- Erwartungshaltungen, wenn er zwar einen musi-
schen Fünf- und Vierhebern der Vorlage provo- kalischen Viertakter präsentierte (T. 7–10), dieser
ziert wurde, deren einkomponierte Ambivalenzen jedoch nicht mit einer textlichen Zäsur zusam-
jedoch zweifellos vorsätzlich erfolgten. Bruckner menfiel. Um aus der fünfhebigen dritten Zeile
war nicht einmal ansatzweise darum bemüht, die einen Viertakter zu gewinnen, setzte er jene drei-
fünfhebige Anfangszeile durch rhythmische Stau- taktig und gewann den vierten Takt aus einem –
chung in einen zweitaktigen Vordersatz einzupas- das Versmaß sprengenden – Vorgriff auf das erste
sen, um ihm die zweitaktige nächste Zeile als Wort der nächsten Zeile. In der letzten Zeile
gleichlangen Nachsatz gegenüberstellen zu kön- bricht sich schließlich die für Bruckners weltliches
nen. Vokalschaffen so charakteristische Textwiederho-
Bei diesem frühen Vertonungsversuch ist ein lung inklusive Wortumstellung Bahn, wenn aus
ausgeprägtes Bewusstsein für sprachliche Beto- »sonne immer sich dein Blick« nun »sonne immer,
nungsmuster ersichtlich, das schwerlich mit den immer sich dein Blick, immer sonne sich dein
späteren Unkenrufen vom angeblich unbeholfe- Blick« wird (T. 10–14). Die Musik gewinnt in dem
nen Wort-Ton-Verhältnis in Einklang gebracht abschließenden Viertakter, der mit variierenden
werden kann. Die Hebungen liegen zumeist auf melismatischen Floskeln an den vorangegangenen
schweren Taktzeiten, wobei die Betonungen ten- anknüpft, eindeutig die Oberhand über einen
denziell nach inhaltlichen Gesichtspunkten hier- seiner Struktur weitgehend enthobenen Text –
archisiert erscheinen, wenn die zentralen Worte und dies mit einer Melodik, die gerade in dieser
294 Ivana Rentsch

Passage unverkennbar an das Liedideal Mozarts Die drei Teile der 24-taktigen Vertonung bestehen
oder Haydns erinnert. Gewiss wirkt der Gesangs- aus je einer achttaktigen Periode, die sich ihrerseits
part in mancherlei Hinsicht ungelenk, so etwa aus einem ungebrochen viertaktigen Vorder- und
beim Höhepunkt über der Schlusskadenz, wenn Nachsatz zusammensetzt.
die Singstimme das »Glück« (nach einem Uni- So einfach das Frühlingslied gebaut ist, so deut-
sono-Abgang mit dem Klavierbass) mit einem lich stellt es Bruckners Wissen um die liedästheti-
abrupten Undezimensprung hervorkehren muss. schen Grundsätze bereits in St. Florian unter Be-
Dennoch zeigen sich in dieser frühen Skizze Mo- weis. Dass er jene als bindend erachtet haben
mente, die bereits auf spätere Vertonungen vor- dürfte, davon zeugt selbst das weitaus eigenwilli-
auszuweisen scheinen: So mutet der Beginn, an gere »Wie bist du, Frühling, gut und treu«, aus
dem die Grundtonart unmissverständlich expo- Amaranths Waldesliedern (WAB 58), das 1856 in
niert wird und sich die Phrasenbildung eng an den Linz entstand. Mit einer bemerkenswerten Vor-
Text anschließt, ebenso typisch an wie die Nei- sicht deklarierte Bruckner diese – Friedrich Mayr,
gung, die Gedichtstruktur im weiteren Verlauf auf dem Prälaten von St. Florian, gewidmete – Verto-
der Folie einer musikalischen Paartaktigkeit in nung im Autograph als »Ein[en] Versuch aus
eine Steigerungsdramaturgie zu überführen. Amaranths Waldesliedern«. Dass er sich bei dem
Angesichts der Fragment gebliebenen Verto- »Versuch« am Gattungsmodell der durchkompo-
nung von »Mild wie Bäche« liegt die Vermutung nierten Ballade orientierte, entspricht der Vorlage
nahe, dass Bruckner in der Mitte der 1840er Jahre zwar insofern, als es sich um einen Ausschnitt aus
nicht über die kompositionspraktischen Voraus- Oskar von Redwitz’ Versepos Amaranth handelte.
setzungen dafür verfügte, die ambitionierte Skizze Nur wählte Bruckner ausgerechnet die lyrischen
tatsächlich auszuarbeiten. Ob die deutlich über- drei »Waldeslieder« aus, deren einziges handlungs-
sichtlichere Faktur des 1851 ebenfalls in St. Florian bezogenes Moment er zudem tilgte, indem er
verfassten, allerdings vollständigen Frühlingsliedes diejenige Strophe, in der sich Amaranths Lob der
auch als Reaktion auf das faktische Scheitern von Natur zu ihrer irdischen Liebe konkretisiert, aus-
1845 verstanden werden kann, lässt sich schwerlich ließ – womöglich aus Rücksicht auf den geistli-
erhärten. Dass Bruckner (aus welchen Gründen chen Widmungsträger (Pachovsky, [i. Dr.]). Ei-
auch immer) sich tatsächlich auf eine weniger nerseits folgte Bruckner der gattungstypischen
ambivalente Liedform besann, dafür sprechen Eigenheit der Ballade, den Stimmungsumschwün-
nicht zuletzt seine damals für Aloisia Bogner ange- gen der Textvorlage mit einer stilistisch vielfältigen
fertigten Volksliedtranskriptionen. Der Tochter Vertonung zu entsprechen: Es finden sich sowohl
des St. Florianer Schulmeisters Michael Bogner liedhafte Passagen als auch ein explizites Rezitativ
widmete Bruckner auch sein Frühlingslied, verfasst (T. 35–37), exaltierte Sprünge in der Singstimme
über Heinrich Heines Frühlingsbotschaft. Die Ge- sowie Steigerungspassagen mit harmonisch wenig
meinsamkeiten mit »Mild wie Bäche« sind offen- liedhaften Zuspitzungen (etwa auf dem Höhe-
kundig: Auch das Frühlingslied basiert auf einer punkt Takt 91–92, der nach einer As-Dur-Kadenz
harmonisch geschlossenen Bogenform und wider- mit einem übermäßigen Sextakkord nach C-Dur
setzt sich insofern der Gedichtstruktur, als der führt, um bei Tempo I über einen H7-Akkord
Mittelteil durch Abspaltungen von beiden Stro- ebenso plötzlich nach e-Moll zu münden). Ande-
phen gewonnen wird. Während der unter liedäs- rerseits ist durchaus ein Bestreben erkennbar, die
thetischen Gesichtspunkten melismatisch gesetzte großformalen Konsequenzen einer balladenartigen
Gesangspart an die früheren Versuche erinnert, Vertonung – die den einzelnen Moment letztlich
beschränkt sich das Frühlingslied neu auf eine de- auf Kosten übergeordneter Geschlossenheit her-
zidiert einfache Kadenzharmonik (mit einer kur- ausstellt – zu mildern. Die textliche Fokussierung
zen Modulation zur Dominanttonart im B-Teil) auf die lyrischen »Waldeslieder« wirkt dabei einer
in A-Dur. Und nicht nur harmonisch, sondern dramatischen Zersplitterung ebenso entgegen wie
auch formal stellte Bruckner die Vertonung des die musikalische Wiederkehr der ersten Strophe
ohne jede Wortwiederholung übernommenen zu Beginn der vierten oder die emphatische Bestä-
Textes ganz in den Dienst liedhafter Simplizität: tigung der Anfangstonart G-Dur am Ende.
Weltliche Vokalmusik 295

Obwohl sich angesichts des geringen Umfangs Steigerung, als der Tonika-Subdominant-Wechsel
von Bruckners Lied-Œuvre nur unter Vorbehalten wider Erwarten nicht über die Dominante zu einer
allgemeine Prinzipien – geschweige denn strin- kadenziellen Auflösung führt, sondern nach einem
gente Entwicklungslinien – bestimmen lassen, so doppeldominantischen übermäßigen Quintsext-
zeichnen zumindest die letzten drei Sololieder ein akkord auf der Subdominante mit sixte ajoutée
vergleichsweise kohärentes Bild für die Zeit um verharrt (T. 10) – erst nach weiteren vier Takten
1865. Herbstkummer (WAB 72), das seiner Klavier- wird der Gang zur Tonika fortgesetzt, die aller-
schülerin Pauline Hofmann gewidmete Mein Herz dings in offenkundiger Analogie zum ›getrübten
und deine Stimme (WAB 79) sowie das deren Sinn‹ des lyrischen Ich nunmehr auf die ›vermollte‹
Schwester Helene Hofmann zugeeignete Im April Dominanttonart h-Moll zu stehen kommt. Prob-
(WAB 75) entstanden noch in Linz, wobei sich lemlos ließen sich in den Sololiedern zahlreiche
außer Herbstkummer von 1864 keines der Lieder weitere Beispiele für eine harmonische Gewich-
eindeutig datieren lässt (Pachovsky in: NGA tung einzelner, meist durch Textrepetitionen zeit-
XXIII/1, Vf.). Gemeinsam ist den drei Vertonun- lich suspendierter Passagen finden, die den Fokus
gen eine großformale Ordnung, auf deren Grund- auf die punktuelle Aussage der Verse rückt – ein
lage sich die einzelnen Abschnitte ganz in den Verfahren, das insbesondere für Bruckners Chor-
Dienst von Stimmungsbildern stellen. Bruckner werk in hohem Maße charakteristisch ist. Zusätz-
scheint bei der Textauswahl nicht zuletzt auf eben lich verstärkt wird die Wirkung außerdem durch
diese Qualität geachtet zu haben, beschreiben die wenig sangliche Sprünge, die der Komponist be-
betreffenden Gedichte doch entweder die jahres- wusst als Mittel zur Emphase einsetzte, wie Angela
zeitlich charakterisierte Natur (Herbstkummer und Pachovsky mit einer entsprechenden Notiz zu Der
Im April, vgl. auch Frühlingslied) oder die Ge- Trompeter an der Katzbach im »Kitzler-Studien-
mütsverfassung eines lyrischen Ich (Mein Herz buch« belegen konnte: »Sprünge im Gesange
und deine Stimme). Während die Suche nach über- deuten auf Wichtiges hinsichtlich des Deklama-
geordneten Stimmungen anstelle balladesker torischen« (Kitzler-Studienbuch, S. 210, zitiert
Wechselhaftigkeit einem traditionellen Liedideal nach Pachovsky [i. Dr.]).
entsprach, kam dieses Moment bei Bruckner aller- Auf der Ebene des Wort-Ton-Verhältnisses er-
dings keiner gattungstypischen Unterordnung der scheint Bruckners Art der Liedkomposition
Musik unter das Gedicht gleich. Im Gegenteil: gleichsam als musikalische Dramatisierung der
Wie bereits in seinen früheren Liedern stützte Lyrik aus dem Geiste des inhaltlichen Moments.
Bruckner zwar die musikalische Umsetzung auf Er wirkte dabei der potenziellen Gefahr einer
das Wort, nicht jedoch auf dessen lyrischen Zu- Zersplitterung des Liedganzen, die mit der Kon-
sammenhang. Davon zeugen nachdrücklich die zentration auf einzelne herausgestellte Momente
zahlreichen Textwiederholungen, die der musika- notgedrungen einher ging, in doppelter Hinsicht
lischen Steigerung hin zu einem dramaturgischen entgegen. Erstens wählte er ausnahmslos dezidiert
Höhepunkt dienen und notgedrungen auf Kosten lyrische Gedichte, deren Stimmungsbilder trotz
der dichterischen Vers- und Strophenform erfol- der ›dramatisierenden‹ Vertonung eine liedhafte
gen. Die aus lyrischer Perspektive durchaus prob- Grundhaltung bewahrten. Und zweitens wird in
lematischen Repetitionen bedeuten allerdings in den drei letzten Liedern der Linzer Zeit die weiter
kompositorischer Hinsicht einen erheblichen verstärkte Tendenz zu einer großformalen Ord-
Gewinn an musikalischer Zeit. Dieser wiederum nung deutlich, die ebenso wenig wie bei den frü-
bereitet den Boden für die charakteristischen, heren Vertonungen auf einer ungebrochenen Ad-
harmonisch geschärften Crescendi und Decre- aption der Gedichtstruktur basiert. Auffallend
scendi, die meist in Verbindung mit exponierten symmetrisch gebaut ist Im April: Bruckner über-
Zäsuren – häufig inmitten der Gedichtstrophen führte die drei Strophen in eine zweiteilige Lied-
– die Spannung für die nachfolgenden Worte form, wobei die beiden Teile je eine Bogenform
schüren. So erfährt etwa zu Beginn des in e-Moll ausprägen. Die erste Strophe bildet die textliche
stehenden Herbstkummers die Wiederholung von Basis des A-Teils in As-Dur, wobei die Bogenform
»die Blätter verwehen« insofern eine musikalische von einer melodisch leicht variierten Reprise der
296 Ivana Rentsch

ersten beiden Zeilen herrührt; analog dazu rekur- Kantaten


riert der (aus der zweiten und dritten Strophe ge-
wonnene) B-Teil in Es-Dur abschließend noch- Werke
mals auf die dritte und vierte Zeile der zweiten WAB 93: Vergißmeinnicht (Textdichter unbekannt),
Strophe, nun mit einer emphatischen Es-Dur- 3. Fassung [1. und 2. Fassung überschrieben mit: »Musi-
Kadenz: »es steigt aus allen Tälern/ ein warmer kalischer Versuch im Kammerstyl«], 1845, gemischter
Chor, Sopran, Alt, Tenor und Bass solo, Klavier . WAB
Veilchenduft«. Bruckner deutete die dreiteilige
14: Entsagen (Oscar von Redwitz), 1851, gemischter Chor,
Vorlage nicht nur zu einer zweiteiligen Vertonung, Sopran oder Tenor solo, Orgel oder Klavier . WAB 61b
zusammengesetzt aus zwei bogenförmigen Ab- (recte a): »Heil, Vater! Dir zum hohen Feste« (Ernst Ma-
schnitten, um, sondern er entschied sich mit der rinelli), 1852, fünfstimmiger gemischter Chor, 3 Hörner,
variierten Reprise der »Veilchenduft«-Passage zu- 2 Trompeten, Bassposaune . WAB 61a (recte b): »Auf
Brüder! auf zur frohen Feier« (Ernst Marinelli), 1857,
dem für ein ungleich versöhnlicheres Ende, als es sechsstimmiger gemischter Chor, 3 Hörner, 2 Trompe-
der Dichter Emanuel Geibel vorgegeben hatte. ten, Bassposaune . WAB 15: Festgesang »Sankt Jodok
Geringer, jedoch mit einem ähnlichen Ergebnis sproß aus edlem Stamme« (Textdichter unbekannt), 1855,
erscheinen Bruckners Eingriffe in die Struktur von gemischter Chor, Sopran, Tenor und Bass solo, Klavier
. WAB 60: »Auf, Brüder! auf, und die Saiten zur Hand«
Herbstkummer eines pseudonym mit »Ernst« be- (Textdichter unbekannt), 1855, gemischter Chor, Män-
zeichneten Autors: Aus den acht Strophen gene- nerchor, Soloquartett, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner
rierte Bruckner eine zweiteilige variierte Liedform, und Horn solo, 2 Trompeten und 3 Posaunen . WAB 16:
die er (mit Ausnahme der zweiten und sechsten Festkantate (Maximilian Pammesberger), 1862, Männer-
chor, Männerquartett, Bass solo, 2 Flöten, 2 Oboen, 4
Strophe) dank vergleichbarer Stimmungen in den Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posau-
betreffenden Strophen in eine symmetrische An- nen, Basstuba, Pauken . WAB 61c: »Heil Dir zum schönen
lage mit A-Teil (a-b-c-d) und A’-Teil (a’-e-c’-d’) Erstlingsfeste« (Beda Piringer), fünfstimmiger gemischter
überführen konnte. Wie stark sich Bruckner bei Chor, 3 Hörner, 2 Trompeten, Bassposaune
der Suche nach einer symmetrischen Großform Bemerkenswert früh gab Bruckner die Komposi-
am Textinhalt orientierte, dokumentiert schließ- tion von Kantaten wieder auf: Mit Ausnahme der
lich Mein Herz und deine Stimme: Die erste und Festkantate (WAB 16) von 1862 handelt es sich bei
dritte Strophe, die von der innigen Verbundenheit sämtlichen Kantaten um Ehrengaben zu den Na-
zweier Liebenden handeln, sind strophisch iden- menstagen von Pfarrern, Dechanten und Prälaten
tisch in unverrückbarem A-Dur vertont, wohinge- aus den St. Florianer Jahren von 1845 bis 1855. Dass
gen die störenden Worte der Umwelt im dazwi- das Verfassen solcher »Gebrauchsmusik« Bruckner
schen liegenden B-Teil nach fis-Moll und cis-Moll selbst »meistens wenig Freude bereitete« (Nowak
abfallen (vgl. Dürr 1989). Dass hingegen die letzte in: NGA XXII/1, IX), schlug sich in einer tenden-
Strophe mit einem Cis-Dur im Fortissimo auf- ziell stereotypen Kompositionsweise nieder, die
trumpft (»ich bebe dann, entglimme von allzu ganz dem damaligen Erwartungshorizont festli-
rascher Glut«), entspricht dem Text ebenso, wie cher Namenstagskantaten verpflichtet blieb. So
das nach einer Generalpause im Pianissimo ver- entsprach bereits das Friedrich Mayr, dem Kanz-
klingende Fazit, aus dem Bruckner die Überschrift leidirektor und späteren Propst von St. Florian
des bei August von Platen nicht betitelten Gedich- gewidmete Vergißmeinnicht (WAB 93, Textdichter
tes gewann: »Mein Herz und deine Stimme unbekannt) ganz den gattungsspezifischen Erfor-
versteh’n sich allzu gut«. Die ohrenfällige A-B-A- dernissen – die beiden früheren aus demselben
Form der ersten drei Strophen festigt die Liedan- ersten Halbjahr 1845 stammenden Fassungen der
lage so deutlich, dass die Vertonung trotz des Kantate galten dem Komponisten denn auch als
(durch die Generalpause zusätzlich) herausgestell- »Musikalischer Versuch nach dem Kammer-Styl«.
ten Gegensatzes zwischen dynamischem Ausbruch Für vierstimmigen gemischten Chor, Solisten-
und lyrischer Einkehr im abschließenden C-Teil quartett und Klavier gesetzt, fügt sich die Verto-
nicht Gefahr läuft, auseinanderzufallen. nung aus kurzen homophonen Chorsätzen, einem
Rezitativ, einer einfachen Sopranarie, zwei Duet-
ten im Terz- beziehungsweise Sextabstand, einem
Solistenensemble mit Oberstimmenmelodik und
Weltliche Vokalmusik 297

einem knappen doppelchörigen Schluss-Satz zu- ner-Ensemble a cappella – gemischter Chor mit
sammen. Das begleitende Klavier übernimmt fast Bläserorchester) die gängigen Erwartungen einer
durchgehend harmonische Stützfunktion und Namenstagskantate, deren Chorpartien und fest-
greift höchstens gelegentlich – wie im Eingangs- liche Bläserklänge ganz den Prinzipien des vier-
chor – die Melodik der Chorstimmen auf. Im stimmigen Satzes verpflichtet sind. Die Kantate
Umfang deutlich bescheidener zeigt sich das um weist jedoch zwei gleichsam vorausweisende Mo-
1851 zu Ehren des Prälaten Michael Arneth über mente auf: Erstens kommt es im Eröffnungssatz
eine geistliche Dichtung Oscar von Redwitz’ ver- zu einer metrischen Aufweichung des Alla-breve-
fasste Entsagen (WAB 14) für gemischten Chor, Taktes durch prägnante Triolenbildungen, zwei-
Sopran- oder Tenorsolo und Orgel: Ganz der tens beschränken sich die Blasinstrumente im
Marienverehrung verpflichtet, beginnt die Kantate Schlusschor nicht mehr auf ihre harmonische
mit einem »Bittend und mit Andacht« vorgetrage- Stützfunktion und die Verdoppelung von Chor-
nen vierstimmigen Choral, der nach einem »lang- stimmen, sondern sie zielen auch verstärkt auf
sam, betend« intonierten Solo nochmals erklingt, fanfarenartige Einwürfe – Signalwirkungen, die in
allerdings der Schlusswirkung wegen nun vollstän- ähnlicher Weise den 1864 vollendeten Germanen-
dig in B-Dur und ohne Modulation in die Domi- zug (WAB 70) oder auch den Deutschen Gesang
nanttonart im zweiten Teil. (WAB 63) und Helgoland (WAB 71) aus den 1890er
Wie prekär der künstlerische Status von Bruck- Jahren prägen sollten. Als Abschiedsgeschenk
ners Kantaten im Grunde ist, dokumentiert nach- verfasste Bruckner kurz vor seinem Umzug nach
drücklich seine zweite Komposition für Michael Linz im Winter 1855 für den Dechanten und Pfar-
Arneth (WAB 61b, recte a) über »Heil, Vater! Dir rer des Stifts St. Florian, Jodok Stülz, zudem die
zum hohen Feste« des Stifts-Chorherrn Ernst im Autograph als »Festgesang« titulierte Verto-
Marinelli aus dem Jahre 1852. Die für fünfstimmi- nung von »Sankt Jodok sproß aus edlem Stamme«
gen gemischten Chor, 3 Hörner, 2 Trompeten und (WAB 15), eine analog zum früheren Vergißmein-
Bassposaune gesetzte Vertonung bleibt einem nicht aus Chören, kurzen Rezitativen und Arien
ebenso feierlichen wie floskelhaften Idiom ver- bestehende Kantate für gemischten Chor, Solis-
pflichtet, dessen kompositorische Pragmatik und tenquartett und Klavier.
damit verbundene musikalische Austauschbarkeit Mitten in der Phase seines Unterrichts bei
von Bruckner gleich selbst unter Beweis gestellt Kitzler schrieb der Linzer Domorganist Bruckner
wurden: Bei der im Jahr 1857 zu Ehren von Prälat schließlich 1862 im Auftrag des Diözesanbischofs
Friedrich Mayr erklungene Namenstagkantate Franz Joseph Rudigier seine letzte Kantate. Die
»Auf, Brüder! auf zur frohen Feier« (WAB 61a, recte Uraufführung der am 25. April fertiggestellten
b) beschränkte sich der Komponist nämlich dar- Festkantate (WAB 16) erfolgte bereits am 1. Mai im
auf, eben diese, vormals für Arneth verfasste Rahmen des Festaktes zur Grundsteinlegung des
Kantate mit einem neuen Text von Marinelli zu Mariä-Empfängnis-Domes: unter freiem Himmel,
unterlegen. Abgesehen von gelegentlichen rhyth- mit den Tenören und Bässen der erweiterten Lie-
mischen Anpassungen besteht die auffälligste dertafel »Frohsinn« und Bläsern der Militärmusik-
Differenz darin, dass die Reprise des ersten Män- kappelle des 13. Infanterie-Regiments. Obwohl bei
nerquartetts vor dem zweiten Quartett fehlt – der Komposition die Zeit gedrängt haben dürfte,
neues musikalisches Material findet sich bezeich- wie zumindest die knappe Probezeit vermuten
nenderweise ebenso wenig wie in der zweiten lässt, handelt es sich bei der Festkantate auf einen
Neutextierung als »Heil Dir zum schönen Erstlings- Text des Theologieprofessors Maximilian Pram-
feste« (WAB 61c) von 1870. Kompositorisch ambi- mesberger zweifellos um Bruckners ambitionier-
tionierter wirkt hingegen die zwei Jahre zuvor 1855 teste Kantatenkomposition. Der Eröffnungschor
verfasste erste Kantate für Mayr, »Auf, Brüder! auf, beginnt mit einer homophonen rhythmischen
und die Saiten zur Hand« (WAB 60), für gemisch- Formel des groß besetzten Blasorchesters (mit
ten Chor mit geteilten Männerstimmen und re- Pauken), die sogleich im nächsten Takt vom vier-
präsentativem Bläserensemble. Zwar erfüllt auch stimmigen Männerchor a cappella übernommen
diese dreiteilige Vertonung (Männerchor – Män- und mit »Preiset den Herrn« textiert wird. Die im
298 Ivana Rentsch

alternierenden Beginn exponierte musikalische mophon und als Kontrast dazu gelegentlich imi-
Ebenbürtigkeit von Männerchor und Orchester tierend gesetzt, wobei die tendenzielle Relativie-
geht in der folgenden Fuge (»Grund und Eckstein rung der Melodik durch die Aufwertung harmo-
bist du, o Herr«) in eine Verdoppelung der Chor- nischer Mittel – zur Hervorhebung und Steigerung
stimmen durch einzelne Instrumente über. Ge- einzelner Textpassagen – und signalartiger Rhyth-
gliedert wird die Folge von Chören, Soloquartett, men kompensiert wird. Dass der Komponist dem
instrumentalem Praeludium und Choral durch Denken im vierstimmigen Satz zutiefst verpflich-
eine variierte Reprise des Eröffnungschors in der tet war, zeitigte schließlich für das Verhältnis zwi-
Mitte sowie am Ende der Kantate: In strahlendem schen Chor und Orchester eine ebenso weitrei-
D-Dur erklingt die prägnante Wendung über chende wie charakteristische Folge: Die vokalen
»Preiset den Herrn«, die bei der ersten Wiederkehr unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den
sogleich in ein entsprechend vertontes Marienlob naturgemäß untextierten instrumentalen Stim-
(»Maria preiset«, T. 91 ff.) mündet, beim Schluss- men, gründen doch sämtliche Partien letztlich in
chor hingegen die ersten 20 Takte des Eröffnungs- demselben Kernsatz.
chors mit identischer Textierung aufgreift, an die
sich als finale Wendung wiederum der Topos des
Mittelchores (»Maria preiset«, T. 215 ff.) fügt. Die
Tendenz zu einem übergreifenden musikalischen Weltliche Chöre
Zusammenhang zeigt sich außerdem auf der mo-
Werke
tivischen Ebene, wenn allgemeine und für sich
genommen wenig originelle Momente im Lauf WAB 59: »An dem Feste« (Alois Knauer), 1843, Männer-
chor ǜ WAB 78: Das Lied vom deutschen Vaterland
der Kantate zu strukturbildenden Prinzipien avan- (Textdichter unbekannt), vermutlich 1845, Männerchor
cieren: Dies gilt ebenso für die »Preiset den ǜ WAB 84: Ständchen (evtl. Ernst Marinelli), um 1846,
Herrn«-Rhythmik (Halbe – punktiertes Viertel – Männerchor ǜ WAB 77: Der Lehrerstand (evtl. Ernst
Achtel – Halbe oder davon abgeleitet: Halbe – Marinelli), um 1847, Männerchor ǜ WAB 85: Stern-
schnuppen (Ernst Marinelli), um 1848, Männerchor ǜ
Viertel – Viertel – Halbe) wie für die pochenden WAB 83/1: »Ein jubelnd Hoch in Leid und Lust« (Motto),
Achtel-Repetitionen, die im Eröffnungschor als 1851, Männerchor ǜ WAB 83/2: »Lebt wohl, ihr Sanges-
zweiter musikalischer Gedanke exponiert werden brüder« (Motto), 1851, Männerchor ǜ WAB 65: Das edle
(T. 10 ff.), um im einzigen Solo der Kantate den Herz (Ernst Marinelli), 1. Vertonung, um 1851, Männer-
chor ǜ WAB 69: Die Geburt (Textdichter unbekannt),
eindringlichen instrumentalen Rahmen für den 1852, Männerchor ǜ WAB 53: Vor Arneths Grab (Ernst
Bassisten zu bilden (T. 112 ff.). Marinelli), 1853, Männerchor, 3 Posaunen ǜ WAB 76:
Bruckners Festkantate, die ein Jahr vor der »Laßt Jubeltöne laut erklingen« (Textdichter unbekannt),
»Freisprechung« durch Kitzler (Graf 1901/02, 300) [1854], Männerchor, 2 Hörner, 2 Trompeten, 4 Posaunen
ǜ WAB 62: »Des Dankes Wort sei mir vergönnt« (Ernst
und dem Arbeitsbeginn des frisch gebackenen
Marinelli), vermutlich zwischen 1845 und 1849, spätes-
›Komponisten‹ am Germanenzug entstand, erweist tens 1855, Männerchor, Tenor und Bass solo ǜ WAB 66:
sich in mehrfacher Hinsicht als Angelpunkt seines Das edle Herz (Ernst Marinelli), 2. Vertonung, 1857,
weltlichen Vokalschaffens. Es zeigt sich darin eine gemischter Chor ǜ WAB 2: Am Grabe (Ernst Marinelli),
verstärkte Fokussierung auf den vierstimmigen 1861, Männerchor ǜ WAB 64: »Du bist wie eine Blume«
(Heinrich Heine), 1861, gemischter Chor ǜ WAB 55: Der
Satz, aus dem sich die weiteren Charakteristika Abendhimmel (Joseph Christian von Zedlitz), 1. Verto-
gleichsam von selbst ergeben. So kommt der nung, 1862, gemischter Chor ǜ WAB 73: Herbstlied
Oberstimmenmelodik eine nur sekundäre Bedeu- (Friedrich von Sallet), 1864, Männerchor, 2 Soprane,
tung zu, was sich zum einen in der Reduktion Klavier ǜ WAB 89: Um Mitternacht (Robert Prutz), 1.
Vertonung, 1864, gemischter Chor, Alt solo, Klavier ǜ
kantatentypischer Rezitative und Arien auf ein WAB 49: Trauungs-Chor (Franz Isidor Proschko), 1865,
einziges kurzes Bass-Solo widerspiegelt und zum Männerchor, Soloquartett, Orgel ǜ WAB 56: Der Abend-
anderen einen Hinweis darauf geben dürfte, wes- himmel (Joseph Christian Freiherr von Zedlitz), 2. Ver-
halb Bruckner zwar zeitlebens Chorwerke schrei- tonung, 1866, Männerchor ǜ WAB 92: Vaterlandslied
(August Silberstein), 1866, Männerchor, Tenor und Ba-
ben, die Gattung Kantate jedoch bereits 1862 riton solo ǜ WAB 91: Vaterländisches Weinlied (August
endgültig aufgeben sollte. Wie in allen folgenden Silberstein), 1866, Männerchor ǜ WAB 95/2: »Des Höchs-
Vokalkompositionen sind die Chöre zumeist ho- ten Preis, des Vaterlandes Ruhm« (Motto, Andreas Mitter-
Weltliche Vokalmusik 299

mayr), spätestens 1868, Männerchor ǜ WAB 95/1: »Das überlassene Uraufführung des Schlusschors aus
Frauenherz, die Mannesbrust« (Motto, Karl Kerschbaum), den Meistersingern von Nürnberg am 4. April 1868
spätestens 1868, gemischter Chor ǜ WAB 148/1: »Im Wort
und Liede wahr und frei« (Motto, Johann Kajetan Mar- erachtet haben dürfte. Anlässlich seines Umzugs
kus), 1869, Männerchor ǜ WAB 148/2: »Wir alle jung und nach Wien wurde Bruckner 1869 zum Ehrenmit-
alt« (Motto, Johann Kajetan Markus), 1869, Männer- glied der Liedertafel »Frohsinn« gekürt, der er
chor ǜ WAB 80: Mitternacht (Joseph Mendelssohn), 1870 zur Feier des 25-jährigen Bestehens Mitter-
1869, Männerchor, Tenor solo, Klavier ǜ WAB 147:
»Freier Sinn und froher Mut« (Motto), 1874, Männerchor nacht (WAB 80) zueignen sollte. Der Komponist
ǜ WAB 74: Das hohe Lied (Heinrich von der Mattig), beschäftigte sich jedoch keineswegs nur im Rah-
1876 Männerchor, 2 Tenöre und Bariton solo; Orches- men des »Frohsinns« mit dem florierenden Chor-
terfassung mit Streichorchester, 4 Hörner, 3 Posaunen, wesen seiner Zeit, sondern besuchte etwa während
Basstuba ǜ WAB 81: Nachruf (Heinrich von der Mattig),
eines Kuraufenthaltes in Bad Kreuzen eine Probe
1877, Männerchor, Orgel ǜ WAB 88: Trösterin Musik
(August Seuffert), Neutextierung von Nachruf, 1877 ǜ des Greiner »Liederkranzes«, dem er 1874 das er-
WAB 57: Abendzauber (Heinrich von der Mattig), 1878, betene Motto »Freier Sinn und froher Mut« (WAB
Männerchor, 3 Jodlerstimmen, 4 Hörner ǜ WAB 54: Zur 147) persönlich überbrachte. Und nicht zuletzt
Vermählungsfeier (Heinrich von der Mattig), 1878, Män- dokumentieren Bruckners entsprechende Wid-
nerchor ǜ WAB 82: Sängerbund (evtl. Heinrich von der
Mattig/Karl Kerschbaum), 1882, Männerchor ǜ WAB 94: mungen seine Verbundenheit mit der »Liedertafel
Volkslied (Josef Winter), 1882, Männerchor; auch als Eferding« (Motto WAB 83/1 und 83/2), dem Linzer
Sololied mit Klavier überliefert ǜ WAB 90: Um Mitter- Männergesangverein »Sängerbund« (»Du bist wie
nacht (Robert Prutz), 2. Vertonung, 1886, Männerchor, eine Blume« WAB 64, Um Mitternacht WAB 89),
Tenor solo ǜ WAB deest: »Heut kommt ja Freund Klose«
(Anton Bruckner), 1889, Kanon für 4 Stimmen ǜ WAB dem Niederösterreichischen Sängerbund (Der
87: Träumen und Wachen (Franz Grillparzer), 1890, Abendhimmel WAB 56, Vaterlandslied WAB 92),
Männerchor ǜ WAB 63: Der deutsche Gesang. Das deut- der Sierninger Liedertafel (Motto WAB 95/2),
sche Lied (Erich Fels), 1892, Männerchor, 4 Hörner, 3 dem Straßburger Männergesangverein (Um Mit-
Trompeten, 3 Posaunen, Kontrabasstuba ǜ WAB 86:
Tafellied (Karl Ptak), 1843/1893, überarbeitete Fassung
ternacht WAB 90), dem Wiener Akademischen
von WAB 59, Männerchor Gesangverein (Das hohe Lied WAB 74) und dem
Wiener Männergesangverein (Helgoland WAB
Bruckners weltlichen Chören kommt nicht zuletzt 71).
durch den praktischen Umstand eine weitaus Während fünf Jahrzehnten verfasste Bruckner
größere Bedeutung als den Sololiedern oder Kan- immer wieder Chorwerke, vornehmlich Männer-
taten zu, dass sich deren Entstehung über ein chöre a cappella, je drei mit Klavier und Orgel,
halbes Jahrhundert erstreckte. Zwar verdanken vier mit Bläserbegleitung, zwei Soloquartette,
sich die meisten Chöre im Sinne von Gelegen- manche mit zusätzlichen Solostimmen, jedoch
heitswerken konkreten Anlässen, dies relativiert nur drei für gemischten Chor a cappella sowie ein
jedoch weniger Bruckners Interesse an der Gat- gemischtes Vokalquartett. Umrahmt wird Bruck-
tung, sondern entspricht vielmehr der Liedertafel- ners Chorschaffen von dem 1843 in Kronstorf
Praxis des 19. Jahrhunderts. Insbesondere Bruck- vertonten »An dem Feste« (WAB 59) einerseits so-
ners eigene Sängertätigkeit sowohl in St. Florian, wie dem in Wien 1893 niedergeschriebenen Tafel-
wo er gleich ein eigenes Männerquartett ins Leben lied (WAB 86) andererseits, bei dem es sich bemer-
rief, als auch im Rahmen des Linzer »Frohsinns«, kenswerterweise um nichts anderes als um eine
dessen Chormeister er zudem von Mai 1860 bis bloße Überarbeitung des Erstlingschors handelt.
Mai 1861 war, zeugt von einer bewussten Teil- Dabei überrascht weniger die Tatsache, dass
nahme am Chorleben. Selbst sein plötzlicher Bruckner auf einen bereits verwendeten Text zu-
Austritt aus der Liedertafel im September 1858, der rückgriff, liegen doch auch von Das edle Herz
aus bislang ungeklärten Gründen (Heiserkeit?) (WAB 65 und 66), Der Abendhimmel (WAB 55
erfolgte, bedeutete weder einen Bruch mit der und 56), Vor Arneths Grab bzw. Am Grabe (WAB
Gattung noch mit dem »Frohsinn«. Im Gegenteil: 53 und 2) und von Um Mitternacht (WAB 89 und
Bruckner nahm im Januar 1868 die Wahl zum 90) mehrere Fassungen vor. Bei jenen lässt sich
Chormeister erneut an, wobei er als Höhepunkt tatsächlich von Neuvertonungen sprechen, bei
seiner Amtszeit die ihm von Richard Wagner denen allerdings – auffallend genug – jeweils die
300 Ivana Rentsch

zweite Version mit einer einzigen Ausnahme (Der Terzlage (seltener in Quintlage) führt, weisen alle
Abendhimmel in As-Dur bzw. F-Dur) in derselben anderen Motti eine auffällige harmonische Aus-
Tonart wie die erste steht, eine weitgehend identi- weichung im Nachsatz auf: sei es die ›verdurte‹
sche Vortragsbezeichnung aufweist und sich selbst Mollparallele Fis-Dur im A-Dur-Motto »Lebt
in der Rhythmisierung an der früheren Vertonung wohl, ihr Sangesbrüder« (WAB 83/2), sei es die
orientiert. Behielt Bruckner bei den betreffenden Wendung von A-Dur nach B-Dur in »Das Frauen-
Neukompositionen eine nicht zuletzt harmonisch herz, die Mannesbrust« (WAB 95/1), deren knappe
geprägte Stimmung bei, so muten die Unter- Rückmodulation durch eine Augmentation der
schiede zwischen »An dem Feste« und dem Tafellied Schlusskadenz nur teilweise aufgefangen wird; das
endgültig marginal an. Die revidierte, neu mit mit 17 Takten längste Motto, »Des Höchsten Preis,
»Feierlich« überschriebene Fassung enthält nun des Vaterlandes Ruhm« (WAB 95/2), weicht von
kleingliedrige dynamische Angaben, die einen C-Dur nach d-Moll aus, um im Fortissimo bei der
Höhepunkt auf »Weiht dem Licht« (T. 9) im For- Textstelle »der deutschen Männer Sang« empha-
tissimo vorsehen; außerdem zeigt sich die Tendenz tisch nach C-Dur zurückzufinden. Der achttaktige
zu deutlicheren Kadenzen, wodurch die Zäsurbil- Wahlspruch »Im Wort und Liede wahr und frei«
dung nach jeder viertaktigen Phrase zusätzlich (WAB 148/1) befestigt ab dem dritten Takt d-Moll,
hervorgehoben wird: Die vor allem für Bruckners das erst ab dem drittletzten Takt mit einer Kadenz
späteres weltliches Vokalschaffen typischen Cha- über die Doppeldominante (als übermäßiger Terz-
rakteristika einer Steigerungsdramaturgie und quartakkord) zur Ausgangstonart C-Dur zurück-
klaren Phrasenbildung wurden unterstrichen, kehrt; das ebenfalls achttaktige »Wir alle jung und
ohne dass sich am Satz selbst etwas ändern würde. alt« (WAB 148/2) zeichnet sich mit einer dolce und
Unabhängig von der Frage, mit welchen Ambitio- »Etwas langsamer« hervorgehobenen Aufhellung
nen Bruckner 1893 – inmitten seiner Arbeit an der des ursprünglichen d-Moll durch eine ungebro-
Neunten Sinfonie – die Überarbeitung seiner aller- chene D-Dur-Kadenz aus; am weitesten ging
ersten Chorkomposition vornahm, ergibt sich Bruckner zweifellos bei dem nur viertaktigen
daraus eine weitreichende Konsequenz: Bruckner »Freier Sinn und froher Mut« (WAB 147) von 1874,
blieb in seinem Chorschaffen zeitlebens denselben wenn er auf einen D-Dur-Vordersatz einen Es-
kompositionspraktischen Grundsätzen verpflich- Dur-Nachsatz folgen ließ und diesen im letzten
tet. Damit entsprach er direkt den in der zweiten Takt (nur durch eine Fermate abgefedert) über
Hälfte des 19. Jahrhunderts faktisch unveränderten einen im Tritonus-Abstand stehenden A-Dur-
Anforderungen an das Repertoire von Liederta- Dreiklang nach D-Dur zurückführte.
feln, die primär nach funktionaler »Gebrauchs- Bruckners Chorwerke basieren in der Regel auf
musik« und nicht nach einer ständigen künstleri- einem harmonisch begründeten vierstimmigen
schen Neubestimmung verlangten. Ganz im Zei- Satz, der hauptsächlich homophon erklingt, in der
chen der damaligen Chorbewegung standen Phrasenbildung zumeist zwei- oder viertaktig an-
entsprechend auch die von Bruckner vertonten gelegt ist und gelegentlich durch imitatorische
Gedichte, die den typischen Topoi von Natur- und Passagen durchbrochen wird. Sucht man unter
Liebesliedern, geselligen Trinkliedern, patrioti- dieser Voraussetzung nach den Eigenheiten des
schen Gesängen sowie Trauer- und Hochzeitslie- Wort-Ton-Verhältnisses, so kann jenes zwar von
dern für Chorangehörige zugeordnet werden der Warte des Kunstliedes als Beweis für Bruckners
können. Dasein als »unliterarischer Komponist« erschei-
Als gleichsam auf den satztechnischen Punkt nen, entspricht jedoch genauso wie seine oftmals
gebracht erweist sich Bruckners Chorideal in den- kritisierte Wahl zweitklassiger Texte durchaus der
jenigen kurzen Wendungen, die verschiedenen damaligen Chortradition. Während die Gedichte
Chorvereinigungen als Motto dienten. Während inhaltlich die einschlägigen Funktionalisierungen
»Ein jubelnd Hoch« (WAB 83/1) von 1851 noch ei- im Rahmen der geselligen Gattung zu leisten
nen einfachen Viertakter ausbildet, dessen Vorder- hatten, verdankte sich ihre kompositorische Eig-
satz zur Dominante und dessen Nachsatz zum nung für die charakteristischen kurzen Phrasen-
erforderlichen ›offenen‹ Schluss auf der Tonika in und häufigen Zäsurbildungen einer metrischen
Weltliche Vokalmusik 301

Regelmäßigkeit. Auch war Bruckner, wie bereits nur entfalten konnten, wenn sie nicht strophisch
seine Vertonungen aus Kronstorf deutlich mach- wiederkehrten, sondern auf immer neuen, tenden-
ten, von Beginn an darum bemüht, der prosodi- ziell kontrastierenden musikalischen Wegen er-
schen Qualität der Gedichte rhythmisch gerecht reicht wurden, zog wie bei Der Lehrerstand oder
zu werden. Und allen ästhetischen Verdikten zum »Des Dankes Wort sei mir vergönnt« (WAB 62) eine
Trotz zeigt sich jenseits formaler Aspekte ein ge- additive mehrteilige Großform nach sich, deren
zieltes Eingehen Bruckners auch auf die semanti- Kohärenz durch die chortypischen kleingliedrigen
sche Ebene der Texte – eine an sich wenig überra- Zäsurbildungen zusätzlich geschwächt wurde und
schende Erkenntnis bei einem Komponisten von die in Das edle Herz (WAB 65) gar zur Integration
Vokalmusik. Der entscheidende Punkt dabei ist eines Chorals führte.
allerdings, dass er sich nur selten eigentlicher Ton- Sowohl der Hang zu dramaturgisch motivier-
malereien bediente, wie sie etwa bei dem melo- ten Textrepetitionen als auch der hervorragende
disch bewegten »Bächleins Silberquelle« im Stellenwert harmonischer Mittel zur Höhepunkt-
Ständchen (WAB 84) oder dem Rauschen der bildung prägten in zunehmendem Maße das
Mühle in Das hohe Lied (WAB 74) vorliegen. Wort-Ton-Verhältnis in Bruckners gesamtem
Vielmehr handelt es sich um eine gezielte Hervor- Chorschaffen. Dass folglich der semantische Ge-
hebung ausgewählter Textstellen oder Schlüssel- halt weitaus enger an die Harmonik als an eine
worte, wobei die Dramaturgie in der Regel mit ausdeutende Melodik gekoppelt erscheint, könnte
einer musikalischen Steigerungspassage – über zudem die Erklärung für eine notationstechnische
repetierten kurzen Textausschnitten – ansetzt, die Eigenart bieten, die mit dem kompositorischen
Erwartung mit einer harmonisch offenen Zäsur Primat der Oberstimme unvereinbar wäre: In fast
weiter schürt und schließlich mit der überhöhten allen Autographen textierte Bruckner als einzige
Wirkung eines Fazits die zentrale Aussage zur Stimme ausgerechnet den Bass und nicht, wie
Geltung bringt. Bereits voll ausgebildet zeigt sich üblich, den Tenor beziehungsweise den Sopran.
dieses Verfahren in dem Michael Bogner, dem Allerdings wusste Bruckner durchaus auch die
Schullehrer von St. Florian, zugeeigneten Der Kontrastwirkung zwischen vierstimmigem Chor-
Lehrerstand (WAB 77). Der um 1847 vermutlich satz und figurierter Oberstimmenmelodik (im
auf einen Text Ernst Marinellis entstandene Chor Stile seiner Sololieder) zu nutzen, wobei er Letz-
exponiert in einem halbschlüssig endenden vier- tere in der Regel über einen homophonen Satz
taktigen Vordersatz den eigentlichen Inhalt des von sogenannten ›Brummstimmen‹ legte – eine
Textes, nämlich die Frage nach einem wenig ge- im Chorrepertoire des 19. Jahrhunderts beliebte
achteten Stand (T. 1–4), mündet in ein auskom- Praxis untextierter gesummter Partien. So besingt
poniertes Crescendo des über »weder ehret, noch etwa der Tenor I im Ständchen (WAB 84) über
unterstützt« kreisenden Textes (T. 5–10), lässt auf einem Klangteppich der übrigen drei Stimmen ein
die in c-Moll endende Steigerungspassage als Zwi- sprudelndes Bächlein, um im zweiten Teil in ei-
schentakt eine zur Dominante G-Dur führende nem homophonen vierstimmigen Satz das Fazit
Frage im Piano folgen (T. 11: »ist jener Stand euch des Liedes nochmals mehrfach zu bekräftigen. In
nicht bekannt?«), um nach einer nochmals verzö- dem nur wenig später vertonten »Des Dankes Wort
gernden Fermate eine – durch die unerwartete sei mir vergönnt« (WAB 62) greift dasselbe Prinzip,
Rückung zum B-Dur-Septakkord zusätzlich her- wenn die einzelnen Abschnitte durch den präg-
ausgestellte – ungebrochene Kadenz in der nanten Wechsel von Solostimme über einem
Grundtonart Es-Dur und mit strahlendem Fortis- Brummchor mit homophonen und bisweilen gar
simo zu verkünden: »Es ist der wackre Lehrer- unisono gesetzten Passagen markiert werden. Auch
stand« (T. 12 f.). Bereits die Chorwerke der 1840er- das 1876 für den Wiener Akademischen Gesang-
und 1850er Jahre zeugen von der Absicht, Phrasen verein vertonte Hohe Lied (WAB 74) zeichnet sich
auf der Grundlage einer Steigerungsdramaturgie durch ein Tenor-Solo aus, das allerdings durch
unterschiedlich zu gewichten, wobei je nach Ge- einen zweiten Solo-Tenor und -Bariton mit Echo-
dichtlänge mehrere Kulminationspunkte erforder- funktion verstärkt wird und über Brummstimmen
lich waren. Dass diese wiederum ihre Wirkung gesetzt ist, die ihrerseits nun (außer dem harmo-
302 Ivana Rentsch

nisch stützenden Bass) der besungenen rauschen- dem außerdem exklusiv ein leises Fanfarenmotiv
den Mühle entsprechend in tremolierenden mit Doppelpunktierungen und Sechzehntel-Sex-
Sechzehntelketten verlaufen. Und erneut bildet tolen vorbehalten bleibt. Während die Solostimme
ein homophoner Chorsatz das dramaturgische im Stile von Bruckners Sololiedern geführt wird
Gegenstück, das im letzten Abschnitt gar doppel- und die Brummstimmen gleichsam im Graube-
chörig in einer eigentlichen Apotheose der empha- reich instrumentaler Vokalmusik angesiedelt sind,
tisch repetierten Formel »jetzt ist das Lied allein« erfährt das Hornmotiv eine bezeichnende Trans-
gipfelt (T. 65 ff.), um ähnlich kontrastreich in ei- formation, erschallt es doch plötzlich als Fernge-
nem abschließenden Pianissimo des »Abendrots« sang von Jodlerstimmen (ab T. 28). Die Verwi-
zu verklingen. Es zeugt nicht nur von der begrenz- schung zwischen instrumentalen und vokalen
ten akustischen Tragfähigkeit der Brummstimmen, Klangwelten erscheint als unmittelbare Konse-
dass Bruckner Das hohe Lied zu einer Orchester- quenz eines dem vierstimmigen Satz verpflichteten
fassung überarbeitete (Howie 2004, 70), sondern Chorideals, das sich mit orchestralen Mitteln
vermittelt zudem einen Eindruck von der weitge- wirkungsvoll dynamisch steigern ließ, ohne sub-
henden kompositionspraktischen Gleichwertigkeit stanziell darauf angewiesen zu sein. Der Kern von
vokaler und instrumentaler Partien: Im ersten Teil Bruckners Chorverständnis blieb unter allen Um-
gesellt sich zu den Brummstimmen ein identisch ständen der vierstimmige Satz – ein Ideal, das im
gesetztes Streichorchester ohne Geigen, das die Volkslied (WAB 94) ganz ungebrochen zum Aus-
Tenöre durch Bratschen, den Bass I durch die druck kommen sollte: 1882 hatte die Deutsche
ersten Violoncelli, den harmonisch stützenden Zeitung einen Wettbewerb für eine »Hymne für
Bass II durch die zweiten Celli und Kontrabässe das deutsche Volk in Österreich« (der unter 1320
verstärkt; und in starkem klanglichen Gegensatz Einsendungen keinen Preisträger hervorbrachte)
dazu erleichtern im doppelchörigen Schlussteil die ausgeschrieben. Bruckner sandte ein Volkslied ein,
zu Chor I und II parallel geführten Horn- und das trotz viertaktiger Phrasenbildung und dezi-
Posaunenquartette die vorgezeichnete dynamische dierter Kadenzharmonik weniger liedhaft klingt
Steigerung bis zum dreifachen Forte. Der Um- als vielmehr an einen Choral erinnert. Vor diesem
stand, dass die Instrumente beim finalen Decre- Hintergrund fügt sich schließlich auch Der deut-
scendo verstummen, ohne einen einzigen unab- sche Gesang (WAB 63) mit der Zusatzbezeichnung
hängigen musikalischen Gedanken exponiert zu Das deutsche Lied – laut Bruckner »ein Kracher«
haben, erscheint als praktische Konsequenz einer (2.8.1892; Briefe 2, 184) – nahtlos in sein Vokal-
Orchesterbehandlung, die allein akustischer Ver- schaffen; entstanden ist das Werk im Auftrag des
stärkung dienen sollte – die musikalische Substanz Wiener Akademischen Gesangvereins für das
erschöpfte sich im Chorsatz. Noch in der Verto- Deutschakademische Sängerfest in Salzburg von
nung von Franz Grillparzers Träumen und Wachen 1892. Im Allgemeinen verdeutlicht dieses 1892
(WAB 87) aus dem Jahr 1890 griff Bruckner auf verfasste ›Lied‹ für Männerchor und Blasorchester
einen vierstimmigen Brummchor als musikalisches nachdrücklich, in welchem Maße sich die ›deut-
Fundament einer Solostimme zurück, nun aller- sche‹ Chorbewegung in der zweiten Hälfte des
dings der in den späten Vokalwerken allgemeinen 19. Jahrhunderts einem musikalischen Pathos
Tendenz zu großformaler Symmetrie entspre- verschrieben hatte. Im Besonderen aber rekurriert
chend, im Rahmen des kontrastierenden Mittel- Der deutsche Gesang unverkennbar auf komposito-
teils einer A-B-A-Form. rische Mittel, die Bruckner im Lauf seiner jahr-
Wie eng in Bruckners chorischem Denken die zehntelangen Auseinandersetzung mit Chormusik
Instrumentalstimmen mit dem Chorsatz verfloch- vielfach erprobt hatte: So beginnt das Stück mit
ten erscheinen und dass es Letzterer war, der für einem feierlich punktierten Bläsereinsatz in d-
die musikalische Faktur bestimmend wirkte, Moll, der alternierend mit dem Chor weitergeführt
macht der Abendzauber (WAB 57) von 1878 deut- wird, zudem ändern die besungenen tosenden
lich. Erneut setzte Bruckner dabei eine Solostimme Meeresfluten außer am Ambitus der Singstimmen
über einen Brummchor, erweiterte die Klangpa- nichts an der Melodik (T. 13–18), hingegen werden
lette jedoch zusätzlich durch ein Hornquartett, die Gefahren harmonisch mit einem wirkungsvol-
Weltliche Vokalmusik 303

len Gang unterstrichen (von der Tonika d-Moll sich seit dem frühen St. Florianer Lied vom deut-
zum verselbstständigten Neapolitaner Es-Dur und schen Vaterland (WAB 78) bei patriotischen Texten
über eine kurze Sequenz wieder zurück nach Es- der choralartige Ton Bahn. Mit dem vierstimmigen
Dur). Ebenfalls charakteristisch erscheint der Satz als Bezugspunkt erübrigt sich zudem die Frage
Einsatz des Blasorchesters, das erstens als Pendant nach einer adäquaten ›Liedhaftigkeit‹ von Bruck-
zum Männerchor den Chorsatz im Wechsel über- ners Vertonungen – eine anachronistische Frage,
nimmt, zweitens wie in Vor Arneths Grab oder Das die am pathetischen Chorideal der zweiten Hälfte
hohe Lied die Singstimmen verdoppelt und drit- des 19. Jahrhunderts letztlich ebenso vorbeizielt
tens wie bereits im frühen »Laßt Jubeltöne laut er- wie diejenige nach dem ›literarischen Komponis-
klingen« (WAB 76) fanfarenartige Einsätze ergänzt. ten‹: Textausdeutende melodische Freiheiten, wie
So exponieren die Hörner in Takt 12 ein feierliches sie im solistischen Kunstlied zur Verfügung stan-
rhythmisch determiniertes Triolen-Motiv, das als den, waren mit der Gattung letztlich inkompatibel.
einziger musikalischer Gedanke dem Orchester Betrachtet man hingegen Bruckners Chöre vor
vorbehalten bleibt und zunehmend den Bläsersatz dem Hintergrund des deutschen (Männer-)Chor-
prägt, um die abschließende Apotheose des »deut- ideals, so erfüllte er die Erwartungen, die an einen
schen Gesangs« klanglich zu überhöhen. Auch in ›literarischen‹ Chorkomponisten gestellt wurden,
formaler Hinsicht verfuhr Bruckner bei Der deut- fraglos. Zu suchen ist entsprechend nach drama-
sche Gesang keineswegs nach neuen Prinzipien, turgischen Steigerungsformen über oftmals statisch
erreichte er doch die dramaturgische Hervorhe- kreisenden Texten mit fazitartigen Durchbrüchen,
bung der Kernaussage »der deutsche Gesang« nach dem Einsatz kontrastierender Dynamik und
durch die Aneinanderreihung mehrerer Steige- Tempowahl sowie nach einer gleichsam rhetori-
rungsabschnitte, die in sprachlicher Hinsicht schen Verwendung harmonischer Mittel.
durch ein charakteristisches Kreisen um die im-
mergleichen Textpassagen gestützt werden. Der
Steigerungsverlauf beginnt sogleich nach der re-
präsentativen Einleitung mit einem plötzlichen Germanenzug (WAB 70)
Wechsel ins Piano (ab T. 29), wobei der kurz auf- und Helgoland (WAB 71)
blitzende D-Dur-Akkord im Fortissimo auf »der WAB 70: Germanenzug (August Silberstein), 1863–64,
deutsche Gesang« (T. 39) harmonisch nochmals Männerchor, Männer-Soloquartett 2 Klarinetten, Eu-
getrübt wird, um nach einer dynamischen Steige- phonium, 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Basstuba
rung zum dreifachen Forte, ebenfalls auf »der ǜ WAB 71: Helgoland. Symphonischer Chor (August Sil-
berstein), 1893, Männerchor, Streichorchester, 2 Flöten,
deutsche Gesang« (T. 55), nun als höchste Steige- 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompe-
rungsstufe und nach wie vor in dreifachem Forte, ten, 3 Posaunen, Kontrabasstuba, Pauken, Becken
den Durchbruch in ungetrübtem D-Dur zu er-
möglichen (ab T. 63) – mit der Textstelle »der Der Germanenzug war nicht nur die zu Lebzeiten
deutsche Gesang« verbunden. Und während die mit Abstand erfolgreichste Komposition Bruck-
Bläser den apotheotischen Schlussabschnitt mit ners, sondern seinem eigenen Verständnis gemäß
repetitiven Fanfarenstößen prägen, rückt der Cha- überhaupt die allererste gültig gelungene. Nach
rakter des Chorsatzes endgültig in den Stilbereich dem abgeschlossenen Unterricht bei Kitzler sollte
des Chorals. die Vertonung im Sinne eines Initialwerkes den
Wie bereits das Volkslied für »das deutsche Volk Beginn der eigentlichen »Kompositionszeit« mar-
in Österreich« unter Beweis stellte, ist das in Der kieren (Göll.-A 3/1, 203). Obwohl angesichts
deutsche Gesang zelebrierte »deutsche Lied« in sei- ebenfalls früher Werke wie der Messe in d-Moll
nem Kern der religiösen Sphäre verbunden. (WAB 26) oder der Festkantate (WAB 16) die Sti-
Mochte dieses Phänomen bei Liebes- und Natur- lisierung des in den Jahren 1863 und 1864 entstan-
gedichten wie »Du bist wie eine Blume« (WAB 64) denen Germanenzugs zum tatsächlichen Erstlings-
oder dem Herbstlied (WAB 73) infolge zurückhal- werk zu relativieren ist, so macht doch das nach
tender Dynamik und rhythmisch aufgelockertem jahrelangen Studien endlich errungene künstleri-
Chorsatz in den Hintergrund rücken, so brach sche Selbstverständnis zumindest Bruckners Er-
304 Ivana Rentsch

wartung eines geradezu triumphalen Erfolges er- August Silberstein nur euphorisch ausfallen: »Ihr
klärbar. Der frischgebackene Komponist verfasste über alle Maßen gelungenes, prachtvolles ausge-
das Chorwerk im Sommer 1863 für einen Wettbe- zeichnetes Gedicht habe ich bereits in Händen
werb im Rahmen des (ursprünglich für 1864 ge- und statte hiemit meinen tiefsten, innigsten Dank
planten) 1. Oberösterreichisch-Salzburgischen ab« (29.7.1863; Briefe 1, 36). In formaler Hinsicht
Sängerbundfestes in der Überzeugung, dass er den hatte sich Silberstein beim Germanenzug offen-
Sieg verdient habe: Als dem Germanenzug unter sichtlich nicht nur bei der Textgliederung nach
331 eingereichten Chören, aus denen er gemeinsam den Wünschen des Komponisten gerichtet, son-
mit sieben weiteren für das Sängerbundfest in die dern er scheint seine Verse (mindestens teilweise)
engere Wahl gekommen war, hinter Rudolf Wein- gar auf bereits komponierte Abschnitte verfasst zu
wurms Germania immerhin der zweite Preis zuge- haben, schrieb er doch am 27. Juli 1863 an Bruck-
sprochen wurde, zeigte sich Bruckner zunächst ner: »Ich habe auf den Gang ihrer Composition
enttäuscht (Führer in: NGA XXII/7, VIII). Ent- Rücksicht genommen, so daß die Zeilen wie ich
schädigt wurde der Komponist allerdings durch hoffe trefflich passen werden. Ebenso ist die Inten-
den überwältigenden Publikumserfolg der Linzer tion eines Soloquartettes, einfach oder dopp.)
Uraufführung im Rahmen des Sängerbundfestes, durch den Gesang der Walkyren berücksichtigt«
das infolge der einjährigen Verschiebung erst im (Briefe 1, 35; zur Entstehungsgeschichte vgl.
Juni 1865 stattfand, sowie durch die bemerkens- Hawkshaw 1990). Besagtes Quartett bildet den
werte Rezeption des äußerst beliebten Chorwer- Mittelteil eines klar strukturierten Chorwerks,
kes, das fortan nahezu jährlich in einem größeren dessen drei Teile aus je zwei Strophen bestehen,
öffentlichen Rahmen programmiert wurde. Zu- die im chorischen A- und im solistischen B-Teil
dem gelangte das Werk im Sommer 1864, gemein- einer variierten Zweiteiligkeit verpflichtet sind,
sam mit den anderen der insgesamt acht für das wohingegen der A’-Teil erneut auf den Beginn
Sängerbundfest nominierten Chöre, als erste rekurriert und in einen gesteigerten Schlussab-
Komposition Bruckners zum Druck (bei Josef schnitt übergeht (aa’-bb’-a’’c).
Kränzl, Ried im Innkreis; vgl. Briefe 1, 40 und 43). Obwohl sich der Germanenzug stilistisch
Angesichts des besonderen Stellenwerts der Kom- durchaus in die Reihe von »Laßt Jubeltöne laut
position im damaligen Chorrepertoire sowie erklingen« (WAB 76) oder der nur ein Jahr zuvor
Bruckners eigener Wertschätzung für sein ›erstes‹ verfassten Festkantate (WAB 16) fügt, zeigt sich im
Werk überrascht es wenig, dass der Wiener Akade- Vergleich dazu die Tendenz zu einer musikalischen
mische Gesangverein unter Eduard Kremser für Aufwertung des Orchesters. Der vierstimmige
Bruckners Begräbniszug zur Karlskirche ausge- Chorsatz bildet, wie für Bruckners Chorschaffen
rechnet den Mittelteil des Germanenzugs, also das charakteristisch, zwar unverändert den komposi-
Walkyren-Quartett »In Odins Hallen«, wählen torischen Kern des Germanenzugs, die Instrumente
sollte (Ringer 1999, 27). finden jedoch im Vorspiel zum Eingangschor –
Wie das patriotische Chorrepertoire im Allge- sowie der Reprise im dritten Teil – zu einer tem-
meinen so lässt auch der Titel von Weinwurms porären Eigenständigkeit. Denn die typische
Siegerkomposition (Germania) im Besonderen Brucknersche Eröffnung mit punktierten Fanfa-
keinen Zweifel daran, dass die affirmativ deutsch- renklängen ist nicht wie in der Festkantate oder
nationalistische Thematik des Germanenzugs ge- noch in dem viel späteren Deutschen Gesang (WAB
nau den Erfordernissen eines österreichischen 63) alternierend mit dem Chor gesetzt, sondern
Sängerbundfestes in der zweiten Hälfte des 19. wird allein von den Bläsern, der »Militairmusik«,
Jahrhunderts entsprach (vgl. Harrandt, [i. Dr.]). bestritten (25.2.1864; Briefe 1, 40). Freilich tritt die
Zudem gibt es keinen Grund zur Annahme, dass charakteristische Substanzgemeinschaft von Or-
Bruckner selbst, der jahrzehntelang am damali- chester und Chor sogleich nach dem feierlichen
gen Chor- und hauptsächlich Männerchorleben Vorspiel in Erscheinung, wenn das Sopran-Kornett
praktisch teilhaben sollte, die Vorliebe für patrio- den ersten Choreinsatz – das programmatische
tische Gesänge nicht teilte. Folglich konnte auch »Germanen durchschreiten des Urwaldes Nacht«
sein Dankesbrief für den Germanenzug-Text an – solistisch antizipiert (T. 7–9). Im Zusammen-
Weltliche Vokalmusik 305

spiel mit dem Chor konzentriert sich schließlich phe wieder nach d-Moll zurückzufallen –, ereignet
die Funktion der Instrumente erstens auf die dy- sich exakt dieselbe Wendung nochmals in der
namische Verstärkung des vokalen Gerüstsatzes musikalischen Reprise über der fünften Strophe.
sowie zweitens auf die punktuelle Ergänzung Selbst im neu vertonten zweiten Teil des Schlus-
durch instrumentale Fanfarenmotive, deren schores (ab T. 99), der nun auch in der Vorzeich-
Rhythmik sich ebenfalls aus Chorstellen speist. nung eine nachdrückliche Bestätigung in der Art
Diese markigen Bläsereinsätze finden bereits im einer D-Dur-Coda erwarten ließe, bleibt der er-
Germanenzug zu Steigerungszwecken Verwen- rungene Durchbruch zweifelhaft: »Teutonias
dung, wie sie für Bruckners spätere Chorwerke Söhne« erstrahlen zwar zunächst in D-Dur, erlei-
prägend werden sollte, dort jedoch – etwa im den jedoch nur fünf Takte vor Schluss einen er-
Abendzauber oder Dem deutschen Gesang – rhyth- neuten Rückfall nach d-Moll (mit einem gänzlich
misch nicht mehr notwendigerweise dem Chorsatz ›unheroischen‹ neapolitanischen Es-Dur-Akkord
entlehnt. So gipfelt die erste Strophe des Germa- auf der Fermate Takt 114). Erst der allerletzte Ak-
nenzugs in einem förmlich im letzten Moment kord bringt (nach einem in d-Moll angelegten
erreichten D-Dur-Akkord, der durch das triolische Kadenzgang über dessen Doppeldominante und
Pochen der Bläser als erster Höhepunkt inszeniert Dominante) eine Rückkehr nach D-Dur, weshalb
wird – kurz nach dem erstmaligen Erklingen eines sich das ›Durchbruchs‹-Potenzial auf das geringe
Triolen-Rhythmus im Chor (T. 18–23). Auch die Maß einer picardischen Terz beschränkt. Bruck-
darauf folgende verkürzte Reprise über der zweiten ners kompositorisches Initiationswerk entpuppt
Gedichtstrophe ist einem Spannungsaufbau ver- sich trotz eines Instrumentariums, dessen Funk-
pflichtet, der seinerseits in einem deutlich heraus- tion gegenüber Vor Arneths Grab, »Laßt Jubeltöne
gestellten Halbschluss auf A-Dur gipfelt – der laut erklingen« oder der Festkantate deutlich aufge-
Tonart des Walkyren-Mittelteils. Trotz der deutli- wertet erscheint, in seinem Kern als ein vom
chen Tendenz zu einer Steigerungsdramaturgie, vierstimmigen Vokalsatz her konzipiertes Werk –
der im kontrastierenden Soloquartett eine klein- gleichsam ein instrumental gesteigerter Chor.
teilige dynamische Differenzierung vom Pianis- Komplizierter liegen die Dinge bei dem dreißig
simo bis zum Forte entspricht, erlangte dieses Jahre später, zwischen April und August 1893,
Prinzip im Germanenzug noch keine – wie in den verfassten Helgoland. Das Werk entstand im Auf-
späteren orchestral begleiteten Chorwerken – sub- trag des Wiener Männergesangvereins, der sich
stanzielle Bedeutung. Konterkariert wird das dra- von Bruckner eine Komposition für die Festlich-
maturgische Verfahren eines übergeordneten keiten zum fünfzigjährigen Jubiläum erbeten
Spannungsaufbaus durch Momente, die ganz dem hatte. Obwohl Helgoland nach der äußerst erfolg-
Chorlied verpflichtet bleiben: Die klare strophi- reichen Uraufführung in der Winterreitschule der
sche Gliederung im Rahmen einer Bogenform Wiener Hofburg kaum Eingang ins allgemeine
sowie der weitgehende Verzicht auf Wortwieder- Männerchorrepertoire fand, war der Komponist
holungen widersetzen sich einer inhaltlichen Hö- von dessen besonderer Bedeutung für sein Œuvre
hepunktbildung jenseits textformaler Einschnitte überzeugt: Es war das einzige weltliche Vokalwerk,
in erheblichem Maße. Obwohl Bruckner hier be- das er neben den neun Sinfonien, dem Streich-
reits Steigerungsprinzipien einsetzte, waren sie in quintett, den drei großen Messen, dem Te Deum
formbildender Hinsicht nicht wesentlich. Dies und Psalm 150 testamentarisch der Hofbibliothek
zeigt sich nicht zuletzt in der Tonartendramatur- vermachte. Der singuläre Stellenwert, den Bruck-
gie, die einerseits auf den harmonischen per-aspera- ner von seinen zahlreichen Chorkompositionen
ad-astra-Topos rekurriert, andererseits aber die gerade Helgoland zugestand, dürfte von der darin
Wirkung der Aufhellung von d-Moll nach D-Dur angestrebten Überlagerung der vokalen Gattung
dadurch empfindlich stört, dass eben dieser mit sinfonischen Prinzipien herrühren – wie es
Durchbruch aus großformalen Gründen gleich bereits die eigenhändige Bezeichnung der Partitur-
dreimal erfolgt. Nachdem bereits der Steigerungs- reinschrift, die Bruckner (allerdings erfolglos)
abschnitt am Ende der ersten Strophe in einem auch für den Druck einforderte, nahelegt: Helgo-
D-Dur-Akkord gipfelte – um in der zweiten Stro- land. Symphonischer Chor. Gerade im Vergleich
306 Ivana Rentsch

mit dem Germanenzug scheint die Hervorhebung mer Satz, auf den im dritten Teil zunächst eine Art
der instrumentalen Dimension treffend, und dies, Durchführung (mit motivischem Material aus
obwohl Helgoland mit dem frühen Vokalwerk dem dritten Abschnitt des ersten Teils) folgt, die
nicht nur die deutschnationalistische Thematik in eine Reprise der Anfangsstrophe in der Grund-
desselben Textdichters August Silberstein (vgl. tonart g-Moll übergeht, wohingegen der vierte
Lütteken 2002, 339–344), sondern auch die Beset- Teil den Satz mit einer hymnischen Coda in G-
zung für Männerchor und Orchester (nun aller- Dur beschließt (Grandjean 1995, 353 f.). Jenseits
dings ein Sinfonieorchester) und sogar die groß- großformaler Prinzipien fällt ferner die in Helgo-
formale Dreiteiligkeit verbindet. Freilich: So land zutage tretende Motiv- und Thementechnik
plausibel das Epitheton »symphonisch« wirkt, so auf, die sich weitgehend aus dem eröffnenden
problematisch ist es, die kompositorische Konse- Gang durch den g-Moll-Dreiklang (mit Durch-
quenz daraus konkret zu benennen. Im Gegensatz gangsnote a) der ersten vier Takte speist und an
zum Germanenzug, dessen strukturelle Verwurze- diejenigen substanziellen Verknüpfungsmechanis-
lung im Vokalsatz dem Instrumentarium eine men erinnert, die Werner Korte für Bruckners
formal nachrangige Funktion zuweist, besteht die sinfonisches Schaffen herausgearbeitet hat (Grand-
analytische Schwierigkeit bei Helgoland nicht zu- jean 1995, 358; Korte 1963, 28 ff.). Und selbst das
letzt darin, dass das Verhältnis zwischen Orchester viel zitierte, von Wolfgang Steinbeck für die
und Chor ein variables ist. Es scheint, als befände Neunte Sinfonie diskutierte Prinzip des »Durch-
sich der »Symphonische Chor« gleichsam in einem bruchs« sucht man in Helgoland nicht vergebens
Schwebezustand zwischen den Polen Sinfonik und (Steinbeck 1993, 24): Mit dreifachem Forte, in
Chor. Dabei liegt einerseits als Bezugspunkt für augmentierter Rhythmisierung und mit dem ein-
das »Symphonische« die Neunte Sinfonie insofern zigen Beckenschlag des gesamten Chorwerks
nahe, als die Arbeit an Helgoland genau in deren ›bricht‹ sich das Textwort »Helgoland« in der letz-
Entstehungsphase fiel, nämlich unmittelbar in die ten Steigerung der Coda in strahlendem G-Dur
Monate nach der ersten Partiturniederschrift des (T. 309) endgültig Bahn (Grandjean 1995, 355;
Kopfsatzes der Neunten. Und für den zweiten Teil Lütteken 2002, 349). Bruckners langjährige sinfo-
des Begriffspaars – den »Chor« – bietet sich ande- nische Erfahrungen schlugen sich zweifellos in
rerseits ein Blick auf den nur ein Jahr zuvor ver- Helgoland nieder – und angesichts einer formalen
fassten und nicht minder patriotischen Deutschen Disposition, die sich als Verschränkung zyklischer
Gesang (WAB 63) an, der wie Helgoland einen Viersätzigkeit mit einem Sonatensatz und damit
Männerchor mit Orchester (jedoch in reiner Blä- als »Formidee der symphonischen Dichtung Liszt-
serbesetzung) vorsah. scher Prägung« deuten lässt, liegt Laurenz Lütte-
Wie Wolfgang Grandjean erstmals dargelegte, kens These gleichsam auf der Hand: der »Sym-
ließ Bruckner bei der formalen Anlage von Helgo- phonische Chor« als Analogon zur Sinfonischen
land die strophische Gliederung von Silbersteins Dichtung (Lütteken 2002, 350). Das Programm
Gedicht weitgehend intakt: Die ersten drei Stro- wäre demzufolge dem Instrumentalsatz nicht nur
phen ergeben einen ersten Teil (bestehend aus drei immanent, sondern durch den Gesangstext voll-
Abschnitten); der zweite Teil umfasst die (ebenfalls ständig denotiert. Dass dies dem Wesen einer
in drei Abschnitte untergliederte) neunzeilige Lisztschen Sinfonischen Dichtung zutiefst wider-
Gebetsstrophe; im dritten Teil erklingen in einem strebt, spricht nicht notwendigerweise gegen eine
ersten Abschnitt die fünfte und sechste Strophe entsprechende Intention Bruckners, zumal sich in
sowie im zweiten Abschnitt die ersten drei Zeilen Helgoland die Funktion des Gedichts laut Lütte-
der siebten Strophe – aus der allerletzten Zeile ken im Prinzip darauf beschränke, »Stichwörter
gewann Bruckner schließlich die gewichtige Coda. zur Freisetzung semantischer Assoziationsfelder,
Zugleich fügt sich diese textlich gestützte Struktur die ebenso weit wie unkonkret sind«, bereitzustel-
durchaus der zyklischen Idee einer einsätzigen len (Lütteken 2002, 352). Der besondere Stellen-
Sonate: Übernimmt der erste Teil die Funktion wert der Sinfonik für Bruckners kompositorisches
einer Exposition mit lyrischem zweitem Abschnitt, Selbstverständnis lässt es durchaus plausibel er-
so erscheint der zweite Teil als eingefügter langsa- scheinen, die Bezeichnung »Symphonischer Chor«
Weltliche Vokalmusik 307

dahingehend zu gewichten, dass das »Symphoni- seine Bezeichnung als »Symphonischer Chor«:
sche« dem Werk wesentlich sei, mit einem pro- Die mit der Entstehungsgeschichte aufs Engste
grammatischen »Chor« als sekundärem Moment. verflochtene Ambivalenz entzieht sich einer ein-
Eine solche Lesart erfordert allerdings, diejeni- deutigen Zuordnung und trägt damit erheblich
gen Aspekte auszublenden, die genau umgekehrt zum Sonderstatus des Werks in Bruckners Chor-
das Substantiv »Chor« in den Mittelpunkt rücken schaffen bei. Und dessen ungeachtet, dass das
und das Adjektiv nicht nur grammatikalisch nach- »Symphonische« des »Chors« wohl nicht von Be-
rangig erscheinen lassen. Dazu zählt hauptsächlich ginn an beabsichtigt war, dürfte die Aufnahme
die von Grandjean anhand der Skizzen herausge- von Helgoland in den eigenen testamentarischen
arbeitete Entstehungschronologie, der zufolge Kanon zu großen Teilen dieser sukzessiven sinfo-
Bruckner im Particell ab der zweiten Strophe nur nischen Nobilitierung zu verdanken sein.
die Chorpartien (mit höchst vereinzelten Einträ- Die zwar verzögerte, jedoch bewusste Annähe-
gen in den Orchesterstimmen) festgehalten hatte rung von Helgoland an die Sinfonik wirft eine
und selbst in der Partiturphase zunächst den ganze Reihe von Fragen auf, die neben der Gat-
Chorsatz vollständig notierte, bevor er die Instru- tungshierarchie vor allem die späten Sinfonien
mentation vornahm (Grandjean 1995, 365). Zu- betreffen. Sei es ein möglicher Zusammenhang zu
dem zeigen die Skizzen, dass Bruckner im Particell Bruckners programmatischen Erläuterungen zur
offenbar nur die ersten zwei Hauptteile (Buchsta- Achten (Lütteken 2002, 353) oder seien es motivi-
ben A-G) auf Anhieb entwarf, den dritten Teil sche Verbindungen zur Neunten (Grandjean 1995,
hingegen in einer späteren zweiten Phase konzi- 359) – die tendenzielle ›Sinfonisierung‹ des Chores
pieren sollte. Da es sich bei Letzterem ausgerech- erscheint gleichsam als Pendant zu einer latenten
net um denjenigen Abschnitt handelt, der sich im ›Verbalisierung‹ der Sinfonie. Bei dem ästhetischen
Sinne einer Durchführung verstehen lässt, gelangt Gewicht dieses Phänomens droht allerdings aus
Grandjean zu dem Schluss, dass sich der »sympho- dem Blick zu geraten, dass Bruckners Helgoland
nische Anspruch« erst im Lauf des Kompositions- trotz des gesteigerten kompositorischen Anspruchs
prozesses herausbildet haben dürfte (Grandjean keinen Bruch mit seinem jahrzehntelang erprob-
1995, 365 f.). Eine mutmaßliche konzeptionelle ten Chorideal bedeutete. Ganz im Gegenteil: Die
Wende würde zudem eine Erklärung bieten für Verwurzelung in Bruckners Chorschaffen ist trotz
die auffällige Diskrepanz zwischen dem für Bruck- aller sinfonischen Anleihen evident. So weist Hel-
ners Chorschaffen typischen (überwiegend homo- goland nicht nur wie alle anderen seiner instru-
phonen und bisweilen fugierten) vierstimmigen mental begleiteten Chorwerke einen Beginn auf,
Vokalsatz in den ersten beiden Teilen sowie der in dem die eröffnenden Orchestertakte den ersten
Coda einerseits und einer ungewöhnlichen, sinfo- Choreinsatz antizipieren. Das Orchester verdop-
nisch ›durchbrochenen‹ Satzweise (kulminierend pelt den vierstimmigen Chorsatz nachdrücklich
bei Buchstabe H) im dritten Teil andererseits. Mit und findet erst am Ende der ersten Strophe in den
Blick auf die erst in einem zweiten Arbeitsgang Hörnern überhaupt zu einem ersten genuin in-
konzipierte ›Durchführung‹ stellt sich gar die strumentalen Motiv (T. 30–32) – bezeichnender-
Frage, ob Bruckner nicht zunächst eine dreiteilige weise ein Motiv, das sich vergleichbar mit »Laßt
Form beabsichtigt hatte, die wie im Germanenzug Jubeltöne laut erklingen«, dem Germanenzug oder
einen kontrastierenden lyrischen Mittelteil (mit dem Deutschen Gesang durch fanfarenartige Kürze
einem Gebet analog zu »Odins Hallen«) aufgewie- und Punktierung auszeichnet und im weiteren
sen hätte. Bedenkt man zudem, dass die ›Reprise‹ Verlauf zur emphatischen Hervorhebung einer
auch auf der Folie einer vokalen Bogenform ver- zentralen Textstelle dienen wird (bei der feierlichen
standen werden könnte, so wirkt der »Symphoni- Anrufung »Allvater!«, Buchstabe F). Die Orches-
sche Chor« durchaus ›chorisch‹ geprägt – ein terbehandlung in Helgoland unterscheidet sich
Eindruck, der allerdings seinerseits durch die sin- allerdings dahingehend von Bruckners übrigen
fonische ›Durchführung‹ konterkariert wird. instrumentierten Chorwerken, dass neben die
Schließlich lässt sich Helgolands formale Konzep- dort üblichen zwei Funktionen – Verdoppelung
tion genauso wenig befriedigend auflösen wie des Chorsatzes und Ergänzung mit Fanfaren – eine
308 Ivana Rentsch

weitere tritt. Ab der dritten Strophe (Buchstabe B) stören. Obwohl nach nur zwei Takten die Chorte-
schieben sich zunehmend Instrumentengruppen nöre nun gegenüber den Bässen verfrüht einsetzen
ein, die einen Klangteppich mit bereits exponier- (T. 188) und der Eindruck metrischer Konfusion
ter Motivik ausbreiten, ohne melodische Unter- weiter aufrecht erhalten wird, bereitet die strikte
ordnung unter den zeitgleichen Vokalsatz. Daraus Viertaktigkeit der Chorbässe bereits den Ausweg
ergibt sich eine horizontale Schichtung motivi- vor. Nach insgesamt nur zehn Takten setzt sich die
schen Materials, die dem Orchester eine weitaus Abschnittsbildung der Bässe durch, bekräftigt
gewichtigere Rolle gewährt, als dies bei den frühe- durch einen Unisono-Gang von Chor und Or-
ren Chorwerken möglich war. Das zweifellos sin- chester (ab T. 195). Und im anschließenden Sieg
fonische Charakteristikum vermag jedoch wenig über die Feinde in der musikalischen ›Reprise‹
daran zu ändern, dass es sich bei dem instrumen- (Buchstabe J) erstrahlt die eröffnende achttaktige
talen ›Kontrapunkt‹ (mit Ausnahme des durch- Periode des Chores nun endgültig als Sinnbild ei-
führungsartigen Abschnitts im dritten Teil) nicht ner göttlich beglaubigten Ordnung (T. 209–216).
um eine tatsächliche Emanzipation des Orchesters Als Folge davon, dass die ›Durchführung‹ streng
handelt, sondern vielmehr – und darin den Fanfa- an die Textstelle des Kampfes geknüpft bleibt, er-
renstößen durchaus vergleichbar – um eine sekun- hält die satztechnische Diskrepanz zum ansonsten
däre klangliche Ergänzung zum primären vier- vorherrschenden Chorstil eine inhaltliche Begrün-
stimmigen Chorsatz. dung: Der sinfonische Freiraum des Orchesters
Als dessen Kern erweist sich eine für Bruckners wird durch den Ausnahmezustand des Kampfes
Spätwerk charakteristische viertaktige Phrasenbil- bedingt. Damit bleibt jedoch die Fokussierung auf
dung, die infolge der Koppelung an entsprechend den positiv konnotierten Chorsatz – im Kontrast
skandierte Verse deutlich prägnanter als in den zu der negativ begründeten ›Durchführung‹ als
Sinfonien zutage tritt. Die seltenen Abweichungen Sonderfall – selbst im »Symphonischen Chor«
von der Viertaktigkeit erfolgen typischerweise auf Helgoland die Regel.
– emphatisch um einen Takt – erweiterten Kaden- Grundsätzlich lassen sich die Steigerungsdra-
zen unmittelbar vor musikalischen Zäsuren (u. a. maturgie, deren Spannungsverläufe zumeist durch
T. 25–29, T. 77–81) oder auf einem inhaltlich ge- emphatische Textrepetitionen gestützt werden, die
stützten Kulminationspunkt, etwa bei dem ge- harmonischen Markierungen von Textstellen, der
wichtigen Fazit »dich preiset frei Helgoland« im ›Durchbruch‹ im abschließenden Choral und der
zweitletzten Steigerungsabschnitt der Coda Choral überhaupt für Bruckner als chortypisch
(T. 263–267, T. 283–287). Besonders deutlich zeigt charakterisieren. Wird etwa im Deutschen Gesang
sich die formbildende Dominanz des Chorsatzes der Choral nur von den Singstimmen getragen, so
ausgerechnet im durchführungsartigen dritten Teil fügen sich ihm hier sogar große Teile des Orches-
(ab Buchstabe G): Zwar gewinnt das Orchester ters. Bruckner machte dabei die Zugehörigkeit zu
ein Maß an Eigenständigkeit, das für Bruckners ein und demselben vokalen Satz für die Instru-
weltliches Chorschaffen einmalig ist und sich in mente durch die Angabe Choral explizit (T. 247
der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Klangflä- und T. 295) – eine Bezeichnung, die sich für den
chen niederschlägt, das Fundament bildet jedoch Chor genauso wie bereits im Deutschen Gesang
nach wie vor ein strikt viertaktig konzipierter erübrigte. Es greift an dieser Stelle der choralartige
Chorsatz. Erst im zweiten ›Durchführungs‹- Ton patriotischer Männerchöre, wobei das inhalt-
Abschnitt (Buchstabe H) greift die orchestrale liche Bekenntnis zum symbolträchtigen »frei
Steigerung auf eine – äußerst kurze – metrische Helgoland« durch eine Anspielung an Joseph
Verschiebung zwischen den einzelnen Gruppen Haydns Kaiserhymne »Gott erhalte Franz, den
über. Diese resultiert daraus, dass einerseits die Kaiser« musikalisch bekräftigt wird (T. 252–254,
Hörner das viertaktige ›Gebetsthema‹ (aus dem vgl. Kaiserhymne T. 2 f.). So chortypisch die ge-
Mittelteil, exponiert Takt 87–90) intonieren, die nannten Charakteristika von Helgoland sind, so
Chorbässe jedoch dessen Ende nicht abwarten bedeutsam erscheint, dass sich vergleichbare Prin-
und bereits im dritten Takt (T. 187 mit Auftakt) zipien auch in der Sinfonik als zentrale Merkmale
mit einem eigenen viertaktigen Motiv das Metrum herauskristallisieren. Dies erklärt nicht nur die
Weltliche Vokalmusik 309

unauflösliche Ambivalenz zwischen chorischer die satztechnische und dramaturgische Kompati-


und sinfonischer Wirkung, die es erlaubt, Helgo- bilität des vokalen und des sinfonischen Verfahrens
land sowohl als instrumental gesteigertes Chor- auf gleichsam allgemeingültige Grundsätze von
werk als auch (von der entgegengesetzt instrumen- Bruckners Musikverständnis zu verweisen, deren
talmusikalischen Warte aus) im Lichte der Sinfo- Ausgangspunkt nicht nur instrumentalmusikalisch
nik, ja sogar im Lichte der Sinfonischen Dichtung begründet sein dürfte. Die Erprobung von Form-
zu deuten. Obwohl Helgoland sich klar in Bruck- modellen anhand von Liedern im Kitzler-Studien-
ners Chorschaffen einfügt und obgleich die kom- buch lässt ebenso wie die Wahl ausgerechnet eines
positorischen Techniken in genau derselben Weise Chorwerks (Germanenzug) als ›Initiationswerk‹
einer dramaturgischen Gewichtung des Textes darauf schließen. Die Aporie allerdings, dass sich
dienen, bleibt die Übereinstimmung mit instru- die Einflussrichtung nicht eindeutig bestimmen
mentalmusikalischen Techniken markant. lässt und diese je nach Blickwinkel entweder ge-
Vor dem Hintergrund von Bruckners lebens- nuin vokal oder – genau umgekehrt – rein instru-
langer Auseinandersetzung mit dem Chorideal mental determiniert erscheint, liegt in der Natur
wäre dennoch die These einer einseitigen Einfluss- von Bruckners Musikideal. Und unmittelbarer
richtung im Sinne einer ›Sinfonisierung‹ des kompositorischer Ausdruck davon ist der »Sym-
Chorideals zweifellos unhaltbar. Vielmehr scheint phonische Chor« Helgoland.

Literatur
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310

Die Kammermusik
von Wolfgang Rathert

Kompositionsgeschichtlicher Ort technische Begabung ihn für das Genre prädesti-


niert, verweigert ihr sich geradezu. Der
Bruckners Kammermusik hat aufgrund ihrer eigentümliche Sachverhalt provoziert eine Reihe
quantitativ marginalen Rolle im Gesamtwerk bei von Fragen und Überlegungen: Stand dahinter
Hörern und Interpreten nur eine vergleichsweise Bruckners Furcht, den von der österreichischen
geringe Popularität erlangt und in der Musikwis- bzw. Wiener Tradition – also in der Kammermusik
senschaft sogar eine gewisse Verlegenheit ausgelöst. Haydns, Mozarts, Beethovens, Schuberts und
Noch der 2004 erschienene Cambridge Companion schließlich auch Brahms’ – gesetzten Maßstäben
to Bruckner widmet der Kammermusik kein eige- nicht zu genügen? Oder zeigte sich darin Bruck-
nes Kapitel, sondern behandelt die dazugehörigen ners frühe musikalische Sozialisierung, in der die
Werke en passant, d. h. in Relation zur geistlichen geistliche Musik omnipräsent war und kein bür-
und sinfonischen Musik. Die Rechtfertigung da- gerliches Milieu existierte, das Aufführungs- und
für fällt nicht schwer, denn Bruckners kammer- damit auch Produktionsanlässe für Kammermusik
musikalische Produktion beschränkt sich auf le- hervorbrachte? Man könnte mutmaßen, Bruckner
diglich sechs Werke: drei für Streichquartett-Be- sei der Auffassung gewesen, dass das Modell, das
setzung (unter ihnen zwei Einzelsätze), die jedoch er für seine Sinfonien entwickelt hatte, sich auf die
für den Unterricht entstanden sind; ein sehr kur- intimeren Verhältnisse der Kammermusik nicht
zes Gelegenheitswerk für Violine und Klavier; übertragen lasse. Und schließlich rückt ihn seine
schließlich zwei Kompositionen für Streichquin- Abstinenz in eine eigentümliche Nähe zu jenen
tett-Besetzung, von denen eine als Ersatz für einen Komponisten des 19. Jahrhunderts, welche die
Satz des mehrsätzigen Werks gedacht ist. Letzteres Kammermusik – die Königsdisziplin der »absolu-
stellt das einzige »gültige« Werk dar, das Streich- ten« Musik – zugunsten anderer ästhetischer Ziele
quintett F-Dur (WAB 112) aus dem Jahr 1879. Es ignorierten. Weder Berlioz noch Liszt, weder
ist zwar ohne Frage ein Hauptwerk Bruckners so- Wagner noch Mahler haben zur Kammermusik
wie der Streicherkammermusik des 19. Jahrhun- maßgebliche Werke beigesteuert, und es ist com-
derts, zugleich aber ein Solitär inmitten der geist- munis opinio, dass ihnen die Gattung für das ihnen
lichen Musik und Sinfonien. Entsprechend selten vorschwebende Ausdrucksbedürfnis und die pro-
wird es aufgeführt, wenngleich es im relativ grammatische, literarische wie philosophisch am-
schmalen Repertoire, das für diese Besetzung exis- bitionierte Erweiterung von Musik zu eng gewor-
tiert, fest verankert ist. den war. Dem widerspricht aber wieder die Er-
Eine solche Konstellation erscheint vor dem scheinung Bruckners: Zwar war er von der Kritik
Hintergrund der Bedeutung und des Reichtums als »Neu-Töner« in der Nachfolge Wagners atta-
an Kammermusik speziell in der deutsch-österrei- ckiert worden, gleichzeitig galt er aber als Reprä-
chischen Tradition seit der Wiener Klassik eigen- sentant einer musikalischen Welt, die sich kaum
artig. Ein Komponist, dessen überragende satz- in die Fortschrittskategorien der neudeutschen
Die Kammermusik 311

Schule einspannen ließ. Eine letzte Erklärungs- Kammermusik vor dem


möglichkeit deutet sich durch die viel diskutierte Streichquintett
These an, dass es sich bei dem Streichquintett in
F-Dur um eine verkappte sinfonische Konzeption Bruckners frühe Kammermusikwerke entstammen
und um ein »getreues Echo« der Sinfonien han- sämtlich seiner Linzer Zeit (1855–68): Das viersät-
dele, »gespielt von einem Mahlerschen Fernor- zige Streichquartett c-moll (WAB 111) und die
chester« (Hansen 1987, 230). Dann wäre das beiden Einzelsätze Scherzo g-Moll und Rondo c-
Streichquintett als Werk eines Übergangs zu sehen, Moll (beide WAB deest) komponierte Bruckner
ein Nebenprodukt der intensiven Kompositions- 1862 in Linz während seiner privaten Studien bei
und Revisionstätigkeit an den Sinfonien Nr. 2 bis Otto Kitzler, die Abendklänge für Violine und
7 und ein Zwischenschritt zu den beiden späten Klavier (WAB 110) entstanden aus privatem Anlass
Sinfonien Nr. 8 und 9. 1866. Das Komponieren von Streichquartettsätzen
Wie bewertete Bruckner selbst seine Kammer- gehört selbstverständlich zum Curriculum ange-
musik? Seine testamentarische Verfügung vom 10. hender Komponisten im 19. Jahrhundert. Erstaun-
November 1893 gibt eine eindeutige Auskunft: lich im Falle Bruckners ist die Tatsache, dass sich
Das Streichquintett zählt zusammen mit den Sin- ein fast vierzigjähriger Komponist, der bereits über
fonien, den drei Messen, dem Te Deum, dem 150. ein beeindruckendes theoretisches Fundament
Psalm und dem Chorwerk Helgoland zu jenen verfügte, dieser Aufgabe – überdies noch bei einem
Werken, deren Manuskripte er der Hofbibliothek zehn Jahre jüngeren Lehrer – unterzog. Bruckner
vermacht. Damit wird deutlich, dass Bruckner das hatte seit seinem sechzehnten Lebensjahr intensive
Quintett zum Kern seines kompositorischen Œu- musiktheoretische Studien betrieben, zuletzt bei-
vres zählte. Indes bleibt es offen, ob Bruckner mit nahe sechs Jahre lang bei Simon Sechter Kontra-
der Begrenzung auf ein kammermusikalisches punkt studiert und die anspruchsvollen Prüfungen
Werk eine bewusste Entscheidung traf. Denn der im März 1861 mit größtem Erfolg abgeschlossen.
Erfolg des Streichquintetts und der neue – auch Ein wesentlicher Grund dafür, dass Bruckner sich
außerhalb des deutschsprachigen Raums und vor erst jetzt der Kammermusik zuwandte, lag in ih-
allem in Frankreich stattfindende – Aufschwung rem Status einer »freien Komposition«, die sie –
der Kammermusik in den 1880er Jahren hätte eine wie die Instrumentalmusik überhaupt – gegenüber
Fortsetzung durchaus plausibel erscheinen lassen. harmonischen und kontrapunktischen Exerzitien
Man mag bedauern, dass Bruckner der Arbeit am besaß, aber auch im Verhältnis zur Kirchenmusik,
Lebensprojekt der Sinfonien alle anderen Pläne für die Bruckner in den 1840er und 1850er Jahren
nachordnete, doch tritt auf der anderen Seite der bereits eine Reihe gediegener Werke (Psalmverto-
Nimbus des Quintetts sowohl in Bruckners eige- nungen, Requiem d-Moll WAB 39 und Missa So-
nem Werk wie in der Kammermusik des 19. Jahr- lemnis b-Moll WAB 29) komponiert hatte. Jetzt
hunderts dadurch umso deutlicher hervor. Seine ging es um andere kompositorische Ansprüche der
kompositorische Qualität erlaubt ohne Frage den autonomen Formbeherrschung, ausgehend von
Vergleich mit den bedeutendsten Werken der einfachen und zusammengesetzten formalen Mo-
Gattung, also den Quintetten Mozarts und Schu- dellen. Entsprechend systematisch weist Bruckners
berts. In jedem Fall wirft das Quintett auf Bruck- Studienbuch bei Kitzler die intensive Beschäfti-
ners musikalisches Denken ein spezifisches Licht, gung mit der Lied-, Rondo- und Sonatenform auf,
denn es ist offensichtlich weder eine defizitäre deren folgerichtiger Abschluss im Frühjahr 1863
Sinfonie noch ein kammermusikalischer Hybrid, die sogenannte Studiensinfonie f-Moll (WAB 99)
sondern eine einmalige und eigentümliche Leis- bildete.
tung sui generis. In der Kammermusik stellt das am 7. August
1862 abgeschlossene Streichquartett einen Vorläufer
im kleinen Maßstab dar, denn Bruckner wagte
sich hier mit der Folge von Sonatenhauptsatz (1.
Satz: Allegro moderato), Lied- (2. Satz: Andante)
bzw. Scherzoform (3. Satz) und Rondo (Finale)
312 Wolfgang Rathert

erstmals an eine vollständige zyklische Form in der Klangkonstellationen in zeitlicher und tektoni-
Instrumentalmusik. Das im Frühjahr 1862 konzi- scher Konkretisierung an, die sich von den Bin-
pierte Scherzo ist demgegenüber noch eine isolierte dungen an das Wort lösen. In der Zeit bei Kitzler
Einzelstudie, während das eine Woche nach dem machte sich Bruckner endgültig anhand des Studi-
Streichquartett entstandene Rondo durch die Iden- ums der Kompositionslehren von Johann Christian
tität von Ton- und Taktart eine erweiterte Variante Lobe und Adolph Bernhard Marx mit der freien
des Schluss-Satzes ist. Komposition vertraut (vgl. seine Mitteilung an
Über die während der Zeit bei Kitzler entstan- Rudolf Weinwurm vom 8.11.1863; Briefe 1, 37 f.).
denen Werke und Entwürfe und damit auch über »Freie Komposition« bedeutete in diesem Sinn
das Streichquartett ist unterschiedlich geurteilt nicht nur das Erlernen einer selbstständigen kom-
worden: »Bruckners Studienwerke kommen von positorischen Handschrift, mithin die Legitima-
ihrer Funktion, Erfüllung gestellter Aufgaben zu tion zum Regelbruch, sondern im Sinne von Marx
Studienzwecken zu sein, nicht los. Ihnen eignen die eigentliche künstlerische Tätigkeit: Erst mit
eine gewisse Unfreiheit und ein selbstauferlegter den hier zu lösenden Aufgaben »bethätigen wir
Zwang unter die als Gesetz empfundenen Lehr- uns durchaus in der Weise freier Kunst, die näm-
buch-Schritte. Für Bruckners kompositorisches lich ihr Werk ganz aus sich selber nach ihrem Ge-
Selbstverständnis aber waren diese Arbeiten, wie setz allein hervorbringt, nicht blos zu einem schon
schon die früheren Theorieübungen, von großer Gegebenen herantritt, um es zu schmücken, zu
Wichtigkeit« (Steinbeck 2002, 125). »Das Streich- unterstützen, oder sonst zu mehren und zu ändern«
quartett […] ist […] sicherlich kaum mehr als eine (Marx 1838/1890, 3). Der Unterschied zwischen
›Schülerarbeit‹, in erster Linie als Übung für die Kirchen- und Instrumentalmusik, seit Athanasius
Lösung von Form- und Satzproblemen gedacht. Kircher als Gegensatz von »stylus ecclesiasticus«
Gleichwohl trägt es einige Züge, die man – aus der und »stylus phantasticus« ein technisch-rhetori-
Retrospektive betrachtet – als ›brucknerisch‹ an- scher, rückt damit in ein anderes Licht. Erst in der
sprechen möchte« (Floros 1994, 9). Während die Instrumentalmusik zeigt und artikuliert sich der
eine Sicht mehr das psychologische Moment der Komponist als aktiv handelndes »Subjekt«, wäh-
durch gelungene Selbst-Disziplinierung erlangten rend er in der Kirchenmusik gewissermaßen noch
inneren Unabhängigkeit im Blick hat, weist die indirekt spricht: einerseits dominiert, andererseits
andere auf die Ausprägung personalstilistischer aber auch entlastet von den Anforderungen einer
Züge hin, die Bruckner im Unterricht – vielleicht ehrwürdigen Tradition. Das »umfassendste, hellste
mehr unbewusst als bewusst – angestrebt habe. Bewusstseyn aller Kunstmittel«, das Johann Chris-
Gemeinsam ist beiden Positionen die primäre Be- tian Lobe als Kennzeichen der Meisterschaft fasst
deutung von Metier und Modell. Unabhängig (Lobe 1850/1988, 57), demonstriert er überwiegend
davon, ob in der Befolgung handwerklicher Maß- an Beispielen aus den Streichquartetten Haydns
stäbe eine autoritäre Fesselung oder eine Inspira- und der Sinfonik Beethovens.
tion liegt, bot das Modell für Bruckner den festen Vor dem Hintergrund von Bruckners musika-
Rahmen für kompositorische Erprobungen. Inso- lischer und kultureller Sozialisation um 1860 kam
fern lässt sich am Streichquartett tatsächlich Weg- seiner Haltung zur Instrumentalmusik – und der
weisendes finden, aber vielleicht eher jenseits der Kammermusik als dem anspruchsvollsten Gebiet
von Floros benannten inhaltlichen Merkmale, die kompositorischer Gestaltung – also eine entschei-
er im »elegische[n] Charakter« des Hauptthemas, dende Rolle seiner künftigen Orientierung zu.
dem »überaus kühne[n] Modulationsplan der Denn die Antwort darauf bedeutete, sich in ein
Durchführung des Kopfsatzes«, der »Innigkeit des Verhältnis zu Klassikern wie Mozart, Beethoven
zweiten Satzes, dessen Kopfmotiv eine ›Miserere‹- und Schubert, aber auch zu den Zeitgenossen
Wendung aus dem Gloria der […] d-moll-Messe Liszt und Brahms zu setzen, in deren Œuvre das
vorwegnimmt« und den »ländlerartige[n] Motivli- Bewusstsein der neuen Stufe kompositorischen
nien im Trio« fand (Floros 1994, 9 f.). Denn vor Handelns in der Instrumentalmusik und die dar-
allem bahnt sich hier eine bestimmte komposito- aus resultierenden Möglichkeiten überall spürbar
rische Denkform der Ausgestaltung von Ton- und ist. (Dass zudem der Schatten Wagners auch auf
Die Kammermusik 313

das Quintett fiel, wie schon Eduard Hanslick be- Seitengruppe (T. 30 ff.), deren Harmonik Bruck-
merkte, gehört eher in den Kontext der Persön- ner so verändert, dass es erst mit Erreichen der
lichkeit Bruckners als einer tatsächlichen kompo- Schlussgruppe zur Bestätigung der Tonart Es-Dur
sitorischen Orientierung. Immerhin ist anzumer- kommt. Demgegenüber bleiben Diastematik und
ken, dass der Streichersatz des Siegfried-Idylls mit Rhythmik eigentümlich passiv. Die proportional
seinem obligaten Kontrabass fünfstimmig ist und sehr viel längere, wenngleich thematisch unspezi-
dessen Erstdruck 1878 in das Jahr vor der Entste- fische Schlussgruppe behauptet eine Selbststän-
hung des Quintetts fällt.) digkeit, die das Reihungsprinzip unterstreicht.
Lediglich in der Durchführung des Kopfsatzes
deutet sich eine Prozesslogik an, die aus dem De-
Streichquartett und Rondo c-Moll
tail entwickelt wird. Bruckner kombiniert hier
Es wäre zwar stark übertrieben, in dem c-Moll- zunächst den Themenbeginn des Seitenthemas
Streichquartett von 1862 (WAB 111) eine Rich- mit der Fortspinnung des Hauptthemas in Sech-
tungsentscheidung sehen zu wollen. Immerhin zehnteln und Akkordbrechungen (T. 8, Violine 1).
aber ist das Bemühen und die Beherrschung einer Dann folgt eine Variante des Themenkopfs, die
der Instrumentalmusik eigenen Idiomatik erkenn- sich mit der weiterentwickelten, nun raumgreifen-
bar, die Bruckner unter Rückgriff auf die Sprache den Sechzehntelfigur verbindet. Harmonischer
der frühen und mittleren Quartette Haydns zu Wendepunkt ist die enharmonische Modulation
lösen versucht. Das Empfinden für die Spannung des Hauptthemas von as-Moll über fis-Moll
von Rahmen und Füllung, aus der sich die Form (T. 88/90) zum Orgelpunkt auf der Dominante G,
zu konstituieren hat, ist unverkennbar. Dies wird vollzogen über eine Sequenzierung. Veränderung
belegt durch die im Skizzenbuch dokumentierten entsteht also aus dem Wechsel zwischen (durch
Äußerungen Bruckners zur Ausarbeitung der Mo- chromatische Anreicherung erzielter) harmoni-
delle und die verworfenen Alternativen, die ein scher Progression und motivischer Abspaltung.
Einblick in die Überlegungen, Strategien und Wiederum ist aber nicht die Verflüssigung der
Kriterien der Formwege geben (vgl. den Revisi- Faktur das Ziel, sondern das funktionale Gefüge
onsbericht zum Streichquartett: NGA XIII/1 der einzelnen Schichten. So bleiben die rhythmi-
[1956]). Die relative Sparsamkeit des motivischen schen Motive stets klar identifizierbar, um dadurch
Haushalts zeigt das Bestreben, den von Lobe ge- im Gegenzug die Kompliziertheit der Harmonik
forderten Ausgleich von »Einheit« und »Mannig- hörbar zu machen. Sie ›erleiden‹ gewissermaßen
faltigkeit« mithilfe streng kontrollierter, begrenzter Veränderungen, ohne sie aber selbst anzustoßen
und aufeinander aufbauender Elemente von Mo- oder zu beeinflussen. Die Reprise modifiziert
tiv, Abschnitt, Satz und Periode zu lösen und aus Bruckner zwar durch weitere chromatische Anrei-
ihnen die gegebene Form zu generieren. Schon cherung in den Durchgängen des Basses, aber
hier fällt aber auf, dass eine diskursive, die Bezie- auch hier geht es ihm nicht um dramatische oder
hungen verschleiernde motivisch-thematische narrative Transformationen.
Arbeit – also das von Bruckner später an Brahms’ Das gleichsam ›vorklassische‹ kompositorische
Musik bewunderte und unter der Vorstellung der Bewusstsein gilt auch im langsamen Satz, der ins-
»entwickelnden Variation« oder »kontrastierenden gesamt vielschichtiger ist. Der Beginn zeigt An-
Ableitung« bekannte Verfahren – kaum eine Rolle sätze zur kontrapunktischen Auffächerung der
spielt. Stattdessen geht es Bruckner in strenger Stimmen, die Chromatik ist von Anfang an prä-
Immanenz um das »Musikalisch-Gegenständliche« sent, und es wird sogleich eine asymmetrisch er-
(Nowak 1955, Vorwort), etwa wenn er zum dritten weiterte Anlage des Vordersatzes erprobt, der 11
Satz die Frage notiert, ob in der hier zugrunde Takte umfasst. Vor allem an den Satzschlüssen fällt
gelegten Liedform der mittlere Teil als selbststän- die Schreibweise wieder in stereotype, ›altväterli-
dig angesehen werden kann, sobald er (durch Re- che‹ Kadenzierungen zurück, die freilich auch
petition) dieselbe Ausdehnung wie der erste Teil beim späteren Bruckner immer wieder auftauchen
besitzt (vgl. Revisionsbericht zu NGA XIII/1, 7). können. Dagegen zeugt die harmonische Disposi-
Typisch ist die Arbeit an der unscheinbaren tion des Mittelteils, die – Modellen Beethovens
314 Wolfgang Rathert

und Schuberts folgend – von einem Terzfall be- Abendklänge


stimmt ist, von einer gewissen Ambition. Von der
Ausgangstonart As-Dur geht der Mittelteil über Die 1866 im Umkreis der Ersten Sinfonie und der
die vermollte Tonika as-Moll zu deren Mediante e-Moll-Messe entstandenen Abendklänge für Vio-
E-Dur, die damit zur Achsen-Tonart des Satzes line und Klavier (WAB 110) bieten ein weiteres
wird. (Im Streichquintett greift Bruckner diese Beispiel für Bruckners Suche nach einem eigenen
Konstellation in weitaus komplexerer Ausführung Stil in der Instrumentalmusik. Die einleitenden
wieder auf.) Dieser Dynamisierung steht der ar- Takte des Klaviers könnten einem Chopin-Walzer
chaisierende, ›gespreizte‹ Charakter des punktier- entsprungen sein, die Fortsetzung schlägt die
ten Hauptmotivs wieder entgegen. Auch im Richtung eines sehnsuchtsvoll-sentimentalischen
Scherzo, dessen Haydn-Bezüge am offensicht- Salontons ein, der aber auch nicht zur vollen Ent-
lichsten sind und das durch die Wahl des Ländlers faltung kommt. Wieder sind die Starrheit der
im Trio stark volkstümliche Züge trägt, fällt die rhythmischen Formulierung und die eigentümli-
Wahl der Tonart auf. Statt der zu erwartenden chen harmonischen Wendungen auffällig. Das
Tonika steht es in der Dominante G-Dur, um ein lediglich anderthalb Minuten dauernde und 36
harmonisches Gefälle zum abschließenden Rondo Takte lange, in der Tonart der Messe stehende
zu erzeugen. Dieses gibt sich ausgesprochen spiel- Stück wurde am 7. Juni 1866 komponiert und ist
freudig und neigt sogar zu einer gewissen klangli- dem Landgerichtsbeamten Hugo von Grienberger
chen Brillanz. Gleichwohl knüpft es durch seine gewidmet. Immerhin: Der warme, fast elegische
Anlage als Sonatenrondo mit den Formteilen A-B- Ton deutet vielleicht eine andere Seite von Bruck-
A-C-A-B-A-Coda, die Bruckner als »mittlere ners Persönlichkeit an, doch lässt das Stück sicher-
Form« bezeichnet, an die schon im Kopfsatz zu lich keine autobiographischen Rückschlüsse zu –
beobachtende Konzentration der thematisch-mo- der Titel ist, wenngleich gefühlsbetont, vor allem
tivischen Organisation an: Die zweite Themen- ein bürgerlicher Topos.
gruppe ist nichts anderes als die in die Tonikapa-
rallele gesetzte Vergrößerung der ersten, und die
Coda (»Anhang«) tendiert zur zweiten Durchfüh-
rung. Damit wird deutlich, dass es Bruckner in Das Streichquintett
diesem Studienwerk bereits um die Verbindung
Entstehung und erste Aufführung
von hypo- und parataktischen Formmodellen
ging, er sich also die Möglichkeiten vor Augen Mit dem Streichquintett F-Dur (WAB 112) schuf
führte, die aus der Verbindung zwischen einer Bruckner eine Komposition, die unbeschadet der
zielgerichteten und einer zyklischen Anlage resul- Diskussionen um ihre Intention und die Sperrig-
tierten. Wenn auch im Streichquartett ein über keit ihrer Form heute unbestritten als Meisterwerk
weite Strecken unpersönlicher, gleichsam geborg- gilt. Dies stimmt auch für die zeitgenössische Re-
ter Tonfall vorherrscht, so ist doch der neu erlangte zeption insofern, als sie zumindest dem langsamen
Stand der Reflexion und die davon ausgehende Satz beinahe einhellig – mit der Ausnahme Eduard
genaue Planung unverkennbar. Dies zeigt sich Hanslicks – einen Ausnahmerang zuerkannte. Die
auch im unmittelbar im Anschluss an das Streich- Geschichte der Entstehungsumstände des Quin-
quartett komponierte Rondo c-Moll (WAB deest), tetts ist verwickelt, da sie auf der persönlichen
das demselben Formmodell verpflichtet ist. Hier Beziehung zwischen Bruckner und Joseph Hell-
widmet sich Bruckner stärker den modulierenden mesberger (sen.) fußt. Hellmesberger war nicht
Übergangsgruppen, die starke harmonische Rei- nur Primarius des gleichnamigen berühmten
bungen enthalten. Quartetts, sondern als Direktor des Konservatori-
Das Streichquartett c-moll wurde erstmals im ums auch Bruckners Vorgesetzter. Bereits 1861 soll
Februar 1951 durch das Münchner Koeckert- Hellmesberger Bruckner unter dem Eindruck der
Quartett im Berliner RIAS aufgeführt und 1955 im Prüfung, die dieser vor der Kommission der Ge-
Rahmen der Gesamtausgabe durch Leopold No- sellschaft der Musikfreunde ablegte, um ein
wak herausgegeben. Streichquartett gebeten haben. Die Frage, warum
Die Kammermusik 315

Bruckner dann 17 Jahre wartete und warum er Stelle Hanslick, statt. Ihr Verlauf ist durch den
statt eines Quartetts ein Quintett mit hinzugefüg- Bericht des Cellisten Lucca dokumentiert worden,
ter zweiter Bratsche schrieb, ist seitdem Gegen- der Bruckners Verhalten gegenüber Hanslick fol-
stand verschiedener Spekulationen gewesen, ohne gendermaßen schilderte:
dass sich eine abschließende Antwort finden lässt.
»Ängstlich suchte sein Auge, während wir spielten, die
Bruckner äußerte sich erstmals im Dezember 1878 Mienen des Gewaltigen zu erforschen. Dieser blieb ziem-
gegenüber dem Berliner Musikschriftsteller Wil- lich kühl und zugeknöpft und verließ bald, nachdem die
helm Tappert, dass er ein Streichquintett schreibe, letzten Töne verklungen waren, das Foyer. Bruckner er-
schöpfte sich in Danksagungen ›für die hohe Ehre‹ und
»da mich Hellmesberger wiederholt und eindring- machte, sehr zum Ingrimm seiner Freunde, […] den
lichst ersucht hat, der bekanntlich für meine Sa- Versuch, Hanslick die Hand zu küssen! Auch diese Szene
chen schwärmt« (Briefe 1, 181). Dies klingt, als wird mir unvergeßlich sein. Weit entfernt, sie komisch zu
finden, hatte ich den Eindruck des Rührenden, Ergreifen-
hätte sich für Bruckner vor allem die Möglichkeit den.« (Göll.-A. 4/1, 677 f.)
einer Profilierung ergeben, die den Unterschied in
der beruflichen Hierarchie zu überwinden half. Bei der Aufführung selber waren weder Hanslick
Nach Beendigung der Komposition, die sich über noch Hellmesberger zugegen, wohl aber Theodor
ein halbes Jahr – vom Kopfsatz (Dezember 1878 Helm, der in seiner Kritik in den Wiener Signalen
und Januar 1879) über den langsamen Satz (10. in dem »bis zum Abentheuerlichen gewagten po-
März bis 6. April), das Finale (23. Mai bis 25. Juni) lyphonen Tonsatze« das Vorbild der letzten Beet-
und Scherzo (Fertigstellung am 12. Juli) – er- hoven-Quartette zu erkennen glaubte und erneut
streckte, teilte Bruckner dem befreundeten Priester Bruckner enthusiastisch als den »Mann der Zeit«
Ignaz Traumihler in St. Florian am 25. Juli den für die Instrumentalmusik empfahl (Abdruck der
Vollzug mit: »Mein Quintett ist fertig. Hofka- Kritik bei Gruber 1997, 126). Das Ensemble um
pellm. Hellmesberger ist ganz aus den Fugen vor Winkler führte das Quintett noch mindestens
Freude, u wills aufführen. Er ist total umgeändert, zwei weitere Male auf, erst im April 1884 aber mit
u zeichnet mich riesig aus« (Briefe 1, 183). dem Finale, mit dessen Gestalt oder Einstudierung
Doch dieser Eindruck erwies sich als voreilig. Bruckner möglicherweise zunächst nicht zufrieden
Nachdem die ersten Proben stattgefunden hatten, war (Blaich 2009, 58 f.).
befürchteten die Musiker eine Blamage, und Hell-
mesberger verlangte als Ersatz für das Scherzo ei-
Quellenlage und Drucklegung
nen neuen Satz, das am 21. Dezember 1879 fertig-
gestellte Intermezzo (WAB 113). Dennoch entzog Auch die Drucklegung des Quintetts – das Bruck-
er sich weiterhin der Uraufführung, so dass ner dem bayerischen Herzog Max (Maximilian)
schließlich ein ad hoc gebildetes Ensemble mit Emanuel widmete, der es vermutlich im Oktober
den Geigern Julius Winkler und Carl Lillich, den 1884 in der Wiener Votivkirche hörte und Bruck-
Bratschern Hans Kreuzinger und Julius Desing ner zum Dank eine Anstecknadel schenkte – zog
sowie dem Cellisten Theodor Lucca das Werk sich längere Zeit hin. Sie wurde von Josef Schalk
teilweise uraufführte. Das Finale, das geprobt betrieben, der seit 1883 den Wiener Verleger Alfred
worden war, wurde nicht gespielt, und in der Gutmann aggressiv (und mit antisemitischen
Satzfolge stand der langsame Satz noch an zweiter Untertönen) zu einer Publikation drängte, die
Stelle. Dieses Konzert fand als der »3. Interne zusätzlich Schalks eigene vierhändige Bearbeitung
Abend« des Akademischen Wagner-Vereins am 17. des gesamten Quintetts und einer zweihändigen
November 1881 im Bösendorfer-Saal statt, wäh- des langsamen Satzes für Klavier vorsah. Partitur
rend Hellmesberger eine »offizielle« (und vollstän- und vierhändige Klavierfassung erschienen im
dige) Aufführung erst vier Jahre später realisierte. August 1884, die Stimmen vermutlich Anfang 1885
Nach den in der Wohnung von Josef Schalk absol- und die Klavierfassung des langsamen Satzes im
vierten Vorproben fand eine halböffentlichte Ge- weiteren Verlauf des Jahres (vgl. die Dokumenta-
neralprobe im Foyer des Börsendorfer-Saales in tion der Drucklegung in der Korrespondenz der
Anwesenheit von Freunden und Anhängern Brüder Schalk bei Gruber 1997, 118 ff.). Das Inter-
Bruckners wie auch geladenen Kritikern, an erster mezzo wurde dagegen erst postum 1913 veröffent-
316 Wolfgang Rathert

licht. Zwischen den einzelnen Quellen des Werkes essante Aufführungsquelle ist weiterhin der hand-
– Autograph, Stichvorlage, Druck von Partitur schriftlich ausgeschriebene Stimmensatz des
und Stimmen – gibt es eine Fülle von Abweichun- Hellmesberger-Quartetts zu berücksichtigen,
gen und Widersprüchen, die mehrere Ursachen dessen – teils von Hellmesberger stammende, teils
haben. Das Autograph, das keine Reinschrift, auf Bruckner selbst zurückgehende oder wiederum
sondern eine Arbeitspartitur ist, weist auf ein ho- von Schalk vorgenommene – Ergänzungen der
hes Maß an Detailarbeit hin, die Bruckner in das Vortragsbezeichnungen eine Rekonstruktion des
Werk investierte, vergleichbar der vorangegange- Vortragsstils zulassen. Es wirft wiederum ein Licht
nen Überarbeitung der Vierten Sinfonie. So auf die Beziehung von Hellmesberger und Bruck-
tauschte er das »Gesangsthema« samt Reprise ner, dass die Mitwirkung des Komponisten an der
durch ein anderes Thema aus, erwog (dann nicht Einstudierung offenbar keineswegs selbstverständ-
realisierte) Kürzungen und ergänzte – offenbar lich war: »Damals berichtete Bruckner mit Stolz
unter dem Eindruck der Aufführungen des seinen jungen Freunden, dass er bei den Proben
Winkler-Quartetts – zahlreiche Ausführungsan- manches, was Ausführung und Auffassung betraft,
weisungen und Vortragsbezeichnungen. Auch die z. B. Tempi und Hervorhebungen, habe sagen
metrischen Ziffern zur Kennzeichnung der Takt- dürfen« (Göll.-A. 4/2, 248). Die zahlreichen und
gruppen-Gliederung, die Bruckner seit 1876 für minutiösen Angaben zu Stricharten, Phrasierun-
eigene (und fremde) Werke vornahm, finden sich gen, Dynamik und Ausdruck, die sich im langsa-
nahezu durchweg im Autograph. Ähnlich kompli- men Satz finden, deuten eine Emanzipation der
ziert ist die Sachlage in der Stichvorlage, an deren bislang sekundären Schicht der Vortragsbezeich-
Erstellung im Jahr 1883 mindestens drei Kopisten nungen und eine starke Beachtung der Kategorie
beteiligt waren. Die Stichvorlage verfügt über des Espressivo an, die das Quintett in die Tradition
Metronom-Angaben und an einzelnen Stellen, vor der Wiener Klassik, vor allem der Kammermusik
allem Orgelpunkten, über Taktzählungen, die Schuberts und des späten Beethoven stellt.
Bruckner dann allerdings teilweise durch seine
metrischen Bezifferungen ersetzte. Der Komponist
Offizielle Uraufführung, Kritiken
fügte überdies agogische Angaben hinzu und än-
und weitere Aufführungen
derte erneut an einzelnen Stellen, vor allem im
Seitensatz und am Schluss des Finales, die kompo- Erst am 8. Januar 1885 führte das erweiterte Hell-
sitorische Substanz. Wahrscheinlich von Josef mesberger-Quartett – Joseph sen. und jun. (Vio-
Schalk, zu diesem Zeitpunkt bereits Bruckners line), Ferdinand Hellmesberger (Cello) sowie die
einflussreichster Berater, stammt eine gravierende beiden Bratschisten Maxintsak und Kupka – das
Änderung von Tempo und Charakter des langsa- Quintett in der 3. Kammermusik-Soirée im Gro-
men Satzes: Die ursprüngliche Angabe »Andante ßen Musikvereinssaal Wien auf; im ersten Teil er-
quasi Allegretto« wurde durch »Adagio« ersetzt, klangen ein Streichquartett von Mozart und
die auch in der Druckfassung bestehen blieb Beethovens Streichtrio D-Dur op. 9,2. Entgegen
(Blaich 2009, 88). Hellmesbergers Veto von 1879 wurde das Scherzo
Die folgenreichste Änderung ist die Umstellung anstelle des Intermezzos gespielt, jedoch weiterhin
der Satzfolge der beiden inneren Sätze, zu der sich entsprechend dem Autograph als dritter Satz; der
Bruckner erst nach Fertigstellung der Stichvorlage Satztausch in der Stichvorlage blieb unbeachtet.
entschloss, was entsprechenden Korrekturbedarf Nach den wechselhaften Reaktionen auf die Ur-
nach sich zog. Diese Änderungen übertrug Bruck- aufführung der Dritten Sinfonie (1877), die ein
ner jedoch nicht in das Autograph zurück, an dem Desaster war, der erfolgreichen Premiere der Vier-
er selbst noch gelegentlich Ergänzungen vornahm; ten Sinfonie (1881) und den verhaltenen Reaktio-
auch wurden die Lesarten der Stichvorlage nicht nen auf die Uraufführung der Mittelsätze der
vollständig in den Druck übernommen bzw. durch Sechsten Sinfonie (1883) bedeutete die Aufführung
andere ersetzt, so dass eine relativ komplexe Quel- des Quintetts einen Durchbruch für Bruckner in
lenlage mit entsprechenden Problemen für eine der Anerkennung des Wiener Publikums. Der
kritische Edition des Quintetts vorliegt. Als inter- Komponist selbst sprach von »einem Erfolge, den
Die Kammermusik 317

ich nicht beschreiben kann. Nach jedem Satze späten Quartetten eingeschlagen habe. Deren
öfters gerufen, am Schlusse 6 bis 10 mal, u der satztechnische und expressive Möglichkeiten habe
Applaus allgemein, selbst die C o n s e r v a t i v e n Bruckner als einziger Komponist der Gegenwart
applaudirten heftig. Hellmesberger nennt das konsequent ausgeschöpft. (Ob Bruckner diese
Quintett ›Offenbarung‹ u will es schon im No- Quartette zum Zeitpunkt der Entstehung des
vember auf Verlangen wiederholen« (Briefe 1, 235). Quintetts gekannt hat, ist allerdings umstritten.)
Auch das öffentliche Echo auf dieses Konzert war Die (relative) Popularität des Quintetts spiegelt
enorm, da sich alle maßgeblichen Wiener Kritiker sich in den Aufführungszahlen und -orten: Bis
zur der Uraufführung äußerten. Die Reaktionen 1900 wurde das Quintett in vielen deutschsprachi-
der Gegner Bruckners waren stark, aber durch die gen Städten, aber auch im Ausland (Kopenhagen
Wirkung des Adagio-Satzes ambivalent. Gustav und Boston) von führenden Quartett-Vereinigun-
Dömpcke sprach in der Wiener Volkszeitung von gen wie dem Duesberg-, dem Prill-, dem Rosé-
einem »krankhaften Eröffnungssatz« und »scuril- und dem Böhmischen Quartett gespielt, öfter
len Frechheiten« des Finales, attestierte dem Ada- auch nur das Adagio alleine. Das Rosé-Quartett
gio jedoch, dass in ihm »etwas von dem göttlichen besorgte am 23. Januar 1904 schließlich die Urauf-
Funken« stecke (Gruber 1997, 126 ff. zusammen führung des Intermezzo in einem Konzert des
mit weiteren Konzertkritiken). Für Hanslick Wiener Wagner-Vereins. Bemerkenswert ist das
wurde »dieser sanfteste und friedfertigste aller Urteil Hugo Wolfs nach einer Aufführung des
Menschen […] im Moment des Componierens Hellmesberger-Quartetts von 1886. Er sieht die
zum Anarchisten […], der unbarmherzig Alles thematische Erfindung als »Ergebniß einer unge-
opfert, was Logik und Klarheit der Entwicklung, mein fruchtbaren Phantasie und glühender Emp-
Einheit der Form und der Tonalität heißt. Wie findung, daher die bildhafte Anschaulichkeit der
eine unförmliche glühende Rauchsäule steigt seine musikalischen Sprache. Der Satzbau allerdings
Musik auf, bald diese, bald jene groteske Gestalt [...] erinnert zuweilen an den Lapidar-Styl des
annehmend.« Die Ursache dafür sahen Hanslick Victor Hugo. Gewiß kann man in abgehackten
wie Dömpcke in der Orientierung am »reinen Sätzen einen Gegenstand ebenso gut und erschöp-
Wagner-Styl«, dessen Anwendung zwangsläufig fend aussprechen, als in einer langen Wagenreihe
zur »Emancipation von allen natürlichen Modula- der wohlgesetztesten Perioden. Epigrammatische
tionsgesetzen« führe (ebd.). Kalbeck kam zum Kürze in der Form kann den Gedanken kräftiger,
selben Schluss, allerdings verraten seine Meta- plastischer hervortreten lassen, aber andererseits
phern eine gewisse Irritation und Faszination: auch einseitiger und gar häufig unklarer. Hier ist
»Seine Musik duftet nach himmlischen Rosen und jedenfalls der Mittelweg den beiden Extremen
stinkt nach höllischem Schwefel – noch ein wenig vorzuziehen« (zitiert bei Gruber 1997, 132). Die
verbindender Weihrauch dazwischen, und der Kritik, die er an Bruckners »lapidarem« Stil übt,
Mystiker wäre fertig. Auch das F-Dur-Quintett ist setzt diesen ausdrücklich in Kontrast zur musika-
nur eine gemischte Reihenfolge musikalischer lischen Prosa Brahms’ und Wagners.
Hallucinationen, eine Apokalypse in vier Capiteln
[...]. Die Harmonie verleugnet jede Verbindlich-
Musikalische Aspekte
keit des tonalen Grundcharakters, und die Tonart
legitimiert sich nur durch die Vorzeichnung und Die Besetzung als Quintett, mit der sich Bruckner
den Schluss« (zitiert bei Blaich 2009, 64 ff.). Wie- gegen Hellmesbergers Wunsch nach der Anferti-
der ist es das »direct aus dem Paradiese« (ebd.) gung eines Streichquartetts stellte, ist viel disku-
stammende Adagio, das Kalbeck von seiner Fun- tiert worden: Sollte dadurch eine orchestrale Ten-
damentalkritik ausnimmt, die aus heutiger Sicht denz ins Spiel kommen oder entsprach sie einer
gerade das innovative und neuartige Klangbild des klanglichen Vorliebe Bruckners? Durch die zweite
Quintetts betont. Demgegenüber sahen Bruckners Bratsche, mit der Bruckner sich auf die sechs
Verteidiger, unter ihnen Theodor Helm und Lud- Quintette Mozarts bezog, wird der Bereich der
wig Speidel, die Originalität des Quintetts in der Innenstimmen gestärkt und der satztechnische
Fortsetzung des Wegs, den Beethoven mit seinen Anspruch gesteigert; anders als bei Werken mit
318 Wolfgang Rathert

zwei Celli steht die Binnendifferenzierung im Arbeit der Kammermusik, sondern in dem Ver-
Mittelpunkt. Die Expansion geht nicht nach ›au- zicht auf eine traditionelle, also narrative Entwick-
ßen‹, sondern nach ›innen‹, doch wird sie von als lungslogik. Mit der Einzellösung des Quintetts
objektiv erkannten Formbildungs-Gesetzen getra- befreite sich Bruckner paradoxerweise von den
gen, die Bruckner in der Arbeit an den Sinfonien enormen Ansprüchen der Streicherkammermusik
seiner eigenen Vorstellungswelt angepasst hatte. nach Beethoven, wenngleich Schuberts Streich-
Bis heute ist die Frage nach der Nähe oder Ferne quintett C-Dur zweifellos das Vorbild für die
des Quintetts zu den Sinfonien in der musikwis- episch ausgreifende Anlage seines eigenen Quin-
senschaftlichen Interpretation des Quintetts rele- tetts ist. Aber die Komplexität von Bruckners
vant. Am nächsten kommt einer Antwort wohl Verfahren reicht weit über diejenige von Schubert
die Vorstellung einer metaphorischen (statt einer hinaus. Damit geht offensichtlich ein Verlust an
realen) Beziehung. Das Quintett wäre dann ein Geschlossenheit und Unmittelbarkeit einher, der
hoch ambitioniertes, vielleicht sogar einmaliges jedoch durch die »außergewöhnliche Struktur«
Unterfangen, die an der Sinfonie entwickelte Idee (Gruber 1997, 100) des Werkganzen, die Kühnheit
des »Musikalisch-Sublimen« (Seidel 1985, 184) auf und Souveränität der klanglichen und kontra-
das Gebiet der Kammermusik zu übertragen; da- punktischen Gestaltung sowie die eigentümliche
mit wäre Brahms’ – trotz jeweils ganz unterschied- – gewissermaßen hinter dem Rücken des Kompo-
licher Ausdrucksbereiche – stets inhaltlich be- nisten sich einstellende – Suggestivität der musi-
stimmter Idee von Kammermusik eine andere kalischen Verlaufskurve mehr als kompensiert
Position entgegengesetzt. Bruckners Auffassung wird. So kommt es zu einer unauflösbaren Ver-
des Erhabenen ist im Unterschied zu derjenigen schränkung von Dramatik und Kontemplation,
der romantischen Generation hier aber nicht mit Be- und Entschleunigung jenseits offener oder
metaphysisch-weltanschaulichen oder literarisch- latenter programmatischer Implikationen. Da das
poetologischen Konzepten verknüpft, sondern Quintett nicht den klanglichen Überbau und das
verbleibt in der strengen Immanenz des musikali- damit verbundene kumulative oder Schichtungs-
schen Denkens. Die Formerfüllung, um die es prinzip der Sinfonie besitzt, tritt umso deutlicher
Bruckner im Quintett gegangen sein könnte, die Auseinandersetzung mit Grundfragen der
speist sich aus abstrakten ästhetischen Vorstellun- Gestaltung musikalischer Zeit als ›Strahl‹ (Telos)
gen: der von Lobe geforderten Entsprechung von oder ›Kreis‹ (Zyklus) hervor, die Beethoven und
Teil und Ganzem, der Vermittlung der organizis- Schubert den nachfolgenden Komponisten des 19.
tischen Formteleologie Marx’ mit der älteren, ar- Jahrhunderts als zentrale Problemstellung hinter-
chitektonisch-symmetrischen Konzeption der lassen hatten. Der nachdenkliche, im Adagio zu
zweiteiligen Sonatenform. Dadurch aber verliert höchster lyrischer Intensität sich steigernde
das Streichquintett seine Randstellung: Es ist nicht Grundton, der auch in Scherzo und Trio eindringt,
mehr ein rätselhafter Monolith, sondern Folge deutet an, dass Bruckner hier den sinfonischen
eines Verinnerlichungs- und Konzentrationspro- Konzeptionen mit ihren charakteristischen
zesses in der Kammermusik, der von Schubert »Durchbrüchen« eine andere Haltung entgegen-
und dem späten Beethoven seinen Ausgang nimmt setzen wollte; dem ›al fresco‹ der Sinfonie steht im
und bei Brahms und César Franck zu innovativen Quintett eine – in Bruckners Œuvre in gewisser
Konzeptionen führt: bei jenem zur »entwickeln- Weise einzigartige – Feinheit und Freiheit des
den Variation«, bei diesem zur »sonate cyclique«. Ausdrucks gegenüber. Hanslicks Ablehnung des
Auch Bruckner formuliert einen neuen An- Quintetts erscheint von dieser Warte aus retro-
spruch an die Kammermusik, der aber von ihm spektiv zunächst wenig nachvollziehbar: Erfüllte
selbst nur ein einziges Mal und in seinen Augen Bruckner nicht gerade im Quintett alle Forderun-
offensichtlich exemplarisch, in dieser Art nicht gen nach einer reinen, »tönend bewegten« Form?
wiederholbar, eingelöst wurde. Die eigenständige Aber die musikalische Logik, die Hanslick vor
kompositorische Lösung liegt nicht nur in der Art Augen hatte, entsprang einem Ideal der Homöo-
der Verbindung der großformatigen Architektur stase, des organischen und die Extreme meidenden
einer Sinfonie mit der ziselierten durchbrochenen Ausgleichs der Mittel und Stimmungen, sowie der
Die Kammermusik 319

möglichst bruchlosen Erzählung. Bruckner ver- deutlichsten in der Schlussgruppe der Exposition
letzte (oder missachtete) diese Kriterien in einer des Kopfsatzes, die in Fis-Dur einsetzt, also har-
Weise, die Hanslick als Anarchie empfand. monisch einer enormen Dynamik unterliegt,
Am Quintett können daher nahezu sämtliche während sie formal eine abrundende Aufgabe hat.
Aspekte des Brucknerschen Komponierens wie in (Diese Trennung von harmonischen und themati-
einem Kunstbuch studiert werden (vgl. Gruber schen Aspekten übernahm Bruckner vor allem
1997 und Blaich 2009): die von komplexen Trans- von Schubert, in dessen Kammermusik sich zahl-
formationen melodisch-rhythmischer »Keime« reiche Beispiele für ein solches Verfahren finden.
geprägte motivisch-thematische Arbeit; die kunst- Bruckner geht über Schubert indessen hinaus,
vollen Alternativen von »zielgerichteten« Haupt- indem er es nicht für den Eintritt der Reprise,
themengruppen und »rotierenden« Gesangsperio- sondern innerhalb eines einzelnen, zudem noch
den; die metrische Verschränkung regulärer und eröffnenden Formteils verwendet.)
irregulärer Periodenbildungen; das von quasi-or- Aus der Tonarten-Disposition, deren Bedeu-
chestraler Vollstimmigkeit über zahlreiche Stimm- tung als Schlüssel des Werkes als Erster Hans F.
kreuzungen (Abert 1940/41, 134 f.) bis zu einem Redlich betonte (Redlich 1955) lässt sich schließ-
Art »Hoquetus«-Satz (Hansen 1999, 100) reichende lich eine satzübergreifende, von der F-Tonalität
Spektrum des Streichersatzes; die strukturellen umschlossene Großterzbewegung der Tonarten
Vernetzungen und Entsprechungen von Formteil, Ges/Fis, B und d herauslesen, die eine erst am
Satz und Werk; und schließlich die ausgefeilte, im Werkschluss zur »Erlösung« führende tonale
Fugato des Finales gipfelnde Polyphonie, die im- Odyssee umschreibt (Blaich 2009, 249 ff.). Anfang
mer wieder an die Grenzen der Tonalität stößt und Schluss des Werkes verdeutlichen dies: Das
und doch archaisierende Züge trägt. Diesem rhythmisch mit den ›Bruckner-Triolen‹ operie-
Reichtum entspricht die komplizierte und eigen- rende und dadurch wie eine Signatur des Kompo-
tümliche tonale Disposition des Werkes: Kopfsatz nisten anmutende Hauptthema verschränkt F-Dur
und Finale beginnen bzw. enden in F-Dur, der mit der Mediante Des-Dur, so dass ein luzider
langsame Satz steht in Ges-Dur, Scherzo und Trio Clair-Obscure-Effekt entsteht, der gewissermaßen
(bzw. Intermezzo und Trio) in d-Moll und Es-Dur. den Ton des ganzen Werkes bestimmt. In der
Deutlich dominiert hier die »neapolitanische« Coda des Finales ist dann ein reines Dur erreicht,
Beziehung der Tonarten: explizit von d-Moll und das durch die geklärte, von einem ostinaten Bass
Es-Dur im Scherzo und implizit von F-Dur und gestützte Metrik und die klangliche Expansion der
Ges-Dur in Kopfsatz und Adagio. F-Dur ist also hohen Streicher (einschließlich der ersten Brat-
als ein verkapptes Moll deutbar, das im Finalsatz sche) zu apotheotischer Wirkung gesteigert wird.
über weite Strecken tatsächlich auch realiter vor- Dieser Spannungsbogen, der Hanslicks kritischen
gezeichnet ist. Denkbar ist andererseits die Vor- Wagner-Vergleich als höchste Auszeichnung er-
stellung einer doppelten Besetzung der ersten scheinen lässt, ist auf allen einzelnen Ebenen der
Stufe, wenn man Ges enharmonisch als Fis (Dur/ Satz- und Periodenbildung greifbar und verändert
Moll) deutet – F wäre dann die diatonische, Fis selbst die am stärksten von einem traditionellen
die chromatische Ausprägung. Die Nutzung der Gestus bestimmten Tonfälle von Scherzo und
tonalen Doppeldeutigkeit des übermäßigen Trio; auch das nachkomponierte Intermezzo ist
Quintsextakkords, der Auflösungen in beide Rich- hiervon nicht ausgenommen. Wie sehr ein solches
tungen erlaubt (Blaich 2009, 257), überraschende Verfahren zu einer Autonomie der einzelnen Ton-
Verschiebungen der harmonischen Basis und en- art (oder Stufe) und zum Verlust des Gefühls einer
harmonische Modulationen spielen in der Tat in tonalen Gravitation tendiert, zeigt der kühne, to-
allen Sätzen eine strukturell und expressiv so be- nal zunächst ortlose Beginn des Finales. Der Or-
deutende Rolle, dass sie auch Funktionen und gelpunkt Des (mit hinzugefügter kleiner Sept Ces)
Grenzen von Satzteilen verschleiern; harmonisch bezieht sich noch dominantisch auf das Ges-Dur
herrscht unabhängig von einer thematischen oder des langsamen Satzes, so dass die sich erst 170
überleitenden Situation der Eindruck einer per- Takte später offenbarende Zieltonart F-Dur ge-
manenten Durchführung. Dies zeigt sich am wissermaßen spiegelbildlich angesteuert wird.
320 Wolfgang Rathert

Ähnliches lässt sich für die Taktarten sagen: Dem Achten Sinfonie dazu über, den langsamen Satz an
für einen Kopfsatz ungewöhnlichen ungeraden die dritte Stelle zu rücken, ohne die Priorität des
3/4-Takt steht der 4/4-Takt des Finales als Wieder- Zyklusgedankens in Frage zu stellen. Im Quintett
herstellung der Symmetrie gegenüber. Hier aber verzichtet er dagegen auf eine offengelegte, d. h.
verschärfen die Binnensätze den Gegensatz: Das unmittelbar hörbare Apotheose mittels des Rück-
Scherzo forciert den tänzerisch-rhythmischen griffs auf das Hauptthema des Kopfsatzes. Ge-
Gestus, das ›Schlagen‹ der Zeit und die plastisch- schlossenheit wird also nicht durch eine andere
körperhafte Zusammendrängung der Ereignisse Spielart »substantielle[r] Assoziierung« (Korte
auf engstem Raum, während das Adagio demge- 1963, 31), nicht über thematische Bezüge, sondern
genüber einen entmaterialisierten Stillstand und durch die harmonische Architektur des Quintetts
geradezu eine Aufhebung der Zeit (und damit garantiert. Die Subtilität dieses Verfahrens weist
auch thematischer Arbeit als solcher) zelebriert; auf die Adressierung des Quintetts an Kenner hin
Kopfsatz und Finale verhalten sich zu diesen bei- und reflektiert Bruckners Auffassung der unter-
den Extremen wiederum vermittelnd. schiedlichen symbolischen Repräsentanzen der
Eine andere Perspektive eröffnen die Satzcha- Gattungen von Sinfonie und Kammermusik.
raktere. Der Kopfsatz (»Gemäßigt«) und der Nicht nur hinsichtlich der Gesamtanlage, son-
langsame Satz (»Adagio«) sind durch Länge (Dauer dern auch der Form der einzelnen Sätze zeigt das
ca. 13 bzw. 14 Minuten), formale Komplexität, Streichquintett eine Individualität, in der sich die
episches Gewicht und dem in großen Bögen ver- Ambition von Bruckners Komponieren zeigt, die
laufenden und meist fallend ansetzenden melodi- von einem zum Zeitpunkt der Entstehung des
schen Duktus ihrer Themen deutlich aufeinander Quintetts immerhin bereits 55-jährigen Kompo-
bezogen, während sich umgekehrt Scherzo nisten auch erwartet werden durfte. Die in den
(»Schnell«) und Finale (»Lebhaft«) ebenfalls in der Unterrichtswerken der 1860er Jahre noch eindeu-
Länge (Dauer ca. 8 bzw. 10 Minuten) und teilweise tige Beziehung von Rahmen und Füllung oder
im Duktus einander annähern. Auch erinnert die Allgemeinem und Besonderem tritt in den Hinter-
Agilität und Nervosität der Thematik des Scher- grund. Zwar lassen sich, bedingt durch das Fest-
zos, das ja als letzter Satz des Werkes komponiert halten an der Tonalität, weiterhin Modelle und
wurde, an den Beginn des Finales, das dann aller- Schemata finden: für den Kopfsatz eine trithema-
dings andere Wege einschlägt. Die alternativen tisch angelegte Sonatenhauptsatzform, für Scherzo
Anordnungen der Binnensätze ergeben daher und Trio (sowie das Intermezzo) die dreiteilige
zwangsläufig unterschiedliche dramaturgische Liedform, für das Adagio eine modifizierte Stro-
Gewichtungen. Folgt, wie ursprünglich intendiert, phenform und für das Finale eine Sonatenrondo-
der langsame Satz auf den Kopfsatz, wird deren form (mit der Umkehrung von Ritornell und
innere Verwandtschaft sowie die Idee der doppel- Couplet nach der Durchführung zur Erzielung
ten Haupttonart (F/Ges) betont. Im Hinblick auf einer achsensymmetrischen Form). Doch schon
die zeitlichen Proportionen und die sich wieder- im Kopfsatz bleibt es – abhängig von einer thema-
holende Abfolge von 3/4- und 4/4-Takt ergibt sich tischen oder harmonischen Perspektive der Analyse
sogar eine latente Zweiteiligkeit des Quintetts. – offen, ob Bruckner in der Exposition mit drei
Rückt das Scherzo dagegen an die zweite Stelle, oder vier Formgliedern operiert: Man kann entwe-
gleichen sich Tempi und Proportionen in der der eine A-Gruppe (T. 1–20), eine motivisch ge-
gleichsam organischen Folge »Langsam-Schnell- schlossene B-Gruppe (T. 21–72) und eine C-
Langsam-Schnell« aus, und der langsame Satz Gruppe (T. 73–98) unterscheiden (vgl. Hansen
wird – vergleichbar übrigens Beethovens letztem 1987, 230 f.) oder eine 1. Gruppe (T. 1–20), eine
Streichquartett F-Dur (!) op. 135 – zum absoluten modulierende Überleitung (T. 21–28), eine ›regu-
Höhe- und Ruhepunkt des Werks. Die Ambiva- lär‹ dominantisch einsetzende 2. Gruppe (T. 29–
lenz der Satzfolge zeigt an, dass die Einzelsätze ein 56), eine 3. Gruppe (T. 57–72) und eine 4. Gruppe
größeres Eigengewicht besitzen als der Zyklus- (T. 73–98) (vgl. Nowak 1985, 61). So wird durch
Gedanke. Bei den Sinfonien geht Bruckner erst ab das Ineinandergreifen von thematischer Physiog-
der im Anschluss an das Quintett komponierten nomie, harmonischer Konstruktion und »inneren
Die Kammermusik 321

Formwege[n]« (Ernst Kurth, zitiert nach Blaich So findet man im Einzelnen, d. h. auf allen Ebenen
2009, 22) jenseits der formalen Zwänge eine poe- von Motiv, Thema, Glied und Periode wie auch in
tische Konzeption sichtbar, die sich auf die Vor- harmonischen Progressionen, eine Fülle von Über-
stellung und den Vollzug musikalischer Zeit be- gängen und Verwischungen, die als Phänomen
zieht. An die Stelle der Überbietungsstrategie der zugleich etwas Prinzipielles aussagen. Die paradox
Sinfonien treten Rückblick und Rückgriff (aber »schwebende« Fokussiertheit des Quintetts, die
nicht, wie bei Beethoven, primär thematisch, son- Hugo Wolf an den Stil Victor Hugos erinnerte,
dern formal, d. h. über harmonische Stationen lässt in der darin sich entfaltenden kontemplativen
organisiert) und der Bau einer prismatisch wahr- Zeit- und Klangvorstellung eher den Vergleich mit
nehmbaren Formenlandschaft gleichwertiger und der Sprache und dem Duktus Stifters zu. Die
in bestimmter Hinsicht auch gleichzeitiger musi- starken idiomatischen, klanglichen und satztech-
kalischer Ereignisse. Dies gilt nicht nur im Hin- nischen Kontraste des Quintetts verkünden zwei-
blick auf die Verwischung der Unterschiede zwi- fellos jenseits aller kompositionstechnischen
schen thematischen Haupt- und Nebenereignissen, Meisterschaft eine metaphorische Botschaft. Doch
sondern auch auf das Changieren der konkreten sie bleibt, wie in aller großen Kammermusik seit
Formen zwischen Finalität (Kopfsatz) und Bogen- Beethoven, in einer Monade gefangen. Bruckners
form (Finale). Die Koexistenz von komplexer Al- Quintett hat daher, seiner Bedeutung zum Trotz,
terationsharmonik (Adagio) und harscher tonaler auch keine wirkliche Nachfolge gefunden.
Dissoziation (Scherzo) bildet dazu ein Analogon.

Literatur
Abert, Anna Amalie: Die Behandlung der Instrumente Korte, Werner F.: Bruckner und Brahms. Die spätro-
in Bruckners Streichquintett. In:Deutsche Musikkul- mantische Lösung der autonomen Konzeption. Tut-
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Oktober 1996 in Berlin (= Beihefte zum Archiv für Kassel u. a. 2002.
Musikwissenschaft 45), Stuttgart 1999, 97–103.
322

Die Klavier- und Orgelwerke


von Andreas Jacob

Klavierstücke lein beliebte Gesellschaftstänze, sondern fungier-


ten auch als Vehikel, um bekannte Melodien aus
Sowohl vom Umfang wie von der Bestimmung Oper bzw. Operette potpourriartig zusammenzu-
her tragen Bruckners Klavierwerke den Charakter binden. Derart verwendet auch das vorliegende
der Gelegenheitskompositionen mit oft klar her- Stück Zitate aus Werken, die zu jener Zeit in Linz
vortretender Zweckgebundenheit. Dies wird be- auf der Bühne zu sehen waren (vgl. Harrandt
reits durch den Entstehungszeitraum der tradier- 2005), namentlich aus Albert Lortzings Zar und
ten und in der Gesamtausgabe vertretenen Kom- Zimmermann (Leipzig 1837) und Wildschütz
positionen nahegelegt, da diese alle vor Bruckners (Leipzig 1842) sowie aus Gaetano Donizettis Regi-
Wiener Jahre datieren. mentstochter (La fille du régiment, Paris 1840).
So wurde der Großteil der betreffenden Stücke Walburga Litschauer identifizierte einige der zi-
für den Klavierunterricht geschrieben, den Bruck- tierten Themen (NGA XII/2, 3): Im ersten und
ner als Professor für »Generalbaß, Kontrapunkt zweiten Satz seiner Quadrille verarbeitete Bruck-
und Orgel« am Konservatorium in Wien nicht ner Motive aus dem Wildschütz (zum einen Nr. 3,
mehr erteilen musste. Dass die Kompositionen die Arie der Baronin »Auf des Lebens raschen Wo-
nicht selten den Klavierschülerinnen gewidmet gen«; zum anderen das Thema der Tanzszene aus
wurden, stellt ebenfalls einen aussagekräftigen Nr. 14, das Ensemble »Um die Lauben zu schmü-
Umstand dar. cken«. Dem vierten Satz hingegen liegen zwei
Themen aus Zar und Zimmermann zugrunde
(Nr. 7, das Finale des ersten Aktes: »All diese ban-
Tanz- und Unterrichtsstücke in St. Florian
gen Zweifel«; sowie Nr. 9, das Lied des Chateau-
Ganz in diesem Sinne ist die Widmungsträgerin neuf »Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen«).
der ersten Klavierstücke (zu datieren um das Jahr Entgegen der Konvention beinhaltet die Lan-
1850) Aloisia Bogner, die Tochter des Lehrers Mi- cier-Quadrille nicht fünf Sätze, sondern lediglich
chael Bogner, der in St. Florian Bruckners Vorge- vier. Die in Deutschland auch als »Quadrille à la
setzter wie auch Quartiergeber war: Die junge Cour« bis ca. 1870 gepflegte Sonderform der Qua-
(sechzehnjährige) Frau war laut einer bei Gölle- drille wurde üblicherweise in fünf Touren getanzt:
rich-Auer kolportierten Äußerung Bruckners seine La Dorset (Les Tiroirs), La Victoria (Les Lignes bzw.
»erste richtige Flamme« (Göll.-A. 2/1, 43). Für sie La Lodoisca), Les Moulinées (La Native), Les Visites
schrieb der Stiftsorganist von St. Florian neben (Les Graces) sowie schließlich Finale à la Cour (Les
einigen Liedern (so dem Frühlingslied WAB 68) Lanciers). Die Bezugnahme auf die namengeben-
auch zwei tanzartige Stücke für Klavier: eine den Lanciers wurde in Theateraufführungen durch
Lancier-Quadrille in C-Dur (WAB 120) sowie ei- den Tanz im Kostüm von Lanzenreitern mit Waf-
nen Steiermärker in G-Dur (WAB 122). fen und Fahnen hergestellt (womit eine Art
Quadrillen waren im 19. Jahrhundert nicht al- Schwerttanz vorliegt).
Die Klavier- und Orgelwerke 323

In Bruckners Vertonung fallen jedoch Titel bis rille WAB 121. Klaren Bezug auf die Unterrichts-
auf die Bezeichnung der Einleitung zu Beginn des praxis zeigen die Drei kleinen Stücke. Diese wur-
ersten Satzes mit »Eingang« weg. Die formale den für die Kinder des Notars Josef Marböck
Gesamtanlage lässt sich durch die Abfolge der komponiert, von denen Bruckner drei (Marie,
Taktarten einerseits (2/4, 6/8, Allabreve, 2/4), den Josef und Moritz) im Klavierspiel unterrichtete:
zunehmenden Umfang der sämtlich in C-Dur Zu den Namenstagen des Vaters 1853 und 1854
stehenden Einzelsätze andererseits bestimmen: sowie zum Namenstag der Mutter 1855 führten
Umfasst der erste Satz 80 Takte (64 Takte zuzüg- Marie und Josef Marböck (von der Mutter auf
lich 16 Wiederholungstakte), so sind es beim dem Manuskript als »Mari und Pepi« apostro-
zweiten Satz 109 (57 plus 52 Wiederholungstakte), phiert) jene einfachen Stücke auf. Fingersatzein-
beim dritten Satz 188 (92 plus 96 Wiederholungs- tragungen zeugen von der Unterrichtssituation,
takte) und beim vierten Satz schließlich 236 (108 gelegentliche Kollisionen zwischen Primo- und
Takte zuzüglich 128 Wiederholungstakte). Typi- Secondo-Part davon, dass Bruckner diese Gele-
scherweise herrscht fast durchgängige Untertei- genheitskompositionen offenbar direkt in Stim-
lung in achttaktige Phrasen vor. Die Sätze haben men niederschrieb (vgl. NGA XII/2, 3). Der
jeweils kurze Einleitungen, die drei (Satz Nr. 2), wachsende spieltechnische wie musikalische An-
vier (Sätze Nr. 3 und 4) bzw. acht (Satz Nr. 1) spruch der drei Kompositionen spricht für den
Takte lang sind. Bei schlichter Harmonik, bei der pianistischen Fortschritt der Kinder im Laufe der
kaum andere Stufen ausgeführt werden als – Jahre: War im ersten Stück der Primo-Part weitge-
hauptsächlich – die I. sowie V. und IV. Stufe, ist hend einstimmig bzw. unisono notiert und der
die Lancier-Quadrille der unterhaltenden, geselli- Secondo-Part in einfachster Zweistimmigkeit ge-
gen Sphäre häuslicher Musikausübung zuzurech- halten (beides ohne Angabe von Tempo und Dy-
nen. namik), so findet sich im zweiten Stück bereits ein
Der ebenfalls Aloisia Bogner zugeignete Steier- differenzierteres Satzbild einschließlich Tempobe-
märker WAB 122 dürfte im gleichen Zeitraum um zeichnung (Allegro moderato) und Dynamik. Das
1850 entstanden sein. Das kurze Stück von 32 dritte Stück schließlich ist nicht allein in pianisti-
Takten (zuzüglich der Wiederholung aller vier scher Hinsicht komplexer geworden, sondern
achttaktigen Phrasen) rekurriert auf den Steiri- auch in formaler: Sind die beiden ersten Stücke
schen Ländler, neben Formen wie Ländler oder (jeweils in G-Dur und im Dreivierteltakt) in ein-
Schuhplattler einer der Grundtypen dieses Volks- facher a-b-a-Form angelegt und lediglich 24 bzw.
tanzes. Typisch für den volkstümlichen Charakter 20 Takte lang, so besteht das dritte (in F-Dur und
des Satzes im Dreivierteltakt sind der Halt auf der im Zweivierteltakt) aus zwei Teilen: einem mit
zweiten Zählzeit und die melodischen Sprünge bis »Langsam, feierlich« bezeichneten Satz von 30
hin zu jodelartigen Wendungen. Die erste und Takten in zweiteiliger Liedform und einem weite-
vierte Achttaktgruppe sind identisch, stehen in ren, »Schneller« zu spielenden Abschnitt von 24
G-Dur und sind piano zu spielen (nur von einem Takten in a-b-a-Form. Auch kommt mit der Par-
kurzen Crescendo aufgelockert). Die dazwischen alleltonart d-Moll hier erstmals eine zusätzliche
liegenden beiden Achttaktgruppen sorgen nicht ausgeführte harmonische Stufe neben der Grund-
allein in motivischer Hinsicht für Abwechslung: tonart (bzw. deren Dominante) vor. Die drei Stü-
Der zweite Abschnitt (in D-Dur) ist mit der dyna- cke sind somit ein Beispiel für didaktisch ausge-
mischen Bezeichnung forte versehen und führt die richtete Unterrichtsliteratur des 19. Jahrhunderts,
erwähnten Jodlerfiguren ein; der dritte Abschnitt die sukzessiv höhere Anforderungen stellt, ohne
(mit Fortführung dieser Figuren) bringt – zunächst Prätentionen über den selbst gesteckten Rahmen
im Piano – einen Tonart- und Vorzeichenwechsel hinaus zu erheben.
nach B-Dur, um in den letzten drei Takten – mit Anspruchsvoller, aber ebenfalls kaum über den
forte bezeichnet – nach D-Dur zurückzuführen. Bereich der gefälligen Gebrauchsmusik hinaus
In St. Florian komponierte Bruckner auch gehend, ist die Quadrille für Klavier zu vier Hän-
seine Werke für Klavier zu vier Händen: die Drei den WAB 121, komponiert um 1854 und gewidmet
kleinen Stücke WAB 124 sowie eine weitere Quad- dem Stiftsrichter Georg Ruckensteiner (zugedacht
324 Andreas Jacob

aber wohl eher dessen Tochter Marie). In ihrer erfolgte die Komposition einiger weiterer Klavier-
sechssätzigen Anlage folgt sie dem Wiener Stan- werke. Die Anspruchshaltung jener Stücke wurde
dardtypus der Quadrille: Zu den im 19. Jahrhun- allmählich angehoben, ohne jedoch den Skopus
dert üblichen fünf Touren: Pantalon, Été, Poule, der Salon- bzw. Albummusik zu verlassen. So zeigt
Pastourelle sowie Finale tritt – an vierter Stelle ein mit 18 Takten relativ kurzes Klavierstück in Es-
eingefügt – die nach deren Erfinder Trenitz be- Dur (WAB 119, komponiert um 1856) deutliche
nannte Figur Trénize (bei Bruckner als Trenis be- Anklänge an Mendelssohns Werke etwa vom Typ
zeichnet). Weitgehend der Konvention verpflichtet der Lieder ohne Worte. Diese Ähnlichkeit bezieht
ist auch der Aufbau der einzelnen Sätze in achttak- sich nicht allein auf die gesangliche Melodiefüh-
tigen Phrasen sowie deren Metrum: Der Pantalon rung, sondern auch auf das scheinpolyphone,
in A-Dur steht im 6/8-Takt, der anschließende meist dreistimmige Satzbild der ersten Hälfte
Kontertanz Été (in D-Dur) im 2/4; analog ist die (T. 1–8). Charakteristisch sind weiterhin die reich-
Abfolge von 6/8- und 2/4-Takt beim folgenden haltigen dynamischen Anweisungen, mit denen
Satzpaar von Poule (in A-Dur) und Trenis (in F- jenes eigentlich schlicht auftretende Stück im 6/8-
Dur); die Pastourelle (in d-Moll) steht wiederum Takt vor allem im zweiten Teil (T. 9–18) versehen
im 2/4-Takt, wohingegen der 6/8-Takt im Finale wurde. Deutlich tritt die formale Zweiteilung in
(in E-Dur) eher weniger typisch ist, als es ein er- einen dynamisch und harmonisch eher zurückhal-
neuter 2/4-Takt wäre. tenden ersten Teil und einen in dieser Hinsicht
Nur geringe Abweichungen vom Standardmo- ausladenderen zweiten Teil hervor. Hierbei wird
dell zeigen auch die Abfolgen der motivisch ge- auch die sorgfältige Stimmführung des ersten
bundenen achttaktigen Phrasen. So prägen etwa Abschnitts zugunsten akkordischer Begleitfiguren
die 40 Takte des Pantalon in A-Dur eine charakte- aufgegeben. Bei äußerst regelmäßiger, geradtakti-
ristische rondoartige Reihungsform der fünf Ab- ger Phrasenbildung wird so das Bemühen sichtbar,
schnitte (a-b-a-c-a) aus. Neben Grund- und Do- auf engem Raum unterschiedliche Spezifika eines
minanttonart wird hier (im vierten Abschnitt) selbstgewählten musikalischen Idioms hervortre-
auch die Paralleltonart fis-Moll ausgeführt. Ver- ten zu lassen.
gleichbare tonartliche Ausweichungen zeigen auch Ebenfalls Assoziationen an den populären Kla-
der jeweils vierte Abschnitt der beiden anderen 40 vierstil Mendelssohns evoziert die Stille Betrach-
Takte langen Sätze, des dritten Satzes Poule (in tung an einem Herbstabend (WAB 123), die das
A-Dur: nach Moll gewendete Subdominante d- Kompositionsdatum 10. Oktober 1863 trägt und
Moll) sowie des fünften Satzes Pastourelle (in d- die mit Emma Thanner einer weiteren von Bruck-
Moll: Durparallele F-Dur). Eine Besonderheit ner verehrten, sehr jungen Frau gewidmet wurde.
zeigt der mittlere Abschnitt des 48 Takte langen In diesem Fall lässt sich das Vorbild noch weiter
Finale (nach üblichem Schema aufgebaut als Bo- eingrenzen, da einige auffällige Gemeinsamkeiten
genform a-a-b-b-a-a, jedoch ohne die bei Finales des Stücks mit Mendelssohns Venetianischem Gon-
häufig vorangestellte Introduktion): Nicht allein, dellied op. 30/6 bemerkt wurden. Diese betreffen
dass diese 16 Takte in der Medianttonart C-Dur die Tonart (fis-Moll), die Taktart (6/8), die Form
beginnen, auch ist die Binnengliederung eher und die lyrische Grundstimmung. Das 58 Takte
ungewöhnlich (11 = 6+4+1 Takte in C-Dur, gefolgt lange Stück ist insgesamt dreiteilig (a-b-a’). Der
von 5 Takten in der Ausgangstonart E-Dur). Die erste Teil (Vortragsanweisung »Feierlich ruhig«,
beiden 32 Takte langen Sätze Été und Trenis verlas- vor allem die Grundtonart ausführend) von 26
sen dagegen den harmonischen Bereich von To- Takten wiederum ist in sich zweiteilig angelegt (12
nika und eingestreuter Dominante nicht. + 14 Takte), wovon der zweite Abschnitt (T. 13–26)
als Schlussteil (T. 45–58) wörtlich wiederholt wird.
Der 18 Takte umfassende Mittelteil bringt nicht
Salonstil der Linzer Werke
nur hinsichtlich Satzart, Motivik und Tonart Ab-
In Linz, wo Bruckner neben seiner kirchenmusi- wechslung, sondern vor allem im Hinblick auf die
kalischen Tätigkeit als Domorganist ja auch als Metrik: Entgegen der sonst gewohnten zweitakti-
Pianist und Liedbegleiter an Konzerten mitwirkte, gen Gliederung treten hier Phrasenlängen von 3,
Die Klavier- und Orgelwerke 325

3, 5 und 7 Takten auf. Die letztgenannte siebentak- Elemente in Erscheinung, wie sie für den späteren
tige Phrase (T. 38–44) mit der Retablierung der Stil Bruckners charakteristisch sind.
Ausgangstonart verdient eigene Erwähnung: Zu- Derartige Momente, die auf das bekanntere
nächst findet sich eine abwärtsgerichtete Skalen- Schaffen des reifen Komponisten Bruckner hin-
bewegung über fast zwei Oktaven (dolce zu spielen) deuten, finden sich auch im ersten Satz der zwei-
– bei insistierendem Orgelpunkt d’ der Mittel- sätzigen Fantasie in G-Dur WAB 118. Diese wurde
stimme. Diese mündet in statisch kreisende vier- – datiert auf den 10. September 1868 – wohl zum
tönige Achtelfiguren der Oberstimme, die versetzt Abschied von Linz der Klavierschülerin Alexand-
auch in der Unterstimme auftauchen und die rine Soika (der Tochter eines höheren Offiziers)
(morendo) das sonst so stark idiomatische Metrum gewidmet. Formal ist jener »Langsam und mit
des 6/8-Takts auflösen. Erkennbar wird hier das Gefühl« zu spielende Satz im Viervierteltakt recht
kompositorische Interesse am vorübergehenden konventionell: Innerhalb der dreiteiligen Anlage
Aussetzen eines stringenten zeitlichen Verlaufs. (a-b-a) wird der zwölftaktige Anfangsteil am
Denn innerhalb des immer noch knapp bemesse- Schluss (T. 22–33) wörtlich wiederholt. Der Mit-
nen und ansonsten sehr formstreng konzipierten telteil umfasst neun Takte, der (im Vergleich zur
Gefüges des Stücks wirkt das hier enthaltene Re- geradtaktigen Norm) überzählige Takt kommt
tardierungsmoment besonders stark. durch die Rückmodulation von der Medianttonart
In die Jahre zwischen 1861 und 1863 fallen jene Es-Dur des Mittelsatzes zur Ausgangstonart G-
Kompositionsstudien beim Linzer Kapellmeister Dur zustande. Daneben lassen sich jedoch einige
Otto Kitzler, durch die Bruckner auch zum Anfer- Aspekte dingfest machen, die als »typisch« für die
tigen einiger Versuche für Klavier veranlasst entwickelte Klangsprache Bruckners gelten kön-
wurde: Verschiedene Entwürfe für erste Sätze von nen: Die Melodie ist geprägt von großen Inter-
Klaviersonaten (in F-Dur, f-Moll und g-Moll) vallsprüngen einerseits, zum Teil langgezogenen
sowie ein Adagio (F-Dur) in Variationsform sind Skalen andererseits; die Harmonik beinhaltet
erhalten. Davon fand der immerhin fast 200 Takte nunmehr Bildungen wie Moll-Sept- oder Nonen-
lange Entwurf eines Sonatensatzes in g-Moll akkorde; Akkordfortschreitungen können über die
(komponiert laut Datierung im Studienbuch am (chromatische) Veränderung einzelner Akkord-
29. Juni 1862) den Weg in den Anhang der NGA töne geschehen, so etwa, wenn T 3 ff. von einem
und kann einen Eindruck von Bruckners vorsin- D-Dur-Septakkord über H-Dur zu einem auf F-
fonischer Auseinandersetzung mit der Sonaten- Dur zielenden verminderten Dreiklang überge-
hauptsatzform vermitteln. Dabei bestehen die gangen wird; auch tritt (im Mittelteil der dreitei-
Überleitungspassagen fast sämtlich lediglich aus ligen Anlage) ein Satztyp auf, der seit dem Et in-
arpeggierten Akkorden und wurden teilweise auch carnatus der f-Moll-Messe immer wieder in
nicht vollständig ausgeführt, so dass zeitweilig bei Bruckners Œuvre Verwendung findet – eine von
großer Flächigkeit der Eindruck bloßer harmoni- großen Intervallen geprägte Melodik in der Unter-
scher Platzhalter innerhalb vorrastrierter formaler stimme eines bassfreien Tonsatzes. Thomas Röder
Verläufe entsteht. Ausgearbeitet sind dagegen die interpretiert diese Satzweise übrigens als »in vita-
Themen, das erste in der Exposition erwartungs- lem konnotativen Konnex mit der Sphäre des
gemäß in g-Moll, das zweite jedoch in F-Dur Weiblichen« stehend (Röder 1999, 60).
(T. 29–36) sowie ein kontrapunktisches Schluss- Dagegen orientiert sich der zweite Satz (Allegro)
gruppenthema in b-Moll (T. 62–65). Dazu kommt an Vorbildern der Wiener Klassik. Insbesondere
ein weiteres, im modulierenden Verlauf erschei- lässt das Satzbild des 86 Takte langen Stücks im
nendes Motiv, das Takt 45 in Des-Dur (der Tonart 2/4-Takt an verschiedene Klavierstücke von Joseph
des Neapolitaners zu dem kurz vorher erreichten Haydn denken. Auch hier liegt eine dreiteilige
C-Dur) und in der Reprise Takt 156 in Es-Dur Form a-b-a mit am Schluss wörtlich wiederholtem
wieder einsetzt (dort mit konventioneller Vorbe- Anfangsteil von 32 Takten vor. Jene 32 Takte
reitung durch B-Dur). Mit solchen Erweiterungen wiederum sind regelmäßig in zweimal 16 Takte
der harmonischen Spannbreite sowie den vielfach unterteilt: Ein Hauptthema wird zweimal vorge-
auftretenden unisono-Passagen treten nunmehr stellt, bevor ein weiteres, auf Skalenbewegung be-
326 Andreas Jacob

ruhendes Thema erklingt. Beide Themen bestehen Auch dieses Stück ist mit 52 Takten nicht sehr
aus zwei viertaktigen Gruppen und stehen in der lang. Im Viervierteltakt stehend und »Langsam,
Grundtonart G-Dur. Es folgen zwei weitere Vier- innig« vorzutragen, verwendet es die zweiteilige
taktgruppen, die erste mit einer harmonisch etwas Liedform zuzüglich Schlussteil (mit einer Anlage
erweiterten Kadenz, die zweite mit einer kleinen von 28 + 16 + 8 Takten). Durchgängig findet sich
Schlussgruppe (alles in G). eine geradtaktige Binnengliederung in Vier- bzw.
Ungewöhnlicher als dieser sichtlich auf Sym- Zweitaktgruppen. Das Hauptmotiv besteht in
metrie und harmonische Transparenz abzielende diastematischer Hinsicht aus einer Halbton-Um-
Rahmensatz ist der durchführungsartige, 22 Takte spielung des zentralen Melodietons. Dabei stellt
umfassende Mittelsatz des Allegro. Notiert in C- sich die Assoziation an Chopin ein, aufgrund des
Dur und beginnend im Pianissimo (con sordino) Zusammenspiels jener dichten Melodieführung
wird zunächst vor allem der Hauptsatz verarbeitet, mit der vergleichsweise weitausgreifenden Harmo-
wobei nach wie vor regelmäßige viertaktige Bil- nik der Begleitung. Letztere behandelt den Zen-
dungen vorherrschen. Nach zwölf Takten C-Dur tralton der Melodie als Terz oder als Prim zum
wird im Rahmen eines großen Crescendo die Grundton des Akkords, so dass sich bereits für die
Tonart des Neapolitaners Des-Dur erreicht und ersten vier Takte (mit der wiederholten zweitakti-
befestigt. Eine zweitaktige Wiederholung einer gen Melodiephrase von c’’ bzw. f ’’ aus) die Harmo-
Abspaltung des Nachsatzes in Des – nunmehr bis niefolge: As-Des-G7-c; f-Ges-C-F ergibt. Beson-
ins Fortissimo geführt – steht vor einer letzten ders aber die auf dieses gliedernd eingesetzte ›Er-
Viertaktgruppe mit abrupten (en)harmonischen innerungsmotiv‹ folgenden Abschnitte mit
Umdeutungen: Eine Variante des Nachsatzes in Sequenzen und charakteristischen Intervallsprün-
cis-Moll (durch erneutes Piano und Versetzung gen dürften den Hörer an ähnliche Situationen im
um eine Oktave nach oben vom Vorangehenden sinfonischen Schaffen Bruckners erinnern. Einer-
deutlich abgehoben) wird weiter verlangsamt und seits (Takte 5/6, 33/34) handelt es sich dabei um
dynamisch zurückgenommen. Vom mittlerweile abwärtsgerichtete Sext- und Septsprünge in dich-
etablierten cis-Moll wird am Schluss über A-Dur ter Abfolge, andererseits (T. 13–22) um kleinglied-
nach D-Dur weggeleitet. Wenngleich der Effekt rige kanonartige Bildungen (teilweise unter Ein-
dieser Modulation nicht besonders überzeugend bindung von Quartsprüngen). Insbesondere »die
ist, wird die Intention Bruckners deutlich, mit Sequenztechnik und die Neigung zu enharmoni-
dem Mittelsatz und insbesondere dessen Ausklang schen Rückungen« (Dehnert 1958,147) einer Pas-
einen »zeitgenössischen« harmonischen Gegenpol sage wie Takt 13 ff. wurden bereits vermerkt: In
zum klassizistischen Rahmenteil aufzubauen. halbtaktiger Folge findet sich hier die quintbezo-
gene Harmoniefolge B-F-C-G-D-A-E-H (womit
ganztaktig eine ganztönige Skala beschrieben
Erinnerung WAB 117
wird). Mit der Abfolge Ges-Des wird diese Quint-
Als das seiner »reifen« Klangsprache am nächsten sequenz Takt 17/18 zunächst fortgesetzt, um
stehende Klavierwerk Bruckners gilt vielfach das Takt 19/20 wieder die Bewegungsrichtung zu än-
programmatische Stück Erinnerung in As-Dur dern (E-H). Das melodische Motiv aus Takt 16–20
WAB 117. Ging Bruckners Schüler August Stradal wird zunächst (T. 21/22) in ganztönigen Sequen-
bei seiner Erstausgabe des Werks (Wien 1900) zen fortgeschrieben. Daraufhin verharrt die har-
aufgrund einer Äußerung seines Lehrers (eventuell monische Bewegung Takt 23–26 bzw. 27/28 unter
also trügerischer Erinnerung) noch davon aus, es Weiterverwendung bzw. Abspaltung dieses Motivs
sei während der frühen Linzer Jahre des Kompo- harmonisch auf dem Dominantseptakkord zu As-
nisten entstanden, so folgt man mittlerweile zu- Dur, um das Wiedereintreten des Hauptmotivs
meist der Einschätzung, die Walburga Litschauer vorzubereiten.
in die Worte fasste: »Stil und Kompositionstech- Im zweiten Teil des Stücks (T. 29 ff.) wird zu
nik des Werkes, in welchem sich bereits orchestrale der nunmehr oktaviert auftretenden Melodie-
Einflüsse bemerkbar machen, lassen eher auf eine stimme ein bewegter und teilweise vom Umfang
Entstehung um 1868 schließen« (NGA XII/2, 3). her weit ausgreifender, bis hin zu Stimmkreuzun-
Die Klavier- und Orgelwerke 327

gen über die Melodiestimme hinweg reichender früher als Jugendwerke klassifiziert wurden (Prälu-
Begleitpart gesetzt. Ab Takt 35 weicht die Melodie- dium Es-Dur WAB 127 sowie Vier Präludien Es-
führung vom ersten Teil ab, wobei auch in der Dur WAB 128, die sogenannten Hörschinger Prä-
melodieführenden rechten Hand zunehmend ludien). Diese sind aber nicht in der Handschrift
vollgriffige Akkorde auftreten. Die Grundtonart Bruckners, sondern nur in Abschriften überliefert;
As und ihr Oberquintbereich werden mit der nach neueren Erkenntnissen sprechen mehr
Sphäre der Mollparallele kontrastiert (etwa beim Gründe gegen eine Autorschaft Bruckners als für
Auftreten der melodischen Skala f ’-f ’’ T. 39/40). eine solche.
Das ›Erinnerungsmotiv‹ tritt Takt 41–44 in abge- Ein kurzer Blick auf diese mittlerweile als nicht
spaltener wie gesteigerter Form in Erscheinung: authentisch eingestuften Werke eröffnet Erkennt-
Nach einer großen dynamischen Steigerung er- nisse über das organistische Umfeld, in dem sich
klingt es nun im dreifachen Fortissimo, harmo- der junge Bruckner bewegte. Die Stücke liegen
nisch wird eine Folge absteigender kleiner Terzen sämtlich nur in Abschriften vor – von Alfons Ber-
beschrieben (Ges-Es-C). ger (WAB 128, 1–4) bzw. Joachim Berger (WAB
Der »langsamer« zu spielende Schluss (T. 45–52) 127; WAB 129, 1–3) – wobei jeweils Bruckner als
enthält fallende Skalenteile mit Abspaltungen des Autor angegeben wird. Wenn aber beispielsweise
Erinnerungsmotivs, dynamisch ins Pianissimo Bruckners Lehrer Johann Baptist Weiß das erste
bzw. dreifache Pianissimo zurückgeführt, harmo- Stück aus WAB 128 mit dem Hinweis »v. Rink«
nisch auf die Hauptstufen von As-Dur reduziert, (wahrscheinlich Johann Christian Heinrich Rinck,
von der Bewegung her sich stetig verlangsamend. eventuell aber auch der in Kremsmünster und St.
Vom harmonischen und dynamischen Umfang Florian wirkende Ferdinand Rink) versah, so
wie vom schieren Ambitus her erreicht dieses spricht dies klar gegen eine Autorschaft des jungen
kurze und formal einfach gehaltene Klavierstück Bruckner. Da sich bei Weiß auch Stücke bzw.
tatsächlich orchestrale Dimensionen und kann Passagen finden, die nahezu identisch mit den Es-
daher als ein originärer Beitrag Bruckners zum Dur-Präludien sind, so kann wohl kaum von ei-
musikalischen Salon des 19. Jahrhunderts angese- genständigen Kompositionen, sondern höchstens
hen werden. von Studienadaptationen Bruckners ausgegangen
werden.
Das mit Andante gekennzeichnete Präludium
WAB 127 wird mit einer Abfolge vollgriffiger Ak-
Die Orgelwerke korde eröffnet, um daraufhin in schnelle Läufe
und arpeggierte Akkorde überzugehen. Wie Oth-
Bedenkt man, dass Bruckner fast während seiner mar Wessely zeigte, lassen sich für derartige Form-
gesamten musikalischen Laufbahn – von den ers- anlagen eine Fülle von Beispielen im süddeutsch-
ten Unterrichtsjahren in Ansfelden bis zu seiner österreichischem Raum seit dem späten 18. Jahr-
Professorentätigkeit in Wien – mit dem In- hundert nachweisen (Wessely 1994, 66 ff.).
strument Orgel befasst war, so mag der schmale Insbesondere bei Johann Georg Albrechtsberger
überlieferte Bestand an Orgelkompositionen An- und Michael Haydn könnten direkte Vorbilder
lass zu Verwunderung geben. Als zweifelsfrei au- hierfür gefunden werden. Noch anspruchsloser in
thentische Orgelwerke Bruckners können lediglich der Anlage sind die kurzen Präludien aus WAB
fünf Stücke gelten: Nachspiel d-Moll WAB 126 128, denen auch zwei kurze, fünf- bzw. sechstaktige
und Andante d-Moll WAB 130, beide wahrschein- Kadenzmodelle (das erste Mal mit »Cadenze« ge-
lich vor 1847 zu datieren; Vorspiel und Fuge c-Moll kennzeichnet) beigegeben sind. Gelegentliche Li-
WAB 131, entstanden 1847; eine 1861 geschriebene gaturen oder in Terzparallelen geführte Stimm-
Fuge d-Moll WAB 125; schließlich als einziges paare sind hier die einzigen Merkmale, die auf
Werk der Wiener Zeit das Präludium C-Dur WAB eine etwas angehobene tonsetzerische Anspruchs-
129 aus dem Jahr 1884 (das sogenannte Perger haltung hindeuten. Als Anregung für derartige
Präludium). In der Zählung des Werkverzeichnis- Präludien wurde von Wessely die 1825 erschienene
ses tauchen noch fünf weitere Orgelstücke auf, die Sammlung des Wiener Domorganisten Joseph
328 Andreas Jacob

Preindl (1756–1823) benannt: Diese – adressiert an und Fuge c-Moll WAB 131 (datiert auf den 15.
technisch weniger versierte Organisten – war Jänner 1847) schon einige Züge der späteren Dik-
durch die Hofverordnung von Kaiser Franz I. au- tion Bruckners aufweisen. Mit 82 Takten ist das
torisiert; und so wurde sie vom jungen Bruckner Nachspiel d-Moll das umfangreichste Orgelwerk
in St. Florian abgeschrieben und noch von Simon Bruckners. Ebenso wenig wie beim Andante ist
Sechter wieder herausgegeben. Insgesamt sind die eine Bestimmung für Orgel explizit angegeben,
fünf Präludien WAB 127 und 128 also komposito- doch verlangen mindestens Anfang und Ende des
risch kaum von Interesse, sie vermitteln aber – in Stücks den Einsatz von Pedal (fast durchweg als
Wesselys Worten – »ein glaubhaftes Bild von der Orgelpunkte). In seinem umfassenden Revisions-
Art und Weise des Orgelspiels in kulturellen bericht zu den Orgelwerken liefert Erwin Horn
Rückzugsgebieten« (Wessely 1994, 62). auch Analysen einzelner Kompositionen, wobei
Die als echt eingestuften Kompositionen für die formale Anlage des Nachspiels besonderes
Orgel (bzw. Tasteninstrument mit Pedal) tragen Interesse beanspruchen kann (vgl. Rev.-Ber. zu
ihrerseits ebenfalls deutlich den Charakter von NGA XII/6): Beginnend und endend mit akkor-
Studien- bzw. Gelegenheitskompositionen und dischen Teilen über Orgelpunkten unter Einsatz
nehmen in der NGA (Bd. XII/6) abzüglich der von verminderten Septakkorden, nimmt den
mitabgedruckten Skizzen einen Umfang von nicht größten Teil des Stücks eine Fuge ein, deren
mehr als zwölf Seiten ein. Die prominente Rolle Thema stark an süddeutsch-österreichische Vor-
des Instruments Orgel in Bruckners Leben wird bilder aus dem 17. Jahrhundert erinnert (nament-
also auf seltsame Weise durch den peripheren lich Pachelbel oder Murschhauser). Der Einlei-
Rang seines Orgelwerks konterkariert. Dies hängt tungsteil (der zur Dominanttonart A-Dur hin-
wohl vor allem damit zusammen, dass Bruckner führt) nimmt zwölf Takte ein, die Fuge ist durch
die Orgel eher im liturgischen Rahmen oder im Doppelstrich von ihm getrennt. Am Ende hinge-
Zusammenhang mit Improvisationen einsetzte gen läuft die manualiter auszuführende Fuge auf
und nicht als autonomes Medium ansah, um seine eine Kadenz in A-Dur zu, worauf Takt 68 (»tasto
Ambitionen als Komponist zu realisieren (siehe solo«) Pedal-Orgelpunkte einsetzen. Zunächst
oben das Kapitel Bruckner und die Orgel). In der finden sich Takt 68–71 nach Art einer finalen
katholischen liturgischen Tradition spielte – wor- Themenphase Elemente des Themas (die mar-
auf Otto Biba hinwies – die Gattung des Choral- kante Synkope des Themenkopfes sowie die Ach-
vorspiels auch nicht die Rolle wie in der protestan- telbewegung) mit chromatischen Gängen überla-
tischen, so dass Bruckner (anders etwa als sein gert, bevor Letztere (T. 72–75) zu chromatischen
Zeitgenosse Brahms) selbst im kirchenmusikali- Vorhaltsketten ausgebaut werden. Der Schluss
schen Kontext keinen Anlass erblickte, Orgelwerke (T. 76–82) bringt ausgehalten notierte Akkorde
zu komponieren (Biba 1985). ähnlich wie im Einleitungsteil. Dieser Schlussab-
schnitt sowie weite Teile der Fuge (T. 23–42) tra-
gen Generalbassziffern, wobei diese nicht immer
Studienwerke in St. Florian:
ganz akkurat gesetzt sind (vgl. T. 33 und 55).
WAB 126, 130 und 131
Das Einsatzschema der vierstimmigen, meist
Nachspiel sowie Andante d-Moll WAB 126 bzw. 130 jedoch mit drei Stimmen operierenden Fuge mit
zeigen ihre Bestimmung als Studienwerke durch tonaler Themenbeantwortung wirkt ebenfalls re-
die eingefügte Generalbassbezifferung sowie ihre lativ studienartig: Die Exposition der Fuge
Anlehnung an frühbarocke Vorbilder. Gewidmet (T. 13–32) bringt vier Einsätze auf der I. bzw. V.
wurden sie laut einer Eintragung auf dem Noten- Stufe von d-Moll (dux-comes, comes-dux) und en-
blatt der Reinschrift dem Chorregenten Ignaz det mit einer Kadenz in a-Moll. Der folgende
Traumihler, der seinen Dienst in St. Florian im Abschnitt (T. 32–44), der vor allem die Achtelbe-
Jahr 1852 antrat. Aufgrund der klaren Orientierung wegung des Themas fortspinnt, wird durch ver-
an älteren Normen des Tonsatzes datiert Erwin kürzte bzw. variierte Themeneinsätze auf der I.
Horn sie jedoch »aus stilistischen Gründen« auf (T. 32) bzw. IV. (T. 35) Stufe gegliedert, womit
vor 1847 (NGA XII/6, V), wohingegen Vorspiel nach der Oberquinte auch die Unterquinte be-
Die Klavier- und Orgelwerke 329

rührt wird. Nach einer Kadenz in d-Moll folgt Dass es sich gleichwohl um Studien handelt, bele-
Takt 44–56 ein Abschnitt mit weiteren aus dem gen zum einen die skizzenhafte Notierung insbe-
Thema gewonnenen Varianten unter Verwendung sondere des Vorspiels, zum anderen der zu Beginn
der markanten Synkope des Themenkopfes, wobei der Fuge angebrachte Vermerk: »Nota bene. Versu-
jedoch tonartlich nur wenig Bewegung anzutref- chen versch[iedener] Contr[apunkte]«. Das zwölf
fen ist. Eine weitere Themenphase Takt 57–68 Takte kurze Vorspiel beginnt zunächst marschartig,
führt mit den beiden letzten Themeneinsätzen in wobei die kleine Terz aus dem späteren Fu-
dux- bzw. comes-Form (T. 57 bzw. 60) wiederum genthema bereits vorgestellt wird, bevor Takt 5 die
die I. bzw. V. Stufe aus, harmonische Anreiche- Harmonik durch Chromatisierungen erweitert
rung erfolgt schließlich durch das zunehmende und der Rhythmus des Fugenthemas eingeführt
Eindringen chromatischer Alterationen. Nicht wird. Das Kopfmotiv des Fugenthemas erklingt
zuletzt durch das gelegentliche Verwenden des Takt 7 dann auch wörtlich, wenn auch versteckt in
Tenorschlüssels im unteren Liniensystem zeigt Tenorlage. Die Wirkung dieses (im Anschluss an
sich der historisierende Charakter des Satzes. An die Fuge niedergeschriebenen) Satzes als Einlei-
dieser Stelle tritt die oben beschriebene, letzte auf tungsstück wird durch chromatische Gänge in der
das Thema bezogene Phase ein, in der das Thema Oberstimme, eine Folge von alterierten Akkorden
zunehmend zugunsten akkordischer Bildungen und das teilweise in Terzen geführte rhythmische
über Orgelpunkten suspendiert und der Schluss Motiv des Fugenthemas gesteigert, um in der
vorbereitet wird. Neben der deutlich hervortreten- Dominante G-Dur zu enden.
den Intention, eine regelgerechte Fuge zu schrei- Die 63 Takte lange Fuge zeigt sich in kontra-
ben, lassen sich in der Verwendung von Alterie- punktischer wie harmonischer Hinsicht sowie
rungsharmonik und chromatischen Gängen vor vom tonartlichen Verlauf her als wesentlich an-
allem in den Rahmenteilen auch das Bemühen spruchsvoller als der fugierte Satz aus dem Nach-
erkennen, ein gleichermaßen abgerundetes wie spiel WAB 126. Bereits das Kopfmotiv mit Terz-
wirkungsvolles Stück vorzulegen. und Sextsprüngen wirkt avancierter als das histo-
Wurde im Nachspiel bereits auf barockisierende risierende Thema jenes Satzes. Zur tonalen
Schemata zurückgegriffen, so zeigt das Andante Antwort des comes-Einsatzes Takt 3 gesellt sich ein
d-Moll WAB 130 (ebenfalls mit nicht endgültig zu chromatisch angereichertes erstes Kontrasubjekt,
bestimmendem Kompositionsdatum) seinerseits das bis Takt 22 beibehalten wird und auch im
alle Merkmale einer Generalbass-Studie: Die zweiten Abschnitt der Fuge wieder erscheint (dort
rechte Hand des in zwei Liniensystemen notierten T. 46–49). Ein weiteres Subjekt wird aus der Ach-
Tonsatzes von 25 Takten Länge ist durchgängig in telkette am Ende des Themas gewonnen und zu-
dreistimmigen Akkorden notiert, wobei jedoch nächst (T. 12–14) zur Gestaltung von Fortspin-
durchaus Ligaturen vorkommen können (jedoch nungspassagen verwendet. Im zweiten Teil der
mit der Ausnahme von Takt 6/7 nie über Takt- Fuge (T. 27–53) tritt dieses Subjekt selbstständig in
grenzen hinweg). Die linke Hand hingegen spielt Erscheinung und wird über weite Strecken in
die Generalbass-Stimme und prägt häufig Achtel- Terz- oder Sextparallelen geführt. Auch dieses
ketten aus. Die Generalbassbezifferung findet sich obligate Subjekt wird (T. 40 ff.) mit dem Thema
durchgängig. In dichten Abständen gliedern Ka- kombiniert. Das Thema schließlich wird im letz-
denzen den Satz, wobei neben der I. Stufe (zu ten Abschnitt der Fuge (T. 53 ff.) in Engführung
Anfang und Ende) vor allem die III. und IV. Stufe gebracht, wobei ab Takt 58 Orgelpunkte mit kla-
ausgeführt werden. Weitere Stufen werden zwar rem Bezug auf die Ausgangstonart c-Moll die
berührt, jedoch durch Ausweichungen oder Vor- Schlussfunktion dieser weiteren kontrapunkti-
halte verschleiert. schen Verdichtung verdeutlichen.
Gegenüber jenen mitunter schülerhaft wirken- Der tonartliche Verlaufsplan dieses weitgehend
den Übungen im historischen Stil weisen Vorspiel dreistimmigen kontrapunktischen Satzes bezieht
und Fuge c-Moll WAB 131 in größerem Maße auch entferntere harmonische Regionen mit ein.
Merkmale auf, welche die Komponistenpersön- Führt die Exposition (T. 1–14) erwartungsgemäß
lichkeit Bruckner als ihren Autor erkennen lassen. die I. und V. Stufe aus (mit den Einsätzen der vier
330 Andreas Jacob

insgesamt beteiligten Stimmen sowie einem zu- sellschaft der Musikfreunde Wien) gestellten An-
sätzlichen Themeneinsatz im Bass Takt 11), so er- trag hin einer Prüfung in Komposition und Kon-
weitert sich der harmonische Skopus daraufhin trapunkt, für die er einige Probestücke
auf unerwartete Weise: Auf einen Themeneinsatz beizubringen hatte. In einem Anschreiben der
auf der V. Stufe g-Moll (T. 15) folgt Takt 17 eine Gesellschaft der Musikfreunde vom 8. November
wenig vorbereitete Modulation nach a-Moll, eine 1861 – unter anderem den avisierten Prüfungster-
Tonregion, die – nachdem e-Moll kurz gestreift min (19. November) betreffend – wurden die ge-
wurde (T. 22) – bald wieder verlassen wird, um genüber der eingesetzten Prüfungskommission
über c-Moll nach F-Dur zu gelangen (T. 24–26). beizubringenden Leistungen folgendermaßen de-
Der zweite Formabschnitt der Fuge (T. 27 ff.) finiert: »Um diese Kommission in den Stand zu
bewegt sich vor allem in den Bereichen von F-Dur setzen, über Ihre praktischen Leistungen im Kom-
bzw. (ab T. 34) f-Moll. Nach dem Wiedereintritt posizionsfache zu urtheilen, wollen Sie einige
des Fugenthemas Takt 40 (in f-Moll) erfolgt Takt schriftliche Versuche im Kontrapunkte so wie in
43 auch ein Themeneinsatz in b-Moll. Diese Ton- der freien Komposizion mit thunlicher Beschleu-
region wird aber ebenso bald wieder zu Gunsten nigung an die Direkzion gelangen lassen« (Briefe
von f-Moll verlassen, woraufhin der Satz Takt 52 f. 1, 29). Zu diesem Zeitpunkt wusste Bruckner
zur I. Stufe bzw. deren Dominanttonart G-Dur wahrscheinlich von den gestellten Anforderungen:
zurückkehrt. Immerhin werden auf diese Weise Die Fuge d-Moll wurde in Skizze am 6. bzw. 7.
neben c-Moll, g-Moll/Dur und f-Moll/Dur auch November 1861 niedergeschrieben, die Reinschrift
Bereiche berührt, die wohl bewusst weit vonein- folgte am 8. November und wurde als vorletztes
ander entfernt positioniert sind, denn zwischen Stück in ein Studienbuch eingetragen, das 1860/61
e-Moll und b-Moll liegen sechs Quintschritte. im Unterricht bei Simon Sechter entstand. In
Dies wird aber nicht durch ein durchgängiges diesem Konvolut, das heute in der Diözesanbib-
Auffüllen des dazwischen liegenden tonartlichen liothek Münster liegt, wurde der Fuge überdies
Raumes erreicht (durch kontinuierliche Modula- der Entwurf einer Exposition mit alternativen
tion), sondern durch teilweise forciert wirkende Kontrasubjekten vorangestellt.
harmonische Mittel, wie plötzlich auftretende Der Unterricht selbst war laut dem auf den 26.
enharmonische Umdeutungen und chromatische März 1861 datierten Zeugnis von Sechter über die
Rückungen, wie sie sich in kontrapunktischen abgelegte Kontrapunktprüfung im November be-
Sätzen des 19. Jahrhunderts zunehmend finden. reits abgeschlossen. So scheint es mehr als nahelie-
Die zahlreichen Bearbeitungsspuren des Auto- gend, dass jene Fuge wie das ganze Studienbuch
graphs (vgl. NGA XII/6, VI; Rev.-Ber. zu NGA als Leistungsnachweise vorgelegt wurden – mit
XII/6, 17–27) deuten auf die Mühe hin, die Bruck- gewünschtem Erfolg, denn auf die eingereichten
ner bei der Ausarbeitung des Satzes aufgewendet Arbeiten hin wurde Bruckner die theoretische
hat. Damit dürfte diese Fuge ein gutes Beispiel für Prüfung erlassen. Lediglich eine (ebenfalls erfolg-
die Erarbeitung kontrapunktischer Techniken reiche) praktische Prüfung an der Orgel wurde am
darstellen, mit denen sich Bruckner in St. Florian 21. November 1861 in der Piaristenkirche in Wien
beschäftigte. abgehalten, bei der Bruckner eine improvisierte
Introduktion und Fuge über ein Thema von Si-
mon Sechter sowie eine freie Improvisation
Kontrapunktische Habilität
spielte.
und ausgeprägter Personalstil:
Der vierstimmige Satz zeigt verschiedene
WAB 125 und 129
Merkmale, die bereits bei Bruckners c-Moll-Fuge
Die Sorgfalt, mit der Bruckner die Fuge d-Moll zu beobachten waren; doch ist die Komposition
WAB 125 komponierte, ist durch ihre Bestimmung ausgearbeiteter und deutlicher um »klassisches«
als kontrapunktischer Fertigkeitsausweis zu erklä- Ebenmaß bemüht (was sich bereits in der Verwen-
ren: Bruckner unterzog sich im November 1861 dung des Allabreve-Takts ausdrückt). Die Exposi-
auf eigenen, beim »Direktorium des Conservato- tion (T. 1–22) beginnt mit dem Themeneinsatz im
riums der Musik« (dem Konservatorium der Ge- Bass und endet (nach Einsatz der drei anderen
Die Klavier- und Orgelwerke 331

Stimmen) erneut mit einem derartigen Basseinsatz Bruckner die Fuge auch gespielt haben soll (vgl.
des Themas auf der I. Stufe. Das Kontrasubjekt Horn 2000, 24).
wird weitgehend obligat behandelt. Die nach ei- Nicht in erster Linie für Orgel, sondern für
nem kurzen sequenzierenden Zwischenspiel Harmonium gedacht, ist das sogenannte Perger
(T. 23–26) erfolgenden weiteren vollständigen Präludium das letzte und bekannteste Stück für
Einsätze des Themas bringen gewisse tonartliche Tasteninstrument mit Pedal von Bruckner. Dieses
Ausweitung und zeigen eine lehrbuchartige Ab- Präludium C-Dur (WAB 129) wurde im August
folge von der IV., VI., III. und VII. Stufe aus. 1884 auf Bitte des Lederhändlers Josef Diernhofer
Abspaltungen des Themenkopfes bestimmen aus Perg komponiert, der Bruckner bei dessen
den Beginn des nächsten Abschnitts (T. 43–62). Fahrt zu den Festspielen in Bayreuth im Sommer
Diese führen das Prinzip der Umkehrung in den des Jahres begleitet hatte. Die Komposition des
Satz ein, welches mit zwei vollständigen Themen- mit 27 Takten relativ kurzen »Stückchens« erfolgte
einsätzen in Umkehrungsform (T. 47 bzw. 54) Bruckners Angaben zufolge in St. Florian und
weiter vertieft wird. Diese gehen beide vom Ein- wurde in Kremsmünster in Reinschrift gebracht
satzton a aus, liegen aber das eine Mal im Bass, das (vgl. das Begleitschreiben vom 20.8.1884: Briefe 1,
andere Mal im Tenor und werden im ersten Fall 219).
nach F-Dur, im zweiten Fall nach d-Moll gewen- Die stilistische Nähe des Werks zu den in etwa
det. Der letzte vollständige Einsatz des Themas in zur gleichen Zeit komponierten Sinfonien Bruck-
Originalform und auf der I. Stufe erfolgt Takt 58 ners (dies sind die Siebte sowie insbesondere die
im Bass, dort begleitet von einem in parallelen Achte) wurde verschiedentlich bemerkt. In seiner
Dezimen geführten Einsatz einer Variante des avancierten Harmonik mit intensiver Verwendung
Themenkopfes in den Oberstimmen. In typischer von chromatischen Stimm- und Akkordfort-
Weise wird der Schlussabschnitt von einem ausge- schreitungen steht das Präludium näher an der
dehnten Orgelpunkt auf A (T. 63–68) eingeleitet, Klangsprache der großen Werke Bruckners als ir-
über dem verschiedene diminuierte Themenvari- gendein anderes Orgelwerk von ihm. Dies ist be-
anten in Engführung angebracht sind. Abschlie- reits an der harmonischen Fortschreitung der
ßend setzt Takt 69 das augmentierte Thema ersten Akkorde dieses »feierlich langsam« sowie
gleichzeitig mit einer diminuierten Variante ein »sempre legato« auszuführenden Stücks zu erse-
(Bass und Alt, jeweils I. Stufe), wobei der Begleit- hen, die von C-Dur über B-Dur und F-Dur zu
satz von g-Moll zur Ausgangstonart d-Moll zu- Ges-Dur führt. Die Oberstimme ist dabei als
rückleitet. chromatischer Gang geführt. Über die charakte-
Die 76 Takte lange Fuge zeigt neben der zu ristische Akkordverbindung eines mit Sextvorhalt
erwartenden kontrapunktischen Gründlichkeit angereicherten Septakkords (T. 4, hier auf A), die
weitere, verarbeitende Techniken. So werden im analog Takt 12 und Takt 22 wiedererscheint (dort
Sinne der motivisch-thematischen Arbeit im Laufe jeweils auf G ), und einen verminderten Sept-
des Stücks verschiedene Varianten des Themas akkord erreicht die sechstaktige erste Phrase
angebracht. Daneben wird aber auch auf äußerst schließlich wieder B-Dur. (Die Binnengliederung
ausbalancierte Disposition geachtet: Zwölf voll- wurde in der Skizze zum Präludium mit eingefüg-
ständigen Themeneinsätzen stehen eben so viele ten Taktzahlen kenntlich gemacht.) Die nächste
diminuierte Varianten gegenüber, dazu tritt der Phrase beginnt – chromatisch nach H-Dur ge-
erwähnte augmentierte Themeneinsatz im Bass. rückt – mit der Eingangsmotivik der Oberstimme.
Aufgrund dieser aufgewandten kompositorischen Emphatisch tritt Takt 9 E-Dur auf (mit fortissimo
Mühe resultierte ein Werk, das auch im prakti- den dynamischen Höhepunkt des Stücks bildend),
schen Gebrauch gewinnbringend eingesetzt wer- jene Tonart, in welcher der erste Abschnitt des
den konnte, wovon eine Reihe von angefertigten Stücks auch endet (T. 15). Nach einem Takt Gene-
Abschriften Zeugnis ablegt. Eine davon trägt auch ralpause setzt der Satz Takt 17 wieder mit dem
die Widmung anlässlich der Primiz des Alumnen Anfangsmotiv und erneut in C-Dur ein. Orgel-
Ferdinand Kerschbaum am 23. Juni 1862 in der punkte auf Ges (T. 19/20, dabei Ges enharmo-
Stadtpfarrkirche Linz, zu welcher Gelegenheit nisch zu Fis umdeutend) bzw. G (T. 21–24) berei-
332 Andreas Jacob

ten den drei Takte lang ausgehaltenen Schlussak- jene Spielhilfen zunehmend Verwendung, die eine
kord vor. Ausführung der harmoniumstypischen Merkmale
Die sehr getragene Bewegung bei gleichzeitig – vor allem die reichhaltigen dynamischen Anga-
äußerst intensivierter harmonischer und dynami- ben, die An- und Abschwellen ebenso beinhalten
scher Spannung evoziert in diesem knappen Werk wie jähe Wechsel der Lautstärke – an der Orgel
die Sphäre des Sinfonischen. Geradezu als Ironie erleichtern. So spielte Bruckner das Werk auch
mag es anmuten, dass dieses ›sinfonischste‹ Werk selbst auf der Orgel, dem Zeugnis von P. Oddo
Bruckners für Pedal-Tasteninstrument eben nicht Loidol zufolge am 21. August 1884 im Rahmen
in erster Linie für große Orgel geschrieben wurde, eines Konzerts in Kremsmünster, wobei es auch als
sondern für Harmonium. Zur Zeit der Komposi- Ausgangspunkt für Improvisationen Bruckners
tion des Stücks fanden jedoch auch im Orgelbau diente.

Literatur
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mar Wessely (Hrsg.): Johannes Brahms und Anton zu NGA XII/6. Wien 2001.
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191–196. Anton Bruckner. In: Steffen Lieberwirth (Hrsg.):
Dehnert, Max: Anton Bruckner. Versuch einer Deutung. Kongreßbericht zum V. Internationalen Gewand-
Leipzig 1958. haus-Symposium »Anton Bruckner – Leben, Werk,
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298. geschichte 7). Leipzig 1988, 68–69.
Harrandt, Andrea: Anton Bruckner als Klavierkompo- Litschauer, Walburga: Vorwort und Revisionsbericht zu:
nist. In: Programmheft Anton Bruckner am Klavier. Anton Bruckner. Werke für Klavier zu vier Händen.
Wien 14.12.2005, 4 f. Wien 1988 (NGA XII/3).
Horn, Erwin: Orgelgemäße Strukturen in der Sinfonik –: Vorwort und Revisionsbericht zu: Anton Bruckner.
Anton Bruckners. In: Steffen Lieberwirth (Hrsg.): Werke für Klavier zu zwei Händen. Wien 1994 (NGA
Kongreßbericht zum V. Internationalen Gewand- XII/2).
haus-Symposium »Anton Bruckner – Leben, Werk, Röder, Thomas: Bruckners Glaube. In: Albrecht Rieth-
Interpretation, Rezeption« anläßlich der Gewand- müller (Hrsg.): Bruckner-Probleme. Internationales
haus-Festtage 1987 (= Dokumente zur Gewandhaus- Kolloquium 7.–9. Oktober 1996 in Berlin (= Beihefte
geschichte 7). Leipzig 1988, 74–89. zum Archiv für Musikwissenschaft 45). Stuttgart
–: Die Orgelwerke von Anton Bruckner in neuem 1999, 50–64.
Licht. Präludium Es-Dur (WAB 127) – Vier Prälu- Wessely, Othmar: Der junge Bruckner und sein Orgel-
dien Es-Dur (WAB 128). In: Singende Kirche 43 spiel. In: Harry Slapnicka/Rudolf Zinnhobler/Oth-
(1996), 78–85. mar Wessely/Franz Zamazal (Hrsg.): Staat – Kirche
–: Vorwort zu: NGA XII/6. Wien 1999. – Schule in Oberösterreich. Zu Anton Bruckners
–: Anton Bruckners Orgelwerke. In: Elisabeth Maier/ sozialhistorischem Umfeld (= Anton Bruckner. Do-
Andrea Harrandt/Erich Wolfgang Partsch (Hrsg.): kumente und Studien 10). Wien 1994, 59–96.
Bruckner-Tagung. Bericht. Wien 2000, 21–34.
333

Die Musik für Bläser


von Wolfgang Suppan

Als Anton Bruckner sich in den 1860er Jahren recte b), 1852, Umarbeitung und Neutextierung (»Heil,
Vater! Dir zum hohen Feste«, »Heil Dir zum schönen Erst-
dem Orchesterklang zuwandte, standen ihm be- lingsfeste« [WAB 61b, recte a]), 1857, für Vokalstimmen,
reits die voll entwickelten Register der Holz- und 3 Hörner, 2 Trompeten und Bassposaune,
Blechblasinstrumente zur Verfügung, wie sie Hec- WAB 53: Vor Arneths Grab. »Brüder, trocknet eure Zähren,
stillt der Schmerzen herbes Leid«, 1854, für vierstimmigen
tor Berlioz, Franz Liszt und Richard Wagner in Männerchor und 3 Posaunen,
Zusammenarbeit mit den Musikinstrumentenher- WAB 76: »Laßt Jubeltöne laut erklingen«, 1854, für vier-
stellern und Militärkapellmeistern konstruiert stimmigen Männerchor und Bläser (2 Hörner, 2 Trompe-
hatten. Klappensysteme auf den Holzblasinstru- ten, 4 Posaunen),
WAB 1: Afferentur regi, Offertorium, 1861, für vierstimmi-
menten und Ventile auf den Blechblasinstrumen- gen gemischten Chor und 3 Posaunen ad lib.,
ten ermöglichten eine weitgehende Annäherung
der Intonation an die seit dem Hochbarock domi- mit einem späteren Nachzügler,
nant werdende »temperierte« Stimmung. Als
WAB 19: Inveni David (I), 1868, für vierstimmigen Män-
letztes der Blechblasinstrumente konnte seit der nerchor und 4 Posaunen,
Mitte der 1840er Jahre die Tuba zum Einsatz kom-
men und damit die Akkorde von der Tiefe her in so wagt er sich seit 1855 an die Verbindung von
angemessener Lautstärke abstützen (vgl. die ein- Holz- und Blechbläsern sowie an die damals übli-
schlägigen Musikinstrumentenartikel in: MGG/2; che Besetzung einer städtischen Blaskapelle:
NGrove/2; sowie: Maierhofer 2008). WAB 60: »Auf, Brüder! auf, und die Saiten zur Hand«,
Das kompositorische Frühschaffen Bruckners 1855, für Männersoloquartett, vierstimmigen Männerchor,
konnte sich vor allem auf die im Stift St. Florian vierstimmigen gemischten Chor und Bläser (2 Oboen,
2 Fagotte, 3 Hörner, 2 Trompeten und 3 Posaunen),
blühende Tradition geistlicher Bläsermusik stüt- WAB 16: Festkantate. »Preiset den Herrn, lobsingt seinem
zen, wobei ihm neben drei verlässlichen Posaunis- heiligen Namen«, 1862, für vierstimmigen Männerchor,
ten auch Oboisten, Fagottisten, Hornisten und Bass-Solo, Blasorchester und Pauken,
Trompeter zur Verfügung standen, die er in geist- WAB 70: Germanenzug, 1863, für vierstimmigen Männer-
chor, Männer-Soloquartett und Bläser (2 Cornetti,
licher, aber ebenso in weltlicher Vokalmusik ver- Tenorhorn, 4 Trompeten, 4 Hörner, 3 Posaunen, Bass-
wendete. Sind es bei frühen Werken Bruckners tuba),
noch einzelne Blechbläser, die als Ensemble oder WAB 116: Marsch (in Es-Dur), 1865, für Militärmusik
(Flöte in Des, Klarinette in As, 2 Klarinetten in Es,
in Verbindung mit Vokalstimmen (z. T. auch Or- 3 Klarinetten in B, 2 Flügelhörner in B, 3 Euphonien,
gel) zum Einsatz kommen: 3 Hörner in F, 5 Trompeten in Es, 1 Trompete in B,
2 Posaunen, Basso [notiert werden ein hoher und ein
WAB 25: Messe C-Dur (Windhaager Messe), um 1842, für tiefer Bass], Casse [kleine und große Trommel/Becken]).
Alt, 2 Hörner und Orgel,
WAB 114 und 149: [Zwei] Aequale, 1847, für 3 Posaunen, Der Höhepunkt dieser Entwicklung liegt 1866 vor,
WAB 36: Psalm 114. »Alleluja! Liebe erfüllt mich, weil der und zwar mit:
Herr die Stimme meines Flehens erhört hat«, 1852, für fünf-
stimmigen gemischten Chor und 3 Posaunen, WAB 27: Messe e-Moll, 1866, Überarbeitungen 1876,
WAB 61: »Auf, Brüder! auf zur frohen Feier« (WAB 61a, 1882, 1885 und 1896, für achtstimmigen gemischten Chor
334 Wolfgang Suppan

und Bläser (2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, felt und die Vermutung ausgesprochen, dass Bruck-
2 Trompeten, 3 Posaunen). ner die Partitur benutzt habe, um sich in die
Marsch-Komposition einzuarbeiten und um »sich
Zuletzt folgen:
die Technik des Blechbläsersatzes« anzueignen
WAB 57: Abendzauber. »Der See träumt zwischen Felsen, es (Auer 1947, 132). Wie und warum es allerdings zur
flüstert sanft der Hain«, 1878, für vierstimmigen Männer- Namensänderung gekommen ist, bleibt fraglich.
chor, Tenorbariton-Solo, 3 Fern-Frauenstimmen und
4 Hörner, Bruckner wie Kéler Béla waren Schüler von Simon
WAB 13: Ecce sacerdos, 1885, für achtstimmigen gemisch- Sechter in Wien, wo sie sich 1855/56 getroffen ha-
ten Chor, 3 Posaunen und Orgel, ben dürften.
WAB 63: Der deutsche Gesang (Das deutsche Lied ), 1892,
für vierstimmigen Männerchor und Blechbläser (4 Hör-
Eine weitere Marschkomposition, WAB 96, ist
ner, 3 Trompeten, 3 Posaunen und Basstuba). von Bruckner für großes Orchester instrumentiert
und erst nach seinem Tod dem Blasorchester zu-
Es sind demnach bei Bruckner drei Möglichkeiten gänglich gemacht worden (siehe unten: Bearbei-
des Bläsereinsatzes zu unterscheiden: tungen). Hier tritt uns 1862 auch jener hüpfende
(1) Bläser unter sich, (2) Bläser kombiniert mit Rhythmus in der Melodie entgegen, der dann 1865
Vokalstimmen/Chor (und evtl. Orgel), (3) Bläser sowohl im Es-Dur-Marsch wie am Beginn des ers-
im Sinfonieorchester. ten Satzes in der zeitgleich entstandenen Ersten
Sinfonie sich wieder findet. Es-Dur-Marsch und
Erste Sinfonie (sowie Germanenzug) sind zudem
durch das absteigende Oktav-Motiv miteinander
Werke für Bläser unter sich verbunden. Bruckners Melodik entsprach damit
nicht den Vorstellungen der traditionellen altöster-
In der Besetzung und formalen Gliederung des reichischen Marschkomposition, die Aufführungs-
Marsches in Es-Dur WAB 116 hält sich Bruckner chancen des Es-Dur-Marsches erschienen zu seiner
an die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Zeit gering.
Donaumonarchie übliche vierteilige Anlage eines Das Posaunen-Trio hat Bruckner aufgrund
Militärmarsches, wobei melodisch geführtes weit- seiner sakralen Würde lebenslang fasziniert, so-
mensuriertes und fanfarenartig eingesetztes eng- wohl als eigenes Ensemble (WAB 114 und 149) wie
mensuriertes Blech klanglich reizvoll kontrastie- im Verbund mit dem Chorklang (z. B. WAB 10,
ren, die Holzbläser in den höheren Lagen, die 22, 26, 28, 29, 35, 39). Seit 1863, dem Germanenzug
Bassflügelhörner und Euphonien in der Tenor- WAB 70, vor allem aber seit den 1870er Jahren
Bariton-Lage Gegenmelodien einführen, die Tu- wird das Posaunen-Trio durch die Hinzufügung
ben (sofern sie nicht zusammen mit den Posaunen der Basstuba zum Quartett erweitert (in WAB 38,
und Waldhörnern in Bass-Soli in Erscheinung 45, 63, 70, 71, 74) und in der Vierten Sinfonie (2.
treten) den Vorschlag, die Es-Trompeten, Posau- Fassung) sowie der Fünften bis Neunten zum ei-
nen und teilweise auch die Waldhörner den Nach- gengeprägten Register im großen Orchester (Fuchs
schlag besorgen und so mit dem Schlagwerk den 1986, 114).
Marschrhythmus angeben.
Orientiert hat sich Bruckner bei der Komposi-
tion von WAB 116 offensichtlich an einem Marsch,
der ihm vielfach zugeschrieben wurde: dem Apollo- Bläser kombiniert mit
Marsch (WAB 115). Doch handelt es sich bei diesem Vokalstimmen/Chor
Marsch um eine Kopie der Partitur des 1857 für das
altösterreichische Infanterie-Regiment Nr. 10 kom- Die Verknüpfung des Chorklanges mit Bläser-
ponierten und erfolgreich aufgeführten Mazzu- stimmen oder dem Blasorchester ist mit dem
chelli-Marsches von Kéler Béla (Adalbert Paul von Aufkommen der deutschen Sängerbünde und der
Keler, 1820–82; vgl. Probst 1984, Hawkshaw Veranstaltung großer Sängerfeste im zweiten Drit-
1988/89, Suppan 52009). Schon Max Auer hat tel des 19. Jahrhunderts in Mode gekommen.
Bruckners Autorschaft am Apollo-Marsch angezwei- »Gesamtchöre« (d. h. die Zusammenfassung vieler
Die Musik für Bläser 335

Chorvereinigungen) mit bis zu tausend und mehr den Worten »Der du in den Wolken thronest«
Sängern konnten im Freien nur von Bläserchören (Floros 1980, 168).
entsprechend lautstark begleitet und angesichts
ihrer Neigung zu Intonationsschwankungen ge-
stützt werden. Neben vielen Kleinmeistern haben
vor allem Felix Mendelssohn Bartholdy (A. Sup- Bläser im Sinfonieorchester
pan 1987) und Franz Liszt (Kinder 1996) entspre-
chende Aufträge gern angenommen und ausge- Wie die Kombination von Bläsern mit Chor so
führt. wird auch der Aspekt der Bläser im Sinfonieor-
Doch Bruckner hat sowohl den weltlichen wie chester an anderer Stelle dieses Handbuches aus-
– als einer der wenigen katholischen Meister (zum führlicher behandelt. Im Zusammenhang mit
Umfeld siehe Brixel 2000) – den geistlichen Be- dem Blick auf die Verwendung der Bläser ist je-
reich mit Kompositionen dieser Gattung berei- doch zu sagen: In den seit 1866 entstehenden
chert. Die Behandlung der Bläser zeigt, dass Sinfonien nutzt Bruckner mehr und mehr die
Bruckner deren Begleit- und Stützfunktionen harmonischen und melodischen Möglichkeiten
dazu nutzt, um mithilfe musikalisch-rhetorischer der Holz- und Blechblasinstrumente, so dass der
Figuren und Tonsymbole »die Semantik musikali- Bläserklang vielfach als Nukleus des Gesamtwerkes
scher Erscheinungen zu konkretisieren« (Floros und der kontrapunktischen Entwicklung der
1980, 167). Deutlicher als in den Sinfonien zeigen Komposition gestaltbildend wirkt. »Für sein
sich in den Chor-Bläserwerken Bruckners jene [Bruckners] Orchester ist im weiten Umfange das
außermusikalischen Visionen, die Form und mo- Ensemble der Blechbläser kennzeichnend. Sowohl
tivische Verklammerungen, vor allem aber die als akkordliche Grundlage des Klanggebäudes wie
Orchestration des innermusikalischen Gewebes als führender Komplex tritt es stark in den Vorder-
bestimmen. Hier bestätigt sich die Korrektur des grund«, lesen wir dazu bei Alfred Orel (Orel 1925,
Bruckner-Bildes durch Constantin Floros (Floros 68). Eine solche Einschätzung beschränkt sich je-
1980, 156 f.), was die Nähe zu Berlioz und zu Liszt doch nicht auf Formalismen des musikalischen
betrifft, aber auch zu den kunsttheoretischen Ma- Satzes und der Orchestration. Es sind darüber
ximen Richard Wagners. Es sind primär die Blech- hinaus die oben schon genannten außermusikali-
bläser, die Dramatik in das Geschehen einbringen schen Visionen und programmatischen Intentio-
und die über den gesungenen Text hinaus die nen, die mithilfe der Bläser, vor allem der Blech-
Musik in den Dienst des (emotionalen) Mitteilens bläser einschließlich der Wagner-Tuben, realisiert
stellen. Ein frühes Beispiel dafür begegnet uns im werden. Bruckner selbst hat auf solche hermeneu-
Psalm 114 WAB 36, wo in den Takten 40–49 zu- tischen Erläuterungen hingewiesen, die sich auf
nächst die drei Posaunen im feierlich-strahlenden konkrete Passagen seiner Werke beziehen. So lesen
Fortissimo den Chor stützen: »Es umgaben mich wir in seinem Brief an Felix Weingartner vom
die Schmerzen des Todes, es trafen mich die...«, 27. Januar 1891 über den Beginn und über den
wonach aufgeregte Achtelbewegungen in den In- Schluss des Finales der Achten Sinfonie: »Unser
strumenten dem weiteren Text: »...Gefahren der Kaiser bekam damals den Besuch des Czaren in
Hölle«, unterlegt werden. Von besonderer Aussa- Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech:
gekraft erscheint das von Liszt so genannte und Militärmusik; Trompeten: Fanfare, wie sich die
vielfach zitierte »tonische Symbol des Kreuzes« Majestäten begegnen [...]. Im Finale ist auch der
(Floros 1980, 167), das Initium des dritten/achten Todtenmarsch u dann (Blech) Verklärung« (Briefe
Psalmtones (g-a-c’ bzw. entsprechende Transposi- 2, 114; Faksimile-Abbildung bei Floros 1980, 227).
tionen), das Bruckner mehrfach an exponierten Floros weist darauf hin, dass Bruckner »bezeich-
Stellen einsetzt, so u. a. in der e-moll- und der f- nender Weise die Programmusik höher als die
Moll-Messe, in der Litanei Tota pulchra es WAB 46, ›absolute Musik‹ ein[schätzte. Er] konnte sich
aber auch in der Dritten und Neunten Sinfonie und freilich nicht dazu entschließen, diese Programme
in dem weltlichen Chor-Bläserwerk Helgoland; in der Öffentlichkeit mitzuteilen: zum einen aus
der letztgenannten Komposition im Tenor-Solo zu Angst vor seinen Kritikern, zum anderen, weil er
336 Wolfgang Suppan

sich dessen bewußt war, daß seine Programme Blechbläserklänge tragen nicht unwesentlich dazu
mehr aus Folgen einzelner Bilder bestanden, als bei, dass dem Hörer solche Bilder(folgen) bewusst
daß sie eine streng logisch fortschreitende ›Hand- werden.
lung‹ konstituierten« (Floros 1982, 211 und 218).

Blasorchester-Bearbeitungen
Abschließend zur Frage, wieweit (Blasorchester-)Bearbei- nes kräftigen Originals, und die zu allen Zeiten beste-
tungen Brucknerscher Werke legitim seien. In der Beant- hende Mehrheit des Mittelmäßigen brachte zur Virtu-
wortung dieser Frage scheiden sich die Fachleute. Der osenzeit auch eine Überzahl mittelmäßiger, ja geschmack-
Verfasser vorliegender Zeilen hat dazu grundsätzliche loser und entstellender Bearbeitungen zutage, durch
Bemerkungen zur Diskussion gestellt (Suppan 1985/1988; welche diese Gattung der Literatur in Verruf und in eine
Bruckner-Symposion 1996, 135–138; zur Technik der ganz untergeordnete Stellung geriet [...] Von ihm (Jo-
Bearbeitung Brucknerscher Werke vgl. Dondeyne/ hann Sebastian Bach) lernte ich die Wahrheit erkennen,
Robert 1969, 105 u. ö.). Vor allem im Hinblick darauf, daß eine gute, große ›universelle‹ Musik dieselbe bleibt,
dass Bruckner den Bläserklang offensichtlich in allen durch welches Mittel sie auch ertönen mag« (Busoni
seinen Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten in besonde- 1922, 147–153). Angesichts der weiten Verbreitung des
rer Weise genutzt hat, darf dazu Ferruccio Busonis Wort Blasorchesters in der westlichen Welt, vorzüglich im
zitiert – und diesem Beitrag eine Liste von Bearbeitungen Amateurmusikbereich, erhalten mehr musizierende
Brucknerscher Werke für das sinfonische Blasorchester Menschen die Chance, in die Welt Bruckners durch
beigegeben – werden: »Bei schwachen Persönlichkeiten Bearbeitungen seiner Werke als durch die Originale
wurden solche Bearbeitungen zu schwachen Bildern ei- einzudringen und diese schätzen zu lernen.

Ausgaben (Blasorchester-Bearbeitungen)
(Auswahl; Erscheinungsjahre werden angegeben, soweit USA 1951, Presser; bearb. D. Whitwell, Northridge,
sich diese in den Ausgaben finden. Weitere Belege in Kalifornien, Winds.
Rehrig 1991–1996; Suppan 2009): Ouvertüre in g-Moll, bearb. Max Villinger, Mainz 1937,
Schott; bearb. Otto Zurmühle, Rothenburg 1970,
Antiphon, bearb. Philip Gordon, New York, Fischer. Rhythmus; bearb. M. Koekelkoren, Sittard, Nieder-
Antiphon [recte: Litanei] »Tota pulchra es«, bearb. J.F. lande 1989, Leymborgh.
Baumgartner, Zürich-Adliswil 1964, Ruh. Phrygischer Choral (= Pange lingua und Tantum ergo),
Ave Maria, bearb. Willy Müller-Medek, München, bearb. J.F. Baumgartner, Zürich-Adliswil 1966, Ruh.
Grosch (Das Bläserschiff 478); bearb. Barbara Buehl- Sacred Music, bearb. Henk van Lijnschooten, Wormer-
man, Chicago, Ludwig; bearb. Franz Cibulka, Selbst- veer 1982, Molenaar.
verlag Art of Cibulka. Symphonie Nr. 4, 1. Satz, bearb. P. Schmalz, Oshkosh,
Antiphon [recte: Graduale] »Christus factus est«, bearb. Wisconsin, USA, Phoebus; Jagd-Scherzo (Hunt
Philip Gordon, Bryn Mawr, USA 1976, Presser. Scherzo), bearb. Lee Dytrt, hrsg. von Leopold Nowak,
Drei Orchesterstücke und Marsch, bearb. Franz Burkhart, New York u. a. 1979, Peters; bearb. Fülling, Wormer-
Wien, Doblinger; bearb. Armin Suppan, Bad Aussee veer, Molenaar.
1991, Adler. Symphonie Nr. 7, Adagio, bearb. Ph. Gordon, Toronto
Ecce sacerdos/Hymn of Praise, bearb. Philip Gordon, New 1976, Kerby; Trio, bearb. von Martin Schröder, Han-
York 1969, Carl Fischer. nover, Oertel.
Erinnerung, bearb. Max Villinger, Mainz 1939, Schott. Symphonie Nr. 9, Scherzo und Trio, bearb. Bruce McIn-
Festliche Musik über Themen von A. Bruckner, bearb. tyre, Opa-Locka, USA 1977, Kalmus.
Tanzer, Innsbruck 1979, Helbling. Three Little Pieces, bearb. Jeffrey Bishop, Oxford u. a.,
Gloria aus der Messe Nr. 2, für gemischten Chor und Oxford University Press.
Blasorchester, bearb. Elmer Schoettle, New York Two Bruckner Miniatures, bearb. Ph. Gordon, New York
1958, Marks. 1970, Alfred Music.
Marsch in Es-Dur, bearb. Erik Leidzén, Bryn Mawr,
Die Musik für Bläser 337

Literatur
Auer, Max: Anton Bruckner. Sein Leben und Werk. –: Anton Bruckner’s Music for Chorus and Winds. In:
Wien 1923 (mit weiteren Auflagen bis 1947). Alta musica 22 (2000), 239–262 (= Kinder 2000/a).
Brixel, Eugen: Die Tradition der liturgischen Bläsermu- –: The Wind and Wind-Chorus Music of Anton Bruck-
sik im Umfeld Anton Bruckners. In: Alta musica 22 ner. Westport, Connecticut/London 2000 (= Kinder
(2000), 99–123. 2000/b).
Busoni, Ferruccio: Von der Einheit der Musik. Verstreute Maierhofer, Josef: Die Basstuba und ihre Vorläufer im
Aufzeichnungen (= Max Hesses Handbücher 76). Sinfonie- und Opernorchester seit Mozart. Diss.
Berlin 1922. Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz
Dondeyne, Dèsiré/Robert, Frédéric: Nouveau Traité 2008.
d´Orchestration à l’usage des harmonies, fanfares et Orel, Alfred: Anton Bruckner. Das Werk – Der Künstler
musique militaire [...] de Parès. Paris/Brüssel 1969. – Die Zeit. Wien/Leipzig 1925.
Floros, Constantin: Brahms und Bruckner. Studien zur Probst, Werner: Der »Apollomarsch« – wirklich von
musikalischen Exegetik. Wiesbaden 1980. Bruckner? In: Österreichische Blasmusik 32 (Juni
–: Verschwiegene Programmusik. In: Anzeiger der phil.- 1984), H. 5, 6.
hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Rehrig, William H.: The Heritage Encyclopedia of Band
Wissenschaften 119 (= Mitteilungen der Kommission Music. 3 Bde. Westerville, Ohio 1991–1996.
für Musikforschung 34). Wien 1982, 204–225. Suppan, Armin (Hrsg.): Felix Mendelssohn Bartholdy,
Fuchs, Ingrid: Klingt Bruckner »wagnerisch«? Eine Festgesang an die Künstler, für Soli, Chor und Blas-
Studie zum orchestralen Klangbild Bruckners und orchester (= Aulós 233). Wolfenbüttel 1987.
Wagners. In: Othmar Wessely (Hrsg.): Bruckner, Suppan, Wolfgang: Anton Bruckner und das Blasorche-
Wagner und die Neudeutschen in Österreich (= ster. In: Alta musica 8 (1985), 189–219; desgl. in:
Bruckner-Symposion 1984). Linz 1986, 111–122. Christoph-Hellmut Mahling (Hrsg.): Anton Bruck-
Hawkshaw, Paul: Anton Bruckner and the »Apollo- ner. Studien zu Werk und Wirkung. Walter Wiora
March« for Band. In: CBDNA- [College Band Di- zum 30. Dezember 1986. Tutzing 1988, 189–217.
rectors National Association-] Journal No. 6 –: Art. »Bläsermusik«. In: Bruckner-Handbuch 1996,
(1988/89), 8–10. 97 f.
–: From Zigeunerwald to Valhalla in Common Time. –: Art. »Marsch für Militärmusik in Es-Dur (WAB
The Genesis of Anton Bruckner’s Germanenzug. In: 116)«. In: Bruckner-Handbuch 1996, 272 f.
Bruckner-Jahrbuch 1987/88, 21–30. –/Suppan, Armin: Das Neue Lexikon des Blasmusikwe-
Kinder, Keith William: Franz Liszt’s Music for Chorus sens. Kraichtal 52010.
and Winds – The Important Works. in: Alta musica
18 (1996), 293–310.
DIE BRUCKNER-REZEPTION
von Erich Wolfgang Partsch
340

Bruckner-Bilder geschadet als genützt, indem sie an die Nachwelt


stark verkürzte, griffige Stereotypen geliefert ha-
Das mentale »Bruckner-Bild« als konturierte Ge- ben, die in unterschiedlichen Zeiten beliebig für
samtheit von Sachwissen, Bilderwelt, musikali- externe Zwecke instrumentalisiert werden konn-
schen Erfahrungen sowie indirekt vermittelten ten. Wie bei derartigen sozialpsychologischen und
Vorstellungen und Vermutungen wurde (und wird soziologischen Mechanismen immer, erweisen
größtenteils noch immer) von zwei zentralen To- sich die kursierenden Einschätzungen weit eher als
poi beherrscht: Auf der einen Seite steht der spannende Dokumente der Rezeptionsgeschichte
»Musikant Gottes«, auf der anderen der bäuerliche und kaum als reale Deutungsmodelle der Künst-
Sonderling, der »typisch« (ober)österreichische lerpersönlichkeit. Dennoch wäre es falsch, dahin-
Künstler, der – in einen übergeordneten ideologi- ter lediglich Manipulationen von Mit- und Nach-
schen Zusammenhang gezwängt – unschwer auch welt anzunehmen, denn die Ausbildung der Ste-
in faschistischen Systemen zum Nationalkünstler reotypen vollzog sich im Wesentlichen in drei
hochstilisiert werden konnte. Phasen: biographische Prämissen – Selbststeue-
Die Topoi sind hierbei keineswegs als isoliert zu rung bzw. Inszenierung durch Bruckner – ideolo-
betrachten, sondern haben zu diversen Kreuzun- gische Vereinnahmung.
gen und Varianten geführt. Grundsätzlich belegt
ein genaueres Studium der Sekundärliteratur, dass
Wie Bruckner zum »Musikanten Gottes«
die beiden biographischen Faktoren »ländliche
wurde
Herkunft« und »katholischer Glaube« Eckpfeiler
sind, auf denen das herrschende Bruckner-Bild Die Vorstellung einer Verbindung des Künstlers
basiert (Partsch 1994, 21–25, bzw. 1998, 93–100). mit dem Numinosen lässt sich bis in die Antike
Die in relativ großer Anzahl begegnenden Erschei- zurückverfolgen; in der Renaissance wurde die
nungsformen bzw. Begriffsfelder sind bloß Ablei- Idee von einem »Schöpfergott« auf den kreativ
tungen davon. So konnte beispielsweise der Schaffenden übertragen bzw. dieser weiterhin als
»Musikant Gottes« in abgeschwächt allgemeinerer ein »göttliches Werkzeug« betrachtet. Noch viel
Form zum »mystischen Bauersmann« – und damit später heißt es:
zur Galionsfigur deutschnationaler Musikauffas-
»Allmählich war er nun ganz und gar der Überzeugung,
sung – werden bzw. der »berühmte oberösterrei- daß er von Gott deshalb auf die Welt gesetzt sei, um ein
chische Landsmann« später verallgemeinernd zum recht vorzüglicher Künstler in der Musik zu werden; und
»deutschen Tonheros«. Semantische Felder wie zuweilen dachte er wohl daran, daß der Himmel ihn aus
»Natürlichkeit«, »Naivität« (im Gegensatz zu der trüben und engen Dürftigkeit, worin er seine Jugend
hinbringen musste, zu desto höherem Glanze hervorzie-
Überzivilisation) oder wilde »Urwüchsigkeit« sind hen werde.« (Wackenroder 1797/1984, 236)
der ländlichen, »heimatlichen« Sphäre zuzurech-
nen; Numinoses, Heiligmäßiges (im katholischen Dies ist nun kein Zitat aus der sentimental gefärb-
Sinne) bzw. alles Transzendente der anderen. ten Bruckner-Belletristik, sondern ein Ausschnitt
Mit den genannten Faktoren trat eine neue aus Wilhelm Heinrich Wackenroders fiktiver
Kopplungsvariante in die alte Tradition des Künst- Biographie des Tonkünstlers Joseph Berglinger,
lerbildes, und es stellt bei Bruckner geradezu ein die die kunstreligiöse Vermischung ästhetischer
Paradox dar, dass der (in Österreich) an sich völlig und religiöser Bereiche in der Frühromantik illus-
selbstverständliche Konnex ländliche Herkunft – triert und damit manche spätere Bruckner-Dar-
katholischer Glaube jene Normabweichung bot, stellung in erstaunlicher Weise vorwegnimmt.
die Bruckners spezifischen, ja einmaligen Künst- Im Leben des Tonkünstlers Bruckner lag der
lertypus auszeichnete. Und es ist durchaus nicht Fall jedoch anders, denn dort bedurfte es keiner
übertrieben zu behaupten, hierin eine Nische im Distanzierung des Erzählers: Eine reale (katholi-
Rahmen offizieller Künstlerrepräsentationen des sche) Gläubigkeit und ein damit verbundenes
19. Jahrhunderts zu sehen. natürliches Verhaltensrepertoire sowie spezifische
Ohne Frage haben beide Rezeptionsmuster Äußerungen darüber waren einfach zu handha-
samt ihren Varianten dem Protagonisten mehr bende biographische Fakten, die sich für jeder-
Die Bruckner-Rezeption 341

mann als nachvollziehbar erwiesen. Eine Verbin- sichtlichen Selbstinszenierung. Bruckner verstand
dung zum Göttlichen musste also gar nicht müh- sich also – bewusst oder unbewusst – durchaus in
sam konstruiert werden, und das viel später der Tradition einer Auffassung des Künstlers als
entstandene Theaterstück Der Musikant Gottes göttliches Werkzeug und vertrat seinen katholi-
von Victor Léon und Ernst Decsey (1924) lieferte schen Glauben mit Überzeugung, auch und gerade
lediglich mit dem Titel eine bequeme Formel, die in der liberalen Residenzstadt Wien, was gesell-
sich langsam zum geflügelten Wort weiterentwi- schaftspolitisch zu Reibungspunkten führen
ckeln konnte. musste.
Hier nur eine kleine Auflistung zum Begriffs- Mit dem Bilde des »Musikanten Gottes« wurde
feld »Religion/Glaube« aus der Biographie des zugleich dem irrationalen Schöpfungsvorgang ein
Komponisten: – nicht minder irrationaler – Erklärungsversuch
zugeordnet. Dies war für die Mitwelt umso mehr
– Widmung der Neunten Sinfonie »dem lieben bedeutsam, weil Bruckner in seiner Privatsphäre ja
Gott« (nur mündlich überliefert); durchaus zugänglich und direkt »erfahrbar« war:
– Verwendung der Devise des Jesuitenordens Er umgab sich bekanntlich gerne mit größtenteils
»O.a.m.D.g.« (= »Omnia ad maiorem Dei jungen Menschen – mit seinen Schülern und
gloriam«) als persönlicher Zusatz in Partitu- Studenten –, für die er als ein gewöhnlicher All-
ren; tagsmensch mit zuweilen rauer Freundlichkeit er-
– penible Gebetsaufzeichnungen in den Taschen- schien. Und auch dies gehört zu den Rätseln und
notizkalendern; Unstimmigkeiten, die in der Rezeptionsgeschichte
– Unterbrechung des Theorie-Unterrichts wäh- immer wieder thematisiert wurden: Wie konnte
rend des Angelus-Läutens; denn ein »derartiger« Mensch solche Messen und
– lebenslang enge biographische Bezüge zu Kir- – vor allem – diese monumentalen Sinfonien
che und Klerikern. komponieren?
Die Blickpunkte, die die altvertraute Vorstel-
Hinzu kommen noch überlieferte markante Aus- lung einer Harmonie zwischen Persönlichkeit und
sprüche, von denen nur ein einziger als typisches Werk irritierend aufbrachen oder zumindest in
Beispiel zitiert werden soll: Frage stellten, führten manchmal zu ganz eigen-
tümlichen Bildkonstruktionen, ja richtiggehenden
»Die wollen, daß ich anders schreibe. Ich könnt’s ja auch,
aber ich darf nicht. Unter Tausenden hat mich Gott be- Spaltungen der imaginierten Persönlichkeit: das
gnadigt und dies Talent mir, gerade mir gegeben. Ihm naive Kind, der biedere Dorfschullehrer einerseits,
muß ich einmal Rechenschaft ablegen. Wie stünde ich der schöpferische Titan andererseits. Schärfer
dann vor unserem Herrgott da, wenn ich den anderen
folgte und nicht ihm!« (Göll.-A. 4/3, 115) wurde es einmal von Hans von Bülow auf den
Punkt gebracht: »halb Genie – halb Trottel« (vgl.
Der Komponist – und damit ist die zweite Phase das Kapitel Bruckner als Sinfoniker im vorliegen-
der Bildentwicklung erreicht – verstärkte somit den Band), eine Formel, die später fälschlich
den Eindruck seines »Gottesmusikantentums« Gustav Mahler in den Mund gelegt wurde.
durch eigene Aussagen. Oder anders formuliert: Sicher gehört die unmittelbare Erlebbarkeit
Er steuerte gewünschte Bildkonstituenten durch Bruckners, etwa im Schüler- und Studentenkreis,
angesprochene Themen wie »Armut«, »Leid«, zu den Hauptgründen für seine unglaubliche Tri-
»Verfolgung« sowie durch eine gewisse »Theatra- vialisierung und Verkitschung, die jedoch zugleich
lik« aktiv mit (Kantner 1980, 256–264, bes. 258; das künstlerische Schaffen in noch fernere, uner-
Partsch 1991/1996, 239–243). So soll er laut einer klärliche Höhen rückten. Hinzu kam noch seine
Schüler-Erinnerung einmal geäußert haben: prinzipielle Offenheit gegenüber Weltanschauun-
»Wenn i’ amol nimmer bin, dann derzählt’s der gen und Meinungen, die eine Vereinnahmung
Welt, wos i’ g’litt’n hob’ und wia i’ v’rfolgt word’n durch Freundes- und Verehrerkreise von Anfang
bin!« (Hruby 1901, 26). Die Herkunft der Formu- an begünstigte.
lierungen aus dem christologischen Begriffsvoka- So konnte in einer dritten und letzten Phase
bular ist evident, ebenso die Absicht einer offen- des Rezeptionsprozesses schließlich die ideologi-
342 Erich Wolfgang Partsch

Abbildung 11: Otto Böhler: Bruckner mit seinen Kritikern Eduard Hanslick, Max Kalbeck und Richard
Heuberger (IKO 79), um 1895. Die »Tintenbuben« sind aus dem »Struwwelpeter« entlehnt (Wien, ÖAW,
Arbeitsstelle Anton Bruckner, Archiv).

sche Instrumentalisierung einsetzen: Gezielt wurde besaß, ja die seine Kunst auf Erden überhaupt erst
Bruckner von oberösterreichisch-katholischer ermöglichte.
Seite her als Vorbild (und damit stillschweigend Doch dieses gefährlich kompakte Vorstellungs-
als Gegenfigur zum Protestanten Johann Sebastian bild, in zahlreichen Graphiken auch einprägsam
Bach) hochstilisiert. Nicht zufällig reüssierte das visualisiert (z. B. in Otto Böhlers originellen
oben erwähnte Theaterstück Der Musikant Gottes, Scherenschnitten; siehe Abbildung 11), reichte
in dem durch eine gezielte Inszenierung der Per- nicht für die gewöhnliche Kommunikation über
sönlichkeit eine volkstümlich orientierte Verbrei- den Künstler aus – Bruckner wurde von seinen
tung Bruckners angestrebt wurde, in den christ- Anhängern als Leitfigur auch in ästhetischen und
lich-sozial geprägten 1920er Jahren (Partsch 1988). ethischen Bereichen reklamiert. Schon recht früh
Im Entstehungsjahr 1924 wurde in der katholi- setzten Vergleiche mit rituellen Handlungen ein,
schen Fachzeitschrift Musica Divina ein Gedicht bis von manchen Rezipienten überhaupt das ge-
mit dem bezeichnenden Titel Die Gottes-Sinfonie samte musikalische Werk gleichsam »heiligge-
veröffentlicht, in dem es u. a. heißt: sprochen« wurde. Das Faktum, dass der »Musi-
»Was scherte ihn der Welt Getümmel kant Gottes« nach eigener Aussage seinen Lebens-
Mocht’ Gottes Wille nur geschehn: beruf jedoch eindeutig als Sinfoniker sah, führte
Den Bruckner würden bald im Himmel zu abstrusen Deutungen: etwa der, die Sinfonien
Die droben besser wohl verstehn!« (Moißl 1924, 94)
als »Sprossen einer Himmelsleiter« zu deuten
Der im Diesseits abgelehnte, verkannte Künstler (Göll.-A. 4/1, 565). Noch vor rund zwanzig Jahren
findet also Trost im Jenseits – in jener Sphäre, zu wurde im Osservatore Romano, der amtlichen
der er immer schon eine besondere Verbindung Zeitung des Apostolischen Stuhls, das Bild eines
Die Bruckner-Rezeption 343

»heiligmäßigen Künstlers« offiziell bekräftigt (29. Verbreitung von Bruckners Musik – im Grunde
Mai 1987). bis heute – geschadet haben. Und manches nega-
Die Okkupation Bruckners für die Unterstrei- tive Urteil galt und gilt demnach keineswegs
chung und Legitimation eigener weltanschaulicher sachlich dem Sinfoniker und Kirchenmusiker,
Ziele ist evident. Aber selbst diesbezüglich unver- sondern dem Erzkatholiken, mystischen Bauers-
dächtige Forscher wie Georg Knepler saßen offen- mann oder dem von den Nationalsozialisten in-
bar der Wirkung des Stereotyps auf, wenn Knepler stallierten Konstrukt.
das Finale der Fünften Sinfonie mit einer Gottessu-
che des Zweiflers verband (Knepler 1961, 698).
Vom »oberösterreichischen Bauern«
Folgenschwer war jedenfalls die Übertragung
zum »deutschen Tonheros«
derartiger unreflektierter Muster auf das musikali-
sche Werk: Denn »Cherubstimmen«, »Ewigkeit«, Zunächst soll nochmals betont werden, dass der
heilige Wandlung oder Mystik in die Partituren Komponist zwar aus einer kleinen oberösterreichi-
des »Musikanten Gottes« hineinzugeheimnissen, schen Landgemeinde stammte, aber keineswegs
bedeutete nicht weniger als die selbstredend sub- aus bäuerlichem Milieu. Dennoch taugte das Bild
jektive Note im Erkenntnisprozess noch drastisch des schöpferischen, naiven Bauern viel besser zur
zu verstärken und eigene Intentionen zu favorisie- Akzentuierung (ober)österreichischen Volksgeistes
ren (Partsch 1991/1996, 250–255). sowie für patriotische Kundgebungen. Schon zu
Auch der Rekurs auf ethische Werte – auf Lebzeiten war man verständlicherweise auf den
Bruckner als Erzieher und Vorbild – gehört in berühmten »Landsmann« stolz und verfolgte seine
diesen Zusammenhang. So wurde in der Zwi- Aktivitäten mit Neugierde. Bruckner wiederum
schenkriegszeit von verschiedenen Seiten her ver- stand sein ganzes Leben lang zu seiner ländlichen
sucht, Bruckners Musik polemisch gegen die Herkunft und behielt deshalb auch viele alte Ver-
zeitgenössische zu setzen, ja sie als Idealbild in ei- haltensweisen bei. In diesem Sinne trat er in Wien
ner Zeit der moralischen und künstlerischen Ver- – schon rein äußerlich – als durchaus markante,
irrungen zu etablieren. Georg Gräners Aufsatz bemerkenswerte und unangepasste Persönlichkeit
Bruckner und der Geist des ›Jonny‹ (auf Ernst Kre- auf.
neks Oper gemünzt) von 1927 dokumentiert dies Das Wissen um die ländliche Herkunft ging
in manifester Weise; so heißt es appellativ am nun wieder mit einer unerhörten Trivialisierung
Schluss: »Das Ganze des Lebens und der Kunst seiner Persönlichkeit einher: Naivität, Bauern-
spitzt sich heut, wenn ihr’s recht bedenkt, auf die schläue, Unterwürfigkeit, Tolpatschigkeit u. a.
ganz undoktrinäre, vielumfassende, vielbedeu- wurden zu relevanten Begriffsfeldern (Wagner
tende Formel zu: hie Bruckner – hie Jonny! Die 1978, 28 f.). Diese eigentümliche Extrapolation
Wahl steht einem jeden hinlänglich frei, zu seinem von wenigen Fakten auf eine (angeblich) differen-
Glück und Unglück« (Gräner 1927, 1217). Schon zierte Persönlichkeitsstruktur schuf auf diese Weise
hier tauchen also Strategien ästhetischer Abwer- eine plastisch erlebbare Figur, die schon lange vor
tung auf, die im Ständestaat und in der national- ihrer tatsächlichen Bühnenexistenz theatralische
sozialistischen Ära auf diese Art Bruckners Bedeu- Qualitäten aufwies.
tung festigten und sogar noch überhöhten. Selbst Eng verbunden mit diesem Topos ist der über-
bedeutende Forscher aus der Frühzeit wie August lieferte Dialekt. Handelt es sich in den gängigen
Halm oder Ernst Kurth verbanden ihre ernsthaf- Aufzeichnungen – etwa in der Monographie von
ten analytischen Ansätze mit ethisch normativen Göllerich und Auer – sicher um eine »Transkrip-
Ansprüchen. tion« im Sinne eines Kunstdialekts, ist dennoch in
Diese Vereinnahmungsprozeduren brachten der Realität von einem oberösterreichisch »gefärb-
aber eine noch weitere, folgenschwere Konsequenz ten« Hochdeutsch auszugehen. Aber natürlich
mit sich: Die eindimensionale Festlegung, die ein stellten Bruckners Beharrlichkeit in diesen alten
allfälliges Werkverständnis auf die Akzeptanz Traditionen, auch seine stete Verbundenheit mit
konstruierter weltanschaulicher Inhalte reduzierte, Oberösterreich – nicht zuletzt durch seine regel-
führte zu Ressentiments und Ablehnung, die der mäßigen Sommerurlaube in Steyr, Besuche in St.
344 Erich Wolfgang Partsch

Florian u. a. – willkommene Angelpunkte für lo- fand (1937): Der Künstler »aus österreichischem
kalpatriotische Vereinnahmungen dar. Bauernblut« zählte ab diesem Zeitpunkt durch
Von diesen Zielsetzungen bestimmter Grup- seine Präsenz im »Tempel des gesamten Deutsch-
pierungen war es dann nur mehr ein kleiner tums« zu den musikalischen Heroen (Auer 1937,
Schritt zum »Österreichertum«, das vor allem in 1).
der ständestaatlichen Kulturpolitik hervortrat. Wiederum waren es also zunächst nachvoll-
Programmatische Erläuterungen zu groß angeleg- ziehbare biographische Prämissen (Herkunft,
ten Festen dokumentieren, dass es hierbei gar Nähe zu deutschnationalen Studentenkreisen –
nicht besonders um den Komponisten und dessen den »Gaudeamussern« –, Wagner-Begeisterung),
Werk ging, sondern um ein nationales Bekenntnis aber ebenso einzelne musikalische Merkmale
und darüber hinaus schlicht um eine geschickt (Monumentalcharakter, hymnischer Ton, Steige-
arrangierte Österreich-Werbung. So sollte gewis- rungsdynamik), die die Machthaber für ihre eige-
sermaßen das Heimatland mit seinen Schönheiten nen Interessen zu nutzen wussten – Joseph Goeb-
den Schlüssel zum Werkverständnis liefern bels’ Einschätzung der Werke Bruckners als
(Partsch 2010). Einige Autoren bemühten sich al- »grandiose« Parteitagsmusik spricht dafür (Brüstle
len Ernstes im Weiteren darum, in Bruckners 1998, 224).
Sinfonien konkret landschaftliche Merkmale hin- Dieser extreme Missbrauch im Rahmen der
einzuprojizieren. (Dieser Ansatz sollte im Übrigen faschistischen Kulturpolitik zeitigte insofern weit-
auch nach 1945 bei der neuerlichen österreichi- reichende Folgen, als die damit erreichte ideologi-
schen Identitätsfindung eine nicht unwesentliche sche Stigmatisierung von Bruckners Musik noch
Rolle spielen.) Stellvertretend sei hier Ernst Decsey vor nicht allzu langer Zeit Debatten in der ameri-
zitiert, der bereits zu Beginn der 1920er Jahre kanischen Forscherszene um die Notwendigkeit
schrieb: politischer »Entlastung« ausgelöst hat (vgl. dazu
etwa Gilliam 1994).
»Bruckner war ein Sohn, nicht nur ein Enkel der Erde. Es
gibt eine berühmte Stelle in seinem Werk, die er von
Finken und Meisen gelernt hat: der Seitensatz in der
Romantischen Sinfonie, dessen Oberstimme er als den Die »österreichische Linie« in der Sinfonik:
›Vogel Zizibe‹, d.i. die oberösterreichische Waldmeise [!] eine Identitätskonstruktion
zu bezeichnen pflegte. […] Hier [in den Scherzo-Sätzen]
erscheint sein geliebter Landsmann, der Oberösterreicher, Die Auseinandersetzung mit einer spezifisch öster-
als Tänzer mit allen grobgenagelten Schleifern und reichischen Musik datiert nicht zufällig aus einer
Stampfern. […] Ja, ein Rest von heidnischer Naturkraft
bricht bei dieser Gelegenheit hervor und poltert und tobt
Zeit politischer Instabilität. In der Spätphase Ös-
sich aus, als wolle er mit dem Erdball Kegel spielen. Aber terreich-Ungarns und vor allem nach dem Ersten
zuletzt ist doch auch der Herrgott dabei. So finden sich Weltkrieg ging es konkret um eine Fundierung des
in diesen Sätzen alle Bestandteile des künstlerischen Österreichischen, das nach dem Zusammenbruch
Ethos.« (Decsey 1921, 129 f.)
der Monarchie überhaupt erst zu konstituieren
Diese Form der ideologischen Konstruktion eines war. Die Suche nach einer spezifisch österreichi-
»ländlichen«, »heimatlichen« Künstlers gipfelte schen Musikkultur diente somit primär einer na-
schließlich im nationalsozialistisch geprägten Bild tionalen Selbstfindung, der grundlegenden Bestä-
des »deutschen Tonheros« mit Rückverweis auf tigung gegenüber aufkommenden Selbstzweifeln
urgermanisches Menschentum. Die Begeisterung in einer politisch und geographisch völlig neu
wurde durch Bruckners streng katholische Einstel- strukturierten Welt.
lung nicht getrübt, konnte diese doch leicht durch Max von Millenkovich-Morold war einer der
heidnischen Kult und germanischen Mythos über- Ersten, der sich der Frage in seiner kleinen Schrift
formt werden. Im Fahrwasser von Richard Wagner Die österreichische Tonkunst (1918) widmete, ein
(weit weniger von Franz Liszt) wurde Bruckner Unternehmen, das prinzipiell höchst problema-
schließlich zum Parade-Künstler typisch deutschen tisch war. Denn weder stand ein klar definierter
Wesens stilisiert, eine Auffassung, die in der Auf- Österreich-Begriff hinter dem Vorhaben, noch
stellung einer Büste in der Walhalla bei Regens- taugten einzelne ausgewählte außermusikalische
burg ihren ikonisch-repräsentativen Niederschlag Parameter zur Fundierung der gesuchten Wesens-
Die Bruckner-Rezeption 345

merkmale. Statt kritischer Historie und Analyse positorischen Traditionen und individuellen
stand deshalb häufig ein unreflektierter Patriotis- Lernprozessen heraus (Partsch 1994).
mus, der auch auf Oberösterreich als Heimatland Der typisch »österreichische« Bruckner, in
des Komponisten bezogen auftrat: »Sein [Bruck- dessen Scherzi sich (ober)österreichischer Kultur-
ners] Schaffen ist monumentales, musikalisch wi- geist, Tanzboden oder Landschaft manifestieren,
dergespiegeltes obderennsisches Land. Dies zu bleibt nach wie vor eine extern motivierte Kon-
fühlen, zu beweisen, braucht man nicht Musiker, struktion und kann heute bestenfalls Gültigkeit
muß man Oberösterreicher sein« (Gräflinger 1921, als historisch gewordenes Rezeptionsdokument
391 f.). und Wunschdenken (ober)österreichischer Kul-
Paul Bekker war der Erste, der in seiner These tur- und Tourismusplaner beanspruchen.
über den Zerfall der Sinfoniegeschichte in natio-
nale Gruppen explizit von einer Sondertradition
sprach. Unter der Prämisse, dass die sinfonischen
Werke der Komponisten nach Beethoven ihrer Musikalische Bruckner-Rezeption
eigenen Nation gelten, unterschied er drei Grup-
pen: eine mitteldeutsche (Mendelssohn Bartholdy, Die schöpferische Rezeption Bruckners ist bisher
Schumann, Brahms), eine neudeutsche (Berlioz, noch wenig erforscht; der folgende Abschnitt be-
Liszt, Wagner) und eben eine österreichische schränkt sich daher auf einen ersten Überblick. –
(Schubert, Bruckner, Mahler), die als letzte zur Obwohl Bruckner mehrere hundert Schüler in
Wirksamkeit gekommen sei (Bekker 1918, 37 f.). unterschiedlichen musikalischen Fächern hatte,
Ein Jahr später bezeichnete Hans Ferdinand Red- wirkte er im engeren Sinne nicht schulbildend.
lich, allerdings auf wenige Faktoren eingeschränkt, Dies hängt einerseits damit zusammen, dass nur
die Linie Schubert – Bruckner – Mahler als die höchst wenige Studenten von ihm längerfristig
»großartigste und überzeugendste Manifestation Kompositionsunterricht erhielten bzw. auch später
totalösterreichischen Geistes«, allerdings wieder die Komponistenlaufbahn ergriffen, zum anderen
ohne nähere Argumente vorzulegen (Redlich 1919, mit Bruckners erratischer Künstlerpersönlichkeit,
33). deren Konzept nicht mit jenen der Repräsentanten
Der Versuch Bekkers, die komplexe Geschichte der Moderne um 1900 stimmig war. Auch forder-
der Sinfonie nach Beethoven unter nationalen ten in der musikalischen Tiefenschicht verborgene
Gesichtspunkten zu ordnen, ist bloß die eine Seite Innovationen Nachschaffende kaum zur Auseinan-
der Medaille. Die andere betrifft Mahlers umstrit- dersetzung heraus (Hansen 1987, 322 ff.). Dennoch
tene ästhetische Position, die es in einen organi- gab es einige Studenten – unter ihnen der jung
schen Traditionszusammenhang einzugliedern verstorbene Hans Rott, Max von Oberleithner,
galt. Bekkers Rechnung ging nicht auf, sein Eugen Megyesi-Schwartz oder Mathilde Kralik von
Grundgedanke wurde aber trotz gewichtiger Ge- Meyrswalden –, die kompositorische Elemente
gendarstellungen von einigen Autoren weiter tra- später in ihrem eigenen Schaffen reflektiert haben.
diert, teils auch unter Aufnahme neuer Kompo- Eine Reihe von Musikern verfasste schon früh
nisten (Joseph Haydn, Franz Schmidt). Die Argu- Hommage-Kompositionen für Bruckner. So
mentationen beriefen sich teils auf biographische schrieb bereits 1886 Wilhelm Floderer anlässlich
Parallelen, teils auf (angebliche) musikalische eines Festkommerses den Chor An Meister Bruck-
Übereinstimmungen bzw. gemeinsame »Töne« ner, der an den beliebten Männerchor-Komponis-
(Grasberger 1967/68, 112–116). Ohne Zweifel las- ten gerichtet war. Manche Werke tragen eindeuti-
sen sich bestimmte musikalische Kongruenzen gen Gedenkcharakter wie etwa die Trauermusik
festhalten, und es wäre durchaus ergiebig, einzelne Dem Andenken Anton Bruckners des ehemaligen
Phänomene komparatistisch in einem umfassen- Lehrers Otto Kitzler oder die Doppelfuge für
deren Kontext zu untersuchen. Nur wären dann Orgel und Blasinstrumente Meister A. Bruckner in
wohl derlei Kongruenzen nicht simpel aus rein treuem Gedenken von Friedrich Klose, die auf ei-
nationalen Gegebenheiten zu erklären, sondern nem originalen Improvisationsthema für Orgel
wohl vielmehr aus territorial mitgeprägten kom- basiert.
346 Erich Wolfgang Partsch

Auch noch im 20. Jahrhundert wurden einzelne ner inspirieren: in seinen groß angelegten Orgel-
Gedenkmusiken geschrieben, die – zumeist in Improvisationen, in denen er dem Stil und Geist
Jubiläumsjahren – bewusst auf eine lebendige des Vorbildes nachspürte, aber auch in instrumen-
(Bruckner)-Tradition und geistige Verbundenheit talen Werken, wo markante Scherzotypik, regis-
hinweisen: die Missa Anton Bruckner von Her- terartige Instrumentationstechnik oder rhythmi-
mann Kronsteiner, der Bruckner Dialog op. 39 von sche Formeln Brucknersche Einflüsse verraten.
Gottfried von Einem oder der Bruckner Essay von Eine eher beklemmende Kuriosität stellt das Fest-
Martin Christoph Redel. Die Werke dieser Kate- präludium für Orgel in memoriam Anton Bruckner
gorie bewegen sich in einem Rahmen, der von dar, das der Südtiroler Vincenz Goller über Motive
subjektiv getönten musikalischen Bekenntnissen aus der Fünften Sinfonie zur nationalsozialistischen
bis hin zum Aufgriff kompositorischer Strukturen Bruckner-Ehrung im Juni 1937 als »Festgabe an-
oder konkreter Werkteile reicht. So zeigt sich bei- läßlich des Einzuges Anton Bruckners in die
spielsweise Einems Werk auf das Finalfragment Walhalla« beisteuerte (Abbildung des Beginns bei
der Neunten Sinfonie bezogen. In der Komposition Brüstle 1998, 119). Die organistische Bruckner-
Turnus für einen Dirigenten, einen Inspizienten, Rezeption hat freilich auch Resultate ganz jenseits
Sinfonieorchester und Tonband verwendete Klaus ideologischer Belastungen gezeitigt. Erst kürzlich
Huber ausgewählte Bruckner-Zitate original und (2009) erweiterte Enjott (Norbert Jürgen) Schnei-
verfremdet. der das Orgelrepertoire durch seine Orgel-Sinfonie
Spuren schöpferischer Auseinandersetzung Nr. 8 In memoriam. Variationen zu Anton Bruck-
unterschiedlichster Art finden sich in sinfonischen ners 8. Sinfonie.
Werken von Gustav Mahler, Franz Schmidt, Jean Bis jetzt ist eine einzige Oper dem oberösterrei-
Sibelius, Dimitri Schostakowitsch und Johann chischen Komponisten gewidmet: Geschnitzte
Nepomuk David bis hin zu Wilhelm Furtwängler. Heiligkeit – Bruckner und die Frauen von Peter
Mahler, der bekanntlich kein Schüler Bruckners Androsch nach einem Libretto von Harald Kislin-
war, zeigte zwar absolutes Unverständnis für des- ger. Für das Bruckner-Jubiläumsjahr 1996 kompo-
sen Formkonzeption, bezog sich jedoch weiterent- niert, stellt dieses Werk insofern einen Spezialfall
wickelnd auf manche Ausdruckscharaktere (Cho- dar, als der Komponist selbst im Mittelpunkt der
ral, Ländler). In Sibelius’ Tondichtung Kullervo provokanten Handlung steht. Dementsprechend
und ebenso in einigen Sinfonien sind beispiels- hat auch die Uraufführung in Linz einen kleinen
weise während seines Wien-Aufenthaltes empfan- Skandal ausgelöst.
gene Bruckner-Eindrücke in formaler Gestaltung, Bruckners Musik hat ebenso in ganz anderen
rhythmischer Gestik und Klangdramaturgie re- Stilbereichen Spuren hinterlassen, für die es mitt-
flektiert; Schmidts Erste Sinfonie wiederum weist lerweile eine Reihe von Dokumenten – vor allem
deutliche Rückbezüge hinsichtlich Choral- und aus Oberösterreich – gibt. Bezeichnenderweise ist
Satztechnik auf. Paul Hindemith, der auch als hier der Kirchenmusiker häufig ein Thema. Im
Bruckner-Dirigent in die Konzertöffentlichkeit Umfeld des Jubiläumsjahres 1974 hat die oberös-
trat, hat sich ab den 1940er Jahren mit dessen terreichische Rockband Eela Craig die Missa
musikalischer Architektur und Kontrapunktik Universalis präsentiert. Die mit Jazz- und Rockele-
beschäftigt. Zu diesem Kreis kreativ Nachschaf- menten ausgestattete Vertonung des Ordinariums
fender zählt nach 1950 ebenso Krzysztof Pende- in vier Sprachen wurde teils von Brucknerscher
recki, der – nach eigener Aussage – Bruckner Kirchenmusik inspiriert, was auch durch das Plat-
wichtige Impulse, wohl auch im weltanschauli- tencover (mit dem Bruckner-Kopf als Silhouette)
chen Bereich, verdankt. Sowohl im Ersten Violin- bekräftigt wird. Erst kürzlich stellte Ohad Talmor
konzert als auch in der Zweiten Sinfonie (Weih- seine Mass Transformation, die Auseinandersetzung
nachts-Sinfonie) sind Spuren einer künstlerischen eines Jazzers mit der f-Moll-Messe, vor. Seit der
Auseinandersetzung evident (Penderecki 1997). Mitte der 1980er Jahre trat eine oberösterreichische
Der St. Florianer Stiftsorganist Augustinus Band unter dem Namen »Bruckner’s Unlimited«
Franz Kropfreiter als später Nachfolger ließ sich mit diversen Crossover-Projekten hervor. Die
im Laufe seines Lebens immer wieder von Bruck- Symphonic Rock-Formation »Ekseption« nahm
Die Bruckner-Rezeption 347

in den 1960er und 1970er Jahren den Komponis- Rezeption zu Lebzeiten


ten in ihre Klassik-Bearbeitungen auf. Thomas
Frühe Erfolge in Oberösterreich
Mandel, ein oberösterreichischer Saxophonist und
Komponist, beschäftigte sich in den letzten Jahren Aufgrund seines spezifischen künstlerischen Wer-
intensiv mit der Fünften und Siebten Sinfonie und degangs trat Bruckner zunächst lokal auf Oberös-
konfrontierte sie in Form von »Translationen« mit terreich begrenzt als Musiker und Komponist von
Jazzsound und -strukturen. Sogar die Technoszene Gebrauchsmusik in Erscheinung. Typische Bei-
hat Bruckner aufgrund einzelner Kompositions- spiele sind die während der Dienstzeit als Schulge-
merkmale (additive Anordnung kleiner Motive, hilfe in Windhaag entstandene Messe in C-Dur,
rhythmische Strukturierung) in den letzten Jahren das in St. Florian komponierte Requiem in d-Moll
für sich entdeckt. So hat Pierre Henry, Mitbe- oder Männerchöre aus der Linzer Zeit. Als Orga-
gründer der Musique concrète und anerkannter nist und Chormeister eignete er sich das gängige
Vorläufer der Technomusik, in seinem Werk Repertoire an, um es anlassbezogen selbst in eige-
Comme une Sinfonie, envoi à Jules Verne (2005) nen Werken zu reflektieren. Der handschriftliche
fragmentierte Bruckner-Ausschnitte als kreatives Vermerk »Anton Bruckner m.p.ria Comp[onist]«
Potenzial herangezogen. Ebenfalls aus der Techno- auf dem Titelblatt der Zwei Asperges aus der Kron-
szene kommt Wolfgang Voigt, für dessen vielbe- storfer Zeit (1843–45) dokumentiert ein erstes
achtetes Sampling-Projekt Gas (2008) gewisserma- künstlerisches Selbstbewusstsein.
ßen atomisierte Bruckner- und Wagner-Passagen Als Dom- und Stadtpfarrorganist in Linz
als künstlerisches Referenzmaterial dienen. konnte er seine künstlerische Existenz als Berufs-
Einen Sonderfall stellt das Finale der Neunten musiker festigen. Gesellschaftlich integriert trat er
Sinfonie dar, das immer wieder zu schöpferischen bei kirchlichen und weltlichen Anlässen erfolg-
Auseinandersetzungen angeregt hat. Der große reich an die Öffentlichkeit, was auch auf sein
Umfang des autographen Materials (mehr als 200 kompositorisches Schaffen einwirkte. So erhielt er
Blätter) erlaubt ja philologisch eine relativ weitge- den Auftrag, für die Grundsteinlegung des Mariä
hende Annäherung an Bruckners kompositorische Empfängnis-Domes in Linz (1862) gegen eine
Vorstellungen. Im Umfeld der Alten Gesamtaus- »Remuneration« von 50 Gulden eine Festkantate
gabe kam eine erste Klaviervorführung des Frag- zu schreiben. Wenig später erschien der groß an-
mentes 1934 in München durch die Bearbeiterin gelegte Männerchor Germanenzug, während des 1.
Else Krüger und Kurt Bohnen zustande. 1940 Oberösterreichisch-Salzburgischen Sängerfestes in
stellte Hans Weisbach in Leipzig die Exposition in Linz uraufgeführt, im Verlag Josef Kränzl als erstes
einer Bearbeitung von Fritz Oeser vor. Weitere Werk im Druck.
Vervollständigungsversuche in unterschiedlichen Ohne Übertreibung kann der 20. November
Freiheitsgraden unternahmen Ernst Märzendorfer, 1864 als entscheidendes Datum in der Komponis-
William Carragan, Edward D.R. Neill/Giuseppe tenkarriere bezeichnet werden, denn an diesem Tag
Gastaldi, Hein ‘s Gravesande und Marshall Fine. wurde im Alten Dom die d-Moll-Messe uraufge-
Auf eine philologisch neue Ebene – in erster Linie führt. Der große Erfolg dokumentierte einen ent-
durch das genaue Studium der Originalquellen scheidenden Schritt des Kirchenmusikers zum
erreicht – traten 1983 Nicola Samale und Giuseppe Komponisten und – wie besonders der Rezension
Mazzuca, an deren grundlegende Arbeiten John des Gönners Moritz von Mayfeld zu entnehmen ist
A. Phillips und Benjamin-Gunnar Cohrs an- – einen Schritt in Richtung Sinfonie. Zu Recht war
schlossen. 1992 legten alle vier Autoren eine akri- den Zeitgenossen das orchestrale Gewicht und der
bisch recherchierte Aufführungsfassung vor, die in »neue Stil« dieser Messe aufgefallen; eine wiederum
der Zwischenzeit von den beiden letztgenannten erfolgreiche Wiederholung des Werkes durch eine
weiter revidiert worden ist. Gesellschaft von Musikfreunden im Redoutensaal
– also in weltlichem Rahmen – bestätigte geradezu
diese Wegrichtung des Komponisten. Im Linzer
Abendboten vom 20. Dezember 1864 schrieb Moritz
von Mayfeld für zukünftige Biographen:
348 Erich Wolfgang Partsch

»Der 18. Dezember 1864 kann als der Tag bezeichnet neuen Werkes publiziert. Zugleich wurde sehr
werden, an welchem Bruckner’s Gestirn zum ersten Male positiv vermerkt, dass der »bedeutendste Organist
in vollem Glanze leuchtend am Horizonte emporstieg.
An diesem Tage brachte die Intelligenz der ganzen Stadt Österreichs« angeblich in nächster Zeit eine Lehr-
dem gewaltigen musikalischen Feuergeiste, welcher bei stelle am Konservatorium der Gesellschaft der
ihm, wie bei Beethoven und Schubert, unter einer den Musikfreunde erhalten werde, was zu begrüßen
oberflächlichen Beobachter wenig anziehenden Hülle
sich verbarg, ihre Huldigung dar. Nun folgte (wird hof-
sei.
fentlich der Biograf fortfahren können) Werk auf Werk,
und jedes derselben war ein Fortschritt auf der kühn be-
tretenen Bahn. […] Ist es erlaubt, eine Messe in dem Ankunft in Wien oder: Neue Verhältnisse
Style zu schreiben, wie Bruckner es gethan? Auf diese
Frage lautet die Antwort: nicht nur erlaubt, sondern un- Zur Ankunftszeit Bruckners (1868) erlebte die
erlässlich geboten, wenn überhaupt ein Werk von wirkli- Kaiserstadt eine Gründerzeit mit wirtschaftlichem
cher Bedeutung zu Stande kommen soll.« Aufschwung, der schon 1873 durch den Börsen-
krach ein jähes Ende fand. Der Zugereiste fand
Es ist bezeichnend, dass eine erfolgreiche Auffüh- sich in einem Schmelztiegel vielfältiger kultureller
rung dieser Messe wenige Jahre später in der und politischer Traditionen, in dem sich kontinu-
Wiener Hofburgkapelle zum Auftrag für eine ierlich Nationalitätenkonflikte, innerpolitische
weitere bedeutende Komposition führen sollte – Verschiebungen und Modernisierungsbestrebun-
nämlich zur f-Moll-Messe (deren Uraufführung gen ereignen sollten. Demokratische Massenbewe-
allerdings in der Praxis gewaltige Probleme mit gungen, ein sich zusehends verschärfender
sich brachte). Deutschnationalismus und schließlich sozial enga-
Damit galt Bruckner vor seinem Weggang aus gierte Kräfte prägten immer mehr das Gesell-
Linz als ein anerkannter Organist, Messenkompo- schaftsbild der Stadt. Die stetig wachsende Bevöl-
nist und beliebter Chormeister, der auch für diesen kerung – allein zwischen 1870 und 1880 kamen
populären Bereich passende Gelegenheitswerke rund 260.000 Einwohner hinzu – geriet in die
geschaffen hatte. Durch intensive Studien – sogar kritische Endphase der Habsburgermonarchie,
in einem aufwändigen Fernunterricht bei Simon was die endgültige Zerschlagung der ständisch-
Sechter – hatte er seine musiktheoretischen hierarchischen Sozialgliederung des Ancien Ré-
Kenntnisse verbreitert und dadurch weitere mög- gime bedeutete.
liche Karriereschritte eröffnet. Als wichtiger Mo- Bruckner war nicht als Komponist nach Wien
saikstein erschien die Erste Sinfonie, die gerade gekommen. Er war bekanntlich als Professor an
noch kurz vor der Übersiedlung nach Wien ihre das Konservatorium der Gesellschaft der Musik-
Uraufführung in Linz unter Bruckners Leitung freunde mit neu eingerichteter Orgelklasse und als
hatte. Diese fertig ausgebildete Monumentalsinfo- »exspektirender« (d. h. unbesoldeter) Organist in
nie mit ihren aus der Tradition geschöpften souve- die Hofmusikkapelle berufen worden, die ihm als
rän gehandhabten Techniken überrascht heute Institution statusmäßig viel bedeutete. Dort setzte
noch als Erstlingswerk, erreichte aber verständli- sein Förderer Johann Herbeck in Hinblick auf
cherweise damals keine überregionale Rezeptions- notwendige Reformen große Hoffnungen auf ihn,
wirkung. die sich allerdings nicht erfüllen sollten und allge-
Die Linzer Presse zeigte sich abgesehen von ei- meine Verstimmung, interne Stagnation und
nigen Einschränkungen lobend: Die Sinfonie später sogar ein Aufhören von Bruckner-Auffüh-
enthalte »große, reiche Schönheiten, die jedoch rungen auslösten (Antonicek 1979, 9–18). Im
durch ein zu großes Haschen nach Effekt verdeckt Weiteren feierte Bruckner Triumphe als Orgelim-
werden«. Das Scherzo gefiel offenbar am besten, provisator in Frankreich und England; 1875 gelang
und am Schluss des Berichts folgte eine Aufmun- ihm – nach einigem Widerstand – der Schritt als
terung für weitere sinfonische Kompositionen Theorielehrer in die Wiener Universität.
(Tagespost Linz, 12.5.1868). Die Aufführung fand Diese Konstellation der neuen beruflichen
aber bereits ein erstes Echo in Wien, denn in der Verpflichtungen zeigt den Komponisten Bruckner
Neuen Freien Presse wurde am 19. Mai eine Kurz- in völlig externer Position; auch die von Linz her
meldung über die äußerst günstige Aufnahme des vertraute gesellschaftliche Verankerung war jetzt
Die Bruckner-Rezeption 349

nicht mehr gegeben. Einzelne Erfolge – darunter untermauerte den Ereignischarakter des Konzertes
mehrere Auszeichnungen – konnten aber zum Teil und führte zu einem beachtlichen Erfolg beim
seine Unsicherheit in einem für ihn nicht mehr Publikum. Die Tagespresse zeigte sich ambivalent,
überschaubaren sozialen Netzwerk kompensieren aber keinesfalls grundsätzlich negativ. Schon da-
– noch dazu in der Rolle eines weitgehend unbe- mals fielen jedoch einige Urteile, die im Laufe der
kannten Komponisten, der in große, anerkannte Jahre zu Stereotypen werden sollten: allzu große
Traditionsströme geriet, die von namhaften Dimension, zerfallende Form, bloße Reihung –
Künstlern verteidigt und von einem anonymen, in dafür aber schöne Einzelheiten. Theodor Helm
seinen Erwartungshaltungen gefestigten Publikum erfand für den vermeintlichen Formzerfall die
sowie einer ungewohnt umfangreichen, weltan- berühmte Bezeichnung »Pausensymphonie«
schaulich differenzierten Tagespresse quittiert (Neues Fremden-Blatt, 29.10.1873). Wohl am
wurden. schärfsten kritisierte August Wilhelm Ambros die
»Und so lebe ich seit 1868 in Wien lebhaft be- Novität in der Wiener Abendpost. In seiner um-
dauernd je hieher übersiedelt zu sein, da mir Un- fangreichen Rezension tauchen erstmals entschie-
terstützung, Anerkennung und Existenzmittel den persönliche Vorwürfe – namentlich berech-
mangeln.« Diese Zeilen schrieb Bruckner – wie nendes Wagner-Epigonentum und gelenkte Be-
meistens gegenüber dem tatsächlichem Sachver- geisterung der Wagnerianer – auf, indem der
halt subjektiv übersteigert – schon nach wenigen Komponist »es vorzieht, hinten aufs Bedienten-
Jahren an Wilhelm Tappert nach Berlin (1.10.1876; brett des Wagner’schen Triumphwagens zu sprin-
Briefe 1, 163). Die »Privat Notiz« war eine resignie- gen und sich so hinaufkutschiren zu lassen…«
rende Nebenbemerkung des Komponisten, der in (Wiener Abendpost, 28.10.1873). Vom Trubel der
der Zwischenzeit schlechte Erfahrungen mit neuer Weltausstellung in das »interne« Wiener Konzert-
Kirchen- und Orchestermusik gemacht hatte, leben wieder zurückgekehrt, folgte sogleich die
denn der mühselige Weg zu den letztendlichen nächste brüske Ablehnung: Die Widmung des
Erfolgen der f-Moll-Messe und der Zweiten Sinfonie Werkes an das berühmte Orchester blieb unbeant-
hatte ihm die völlig geänderte Situation drastisch wortet, was höchstwahrscheinlich von Otto
vor Augen geführt. Dessoff, einem Brahms-Freund, ausging.
An den Uraufführungen der Zweiten und der Die Uraufführung der Dritten Sinfonie (in einer
Dritten Sinfonie lässt sich das für ihn ungewohnte veränderten zweiten Fassung) vier Jahre später –
Spannungsfeld gut demonstrieren. Mit der Kom- wiederum unter Bruckners Leitung – geriet dann
position einer Sinfonie in d-Moll (WAB 100) und zu einem kompletten Fiasko im Wiener Konzert-
der Zweiten (WAB 102) wandte sich Bruckner in leben. Schon zuvor hatte es große Probleme gege-
Wien wieder dezidiert dieser Gattung zu. Trotz ben, doch Bruckners Mentor Herbeck konnte die
der Anfertigung einer Abschrift und von Orches- Uraufführung durchsetzen. Auch das riesige Pro-
terstimmen entschloss er sich bekanntlich zur gramm, das u. a. Beethovens Kantate Meeresstille
Annullierung der erstgenannten, beendete aber und glückliche Fahrt sowie ein Violinkonzert von
bald darauf die Zweite (1872). Er reichte sie für Spohr enthielt, bot keine günstige Ausgangssitua-
eine Novitätenprobe bei den Wiener Philharmo- tion für das letztgereihte neue Orchesterwerk.
nikern ein, die sie allerdings wegen der großen Viele Besucher verließen noch vor dem Finale den
Ausdehnung nicht in ihr Programm aufnehmen Musikvereinssaal, am Schluss blieben nur wenige
wollten. Erst das Eingreifen eines Mäzens, Johann treue Hörer übrig. Allerdings hatte der Komponist
(oder Rudolf ) Prinz von und zu Liechtenstein, der an diesem Abend Glück im Unglück, denn es
mindestens 400 Gulden spendete, machte schließ- handelte sich bei diesen Treuen um maßgebliche
lich die Uraufführung doch noch möglich (Sche- Persönlichkeiten wie Josef Schalk, den jungen
der 1997–2000, 253–278). Sie fand am 26. Oktober Gustav Mahler oder den Verleger Theodor Rättig,
1873 im Rahmen der Wiener Weltausstellung mit der das Wagnis einer Drucklegung einging.
den Philharmonikern unter Bruckners Leitung
statt. Der repräsentative Rahmen zusammen mit
einem Orgelauftritt des bekannten Improvisators
350 Erich Wolfgang Partsch

Konstanten der Bruckner-Kritik ponisten stets in dessen Relation zu Beethoven


und Wagner; der Rückblick auf Schubert kam erst
In den Rezensionen und beim Publikum traten später und eher vereinzelt.
mehr und mehr gefestigte Kritikpunkte hervor. Betrachtet man dies alles vor dem Hintergrund
Im Wesentlichen handelte es sich um die folgen- fest eingefahrener klassisch-frühromantischer
den fünf Parameter, die sich in der Rezeption als Hörerwartungen, denen auch zunächst Brahms-
kritische Konstanten erweisen sollten: Sinfonien keineswegs entgegenkamen, ist die Ab-
lehnung des Sinfonikers Bruckner zwar nicht ge-
1. Monumentalcharakter mit »Pathos«; rechtfertigt, aber durchaus erklärbar. Bruckners
2. Formkonzeption; Sonderweg bzw. seine Misserfolge wurden einmal
3. Instrumentation; in einem Brief von Hermann Levi mittels persön-
4. Harmonik; licher und rezeptionshistorischer Umstände (aus
5. Beethoven- und Wagner-Nachfolge (Epigonen- der Sicht eines Wagner-Spezialisten) treffend
tum). kommentiert:
»Am meisten mag wohl die Ungunst der Zeiten daran
Schon die äußere Erfassung der Sinfonien konno- Schuld haben: nach Beethoven ist eben kein Raum mehr
tierte für viele Rezensenten Unüberschaubarkeit, für einen Symphoniker, und den dem Publikum am
Maßlosigkeit, Wagner-Dimension. Detaillierter meisten zusagenden, von den Romantikern Mendelssohn
und Schumann gewiesenen, von dem Epigonen Brahms
wurde zentral der Formbau angegriffen bzw. über- noch breiter ausgetretenen Weg zu wandeln, war der ei-
haupt Formlosigkeit konstatiert. (Eine gerechte genartigen, knorrigen, keinen Spaß verstehenden Natur
Beurteilung von Bruckners Architekturdenken Bruckner’s unmöglich.« (Levi an August Förster, 15.12.1889;
Briefe 2, 62)
dauerte noch Jahrzehnte bis zu August Halms
richtungsweisendem Buch.) Bruckners Kunst war
in dieser Hinsicht eben keine des Übergangs: Im ästhetisch-ideologischen Parteienstreit
Wenn auch manche Einzelheiten positiv hervorge- Mit der misslungenen Uraufführung der Dritten
hoben wurden, verblieb doch der Eindruck des kam aber noch ein entscheidendes Phänomen ins
Zerstückten, Zusammenhanglosen, den auch ein Spiel: Bruckner trat höchst eindrucksvoll in den
Gustav Mahler noch weiter tradierte. Die als un- ästhetisch-ideologischen Parteienstreit innerhalb
angemessen empfundenen Ausdehnungen bei des Wiener Konzertlebens ein, in die Gruppierun-
maximaler Forminkonsistenz führten deshalb gen der »Brahminen« und »Wagnerianer«. Oder
lange Zeit zu einer rigorosen Strichpraxis, die ge- anders ausgedrückt: Der neue Sinfoniker forderte
rade auch Freunde als »Verbesserung« durchführ- die Sachwalter der klassizistisch-absoluten und der
ten. neudeutschen Musik heraus, wobei es – wie bei
Bruckners spezifisch »inhomogene«, neue derlei Gefechten üblich – wenig um die eigentli-
Farben und Wirkungen eröffnende Instrumenta- chen Protagonisten ging, sondern vielmehr um
tion stieß teilweise ebenfalls auf heftigen Wider- deren engagiert formierte Anhänger.
stand, zuweilen sogar in extremer Weise, wenn sie Im realen Leben hatten Bruckner und Brahms
etwa als »gehirnerschütternd« bezeichnet wurde wenig miteinander zu tun: Die ganz wenigen, eher
(Moritz Adler in: Morgenpost, 17.12.1877). Die zufälligen Zusammentreffen haben lediglich An-
Klangballungen der Blechblasinstrumente oder lass für diverse Anekdoten und Vermutungen ab-
die schroffen Registerwechsel waren nicht ohne gegeben. Fest steht, dass das tatsächliche gegensei-
Weiteres mit vertrauten Hörerfahrungen zu verei- tige künstlerische Unverständnis von Bruckner
nen. überwiegend sachlich bekundet wurde, während
Darüber hinaus wurde die Rolle der Harmonik von Brahms einige geradezu gehässige Äußerun-
innerhalb des Formkonzepts und deren Moderni- gen überliefert sind. (Vielleicht stand auch dahin-
tät – Ferdinand Löwe entschärfte Jahrzehnte später ter nur sein Ärger darüber, dass Bruckners Werke
noch immer den berühmten Tredezimakkord im als vermeintlicher Schwindel offensichtlich doch
Adagio der Neunten – nicht erkannt. Schließlich nicht so leicht aus der Konzertöffentlichkeit ver-
folgte eine musikhistorische Verortung des Kom- schwanden.)
Die Bruckner-Rezeption 351

Allein mit der Widmung der Dritten an Wag- »Bei den Aufführungen eines neuen Werkes von Brahms
ner hatte Bruckner klar Stellung bezogen, so dass konnte man wahrnehmen, wie mächtig sich die protes-
tantische Gemeinde ins Zeug legte, während bei Bruckner
daraus unschwer für viele Zeitgenossen zu folgern der tosende Lärm von den sogenannten Christlichsozialen
war, Bruckner habe die musiktheatralische Kon- ausging. Ich will damit nicht andeuten, als hätte sich eine
zeption seines Vorbildes auf die Sinfonik übertra- Glaubenspolitik in den Konzertsaal eingeschlichen, aber
es war nicht zu übersehen, daß eine Partei der anderen
gen. Konkret ging es aber gar nicht um die Sinfo- zum Trotz ihren Gegenkönig auf den Schild erheben
nie selbst, sondern vielmehr um »ästhetische Pro- wollte.« (Bachrich 1914, 99 f.)
jektionen«, die eine uralte Debatte neu aufrollten:
die Querelle des anciens et des modernes. Während Einen maßgeblichen Anteil an der öffentlichen
die einen die ursprüngliche Einheit der Künste Meinungsbildung hatten natürlich die Zeitungen.
verteidigten, kämpften die anderen für die mo- In der Wiener Presselandschaft regierte die bürger-
derne absolute Musik (Roch 2009, 285 ff.; allge- liche Großpresse mit bekannten und einflussrei-
mein Notley 1997, 54–71). In der Hitze dieses chen Persönlichkeiten wie Eduard Hanslick oder
Gefechtes wurde aber geflissentlich übersehen, Max Kalbeck. Dennoch erweist sich das einge-
dass manche Unstimmigkeit existierte: So passte schliffene Schema bürgerlich-konservative Presse
Bruckners Künstlererscheinung samt seiner Bil- pro Brahms und deutschnationale bzw. katholisch
dungsverweigerung überhaupt nicht in das Kon- orientierte Presse pro Bruckner bei näherem Hin-
zept der Neudeutschen, genauso wenig das Fehlen sehen als zu simpel (Round Table 1994, 81–104).
konkreter Programmatik in seiner Sinfonik (sieht Die Rezensenten wussten sehr wohl zu differenzie-
man einmal von den bekannten »Erklärungen« ren; selbst der als »Erzfeind« in die Musikge-
zur Vierten oder Achten ab, die wenig glückliche schichte eingegangene Hanslick ist ein gutes Bei-
Verständnishilfen darstellen). Und überdies brach spiel dafür. Keineswegs lehnte er alles von Bruck-
Bruckner provokant die These auf, dass die Sinfo- ner rigoros ab – für das Te Deum etwa fand er
nie als Gattung obsolet geworden sei – ja im Ge- durchaus lobende Worte – und hob besonders zu
genteil, kontroversiell zum Universalisten Brahms Beginn bestimmte musikalische Merkmale positiv
konzentrierte er sich just auf diesen seinen »Le- hervor. Seine Wende in der Beurteilung, durch die
bensberuf« (Brief an Simon Leo Reinisch, sich der Komponist nachweislich in der Öffent-
19.10.1891; Briefe 2, 153). Umgekehrt waren durch- lichkeit geächtet fühlte, dürfte nach heutigem
aus auch einzelne musikalische Parallelen zu Wissen außermusikalische Gründe besessen ha-
Brahms offenkundig, die ebenfalls negiert wur- ben, indem sowohl die zunehmende Inszenierung
den. Bruckners als »Neudeutscher« als auch dessen
Rein äußerlich war Bruckners Eintritt in den Ansuchen um eine Lehrstelle an der Universität
Wiener Akademischen Wagner-Verein (1873) ein eine maßgebliche Rolle spielten.
Zeichen seiner Verbundenheit und zugleich der Dennoch können in den zeitgenössischen
gelungene Versuch einer institutionellen Veranke- Bruckner-Rezensionen eine Schärfe der Formulie-
rung in Wien. Von nun an gehörte Bruckner als rung, ja zuweilen beleidigende verbale Attacken
Protagonist zu einer »Clique tobsüchtiger Jüng- nicht übersehen werden. Sieht man von dem da-
linge in Samtröckerln mit Lavallière-Kravatten mals rüderen journalistischen Schreibstil einmal
und langen Haaren«, wie es einmal Bernhard ab, zeigen sich trotzdem immer wieder leiden-
Paumgartner ironisch in der Rückschau formuliert schaftlich-böswillige Abwehrversuche. Genau
hat (Salzburger Nachrichten, 13.10.1956). Zuneh- diese Kritiker nahm später Karl Kraus ins Visier,
mend schlossen sich auch Bruckners studentische als er zehn Jahre nach dem Tod des Komponisten
Hörerschaft, aber ebenso Repräsentanten der neu von »boshaften Zwergen« sprach, die »über gut-
auf den Plan getretenen Christlich-Sozialen seiner mütige Riesen herrschten«. Anlass dieser Polemik
Kunst an. Dass es hierbei um lange währende war ein postum veröffentlichtes Briefkonzept
Gruppenfehden und dezidiert um ideologische Bruckners (vom 13.10.1885; vgl. Briefe 1, 275 f.), in
Inhalte ging, illustriert der Bericht eines Zeitzeu- welchem er eine für die Saison 1885/86 geplante
gen: Aufführung der Siebten Sinfonie durch die Wiener
Philharmoniker aus Angst vor Anfeindungen
352 Erich Wolfgang Partsch

durch die Presse ablehnte. Kraus stellte dieses – für gebrachte Wertschätzung und dessen Versprechen,
den Komponisten gar nicht so eigentümliche – seine Symphonien aufzuführen, pochte, geriet
Gesuch als ein einzigartiges Dokument dar, »das damit aber auch in die Maschen eines kulturideo-
ein furchtbares Urteil über das geistige Wien ent- logischen Vermarktungsnetzes, das ihm auf der
hält. Ein Dokument von der journalistischen einen Seite, nämlich in den herrschenden konser-
Zeiten Schande, wie es überwältigender nicht ge- vativen musikalischen Kreisen Wiens, eher Nach-
dacht werden kann.« Seinem Kommentar stellte teile brachte, während ihm dadurch in Deutsch-
Kraus eine eindrucksvoll-zynische »Folterszene« land die Zusammenarbeit mit den dort ansässigen
mit Hanslick und seinen Gesellen Dömpcke und Wagner-Vereinen bzw. den Wagner nahestehenden
Kalbeck voran, in der Bruckner als Angeklagter Dirigenten erleichtert wurde« (Fuchs 1997, 67).
vor Gericht steht: Zur ersten Riege der Bruckner-Dirigenten
zählten neben Franz Schalk, Ferdinand Löwe und
»Hanslick fragt: Bekennst du dich schuldig, Symphonien
geschrieben zu haben? Bruckner schweigt und schafft. Gustav Mahler auch Arthur Nikisch, Felix Mottl,
Der Oberrichter legt leicht die kleinen Daumschrauben Hermann Levi, Karl Muck und Hans Richter, der
an. Er erklärt, vor einer Bruckner-Symphonie den Musik- zu Lebzeiten des Komponisten mit Abstand die
vereinssaal zu verlassen, um die Entwürdigung des Mu-
sikvereinssaals nicht mitanzusehen. Die Menge johlt. Vor meisten Aufführungen leitete. Dennoch war das
jeder Bruckner-Symphonie wird der Musikvereinssaal Verhältnis des Komponisten zu diesen Interpreten
verlassen. Bruckner’s Knochen knacken. Aber Bruckner keineswegs ungetrübt; immer wieder gab es Streit-
hat eine starke Konstitution. Gehilfe Dömke schürzt die
Ärmel auf. Der Oberrichter fragt: Anton Bruckner, be-
punkte und Enttäuschungen seitens des Kompo-
kennst du dich schuldig, ein Quintett geschrieben zu nisten, was aber nicht immer am Verhalten der
haben? Bruckner schweigt und schafft. Gehilfe Dömke Dirigenten lag.
tritt vor: ›Anton Bruckner komponiert wie ein Betrunke- Mit der Aufführung der Vierten Sinfonie unter
ner!‹ Die Menge johlt. Bruckner’s Knochen knacken.
Aber Bruckner hat eine starke Konstitution. Gehilfe Hans Richter in Wien (1881) erreichte der Kompo-
Kalbeck wird gerufen. Er drückt den Schlapphut ins nist einen bemerkenswerten Erfolg. Wenn auch
Gesicht. Der Oberrichter fragt: Anton Bruckner, be- wieder bekannte Stereotypen in der Bewertung
kennst du dich schuldig, noch immer gegen uns Sympho-
nien zu schreiben und das Ausland zu verlocken? Bruck- auftauchten, zeigten sich die Kritiker doch auch in
ner schweigt und schafft. Gehilfe Kalbeck beginnt bürgerlich-konservativen Blättern positiver einge-
Bruckner ›aufzuziehen‹. Die Menge johlt. Bruckner’s stellt. Eine reiche Erfindungsgabe, plastische Ge-
Knochen knacken. Aber Bruckner hat eine starke Kon-
stitution. Er wird für toll erklärt. Aber er will nicht
staltung und Schubert-Nähe wurden hervorgeho-
wahnsinnig werden. Er hat Gottesglauben und den Glau- ben. Die vor dem gängigen Erfahrungshorizont
ben an die Kunst. Er schreibt die Neunte und stirbt.« ermöglichten romantischen Bildvorstellungen –
(Die Fackel, Nr. 223–224, 1907, 1 ff.) vom Komponisten durch signifikante Äußerungen
Dennoch war gerade die vereinsmäßige Instituti- mitgeprägt – brachten zusammen mit der raffi-
onalisierung für die Rezeptionsgeschichte ent- nierten Klangregie »eine durchgreifende Wirkung
scheidend: Während einzelne Aufführungen vom hervor, denn Herr Bruckner wurde nach jedem
Urteil namhafter Interpreten abhingen und im Satze stürmisch gerufen« (Karl E. Schelle in: Die
Konzertsaal stets ein Risikospiel bedeuteten, führ- Presse, 25.2.1881). Die charakteristischen Horn-
ten die sogenannten »internen Abende«, an denen rufe, die eingängige Melodik, Vogellaute, Jagd-
Sinfonien in Klavierbearbeitungen erklangen, im horn-Typik und Ländler-Gestik haben zugleich
Freundes- und Interessentenkreis zu einer nicht zu die Fronten gemildert: Einerseits konnten sich die
unterschätzenden Verbreitung. So präsentierte der Anhänger des Komponisten auf eine vermeintlich
Wiener Akademische Wagner-Verein zwischen »erfassbare« Programmatik à la Liszt berufen, an-
1879 und 1896 rund 20 Aufführungen, darunter dererseits waren für die Gegenseite vertraute
einige Werke zum ersten Mal (Harrandt Hörmuster – im Sinne eines Traditionsbekennt-
1994/95/96, 223–234). Die eifrige Tätigkeit dieser nisses – wahrzunehmen. 1888 folgte die amerika-
Verehrergemeinde verlagerte zugleich künstleri- nische Erstaufführung der Vierten (unter Anton
sche Erfolge nach »außen«, was bedeutsame Kon- Seidl). Neun Jahre später, kurz nach dem Tod
sequenzen nach sich zog: »Bruckner selbst, der ja Bruckners, kam es in München mit dem Kaim-
immer wieder auf die ihm von Wagner entgegen- Orchester unter Hermann Zumpe zu einer denk-
Die Bruckner-Rezeption 353

würdigen Aufführung: Der erste Satz wurde en- Zur selben Zeit bewies ein Pressebericht außer-
thusiastisch zur Wiederholung verlangt, ein in der halb der feindlichen Wiener Lager, dass punktuell
Konzertgeschichte einzigartiges Ereignis (Deut- Annäherungen an Bruckners Sinfonik stattfanden,
sche Zeitung, 29.1.1897). Bis zur Jahrhundert- ja die monierten Verständnisprobleme in den Be-
wende wurde das Werk insgesamt rund fünfzigmal reich des aktuellen Erfahrungshorizonts verlagert
aufgeführt. wurden:
Mit der Fünften betrat Bruckner – rezeptions- »Bruckner beherrscht die Technik seiner Kunst auf ’s
geschichtlich gesehen – wiederum Neuland. Die Vollkommenste. Wenn man an seine Sinfonien nur den
Uraufführung kam erst fast zwanzig Jahre nach Maßstab anlegen will – wie es ja leider die meisten Kriti-
ker und Musiker thun – der den Regeln der musikalischen
der Vollendung in der berühmt-berüchtigten Satzweise entspricht, so wird man die größte Bewunde-
Schalk-Bearbeitung zustande. Die nicht zuletzt rung empfinden müssen vor diesem alles umfassenden
durch dichte Kontrapunktik bedingte Konzentra- Können, dieser Sicherheit in der formalen Gestaltung,
tion auf autonom-musikalische Strukturierung dieser Leichtigkeit im Gebrauch und der Verbindung der
heikelsten Harmoniefolgen; dieser Bestimmtheit in der
mit unüberhörbaren klassizistischen Rückbezügen motivischen Ausgestaltung und Verarbeitung der The-
bot keinerlei populäre Verständnishilfen. Wenn sie men, deren drei, vier in sich ganz verschiedenartige zu
auch ein wohlmeinender Rezensent als »Zukunfts- gleicher Zeit erscheinen, dann wieder frei eintreten und
das alles in so natürlichem, logischem Flusse, so gar nicht
Symphonie« bezeichnete, die ein tiefer gehendes ergrübelt, wie es bis jetzt nur in den Werken Meister Joh.
Studium erfordere, nahm er damit bereits unwis- Seb. Bach’s und R. Wagner’s zu finden gewesen ist« (Her-
sentlich Bruckners berühmtes Diktum über die mann Genß in: Leipziger Neue Zeitschrift für Musik,
1886, 387 ff.).
Achte vorweg, dass sie in ferneren Zeiten für einen
Kennerkreis gedacht sei (Julius Schuch in: Grazer Folgerichtig wies der Autor darauf hin, »daß unse-
Tagblatt, 10.4.1894). rem Publikum jede Vorbedingung zum Verständ-
Der künstlerische Durchbruch Bruckners er- nis der in diese Richtung einschlagenden Werke
folgte eindeutig mit der Uraufführung seiner fehlt«.
Siebten Sinfonie in Leipzig (1884). Das Konzert mit Im Zuge einer langsam, aber stetig wachsenden
dem Gewandhausorchester unter Arthur Nikisch Verbreitung wurden in Deutschland München,
geriet zu einem großen Erfolg: Nach dem Finale Berlin, Dresden, Hamburg und Leipzig Stätten
gab es eine Viertelstunde Applaus, und dem anwe- wirksamer Erstaufführungen, aber auch in ande-
senden Komponisten wurden zwei Lorbeerkränze ren Ländern traten Pioniere hervor. So begann mit
überreicht. Ohne Zweifel war dieser Erfolg einer Aufführung der Dritten (1885) eine Bruckner-
wiederum auf konkrete Momente des Werkes zu Tradition in den Niederlanden, die – besonders
beziehen: Die Ausgewogenheit, eingängige The- durch das Concertgebouw verbunden mit Namen
matik, überschaubare Form sowie das relativ wie Willem Mengelberg oder Bernard Haitink –
knappe, »unkomplizierte« Finale der Siebten tru- bis heute andauert. In England dirigierte Hans
gen zu einem neuen, an die Vierte anschließenden Richter einzelne Erstaufführungen; in Tschechien
Verständnis des Sinfonikers hinsichtlich seiner entwickelten sich Brünn und Prag als Zentren der
Originalität bei. In den Besprechungen sind den- Brucknerpflege seit den 1880er Jahren. Am 5. De-
noch viele bekannte Kritikpunkte, ja teilweise so- zember 1885 hatte Walter Damrosch in New York
gar deutliche Ablehnung erkennbar. Dies tat aber mit der Dritten dem amerikanischen Publikum
dem Erfolg des Werkes keinen Abbruch: Nach zum ersten Mal ein Bruckner-Werk vorgestellt. Zu
einer Wiederholung am Uraufführungsort folgten Lebzeiten des Komponisten folgten noch – wie
dicht hintereinander wichtige Aufführungen in oben bereits erwähnt – die Vierte (unter Anton
München (Hermann Levi), in Karlsruhe (Felix Seidl) und die Siebte (unter Theodore Thomas).
Mottl), in Köln (Franz Wüllner) und in Hamburg
(Julius von Bernuth). 1886 stellten Karl Muck in
Abseits der Sinfonik
Graz und Hans Richter in Wien die neue Sinfonie
dem österreichischen Publikum vor; im selben Durch die Konzentration auf den Sinfoniker tra-
Jahr leitete Theodore Thomas vier Aufführungen ten andere Schaffensbereiche in den Hintergrund.
in New York, Boston und Chicago. So wurden in Österreich zwar die großen Messen
354 Erich Wolfgang Partsch

wiederholt gegeben, erlebten jedoch in anderen schen Situation nicht bloß auf den Glanz der In-
Ländern kaum Aufführungen; umso bemerkens- stitution, sondern ebenso auf deren Brüchigkeit
werter ist deshalb die erste konzertante Darbietung (Mayer 1980, 21–26).
der d-Moll-Messe in Hamburg unter Gustav Mah-
ler (1893).
Bruckner – etabliert
Lediglich das von Beginn an erfolgreiche Te
Deum war noch zu Lebzeiten Bruckners in mehre- In Bruckners letzten Lebensjahren war eine Ab-
ren Ländern zu hören. Und es ist nicht zufällig, schwächung der Parteienstreitigkeiten zu verzeich-
wenn Hermann Levi in Zusammenhang mit der nen; Bruckner galt – nicht zuletzt durch das En-
bevorstehenden Verleihung des Ehrendoktorats gagement prominenter Dirigenten und durch
1891 in einem Brief an den Dekan Simon Leopold große Erfolge im Ausland – als im Wesentlichen
Reinisch schrieb, dass »die grossen Erfolge, die anerkannt. Die Verleihung des Ehrendoktorates
Bruckner in München mit seiner 7ten Sinfonie und der Universität Wien (1891) bedeutete für ihn eine
dem Te Deum kürzlich in Wien und Berlin errun- ganz besondere Auszeichnung, durfte sie doch als
gen hat, deutliche Vorzeichen« dafür seien, dass höchste Anerkennung seiner »Kompositionswis-
seine Zeit »gewiß kommen« werde – und sich senschaft« – durchaus auch im rationalen Sinne
darunter Felix Mottl »mit obigen Ausführungen verstanden – gelten. Von seinem künstlerischen
[…] vollkommen einverstanden« erklärte (Levi an Selbstbewusstsein zeugt, dass er sich – durchaus
Reinisch, 23.6.1891; Briefe 2, 144). Mit dem in nach dem Vorbild Beethovens – als freier, unab-
Wien entstandenen Streichquintett verhielt es sich hängiger Künstler in Wien etablieren wollte. Der
anders, was nicht sonderlich überrascht, denn Wunsch gelang bald durch wohlhabende Freunde,
schon die Wahl der Gattung musste Irritation die sogenannte »Consortien« bildeten und damit
hervorrufen: Einerseits brach Bruckner mit den das Ende seiner Unterrichtstätigkeit am Konserva-
Gattungsusancen Wagners und Liszts; andererseits torium ermöglichten (allgemein Reitterer 1996,
begab er sich damit auf ein Terrain von Brahms, 276 f.). Die damit verbundene Statusänderung des
dessen Beethoven-Nachfolge doch als festgeschrie- Komponisten ist nicht zu unterschätzen.
ben galt. Die heftig aufflammenden Dispute in Auf künstlerischer Seite wurde die Achte Sinfo-
den Tageszeitungen zeugen von altem, ideologisch nie überraschend günstig aufgenommen. Sogar
motiviertem Kampfgeist, aber ebenso von ange- Max Kalbeck reihte sie unter den bislang aufge-
strengten historischen Positionierungsversuchen führten Sinfonien an erste Stelle, da sie die frühe-
(Korstvedt 2009, 145–166). Es kam zu einigen ren Werke an »Klarheit der Disposition, Ueber-
Aufführungen in Deutschland; in den 1890er sichtlichkeit der Gruppierung, Prägnanz des Aus-
Jahren gab es auch vereinzelte Aufführungen des druckes, Feinheit des Details und Logik der
Streichquintetts in Skandinavien. Gedanken« übertreffe (Montags-Revue, 19.12.
Eine im Frühschaffen wichtige Gattung, der 1892). Bemerkenswert erscheint die Rezension von
Männerchor, tauchte in der späten Wiener Zeit Robert Hirschfeld, in der er entschieden gegen
nochmals kurz auf: als sinfonisch begleitete Chor- »Philister-Aesthetik und Dilettanten« Stellung
ballade Helgoland. Der Erfolg des Werkes, in dem bezog. Auch er vermerkte, dass die Attacken der
siegreiche Germanen eine Römerflotte zerstören, »Centrumspartei« milder geworden seien. Bruck-
war aufgrund des Anlasses – das fünfzigjährige ners sinfonisches Werk sei eben nur aus »Bruckner’s
Bestehen des Wiener Männergesangvereines –, der Natur, aus unserer Zeit« heraus zu erklären. Der
unverhohlenen deutschnationalen Botschaft und neu entfachten Debatte um die Programmatik –
des orchestralen Pathos geradezu vorhersehbar, durch Äußerungen des Komponisten (im Kontext
und doch mischten sich deutlich kritische Töne der Achten Sinfonie) über den »deutschen Michel«
ein. Musikalisch überschnitten sich darin divergie- u.Ä. forciert – begegnete er strikt ablehnend: Er
rende Traditionslinien, indem Liedertafelgestus verwahrte sich gegen den Abdruck eines »›poeti-
mit repräsentativem sinfonischem Stil gekoppelt schen‹ Programmes eines unbekannten Schalks-
erschienen; überdies verwies Helgoland vor dem narren [!]«, das bloß ein »Possenspiel« sei und von
Hintergrund einer veränderten gesellschaftspoliti- der Werkidee wegführe (Die Presse, 23.12.1892).
Die Bruckner-Rezeption 355

Knapp zwei Jahre später, anlässlich des 70. Ge- Das 20. Jahrhundert
burtstages, konnte Hans Paumgartner in der
Wiener Abendpost im Feuilleton resümieren: Nach 1896: Im Bann von Erstdrucken
und Uraufführungen
»Es hat lange genug gebraucht, bis Bruckner sich Gehör Während bis ca. 1890 die Verbreitung der Sinfo-
verschaffen konnte. […] Auch das Publicum der philhar-
monischen Concerte war anfänglich mißtrauisch und nien handschriftlich erfolgte, standen nunmehr
wenig wohlwollend gegen Bruckner. Zum Theile sah man die »Erstdruck-Fassungen« im Zentrum der Auf-
ihn als den Partisan jener streitbaren einheimischen Ju- führungspraxis. Damit ergab sich für die unmit-
gend an, der die Kunst nur ein Vorwand für leidenschaft-
liche Bestrebungen ganz anderer Art ist, und blickte mit telbare Nachwelt ein ganz spezifisches Erschei-
den scheelsten Blicken auf ihn. Aber auch jener unbefan- nungsbild, das von Strichen, Uminstrumentierun-
gene Theil des Publicums, der nur an den Musiker gen und dynamischen Eingriffen geprägt war.
Bruckner sich hielt, fühlte sich befremdet durch die un-
gewohnte Form seiner Sinfonien. Endlich fing der eine
Franz und Josef Schalk, Max von Oberleithner
Theil des Publicums an, sich zu beruhigen, und der an- und Ferdinand Löwe hatten in unterschiedlichen
dere sich zu gewöhnen.« (15.9.1894) Zugangsweisen und Freiheitsgraden zum Teil rigo-
rose Adaptationen vorgenommen, die »Unver-
Als Bruckner 1896 in Wien starb, war er als Sinfo- ständliches« verringern und bekannte Hörmuster
niker umstritten, aber keineswegs verkannt. Sogar aktivieren sollten. Eine Annäherung an Wagners
in der Russischen Musikzeitung wurde er in einem Klangwelt milderte schroffe Konstraste, Striche
kurzen Nekrolog 1897 als »bekannter Komponist sollten Vorwürfe der ausufernden Längen entkräf-
und Organist« genannt (Tikhonov 1996, 361). ten, emotionsbetonte Vortragsbezeichnungen
Zu Lebzeiten waren rund 30 Kompositionen sollten Plastizität und Poetik der Musik stärken
im Druck erschienen, darunter ein Großteil der (allgemein Doebel 2001).
Sinfonien und Kirchenmusik (Hilscher 1996, Prominente Künstler setzten sich im Konzert-
147 f.). saal für die Sinfonik ein: Nach einer Pause traten
Die unvollendete Neunte, nach mündlicher Nikisch und Mottl wieder auf; auch Mahler, dem
Überlieferung »dem lieben Gott« gewidmet, ver- Bruckners Architekturdenken fremd war, widmete
lieh seinem Ruf noch einen zusätzlichen transzen- sich weiterhin einzelnen Werken, die er jedoch
denten Aspekt, der für die weitere Rezeptionsge- nach seinen eigenen Vorstellungen retuschierte.
schichte nicht gering zu veranschlagen ist. Neben Damals schon regte sich Kritik, die – zum Teil
dem Mysterium der Neunzahl im sinfonischen unsachlich – mit Mahlers umstrittener Position in
Schaffen – später sollte dies durch Mahlers frag- Wien erklärbar ist. Anlässlich einer Aufführung
mentarische Zehnte neu beleuchtet werden – der Sechsten Sinfonie mit den Wiener Philharmo-
wurde eine weitere Facette für das Bild des katho- nikern beanstandete Theodor Helm bei aller
lischen bzw. mystischen Künstlers hinzugewon- Achtung für die Interpretation die eigenwilligen
nen. Änderungen (Deutsche Zeitung, 28.2.1899).
Bruckner starb auch nicht arm. Neben seinen Neben Bruckners vermehrter Präsenz im Kon-
fixen Einnahmen aus drei Institutionen (Konser- zertsaal folgten nun auch Publikationen überwie-
vatorium, Hofmusikkapelle, Universität) hatte er gend aus dem Freundes- und Schülerkreis, die
bei sparsamer Lebensführung Sonderremuneratio- eine Popularisierung des Künstlers zum Ziel hat-
nen, Honorare und Jahresrenten sowie private ten. Ikonisch repräsentiert wurde er ziemlich rasch
Förderungen erhalten. So verwundert es nicht, durch zwei Denkmäler in Steyr (1898) und Wien
wenn sein Barvermögen fast 17.000 Gulden (= ca. (1899) auf der Grundlage der Büste von Viktor
€ 145.000) betrug (Harten 1996, 154 f.). Die Re- Tilgner. Dabei handelte es sich um durchwegs
zeptionsstereotypen vom »armen« und »verkann- bedeutsame Orte: Das Denkmal in Steyr gegen-
ten« Künstler erweisen sich einmal mehr als – zum über Stadtpfarrkirche und Pfarrhof verwies auf die
Teil bewusst gelenkte – Klischees der Verehrerge- kirchliche und weltliche Seite des berühmten
meinde. oberösterreichischen Sinfonikers, jenes im Wiener
Stadtpark stellte ihn in den Kontext prominenter
Künstler dieser Stadt.
356 Erich Wolfgang Partsch

Nach der Jahrhundertwende erweiterten Kon- die aus tiefer Religiosität geborene eines Bach, Beethoven
zerte mit diversen Uraufführungen auch das allge- und Bruckner! Besonders Bruckners gottgeweihte Kunst
fand nun einen günstigen Nährboden, nun erst das rich-
meine Wissen über das Gesamtschaffen. Dazu nur tige Verständnis, er wurde vielen Tausenden zum Führer
eine Auswahl: in eine schönere geistige Welt und damit war die Grund-
lage für eine gesunde und starke Bruckner-Bewegung
gegeben, die nun, nach dem Weltkrieg mit elementarer
1903 Neunte Sinfonie (1., 2. und 3. Satz, Bearbei- Gewalt sich durchsetzte«. (Göll.-A. 4/4, 61 f.)
tung von Löwe);
1904 Intermezzo für Streichquintett; Faschistische Vereinnahmungsprozesse
1906 Psalm 114;
1909 Vierte Sinfonie, Scherzo der Fassung 1874; Wie bereits erwähnt, waren die vorgefassten
1911 Abendzauber (Bearbeitung von Viktor Kel- Bruckner-Bilder leicht für unterschiedliche ideo-
dorfer); logische Strömungen modifizierbar. Dadurch er-
1912 Ecce sacerdos; gab sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
1921 Ouvertüre g-Moll; Psalm 22; nahezu ein Kontinuum an Rezeptionshaltungen:
1923 f-Moll-Sinfonie, (1., 2. und 4. Satz); »Musikant Gottes«, »österreichischer Landschaf-
1924 d-Moll-Sinfonie (sogenannte Annullierte, ter«, »mystischer Bauersmann«, »deutscher Tonhe-
komplett); Drei Orchesterstücke; Marsch d- ros« waren Stereotypen, die in Varianten durch die
Moll. politischen Zeitphasen hindurch unschwer instru-
mentalisiert werden und sich bis in die Zeit nach
Die beiden letztgenannten Konzerte verweisen auf dem Zweiten Weltkrieg halten konnten.
einen weiteren Bruckner-Pionier, nämlich auf Der Eintritt in Ständestaat und Nationalsozia-
Franz Moißl, der in Klosterneuburg bei Wien lismus spiegelte sich in einer groß angelegten
maßgebliche Aufführungen noch unbekannter
Werke leitete. Durch ihn war damals schon die
richtige Chronologie der frühen Sinfonien be-
kannt. Aufgrund der Einrichtung einer Kirchen-
musikabteilung der Wiener Akademie für Musik
und darstellende Kunst in Klosterneuburg fanden
zudem wichtige Kirchenmusikaufführungen statt.
Auf publizistischem Gebiet wurde die Zeitschrift
Musica Divina zu einem zentralen Kommunikati-
onsorgan des Bruckner-Kreises, in der das Bild des
»Musikanten Gottes« gemäß den Werthaltungen
der christlich-sozialen Ära weiter tradiert wurde.
Institutionsgeschichtlich entwickelte sich die
1927 gegründete Internationale Bruckner-Gesell-
schaft zu einem bedeutenden Verein, der nicht nur
die kritische Herausgabe der Werke durchsetzte
(Alte Gesamtausgabe), sondern ebenso – wirksam
durch viele Sektionen – überregional Propaganda
für den Komponisten betrieb.
Zur gleichen Zeit wurde allmählich das Bild
der deutschnationalen Identifikationsfigur gefes-
tigt, wofür lediglich bereits kursierende Einstel-
lungen gebündelt werden mussten. So konnte
Abbildung 12: »Bauer aus dem Brucknerland.
Max Auer begeistert schreiben: Das Antlitz des Genius wird Volk« als charakte-
»Der Bolschewismus in der Kunst wurde auf die Spitze ristisches Beispiel ideologischer Vereinnahmung.
getrieben. Gegen all dies gab es nur ein Mittel: Rückkehr In: Rudolf Lenk: Oberdonau die Heimat des
zu den reinen Quellen! Welche Kunst aber wäre reiner als Führers. München 1941.
Die Bruckner-Rezeption 357

Festkultur wider. Allein in Österreich wurden Erscheinung Bruckners zu schaffen« (Hofer in:
zwischen 1930 und 1945 fast fünfzehn derartige 2-Uhr-Blatt Berlin, 1.8.1944). Zum offiziellen
Veranstaltungen organisiert, die zu Manifestatio- Bruckner-Bild der nationalsozialistischen Kultur-
nen der jeweils herrschenden politischen Macht politik passte auch ein neuer Interpretationsrah-
wurden. Bruckner wurde schon zu Beginn dieser men: die sogenannten »Dunkel-Konzerte« unter
Phase als Leitfigur für ideologische Zwecke miss- Hans Weisbach, die eine Möglichkeit zur mysti-
braucht und für externe Zwecke instrumentalisiert schen Versenkung boten und sich großer Beliebt-
(Partsch 2010). Unter den Nationalsozialisten heit erfreuten. All diese Instrumentalisierungen
folgte dann die vollständige Vereinnahmung des bewirkten gleichzeitig, dass das durch die Gesamt-
Komponisten (vgl. etwa die Abbildung 12). Die ausgabe einerseits rehabilitierte »Originalgenie«
Rede von Goebbels anlässlich der großen Feier zur andererseits wieder verstärkt in die Abhängigkeit
Aufstellung der Bruckner-Büste in der Walhalla von Wagner gerückt wurde. Der Missbrauch stei-
bei Regensburg (Juni 1937) bündelt die typischen gerte sich schließlich noch bis zu einer auf Hitlers
Bewertungen zu einem Paradigma nationalsozia- Biographie beziehbaren Idee, deren Realisierung
listischer Propaganda: Bruckner wurde als »größter nur der Ausgang des Krieges zu verhindern ver-
Meister der deutschen Tonkunst« gefeiert, seine mochte: Das traditionsreiche Stift St. Florian,
Sinfonien zu den »stolzesten Reichtümern unserer Anfang 1941 enteignet, sollte als »Bruckner-Bay-
nationalen Musikkultur« gezählt. Für die Begrün- reuth« weihevoll institutionalisiert und – mit dem
dung konnte Goebbels problemlos die geläufigen von 1942 bis 1945 existierenden »Linzer Reichs-
Klischees der »heimatlichen Volksmusik« und der Bruckner-Orchester« – jährlich zum Ort von
angeblichen Herkunft aus »einem alten Bauern- Bruckner-Festspielen werden (Kreczi 1986).
stamm« bemühen. Der eigentlich heiklen Frage
nach Bruckners katholischer Religiosität wurde
Zwischen alten Bildern und neuen
durch die Konstruktion einer alle konfessionellen
Orientierungen
Grenzen sprengenden »tiefen Gottgläubigkeit« des
Komponisten begegnet, die nach der Behauptung Vertraute Bruckner-Bilder und Interpretationszu-
von Goebbels »in dem gleichen heldischen Welt- gänge wirkten zunächst in zeitspezifischen Modi-
gefühl des germanischen Menschentums wurzelt, fikationen fort; im einleitenden Abschnitt wurde
dem alle wahrhaft großen und ewigen Schöpfun- bereits auf die semantische Besetzung mit österrei-
gen der deutschen Kunst entspringen« (zitiert chischer Identitätsproblematik hingewiesen. Zum
nach Brüstle 1998, 108–113, besonders 112). Der Teil sind noch bis heute – vor allem in manchen
Aufstellungsort der Bruckner-Büste passte dem- kirchlichen Kreisen sowie in Oberösterreich –
nach, mitsamt der offensiven Umdeutung von chauvinistische, naive Vereinnahmungsmechanis-
Bruckners Katholizismus, für Goebbels perfekt in men festzustellen. Sachlich orientierte Fachlitera-
das antiklerikale Programm des nationalsozialisti- tur und richtungsweisende praktische Interpreta-
schen Propagandaapparats, wie seine Tagebuchauf- tionen führten jedoch bald von dieser Traditionslast
zeichnung am Folgetag der Bruckner-Feier belegt: weg.
»Rückfahrt durch Regensburg. Durch ein jubeln- Für das Spektrum musikalischer Auffassungen
des Menschenspalier. In dieser schwarzen Stadt. schlug Manfred Wagner vier Ansätze vor, die teils
Sie werden den kürzeren ziehen, diese Klerikalen« auch vermischt zur Geltung kämen: »feierlicher
(zitiert nach Brüstle 1998, 113). Mit dem Einzug Kirchenklang« – »Klangrausch« – »Moderne« –
Bruckners in die Regensburger Walhalla war der »Chiaroscuro«/Kontrastik (Wagner 1996, 219 f.).
im Frühjahr 1938 dann real vollzogene »Anschluss« Lassen sich die zwei erstgenannten Interpretati-
Österreichs bereits im Sommer 1937 symbolisch onshaltungen unschwer auf die kursierenden
vorbereitet worden. Bruckner-Bilder beziehen – als Beispiele mögen
Damit lagen die Konstanten des nationalsozia- Sergiu Celibidache bzw. der frühe Daniel Baren-
listischen Bruckner-Bildes fest: »Blut, Natur, boim genannt sein –, stellen die anderen Zugänge
Glaube und Kunst sind die vier Reiche, aus denen Antworten auf jüngere Sichtweisen, vor allem auf
die zeugenden Kräfte strömten, um die einmalige die Betonung von Bruckners Modernität und auf
358 Erich Wolfgang Partsch

ein jegliche semantische Aufladungen negierendes das Gesamtbild des Komponisten ab. Mit dem
Strukturdenken, dar. Allerdings gab es auf diesem Aufkommen der Compact Disc in den 1980er
Weg durchaus Vorläufer: So vermitteln etwa schon Jahren war dann ein gewaltiger Aufschwung der
Wilhelm Furtwänglers Einspielungen eine bemer- medialen Präsenz gegeben: Beispielsweise ist die
kenswerte Klarheit und einen vorwiegend analyti- Anzahl der Tondokumente des Graduale Locus iste
schen Zugang fern von spätromantischem Über- seit 1971 von zwölf auf rund 450 gestiegen.
schwang. Wenn Bruckner heute auch als bedeutender
Der Weg zu einem adäquaten (d. h. alte Vorur- spätromantischer Sinfoniker anerkannt ist, erweist
teile ausschaltenden) Bruckner-Verständnis war sich seine Rezeption dennoch geographisch als
lang; noch 1974 konnte Peter Gülke zu Recht ei- nach wie vor stark eingeschränkt. Die Situation
nen Jubiläumsartikel mit Der schwierige Jubilar erscheint zwar durch engagierte Dirigenten und
überschreiben. Nicht zu unterschätzen für die deren Gastauftritte gemildert – ein höchst positi-
jüngere Rezeptionsgeschichte ist der ab den frühen ves Beispiel war etwa Takashi Asahina in Japan –,
1970er Jahren einsetzende Mahler-Boom, der aber fehlende Traditionsausbildungen und das bis
gleichzeitig Auswirkungen auf die Bewertung heute virulente Fassungsproblem haben auf die
Bruckners hatte: In der neu verhandelten Kon- breite Akzeptanz negativ eingewirkt. Was bereits
frontation wurde dieser aufgrund des spezifischen vor mehr als zwanzig Jahren Mathias Hansen kri-
Betrachtungswinkels wieder in eine regressive Po- tisch beobachtete, gilt cum grano salis bis heute:
sition versetzt. Einen nicht zu unterschätzenden
»Die de facto ungebrochene und nur in Akzidentien ab-
Anteil daran hatte die musikästhetische Position weichende Weiterführung eines regressiven Bruckner-
Theodor W. Adornos, der mit seiner Mahler- Verständnisses reicht bis weit in die sechziger Jahre hinein,
Monographie (1960) erheblich zu einer Mahler- ja einzelne Ableger haben sich bis in die Gegenwart und
werden sich, so ist zu befürchten, auch noch bis in unbe-
Renaissance beitrug, innerhalb derer Bruckner stimmte Zukunft erhalten.« (Hansen 1987, 312)
geradezu das negative Gegenbild des Unreflektier-
ten und Naiven abzugeben hatte. Wie weit die Tendenzen der neueren Forschung
Eine nachdrückliche Korrektur des Bruckner- das Bruckner-Bild der breiten Öffentlichkeit zu
Bildes in Richtung Sachlichkeit – auch auf die beeinflussen vermögen, bleibt abzuwarten.
Persönlichkeit bezogen – bahnt sich seit den spä-
ten 1970er Jahren an, ein Prozess, der auf die Bei-
träge zum Bruckner-Symposion 1977 und die
nachfolgende Gründung des Anton Bruckner In- Wege und Stationen der Forschung
stituts Linz zurückgeht. Eigenarten und Innovatio-
Von persönlicher Begeisterung
nen rückten nunmehr in den Mittelpunkt:
zu Sachlichkeit
Bruckners angebliche Naivität wurde als gezielte
Inszenierung des Komponisten interpretiert, kom- Zu Lebzeiten des Komponisten und die ersten
positorisch erwies sich die spezifische Architektur Jahrzehnte danach war die Literatur weitgehend
der Werke als Novum, ebenso die forcierte Har- »vorwissenschaftlich« geprägt, d. h., es wurden
monik, aber auch das in den vielen Sinfoniefas- hauptsächlich emotional getönte Erinnerungsbe-
sungen sichtbar werdende Denken Bruckners in richte, Lobreden und Anekdoten aus dem Freun-
»works in progress«. Zudem trugen auch kritische des- und Schülerkreis veröffentlicht. Es war ein
Hinterfragungen von Bruckners programmati- Hauptanliegen der Verehrergemeinde, eigene Er-
schen Äußerungen zu einem geänderten Verständ- fahrungen an die Nachwelt weiterzugeben und
nis des Formdenkens bei. Bruckners Persönlichkeit und Werk vor der zum
Neue Werkkenntnis wurde einer größeren Öf- Teil ablehnenden öffentlichen Kritik zu rechtferti-
fentlichkeit durch zahlreiche Einspielungen und gen. Die Beiträge eines Ernst Decsey, Friedrich
die Partituren der Neuen Gesamtausgabe vermit- Eckstein, Carl Hruby, Friedrich Klose, Max von
telt. Die Publikation von – teilweise verstörenden Oberleithner oder August Stradal – um nur einige
– Erstfassungen von Sinfonien (z. B. der Dritten), zu nennen – besitzen jedoch für uns heute durch-
aber auch »kleine« Gelegenheitswerke rundeten aus Quellenwert und enthalten wichtige Informa-
Die Bruckner-Rezeption 359

tionen. Eine typische Zwischenstellung zeigt noch von Auer fertiggestellt werden. Diese Biographie
Decseys Buch von 1919, in dem sich – nicht ohne stellt eine für die Forschung nach wie vor unver-
Egozentrismus – Erinnerungen des Romanciers zichtbare, umfassende Sammlung verschiedenster
mit analytischen Beobachtungen mischen und Textsorten (mündliche Berichte, Dokumente,
dem Leser zusätzlich ein gewünschter ideologi- Rezeptionsbelege, Werkbesprechungen, nicht zu-
scher Unterbau im Sinne einer christlichen, letzt Noten-Faksimiles) dar, die jedoch aufgrund
ethisch leitbildhaften Künstlerfigur vermittelt von Druckfehlern, lässigem philologischen Um-
wird. Abgesehen von belletristischen Werken gang mit Originalen, fehlenden Quellenangaben
wurde vereinzelt noch nach dem Zweiten Welt- und überaus subjektiv lenkenden Sichtweisen
krieg an diese erste Phase angeschlossen, wenn kritisch gehandhabt werden muss. Ziemlich zeit-
etwa Hans Commenda 1946 – anlässlich des 50. gleich (1924) erschienen die ersten Briefausgaben
Todestages – seine Geschichten um Anton Bruckner von Max Auer und Franz Gräflinger, die in Aus-
herausgab, die den Oberösterreichern im volks- wahl und Editionspraxis deutliche Unterschiede
tümlich-patriotischen Ton den großen Künstler aufweisen.
biographisch näherbringen sollten. Neben diesem wichtigen Dokumentationsbe-
1895 hatte Franz Brunner, ein Linzer Lehrer, reich entwickelte sich aber auch eine erste wissen-
eine erste kleine Biographie verfasst, die in volks- schaftliche Beschäftigung mit dem Werk, die be-
bildnerischer Absicht entstanden und erstaunlich merkenswerterweise von »außen« kam und vor-
sachlich gehalten ist. Mit dem 1911 von Franz rangig mit den Namen August Halm und Ernst
Gräflinger veröffentlichten Buch Anton Bruckner. Kurth verbunden ist (vgl. auch das Kapitel Bruck-
Bausteine zu seiner Lebensgeschichte wurde ein ners Musik im vorliegenden Handbuch). Halms
ziemlich heftiger Streit um den »wahren Bruck- Studie Die Sinfonie Anton Bruckners (1913), als
ner« entfacht: Der Autor brachte viele Lebensdo- Fortsetzung des Buches Von zwei Kulturen der
kumente und legte damals schon die Annullierung Musik (1912) gedacht, in dem Bach und Beethoven
der Sinfonie d-Moll mit richtigen Entstehungsda- thematisiert wurden, räumte Bruckner eine dritte,
ten vor (wenn er auch zugleich fälschlich annahm, eigenständige Kultur ein. Aus der Sichtweise
dass die f-Moll-Sinfonie vernichtet worden war); Bruckners als des »größten Künstlers der Form
ebenso bewertete er die Orgelreisen nach England überhaupt« (Halm 1913, 81) bezog der Autor eine
und Frankreich neu. Trotzdem kam es zu heftigen strukturanalytische Position, die erstmals deutlich
Angriffen aus der Umgebung August Göllerichs individuelle Kompositionstechniken hervortreten
junior und einer Erklärung, die zur Veröffentli- ließ. So akzentuierte Halm die formbildende Kraft
chung in Zeitungen bestimmt war: der Harmonik sowie Variationsverfahren des »So-
natenkomponisten«. Schon ein Jahr zuvor hatte
»Das Werk, ein unerquickliches Durcheinander von
Briefen, Lebenserinnerungen, Zeitungsberichten, inhalts-
Max Morold in seinem Bändchen Anton Bruckner
und belanglosen Akten u. dgl. ist von keinem guten ein neues, auf Beethoven und Wagner bezogenes
Geiste beherrscht. Der Verfasser besitzt augenscheinlich Formverständnis angesprochen. Wenig später
nur die Kühnheit und den Ehrgeiz desjenigen, der um sollte Armin Knab anhand der Fünften Sinfonie
jeden Preis veröffentlichen will; es fehlen ihm aber alle
Eigenschaften, insbesondere die gründliche musikalische eine bis ins kleinste Detail durchorganisierte mo-
und literarische Durchbildung, die notwendig sind, um tivisch-thematische Struktur nachweisen und da-
nur mit einiger Berechtigung an eine so ernste Arbeit sich mit gegen landläufige Kritikpunkte die Existenz
heranwagen zu dürfen.« (Wien, ÖNB-MS, Fonds 30
Gräflinger 635) eines »organischen Kunstwerkes« untermauern
(Knab 1922).
Hinter dieser Kampagne stand Max Auer, zusam- Halm verlegte in seinem bahnbrechenden An-
men mit August Göllerich Autor der neunbändi- satz die kursierenden Verständnisprobleme mit
gen Monumentalbiographie Anton Bruckner. Ein Bruckners Sinfonik eindeutig auf die Rezipienten-
Lebens- und Schaffensbild (1922–1937). Sie wurde seite und arbeitete die Besonderheiten der Gestal-
zunächst von Göllerich, dem von Bruckner auto- tungsweise heraus:
risierten Biographen, begonnen, aber bereits der
zweite Band musste aufgrund seines Todes 1923
360 Erich Wolfgang Partsch

»Und ganz meisterhaft muss dieses Interpretieren des dar, die strikt aus der Position des Hörers unter-
Harmonischen genannt werden, wo es nicht nur den nommen wird. Kurths dynamisches Formkonzept
Gang, sondern auch die Dynamik der Modulation melo-
disch aufklärt. Wie schön stimmen beide Prinzipien – zum Teil in recht komplizierter, an der Natur-
überein in dem ersten Themenkomplex der VII. Sinfonie; wissenschaft orientierter Sprache formuliert –
ja hier ist nun kaum mehr zu sagen, sondern nur zu ver- weist Harmonik und Form als energetische Pro-
muten, wo das Primäre liegt. Das Harmonische erwacht,
und zugleich mit ihm das rhythmisch und linear melodi-
zesse aus. So wird nach Kurth das Ergebnis des
sche: eine vollkommene Einheit.« (Halm 1913, 213) Kompositionsprozesses durch das Wechselspiel
von Kraftlinien und deren Entspannung gebildet.
In Bruckners Sinfonik sah er eine Auseinanderset- Damit gelangte er auch zu einer neuen Deutung
zung mit Bach und Beethoven bzw. einen neu von Bruckners Steigerungszügen: Sie stellen Etap-
beleuchteten Bezug zwischen diesen beiden, ver- penziele dar, die zum jeweiligen Höhepunkt als
ließ aber in letzter Konsequenz emphatisch seinen integrierende Bestandteile der allgemeinen Form-
sachlich-analytischen Weg und sprach Bruckner, entwicklung führen. Kurths Ausführungen zum
dessen als »donum Deo« dargebrachte Kunst Dio- Kopfsatz der Vierten zeigen sein typisch versach-
nysisches und Apollinisches vereine, transzendie- lichtes Vokabular (wobei übrigens zu bedenken
rend einen Weg in »das endliche Zeitalter des ist, dass dieser Deutung ausschließlich die Kennt-
grossen Offertorium« zu (Halm 1913, 221 f.). Die nis der Löwe-Fassung der Vierten zugrunde liegt):
Anregung Halms griff dann übrigens der junge »Nach erstem Ansatz und ›imitierendem‹ Auswellen des
Ernst Bloch im musikphilosophischen Teil seines 1. Themas zeigt die Durchführung mit ihm zugleich das
Geist der Utopie (1923) begeistert auf, weil ihm hier zweite. Wenn zwei Themen ›kombiniert‹ erscheinen, so
die Aufhebung des Wagnerschen Musikdramas in kann es Kampf bedeuten (Durchdringen des einen zum
herrschenden) oder aber Auflösung der Gegensätze in
die von Wagner schon als überwunden geglaubte eine Einheit. Was hier vorliegt, ist rasch erkannt; so
Sinfonie, also die Wiedergewinnung der absoluten durchdringend wie der Sinn der ›Imitation‹ ist der der
Musik, als Bruckners historische Leistung auf den ›Kombination‹ oder ›Kontrapunktierung‹ verwandelt; der
Zusammentritt der Themen ist dadurch hervorgerufen,
Begriff gebracht schien: dass in den neu ausbreitenden Wellenkreisen des ersten
sich das zweite als Symbol der Raumausstreichung der
»Seit kurzem hat Bruckner in Halm einen hingebungsvol-
Dynamik großen Auskreisens einfügt, diesem also homo-
len Deuter seines Könnens und seiner Lage gefunden. Er
gen wird« (Kurth 1925, 620).
hat gezeigt, daß Bruckner gibt, was Beethoven nicht
mitgegeben hat, bei dem der Gesang in dem großen Kurth sah keine kontinuierliche Entwicklung im
Wurf, in dem energieerfüllten Motiv und in der Kraft,
über Massen zu herrschen, verloren ging. Dadurch, daß Schaffen des Komponisten, sondern legte eigen-
Bruckner solches leistet, wird zugleich der unreine Stachel willig die »Entwicklungspole« Vierte und Neunte
poetischer Anlässe für immer überflüssig; vielmehr, es ist Sinfonie fest (beide Werke waren um diese Zeit
des Meisters Tat, den Gewinn des Wagnerstils, die ›spre-
chende‹ Musik, vom Erziehungszoll des Programms oder
noch lediglich in den von Bruckners Schülern re-
Musikdramas endgültig losgelöst und derart die Musik als digierten Erstdruckfassungen bekannt), um die
Tatsächlichkeit, als Form und Stoff zugleich, als Weg zu sich die übrigen Werke gruppieren. Trotz des ent-
anderen Meeren als denen der Poesie begründet zu ha- scheidenden Zuganges über die Formentwicklung
ben.« (Bloch 1923, 89)
war auch Kurth nicht frei von irrationalen Deu-
Bemerkenswert ist diese Position des Philosophen tungen; in seiner ganzheitlichen Interpretation sah
auch im Vergleich mit derjenigen Adornos, der er Bruckner als Mystiker und verlieh ihm geradezu
zwar wie Bloch ein emphatischer Leser August einen Zug ins Messianische.
Halms war, diesem aber ausgerechnet in seiner Weitere neue Impulse kamen von der soge-
Einschätzung Bruckners nicht folgen mochte. nannten »Wiener stilkritischen Schule«. Alfred
Ernst Kurth markiert nach Halm die zweite Orels Buch Anton Bruckner. Das Werk – Der
wichtige Stufe einer grundsätzlichen Neuorientie- Künstler – Die Zeit (1925) beginnt mit einer syste-
rung. Er postulierte 1925 vor dem Hintergrund matischen Grundlegung der Kompositionstechnik
aktueller psychologischer Erkenntnisse Bruckners (»Das harmonische Problem«, »Motiv und
Sinfonik als den Höhepunkt der Gattungsge- Thema«, »Rhythmus« usw.), um danach den
schichte. Sein zweibändiges Werk stellt eine Ver- Künstler in einen stilkritischen Kontext zu stellen.
bindung von Künstlerbiographie und Werkanalyse 1934 legte Robert Haas – vor dem Erfahrungshin-
Die Bruckner-Rezeption 361

tergrund der im Entstehen begriffenen Alten Ge- Politische Stagnation und Neubeginn
samtausgabe – eine umfassende stilistische Ein-
ordnung des Gesamtwerkes vor. Mit der Arbeit an Während des nationalsozialistischen Regimes kam
der Gesamtausgabe kamen erstmals philologische es zu einer Latenzzeit, da die Verherrlichung des
Fragestellungen in die Forschung und akzentuier- »deutschen Tonheros« und der ideologische Miss-
ten das Fassungsproblem. Einen Sonderweg schlug brauch der Musik keine wissenschaftlich fundierte
Erich Schwebsch seit den 1920er Jahren ein, indem Auseinandersetzung zuließen. Es erschienen nur
er Bruckners Werk aus anthroposophischer Sicht- ganz wenige Gesamtdarstellungen, die mit allbe-
weise interpretierte. kannten Stereotypen besetzt waren. Peter Raabe
(1944) verweigerte geradezu einen analytischen
Zugang, da Bruckners Musik jedem musikalischen
Bruckner-Freunde in Amerika
Menschen klar und verständlich über das Gefühl
In der Zwischenzeit (1931) war die »Bruckner So- erschließbar sei. Vor dem Bild des »oberösterrei-
ciety of America« gegründet worden, deren Auto- chischen Bauern« und dessen urwüchsiger Musik
renkreis viele Beiträge in der vereinseigenen Zeit- sei lediglich das natürliche Erleben jedes Einzelnen
schrift Chord and Discord veröffentlichte. (Ge- entscheidend. Als Ausnahme sei Karl Grunsky
meinsam mit Gustav Mahler als attraktiver erwähnt, der sich – obwohl nationalsozialistisch
Leitfigur sollte Bruckner gefördert werden. Es ist engagiert – schon seit den 1920er Jahren ernsthaft
interessant, dass in Österreich später die genau für Bruckner eingesetzt und diverse musikalische
umgekehrte Situation eintreten sollte: Den Vorha- Erläuterungen publiziert hat.
ben der 1955 gegründeten Gustav Mahler Gesell- Die Zeit nach 1945 stand natürlich im Zeichen
schaft wurde die viel höhere Akzeptanz – und von Neuorientierungen. Im dokumentarischen
Bedeutung – Bruckners entgegengehalten, eine Bereich legte Ernst Schwanzara 1950 seine um-
Auffassung, die bekanntlich nach den 1970er Jah- fangreichen Vorlesungsmitschriften über Harmo-
ren an Bedeutung verlor.) Neben kleineren Be- nielehre und Kontrapunkt an der Universität
richten erschienen in Chord and Discord immer Wien vor, eine gewichtige Quelle für Bruckners
wieder Texte zu speziellen Themen, die die von Theorieauffassung und pädagogische Tätigkeit.
Gabriel Engel schon in der ersten Nummer ange- Kurz danach folgten von Othmar Wessely 1947 in
sprochenen »new symphonic horizons« erläutern seiner Dissertation vier quellenkundlich ausge-
sollten. Von Engel stammt auch die erste amerika- richtete Studien zur Linzer Zeit, die dem jungen
nische Biographie (1931). Sein Bruckner-Bild des Bruckner gewidmet waren. Überdies erweiterte
sympathischen Österreichers, Anbeters junger sich bemerkenswert der geographische Umkreis
Mädchen und streng religiös eingestellten Sinfoni- biographischer Darstellungen: So entstanden in
kers ging offensichtlich auf Schriften Auers und den knapp zwei Jahrzehnten ab 1945 umfangrei-
auf Autoren aus dessen Umkreis zurück. Auch die chere Bücher in Belgien (W. van Hengel), Frank-
in Europa kämpferisch geführten Debatten um reich (Armand Machabey, Michel Lancelot),
die Urfassungen fanden im Amerika kaum Wider- Großbritannien (Erwin Doernberg), Russland
hall. (Lidija Grigorevna Rappoport) und Amerika
Kurz nach dem Krieg trat Dika Newlin mit der (Werner Wolff, Theresa Weiser).
bemerkenswerten Kombination Bruckner, Mahler, In der 1951 begonnenen Neuen Gesamtausgabe
Schoenberg – ursprünglich eine Dissertation – her- nahm Leopold Nowak unter teils geänderten
vor (1947), die einerseits wieder die für Amerika Vorzeichen die philologische Diskussion wieder
typische Rezeptionshaltung aufweist sowie ande- auf (ohne auf bereits vorliegende Erkenntnisse zu
rerseits mit der Einbeziehung Schönbergs spätere verzichten), die in der Folge auch zu einer Reihe
Auffassungen über die Kultur der Wiener Mo- von Detailstudien führte.
derne zum Teil vorwegnahm. Neben dieser kritischen Befragung der origina-
len Quellen und ihrer Bewertung nahm eine
sachlich orientierte, analytische Beschäftigung mit
dem Werk zu. Noch während des Krieges hatte
362 Erich Wolfgang Partsch

der junge Karl Schiske eine Dissertation über die und Forschungszentrum entwickelte. Neben dem
Dissonanzbehandlung vorgelegt. Signifikant für Schwerpunkt Grundlagenforschung wandte man
die neue Sachlichkeit sind Werner F. Kortes struk- sich auch stets Spezialthemen zu, die in mehreren
turanalytischer Ansatz (1963) und die Studie von Publikationsreihen vorgelegt wurden. 1977 ent-
Max Dehnert, der bewusst Superlative aussparte stand das erste Werkverzeichnis; eine Ikonogra-
und Bruckner nüchtern als »einen unserer großen phie, Bibliographie sowie der Aufbau einer um-
Sinfoniker« einstufte (Dehnert 1958, 268). Das fangreichen Zeitungsdokumentation mit zunächst
erstaunlich wenig bekannte Buch warf anregende rund 40.000 Einträgen folgten. Die regelmäßig
gesellschaftspolitische und musikhistorische Kon- veranstalteten Bruckner-Symposien im Linzer
textfragen auf und eröffnete neue Blicke auf den Brucknerhaus eröffneten unter Mitwirkung aus-
Sinfonie-Komponisten. ländischer Forscherinnen und Forscher aus Nach-
Auf dem Gebiet der gering beachteten Kir- bardisziplinen eine Vielzahl von Perspektiven auf
chenmusik legte Horst-Günther Scholz eine Un- Leben, Werk und Rezeption. So ergab sich im
tersuchung der Linzer Messen vor. 1970 begann Laufe der Jahre eine reiche Palette von biographi-
Manfred Wagner seine Bruckner-Forschungen mit schen Milieustudien, Studien zu geistesgeschicht-
einer Dissertation über die Melodien in systema- lichen Einflüssen über Institutionengeschichte,
tischer Ordnung. Einen Extremfall stellen Ilmari musikalische Analysen bis hin zur widersprüchli-
Krohns dreibändige Untersuchungen über For- chen Welt der Anekdoten.
menaufbau und Stimmungsgehalt dar, die – Neben den im ABIL verankerten Wissenschaft-
Grundgedanken Arnold Scherings aufgreifend – lern (Theophil Antonicek, Renate Grasberger,
eine riskante Verbindung von akribischer Form- Uwe Harten, Andrea Harrandt, Elisabeth Maier,
analyse und poetisch ausufernder Hermeneutik Erich Wolfgang Partsch) erweiterte sich ständig
bieten. der Kreis der Forscher. Beispielhaft seien Constan-
tin Floros, der auf reicher Quellenbasis neue her-
meneutische Zugänge fand, Mathias Hansen mit
Auf dem Weg zu einem »neuen«
seinen Plädoyers für strukturanalytische Annähe-
Bruckner-Bild
rung und Ideologiekritik, Paul Hawkshaw als ak-
Im Bruckner-Jubiläumsjahr 1974 zog Franz Gras- ribischer Philologe und Peter Gülke als analytisch
berger ein kritisches Resümé zur aktuellen Lage reflektierender Musikwissenschaftler und Dirigent
der Brucknerforschung: Zu Recht zählte er an genannt. Franz Scheder erarbeitete in jahrzehnte-
eklatanten Mängeln veraltete Briefausgaben, keine langer Detailarbeit eine umfangreiche Bruckner-
Gesamtveröffentlichung der Lebensdokumente, Chronologie, die heute auch im Internet zugänglich
ein fehlendes Werkverzeichnis sowie einen unkri- ist. Von philologischer Seite her ergaben sich neue
tischen Umgang mit biographischem Material auf. Erkenntnisse nicht zuletzt durch die wissenschaft-
Als Desiderata nannte Grasberger unter anderem lich fundierten Arbeiten am Finale der Neunten
die genaue Erforschung von Einflüssen und Vor- Sinfonie (Benjamin-Gunnar Cohrs, John A. Phil-
bildern, von Bruckners vielfältigem Ausbildungs- lips).
gang, seiner Arbeitsweise, seines Bezugs zu Wag-
ner, die Bedeutung der Orgel für das Orchester-
Aktuelle Tendenzen
schaffen, Fragen der Programmatik sowie
soziokultureller und geistesgeschichtlicher Vernet- Eine Reihe von Sammelbänden in Österreich,
zungen (Grasberger 1974). Deutschland und den USA hat zu einer deutlichen
1977 initiierte er in Linz ein Symposion zur Verbreiterung des Themenspektrums beigetragen.
zeitgleich laufenden Ausstellung Anton Bruckner Während im amerikanischen Raum als Schwer-
zwischen Wagnis und Sicherheit. Dieser Impuls für punkte musikalische Analyse, Politik und Kultur-
eine kritische, moderne Sicht der Persönlichkeit geschichte Wiens sowie Rezeption im Nationalso-
hat viel bewirkt. 1978 kam es zur Gründung des zialismus auszumachen sind – philologische An-
Anton Bruckner Instituts Linz (ABIL), das sich näherungen stellen eher eine Ausnahme dar
bald zu einem internationalen Dokumentations- (Hawkshaw, Benjamin Korstvedt) –, sind im
Die Bruckner-Rezeption 363

deutschsprachigen Raum in jüngerer Zeit ver- Die beiden Gesamtausgaben


mehrt Studien zu einzelnen Kompositionsstruktu-
Auf dem Weg zum authentischen Notentext
ren und Parametern zu verzeichnen (u. a. Rainer
Boss: Fuge und Fugato; Dieter M. Backes: Instru- Als sich bald nach dem Tod des Komponisten
mentation; Wolfgang Grandjean: Metrik und Diskrepanzen in der Aufführungspraxis aufgrund
Form; Ekkehard Kreft: Harmonik; für die musika- der gängigen Fremdbearbeitungen und unzuläng-
lische Rezeption Wolfgang Doebel: Bruckners lichen Notenmaterials zeigten, wurde der Ruf
Sinfonien in Bearbeitungen). In jüngster Zeit sind nach authentischen Ausgaben laut. »Die von vie-
– parallel zu Trends in der Mahler-Forschung – len geäußerten, mehr oder oder weniger vagen
Überlegungen zur Historischen Aufführungspraxis Vermutungen verdichteten sich immer stärker
(Orchesteraufstellung, Authentizität des Instru- und ließen allmählich ein Problembewusstsein für
mentariums) ergänzt worden. die Existenz von Fremdbearbeitungen und damit
Während das ABIL in Linz neben den traditio- einhergehend für die Beweggründe der Bearbeiter
nellen Aufgaben zur Zeit verstärkt die oberöster- wachsen, was in der Folgezeit zu kontroversen
reichische Musikgeschichte miteinbezieht, existiert Diskussionen über das […] äußerst komplexe
seit 2007 in Wien eine »Arbeitsstelle Anton Beziehungsgeflecht zwischen der Persönlichkeits-
Bruckner« der Österreichischen Akademie der struktur Bruckners, seinem Schülerkreis und den
Wissenschaften, deren Mitarbeiter neben zwei Fremdeingriffen führte. Dadurch wurden die Be-
Großprojekten (Herausgabe eines zweibändigen arbeitungen nicht länger von nur wenigen pro-
Bruckner-Lexikon, erweiterte Neuauflage des gressiven Wissenschaftlern problematisiert; viel-
Werkverzeichnisses) Tagungen organisieren und mehr fühlten sich immer weitere Kreise von Diri-
die neue Reihe »Wiener Bruckner-Studien« her- genten und Wissenschaftlern für die Bewältigung
ausgeben. dieses Problems verantwortlich« (Doebel 2001,
Im übrigen Europa sind – der allgemeinen 227).
Rezeptionssituation gemäß – relativ wenige Schon 1912 wies August Göllerich in seiner
Brucknerforscher hervorgetreten. In den Nieder- Festrede anlässlich der Enthüllung einer Gedenk-
landen hat sich Cornelis van Zwol wiederholt mit tafel in den Arkaden der Wiener Universität auf
lokalhistorischen Bezügen und der Fassungsfrage dieses Problem hin. Vor dem Hintergrund
beschäftigt; in Tschechien widmete sich Jitka Baj- deutschnationaler Grundhaltung forderte er rigo-
garová dem dort ansässigen Freundeskreis des ros eine Bruckner-Gesellschaft, die zu einem
Komponisten und den Zentren der Bruckner- »ganzen vollen Verständnis« des Komponisten
pflege. Elena Stoyanova trat als rumänische führen solle. Die Werke müssten »in alle Kürzun-
Brucknerforscherin mit Beiträgen zu Analyse und gen ausschließenden Weihedarstellungen« darge-
Rezeption hervor. In Italien publizierte Alberto boten werden. »Nicht nur einmal ist es vorgekom-
Fassone mehrere Studien über den Komponisten. men, daß höchst begabte Dirigenten zur Sicherung
Crawford Howie hat in Großbritannien eine zwei- eines vermeintlich effektvolleren Abganges in
bändige Monographie vorgelegt; überdies wurde Bruckners Sinfonien ganze Themengruppen ein-
das Bruckner Journal als Kommunikationsorgan fach unterschlugen!« Göllerichs Fazit war folge-
mit wissenschaftlichen Texten und Rezensionen richtig: »Vermittlung einer Bruckner-Gesamtaus-
gegründet (Ken Ward, Peter Palmer, Crawford gabe, billige Volksausgaben seiner Hauptwerke in
Howie, Nicholas Attfield). In Dänemark speziali- Originalpartituren [!] und spielbare Klavieraus-
sierte sich Bo Marschner lange Zeit auf das musi- züge« (Göll-A. 4/4, 56 ff.).
kalische Schaffen; 1995 legte der Norweger Olav Einige Jahre später entdeckte Georg Göhler als
G. Myklebust eine Monographie vor. Dirigent krasse Divergenzen zwischen Partituraus-
gaben und Stimmenmaterialien und zog daraus
1919 – unter heftiger Kritik an der Universal Edi-
tion – öffentlich die polemische Konsequenz: eine
Unaufführbarkeit aus praktischer Sicht. Konkret
ging es um die Sechste Sinfonie (WAB 106). Göhler
364 Erich Wolfgang Partsch

forderte in seinem berühmten Artikel eine strikte, Ebenso sollten alle authentischen Fassungen und
ausschließliche Bezugnahme auf die Autographe, Entwürfe berücksichtigt werden. Haas unterschied
alles andere sei »höchst verdächtig« (Göhler im Weiteren zwischen »freigestalteten Texten«
1918/1919). Die Erwiderung von Alfred Orel doku- (d. h. eigenhändige Umarbeitungen einschließend)
mentiert eine grundsätzliche Zustimmung. Er und solchen, »bei denen äußere Einflüsse maßge-
bestätigte, dass die gängigen »Druckausgaben bend waren« (Haas 1936, 149). Wenn auch die
[…] dem Anlegen einer wissenschaftlich-kritischen »Fassungen letzter Hand« die editorischen Orien-
Sonde nicht standhalten« (Orel 1918/19, 422 f.). tierungsmarken vorgaben, verschloss sich Haas
Zugleich ist interessant zu lesen, dass das Problem nicht grundsätzlich anderen Fassungen, sofern sie
eines authentischen Notentextes bei Bruckner also als »original« zu bewerten waren. So sollten bei-
schon 1918 am Musikhistorischen Institut der spielsweise zur Vierten und Achten Sinfonie jeweils
Wiener Universität thematisiert worden war. zwei Ausgaben vorgelegt werden. Die Vorlage von
Lebensdokumenten war schließlich als Abschluss
des ehrgeizigen Projekts geplant (AGA XX).
Die Alte Gesamtausgabe (AGA)
Der dezidierte Rekurs auf den »Urtext« hatte
Im Umfeld des Jubiläumsjahres 1924 ergaben sich neben den oben erwähnten Gründen noch zwei
auf institutioneller Ebene Grundlagen für entspre- weitere. Zunächst sollte das offizielle Bruckner-
chende Unternehmungen. 1927 fand die entschei- Bild eines unsicheren, stets externen Einflüssen
dende Gründung der »Bruckner-Gesellschaft e.V.« zugänglichen Künstlers durch die Vorlage gültiger,
(ab 1929 »Internationale Bruckner-Gesellschaft«) originaler Notentexte korrigiert werden. Ein wei-
in Leipzig statt; zum ersten Vorsitzenden wurde terer Grund für den zu etablierenden »Ur-Bruck-
Max Auer gewählt. Als Dachgesellschaft umfasste ner« lag in einem ganz anderen Bereich, nämlich
sie damals alle bestehenden Brucknerverbände. in der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Als
Die erklärte Hauptaufgabe war eine (neue) Her- ein im Dritten Reich offiziell gefestigter »deutscher
ausgabe der Werke – und zwar durch »peinlich Tonheros« musste Bruckner unverfälscht – d. h.
genaue, traditionsgeleitete Textkritik« (zit. nach frei von externen Eingriffen – der musikalischen
Nowak 1982/83, 34). Öffentlichkeit präsentiert werden. So erhielt die
Der Verlag Breitkopf & Härtel sollte das Groß- Gesamtausgabe auch von den Machthabern eine
projekt verlegerisch betreuen, bei den Verhand- nicht geringe staatliche finanzielle Unterstützung.
lungen kam es jedoch zu immer mehr Schwierig- Die später – vor allem in amerikanischen For-
keiten. Nach einer Eigeninitiative der Österreichi- scherkreisen – behauptete »Arisierung« durch die
schen Nationalbibliothek übernahm schließlich Wiederherstellung der Originalmanuskripte ist
der Verlag Benno Filser in Augsburg diese Auf- aber weniger von Belang, da der überwiegende
gabe. Die aktive Beteiligung der Bibliothek war Teil von Bruckners Bearbeitern gar nicht jüdischer
ein entscheidender Schritt, da sich aufgrund von Abstammung war. Die geforderte »Reinheit« der
Bruckners testamentarisch festgelegtem Legat und Notentexte wurde dennoch in der jüngeren Re-
späterer Zukäufe ein großer Teil an Autographen zeptionsforschung wiederholt mit dem Rassebe-
in deren Besitz befand. Robert Haas, der damalige griff in Verbindung gesetzt (Korstvedt 1997, 101).
Direktor der Musiksammlung, und Alfred Orel Fest steht, dass im editorischen Ziel des Unterneh-
wurden mit der Herausgabe der Gesamtausgabe mens philologische und politische Intentionen
beauftragt. miteinander vermengt waren.
Die editorischen Prinzipien waren am soge- Sowohl Haas als auch Orel standen ohne Zwei-
nannten »authentischen Text« der »Fassungen fel der Nazi-Ideologie nahe, die auch in Werkein-
letzter Hand« – gewissermaßen als Dokumente führungen programmatisch einfloss. Als typisches
einer definitiven Willensäußerung des Künstlers Beispiel sei die Achte Sinfonie (WAB 108) genannt,
– orientiert. Laut Werbeblatt (siehe Abbildung 13) die Haas – auf die bekannten Äußerungen des
sollte »durch genaueste Revision auf Grund der Komponisten über den »deutschen Michel« zu-
Handschriften der authentische Text« erstellt – im rückgreifend – in den Dienst der großdeutschen
konkreten Falle besser: rekonstruiert – werden. Idee stellte. (Natürlich verschwand diese ideologi-
Die Bruckner-Rezeption 365

Abbildung 13: Werbeblatt


für die Fünfte Sinfonie,
AGA [1935] (Wien, ÖAW,
Arbeitsstelle Anton
Bruckner, Archiv)

sche Vereinnahmung bis auf einzelne Reizworte kritisch und »modern« aus. Das Projekt war auch
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wie aus von den archivalischen Grundlagen her optimal
Haas’ Einführung zur Studienpartitur in der Neu- unterstützt. Neben einer Vielzahl von Bruckner-
auflage von 1949 unschwer zu entnehmen ist.) Autographen stand ein umfangreiches Photo-
Als ein Novum in der Editionsgeschichte von gramm-Archiv zur Verfügung, in dem Ausarbei-
Bruckner-Werken muss hingegen bezeichnet wer- tungen von extern vorhandenen Autographen
den, dass die Partituren jeweils mit den entspre- aufbewahrt waren.
chenden »Berichten« des Herausgebers kombiniert Der erste veröffentlichte Band der Gesamtaus-
erscheinen sollten. Überdies waren »Partitur- gabe (AGA XV) war der Missa solemnis b-Moll
Sonderausgaben« ohne Berichte geplant sowie und dem Requiem d-Moll gewidmet; er erschien
Studienpartituren kleineren Formats mit zum Teil im Jahr 1930.
eigenen Vorworten (»Einführungen«). Mit diesen
damals hohen Ansprüchen zeichnete sich das
Unternehmen tatsächlich als wissenschaftlich-
366 Erich Wolfgang Partsch

Der Urtext im Spannungsfeld dings passierte bei dieser wichtigen Edition der
der Meinungen Neunten ein Missgeschick, da die relevanten Quel-
len nicht vollständig erfasst worden waren – so
Der rasche wirtschaftliche Zusammenbruch des fehlten Skizzen in Berliner Bibliotheksbesitz.)
Verlags Filser führte jedoch zu einer mehrjährigen Die nächsten Bände galten der Ersten Sinfonie
Pause. Die geplante Herausgabe der Neunten Sin- (WAB 101) in beiden Fassungen (»Linzer« und
fonie verzögerte sich dadurch, allerdings standen ja »Wiener«), der Sechsten und der Fünften. Anhand
die Dirigierpartitur und das Stimmenmaterial zur der Editionspraxis der Ersten lässt sich das editori-
Verfügung, so dass eine denkwürdige Aufführung sche Leitbild sehr gut demonstrieren. Die Anord-
in München zustande kommen konnte: Am 2. nung »Wiener« – »Linzer« Fassung dokumentiert,
April 1932 dirigierte Siegmund von Hausegger die »daß die Alte Bruckner-Gesamtausgabe dem
Münchner Philharmoniker. Das Werk erklang Grundsatz ›Letztfassung‹ huldigte. Man bevor-
zuerst in der vertrauten Bearbeitung von Ferdi- zugte die ›endgültige‹ Gestalt eines Werkes, nicht
nand Löwe, daraufhin nach dem neu erstellten die erste Fassung« (Nowak 1982/83, 38). Im Fall
»Urtext«. der Ersten hatte sich die »Wiener Fassung« in der
Mit dieser Aufführung wurde seitens des edito- Aufführungstradition seit ihrer Uraufführung im
rischen Unternehmens ein markantes Zeichen in Jahr 1891 durchgesetzt; erst mehr als vierzig Jahre
der Öffentlichkeit gesetzt. Dass das neue Konzept später wurde die »Linzer Fassung« als erste Nieder-
mangels Erfahrungen mit originalen Lesarten und schrift wiederentdeckt. Haas publizierte deshalb
aufgrund eingeschliffener Aufführungstraditionen auch diese ältere Lesart, trotzdem aber blieb der
aber ebenso ein Risiko bedeutete, war allen Betei- jüngere »Haupttext« seine Referenzpartitur, was
ligten von Anfang an klar. So wurden bereits 1930 für die Rezeptionsgeschichte markante Konse-
offiziell zentrale Fragen an Künstlerpersönlichkei- quenzen hatte.
ten gerichtet. Sie betrafen in erster Linie die prak- Natürlich gab es ebenso massive kritische Ge-
tische Aufführbarkeit der neuen »Originalfassun- genstimmen, die sich besonders 1936 an der Fünf-
gen«, die aktuelle Relevanz der alten Editionen ten Sinfonie entzündeten, die ja bisher nur in der
sowie Retuschenpraxis und Kommentare. Die Bearbeitung Franz Schalks bekannt gewesen war
Basis für die Bewertung war natürlich die aktuelle (siehe Abbildung 14). Nach der Münchner Erst-
Neuausgabe der Neunten Sinfonie (WAB 109). Die aufführung wurde das Werk am 13. März 1936 von
zwiespältige Position zwischen wohlvertrauten den Wiener Symphonikern unter Oswald Kabasta
Usancen und Neuorientierung illustriert Hauseg- in Wien aufgeführt. Das Konzert wurde vom
gers Urteil sehr deutlich: Rundfunk übertragen. Bereits im Vorfeld ver-
suchte die Witwe des Bearbeiters, Lili Schalk, die
»Der Urtext ist zwar fast durchwegs praktisch aufführbar, tiefgreifende Bearbeitung von 1896 zu verteidigen.
steht aber an Spielbarkeit, orchestraler Zweckmäßigkeit
und Klangwirkung vielfach weit hinter der gedruckten Haas hingegen warf in einem Vortrag dem Bruck-
Ausgabe zurück. Den Aufführungen wird nach wie vor ner-Kreis Verfälschungen vor, wenn er hierbei
die Löwesche Fassung zugrunde gelegt werden müssen. auch gutwillige Motive unterstellte. Zudem rich-
Nun frägt es sich, ob nicht bei gewissen, hauptsächlich
dynamischen Einzelheiten auf den Urtext zurückgegan-
tete sich Haas’ Kritik an die zeitgenössische
gen werden sollte. Ein absolut objektives Kriterium Bruckner-Rezeption in der Presse, was einigen
hierfür gibt es nicht, sondern die Entscheidung wird im- Aufruhr verursachte, in den sich die Universal
mer mehr oder weniger individuell sein.« (Hausegger, Edition als Hauptverlag der Bearbeitungen ein-
Brief an Max Auer, 4.2.1930; Wien, ÖNB-MS, Fonds 31
Auer 318) mengte. Heinrich Damisch bezeichnete im März
1936 in einem Artikel in der Österreichischen Wo-
1934 konnte endlich, von Alfred Orel vorgelegt, chenschau Haas’ Verfahren sogar als »herostratisch«
die Neunte in der Gesamtausgabe erscheinen. (d. h. aus Ruhmsucht verbrecherisch).
Neben einer praktikablen Studienpartitur erschie- Wie sehr das Publikum durch dieses weitere
nen die »große« Dirigierpartitur sowie Entwürfe Dokument eines »neuen« Bruckner aufgerüttelt
und Skizzen, ein erster Versuch, den Schaffenspro- wurde, illustriert folgender Zeitschriftenaus-
zess bei Bruckner näher zu dokumentieren. (Aller- schnitt:
Die Bruckner-Rezeption 367

Abbildung 14: AGA [1935] (Wien, ÖAW, Arbeitsstelle Anton Bruckner, Archiv)
368 Erich Wolfgang Partsch

»Schalk […] hat es vor allem auf Bruckners ungemischt so dass Haas gewissermaßen auf drei Ebenen zu
reine Orchesterfarben abgesehen, die, wo dies nur immer revidieren hatte: Erstens hob er Striche auf, zwei-
angeht, durch Mixturen ersetzt werden. Koppelungen
und Doppelungen der Stimmen, Verteilungen und Ver- tens tilgte er »Mißverständnisse, ja Sinnlosigkei-
setzungen, wo man hinhört. Zudem eine kleinliche ten« und schließlich zog er noch Passagen der
Furcht vor Dissonanzen, wenn etwa im dritten und fünf- Erstfassung mit ein (Doebel 2001, 312 f.). Zu dieser
ten Takte des Schlußsatzes die ursprünglichen Viertel der
Klarinette in Achtel verkürzt werden, damit im ersten
Zeit war der Verlag bereits nach Leipzig umgezo-
Falle nicht b und a, im zweiten nicht d und e zusammen- gen, wo schließlich 1945 kurz vor Kriegsende die
treffen. Überdies teilt der Bearbeiter die Stelle der Trom- gesamten Bestände durch einen Bombenangriff
pete zu. Indes, Schalk geht noch weiter. Selbst die Form vernichtet wurden.
hat er nicht unangetastet gelassen«. (Neue Zeitschrift für
Musik, 1935, 1407 f.) Die letzten beiden Bände der AGA waren der
Siebten Sinfonie und der f-Moll-Messe (1944) ge-
Besonders war es Max Morold, der die Entde- widmet. Im Fall der Sinfonie verstrickte sich Haas
ckung des angeblich »wahren« Bruckner kritisch jedoch in philologische Widersprüche, indem er
hinterfragte. Einerseits hob er die vom Komponis- dachte, externe, durch die Aufführungspraxis ge-
ten gebilligten Fremdeingriffe hervor – eine bis wonnene Eintragungen rückgängig machen sowie
heute strittige Frage –, andererseits versuchte er die zahlreichen korrigierten (radierten bzw. über-
Bruckners dynamisches Schaffenskonzept im klebten) Passagen in die originale Textgestalt
Sinne einer künstlerischen Weiterentwicklung in rückführen zu müssen. Diese Art einer Rekon-
die Debatte einzubringen. So plädierte Morold – struktion des »Urtextes« führte aber dazu, dass
die Leitlinie der Neuen Gesamtausgabe in Grund- sich Haas’ Lesart im Vergleich mit dem Erstdruck
zügen vorwegnehmend – für eine Gleichstellung von 1885 vom Autograph deutlich entfernte.
der Erstfassungen (»Urfassungen«) mit den »vom Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete
Meister selbst gewollten letzten Fassungen« (Mo- auch das Ende der Alten Gesamtausgabe. Mit
rold 1936, 537). Aber auch er verstrickte sich in Ausnahme der Dritten lagen sämtliche von Bruck-
Missverständnisse, weil er Erstdrucke als Fassun- ner gezählten Sinfonien ediert vor, darüber hinaus
gen letzter Hand einschätzte. Neben ihm gab es das Requiem d-Moll, die Missa solemnis b-Moll,
noch weitere prominente Gegner der Gesamtaus- die e- und f-Moll-Messen sowie (als Vorabdruck)
gabe, die noch lange Zeit hindurch die alten Par- der Marsch und die Drei Orchesterstücke.
tituren forcierten.
Mit der Herausgabe der Zweiten Sinfonie (1938)
Tradition und Innovation:
wagte Haas erstmalig das Experiment der »Misch-
Die Neue Gesamtausgabe (NGA)
Fassung« als »Ideal-Fassung«. Dem lag die Idee
zugrunde, unterschiedliche Werkstadien für die 1951 begann die Neue Gesamtausgabe unter der
Praxis zu einem optimalen Ganzen zu vereinen. Leitung von Leopold Nowak mit der Ausgabe der
Zugleich war es der riskante Versuch, die Existenz Fünften Sinfonie. Ein persönlicher Traditionsbezug
alternativer Fassungen editorisch zu bewältigen war allein schon dadurch gegeben, dass Nowak
und so – wenn auch fragmentierend – den »ersten bereits Mitarbeiter an der bestehenden Gesamt-
Willen« des Komponisten miteinzubeziehen. Im ausgabe (AGA) gewesen war. Der Neubeginn war
Fall der Zweiten galt natürlich die Fassung 1877 als somit eng mit dem alten Unternehmen verbun-
von »letzter Hand« geschrieben, aber Haas nahm den, wenn auch deutliche Unterschiede in der
dennoch viele Einzelheiten aus der ersten Fassung editorischen Auffassung sichtbar sind. Im ersten
auf. So wurden beispielsweise Striche aufgemacht Prospekt heißt es konkret dazu:
und die Schlüsse des Kopfsatzes und des langsa-
»Vorerst gelangen bereits erschienene Bände in einer
men Satzes aus der ersten Fassung übernommen. zweiten sorgfältig revidierten Ausgabe zur Veröffentli-
Haas wandte später dasselbe synthetische Verfah- chung, ihnen werden die übrigen folgen. Mit Benützung
ren – nur mit anderen Akzentsetzungen – bei der aller bisher gemachten Erfahrungen und Verwertung aller
Edition der Achten Sinfonie (1939) nochmals an. Richtigstellungen und Ergänzungen verfolgt die Ausgabe
das einzig erstrebenswerte Ziel: Unbedingt zuverlässige
Hier stellte sich aber das Editionsproblem auf- Notentexte, Mitteilung aller erreichbaren Skizzen, Vor-
grund der Fremdeinflüsse weitaus komplexer dar, stufen, Abweichungen und Fassungen.«
Die Bruckner-Rezeption 369

Als editorisches Grundprinzip galt also weiterhin Mischcharakter nicht ganz aufgegeben. Erst 2005
die »authentische« Lesart, aber die Publikation erschien die Fassung 1872 in einer eigenen Aus-
»aller erreichbaren Skizzen, Vorstufen, Abwei- gabe.
chungen und Fassungen« eröffnete nun ein deut- Die »Revisionsberichte« wurden für die Neue
lich weiteres Spektrum. Grundsätzlich sollten alle Gesamtausgabe erstmalig als eigenständige Bände
Werkfassungen in absoluter Chronologie ohne angelegt. Grundlage sollten zwar die alten Berichte
jegliche Wertung zugänglich gemacht werden: von Haas sein, allerdings durch notwendige Kor-
»Für eine Gesamtausgabe muß jedoch als oberstes Gesetz
rekturen und Ergänzungen erweitert. Neben der
gelten, die Partituren so zu drucken, wie sie sich in den für das Studium besseren Verwendbarkeit wurde
Eigenschriften darstellten. Ob sich aus ihnen eine ›ideale‹ damit eine zeitliche Unabhängigkeit von den
Fassung – wie man so meint, der ›echte‹ Bruckner – ›zu-
Partiturausgaben gewährleistet, was aber einen
rechtzimmern‹ läßt, das ist eine Frage, deren Beantwor-
tung nicht im Rahmen der Bruckner-Gesamtausgabe gewichtigen Nachteil brachte: Der an sich in der
liegt. Sie hat nur zu sorgen, daß aus den zu einem Werk Praxis berechtigte Vorrang der Notenbände führte
vorhandenen Quellen der authentische Text erforscht bald zur Vernachlässigung der Revisionsberichte,
und gedruckt wird. Sind von einem Werk zwei voneinan-
der verschiedene Partituren von Bruckners eigener Hand die zeitlich bedeutend später – auch zum Teil von
erhalten geblieben, dann müssen eben beide als verschie- ganz anderen Forschern – erstellt werden mussten.
dene ›Fassungen‹ gedruckt werden.« (zitiert nach Nowak So erschien beispielsweise der von Paul Hawkshaw
1982/83, 40)
erstellte Revisionsbericht zur f-Moll-Messe (1960)
So liegt beispielsweise die Dritte Sinfonie im Rah- erst 44 Jahre nach deren Publikation, jener zur
men der NGA in insgesamt vier Bänden vor, Achten Sinfonie (Ausgaben 1955 bzw. 1972) ist der-
nämlich in ihren Fassungen von 1873, 1877 und zeit noch in Arbeit. Wichtig für die öffentliche
1889; zusätzlich erhielt das Adagio (»Adagio Nr. 2«) Verbreitung der neuen Partituren war ein Ver-
von 1876 eine eigenständige Ausgabe. Zudem tragsabschluss mit der Edition Eulenburg, die eine
lehnte Nowak Konstruktionen von »Mischfassun- Lizenzausgabe in der Reihe ihrer Studienpartitu-
gen« strikt ab. ren eröffnete.
Von Beginn an zeigten sich äußere und innere Die Neue Gesamtausgabe schritt rasch voran:
Struktur der Neuausgabe verändert: Projektiert Im ersten Jahrzehnt (seit 1951) erschien rund ein
wurden 22 Bände in blauen Umschlägen, wobei Dutzend Bände. Neben der notwendigen Revision
die Idee einer Integration der Lebensdokumente der bereits vorliegenden Bände konnte eine Reihe
bestehen blieb. Die Bände I bis XI waren für die neuer Werke bzw. Fassungen der musikalischen
Sinfonien bestimmt, gefolgt von frühen Orches- Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. So
terwerken (XII), Kammermusik (XIII), Kirchen- erfolgte 1963 die Herausgabe des Streichquintetts
musik (XIV–XXI) sowie Kantaten und Chorwer- (WAB 112) mit dem Intermezzo (WAB 113), im
ken (XXII). Jahr darauf wurde der Psalm 150 (WAB 38) von
Zu Beginn des Unternehmens standen revi- Franz Grasberger vorgelegt, 1968 erschien die an-
dierte Reprints von bereits existierenden Partituren nullierte d-Moll-Sinfonie (WAB 100), 1973 die
im Zentrum, allerdings erzwangen grundsätzliche Studiensinfonie f-Moll (WAB 99) erstmals in kom-
philologische Überlegungen und Erkenntnisse – pletter Gestalt. Daneben erschlossen Zusatzbände
nicht zuletzt zu Bruckners Schaffensprozess und bislang unbekannte Werkstadien: Als Beispiel sei
Revisionspraktiken – auch tiefgreifende Korrektu- die von Wolfgang Grandjean erarbeitete Publika-
ren. Beispiele sind die Neuausgaben der Siebten tion zur Ersten Sinfonie mit dem Adagio in seiner
und Achten Sinfonie. Aber auch neue Probleme ursprünglichen Fassung und der älteren Komposi-
tauchten auf: Für die Zweite Sinfonie (1965) wurde tion des Scherzo genannt (1995).
keine vollständige Neuedition der beiden Fassun- Zur fragmentarischen Neunten Sinfonie wurde
gen vorgelegt, damit erwies sich die Partitur natür- eine umfangreiche, ausführlich kommentierte
lich eindeutig als traditionsbelastet. Aus stichtech- mehrbändige Dokumentation vorgelegt, die so-
nischen Gründen wurde manches beibehalten (so wohl das komplette autographe Material (auch für
die »vi-de«-Passagen am Schluss des ersten Satzes, die ersten drei Sätze) als auch praxisorientiert eine
des Andante und des Finale), und dadurch der alte spielbare Rekonstruktion des Finale enthält (John
370 Erich Wolfgang Partsch

A. Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs). Damit er- vorliegenden Fassungen und der Ablehnung von
gaben sich neue, essenzielle Einblicke in Bruckners »Mischfassungen« wurde für Wissenschaft und
Werkstatt. Konzertpraxis eine breit angelegte Dokumentation
Nachgereichte Revisionsberichte gingen zuwei- geschaffen, die zugleich Möglichkeiten und – in
len über die normal gewohnten Umfänge hinaus, der spezifischen Arbeitsweise begründete – Gren-
indem sie zu den üblichen philologischen Nach- zen bei der Rekonstruktion von »Urtexten« Bruck-
weisen detailliert neue Erkenntnisse zum Schaf- ners aufzeigt. Wie mit noch immer existenten
fensprozess, aber ebenso zur Problematik der fassungsspezifischen Widersprüchen und philolo-
Editionsgeschichte insgesamt brachten (z. B. der gischen Detailproblemen umgegangen werden
von Thomas Röder erarbeitete Bericht zur Dritten soll, wird sich in der Zukunft zeigen.
Sinfonie oder der zur f-Moll-Messe, in deren Neu- Während heute weiterhin von einzelnen Diri-
ausgabe konsequenterweise die Fassungen 1883 genten die Haas-Ausgaben verwendet und vor
und 1893 veröffentlicht wurden). ideologisch motiviertem Hintergrund zuweilen
In jüngerer Zeit kamen weitere Forschungser- alte Bearbeitungen neuerlich favorisiert werden,
gebnisse hinzu, die entsprechende philologische ist die internationale Aktualität und Bedeutung
Entscheidungen verlangten. So wurde im Fall der der NGA unbestritten: Pro Jahr sind international
Vierten Sinfonie die Ausgabe des Erstdruckes in die an die 400 Leihvorgänge zu verzeichnen. Auch
Gesamtausgabe aufgenommen, da diesem auf- Versuche, mit Berufung auf Haas eine Art »schöp-
grund gravierender autographer Revisionen, die ferische Musikwissenschaft« zu etablieren und
Benjamin Korstvedt eingehend analysiert hat, »Idealfassungen« für ein Publikum in Ländern
doch der Rang einer Primärquelle zugesprochen ohne Bruckner-Tradition zu konstruieren (so
wurde. Mit der Vorlage sämtlicher Briefe (NGA Paul-Gilbert Langevin in Frankreich oder Harry
XXIV in zwei Teilbänden) durch Andrea Harrandt Halbreich in Belgien), haben sich nicht durchset-
(und Otto Schneider †) wurde auch die von Be- zen können. Die Publikation alternativer »Urtexte«
ginn an festgelegte Aufgabe einer Publikation von mit Blick auf Bruckners »works in progress« und
Lebensdokumenten erfüllt. seine erstaunlich moderne Schaffensdynamik hat
Gegenwärtig ist die Arbeit an der NGA nahezu die ursprünglichen Intentionen des Komponisten
abgeschlossen. Mit der Gleichberechtigung aller grundsätzlich erfasst.

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ANHANG
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Werkverzeichnis
zusammengestellt von Dominique Ehrenbaum

A. Instrumentalwerke Supplementband zu NGA III/1 (Adagio 1876), NGA


III/2 (2. Fassung), NGA III/3 (3. Fassung).
1. Sinfonien Vierte Sinfonie Es-Dur; WAB 104; 1. Fassung 1874, 2.
Sinfonie f-Moll (»Studiensinfonie«); WAB 99; 7. Januar Fassung 1878–1880 (3. Fassung des Finales), 3. Fassung
bis 26. Mai 1863; EA 2. Satz 30. Okt. 1913 Wien, 1., 2. 1881, 1886, 1887–1888 (Uminstrumentierungen von
und 4. Satz 18. März 1923 Klosterneuburg, Philhar- Ferdinand Löwe, 4. Fassung des Finales); Widmung
monie, 3. Satz 12. Okt. 1924 Klosterneuburg; Erst- an Constantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst (»Sr.
druck nur 2. Satz 1913 (Wien, Universal Edition); Durchlaucht, dem Prinzen Constantin Fürsten zu
NGA X. Hohenlohe-Schillingsfürst in tiefster Ehrerbietung
Erste Sinfonie c-Moll; WAB 101; 1. Fassung (»Linzer«) gewidmet«); EA 2. Fassung 20. Febr. 1881 Wien,
Jan. 1865 bis 14. Apr. 1866, 2. Fassung (»Wiener«) 12. Musikvereinssaal, 3. Fassung 22. Jan. 1888 ebda., nur
März 1890 bis 18. Apr. 1891; Widmung (2. Fassung) Scherzo 1. Fassung 12. Dez. 1909 Linz, 1. Fassung alle
an die Universität Wien (»Universitati Vindobo- Sätze 20. Sept. 1975 Linz, Brucknerhaus; Erstdruck 3.
nensi / Primam Suam Symphoniam / D.D. / Vene- Fassung 1889/90 (Wien, Gutmann); NGA IV/1 (1.
rabundus / Antonius Bruckner / Doctor Hono- Fassung), NGA IV/2 (2. Fassung), Supplementband
rarius«); EA 1. Fassung 9. Mai 1868 Linz, Redouten- zu NGA IV/2 (Finale 1878).
saal, 2. Fassung 13. Dez. 1891 Wien, Musikvereinssaal; Fünfte Sinfonie B-Dur; WAB 105; 14. Febr. 1875 bis 16.
Erstdruck 2. Fassung 1893 (Wien, Doblinger); NGA Mai 1876, Umarbeitung 1877 bis 4. Jan. 1878; weitere
I/1 (1. Fassung), NGA I/2 (2. Fassung). Änderungen 1878–1887; Widmung an Carl Anton
Sinfonie d-Moll (»Annullierte«); WAB 100; 24. Jan. bis Franz von Stremayr (»Seiner Excellenz, dem Herrn
12. Sept. 1869; EA 3. und 4. Satz 17. Mai 1924 Kloster- Minister Carl v. Stremayr, k.k. Minister für Cultus
neuburg, Philharmonie, alle Sätze 12. Okt. 1924 und Unterricht, Ritter der eisernen Krone I. Cl. U.
Klosterneuburg; Erstdruck 1924 (Wien, Universal des russ. St. Anna Ordens I. Cl. Geh. R. J. Dr. etc etc.
Edition); NGA XI. in tiefster Ehrfurcht gewidmet«); EA Fassung für zwei
Zweite Sinfonie c-Moll; WAB 102; 1. Fassung 1871 bis Klaviere von Josef Schalk 20. Apr. 1887 Wien, Bösen-
11. Sept. 1872, 2. Fassung 1873, 1876 und 1877, Druck- dorfersaal, Bearbeitung von Franz Schalk 9. Apr. 1894
fassung 1892; EA 1. Fassung 26. Okt. 1873 Wien zur Graz, Theater am Stadtpark, 23. Okt. 1935 München,
Schlussfeier der Weltausstellung, Wiener Philharmo- Münchner Philharmoniker; Erstdruck Bearbeitung
niker, Umarbeitung von 1876 20. Febr. 1876 Wien, von Franz Schalk 1896 (Wien, Doblinger); NGA V.
Musikvereinssaal, Druckfassung 25. Nov. 1894 Wien; Sechste Sinfonie A-Dur; WAB 106; Aug./Sept. 1879 bis
Erstdruck Druckfassung 1892 (Wien, Doblinger); 3. Sept. 1881; Widmung an Anton Ölzelt Ritter von
NGA II/1 (1. Fassung), NGA II/2 (2. Fassung). Newin (»Sr Hochwohlgeboren / P. T. Herrn / Anton
Dritte Sinfonie d-Moll; WAB 103; 1. Fassung 1872–73, / Ritter von Ölzelt / von Newin«); EA Mittelsätze 11.
2. Fassung 1874, 1876–1878, 3. Fassung 1888–1889; Febr. 1883 Wien, Musikvereinssaal, gekürzt 26. Febr.
Widmung an Richard Wagner (»Sr. Hochwohlgebo- 1899 ebda., ungekürzt 14. März 1901 Stuttgart, Hof-
ren / Herrn Herrn / Richard Wagner, / dem uner- kapelle; Erstdruck 1899 (Wien, Doblinger); NGA
reichbaren, / weltberühmten und erhabenen Meister VI.
/ der Dicht- und Tonkunst, / in tiefster Ehrfurcht Siebte Sinfonie E-Dur; WAB 107; 23. Sept. 1881 bis 3.
gewidmet«); EA 2. Fassung, vermutlich stark gekürzt, Sept. 1883; Widmung an König Ludwig II. von Bay-
16. Dez. 1877 Wien, Musikvereinssaal, 3. Fassung 21. ern (»Seiner Majestät, dem Könige Ludwig II. von
Dez. 1890 ebda., 1. Fassung 1. Dez. 1946 Dresden- Bayern in tiefster Ehrfurcht gewidmet«); EA Fassung
Bühlau; Erstdruck 2. Fassung 1879 (Wien, Rättig), 3. für 2 Klaviere 1. und 3. Satz 10. Febr. 1883 Wien,
Fassung 1890 (Wien, Rättig); NGA III/1 (1. Fassung), Bösendorfersaal, Fassung für 2 Klaviere alle Sätze 27.
Werkverzeichnis 375

Febr. 1884 ebda., Orchesterfassung 30. Dez. 1884 4. Kammermusik


Leipzig, Neues Theater, EA Wien 21. März 1886; Scherzo g-Moll (für Streichquartett); WAB deest; Früh-
Erstdruck 1885 (Wien, Gutmann); NGA VII. jahr 1862; Kitzler-Studienbuch, S. 70 ff.
Achte Sinfonie c-Moll; WAB 108; 1. Fassung vermutlich Streichquartett c-Moll; WAB 111; vollendet 7. Aug.
Juni/Juli 1884 bis 9./10. August 1887, 2. Fassung Mitte 1862; EA 15. Febr. 1951 Berlin, RIAS; NGA XIII/1.
Okt. 1887 bis 10. März 1890; Widmung an Kaiser Rondo c-Moll (für Streichquartett); WAB deest; vollen-
Franz Joseph I. (»Sr. K.u.K. Apostolischen Majestät det 15. Aug. 1862; Kitzler-Studienbuch, S. 197 ff.;
Franz Josef I. Kaiser von Österreich und Apostoli- NGA XII/1.
scher König von Ungarn etc. etc. in tiefster Ehr- Abendklänge, Charakterstück e-Moll (für Violine und
furcht«); EA 2. Fassung 18. Dez. 1892 Wien, Musik- Klavier); WAB 110; 7. Juni 1866; 1. Niederschrift
vereinssaal, 1. Fassung 1. Satz 2. Mai 1954 München, Widmung an »P. T. Herrn Vater«, Reinschrift Wid-
1. Fassung gesamt 2. Sept. 1973 London; Erstdruck mung an Hugo von Grienberger; Erstdruck 1922
Bearbeitung von Josef Schalk 1892 (Berlin, Schlesin- (Göll.-A. 1); NGA XII/7.
ger); NGA VIII/1 (1. Fassung), NGA VIII/2 (2. Fas- Streichquintett F-Dur; WAB 112; Dez. 1878 bis 12. Juli
sung). 1879; Widmung an Herzog Maximilian Emanuel in
Neunte Sinfonie, d-Moll (unvollendet); WAB 109 und Bayern (»Sr. Königl. Hoheit dem Herzoge / Max
143 (Skizzen zum Finale); 1. bis 3. Satz 21. September Emanuel in Bayern / in tiefster Ehrfurcht / gewid-
1887 (erste Skizze zum 1. Satz; Wiederaufnahme der met«); EA (ohne Finale) 17. Nov. 1881 Wien, Bösen-
Arbeit 18. Febr. 1891) bis 30. Nov. 1894, 4. Satz (un- dorfersaal, komplett 5. Apr. 1884 ebda.; Erstdruck
vollendet) 24. Mai 1895 bis zum Tod; EA 1. bis 3. Satz 1884 (Leipzig, Gutmann); NGA XIII/2, S. 1 ff.
Bearbeitung Ferdinand Löwe 11. Febr. 1903 Wien, Intermezzo d-Moll (für Streichquintett); WAB 113;
Musikvereinssaal, 1. bis 3. Satz Originalfassung 2. vollendet 21. Dez. 1879; EA 23. Jan. 1904 Wien,
Apr. 1932 München, Philharmonie, Klavierfassung Wiener Akademischer Wagner-Verein; Erstdruck
Finalsatzfragment 1934 München, Orchesterfassung 1913 (Wien, Universal Edition); NGA XIII/2,
Finalsatzfragment in der Bearbeitung von Fritz Oeser S. 70 ff.
12. Okt. 1942 Leipzig; Erstdruck Bearbeitung Ferdi-
nand Löwe 1903 (Wien, Doblinger); NGA IX (1. bis 5. Klavierstücke und Orgelwerke
3. Satz), Supplementband zu NGA IX (Rekonstruk- Nachspiel d-Moll (für Orgel); WAB 126; um 1846 oder
tion der Autograph-Partitur des Finale nach den er- später; Widmung an Ignaz Traumihler; Erstdruck
haltenen Quellen), weiterer Supplementband zu 1927 (Augsburg/Wien, Anton Böhm & Sohn); NGA
NGA IX (Faksimile-Ausgabe des unvollendeten Fi- XII/6, S. 1 ff. – Die Exposition des Fugato benutzt
nale), dritter Supplementband zu NGA IX (Entwürfe eine Versette von Gottlieb Muffat, der Rest ist von
zum 2. Satz). Bruckner selbst.
Andante (Vorspiel) d-Moll (für Orgel); WAB 130; um
2. Andere Orchesterwerke 1846; Widmung an Ignaz Traumihler; Erstdruck 1927
Marsch d-Moll; WAB 96; 1862, vollendet 12. Okt.; EA (Augsburg/Wien, Anton Böhm & Sohn); NGA
12. Okt. 1924 Klosterneuburg, Philharmonie; Erst- XII/6, S. 4.
druck Klavierauszug 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA Vorspiel und Fuge c-Moll (für Orgel); WAB 131; 1847,
XII/4. Fuge 15. Jan. 1847; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2);
Drei Orchesterstücke Es-Dur, e-Moll, F-Dur; WAB 97; NGA XII/6, S. 5 ff.
Mitte Okt. bis 16. Nov. 1862; EA 12. Okt. 1924 Klos- Lancier-Quadrille C-Dur; WAB 120; um 1850; Wid-
terneuburg, Philharmonie; Erstdruck 1930 (Göll.-A. mung an Aloisia Bogner; NGA XII/2, S. 1 ff.
3/2); NGA XII/4, S. 11 ff., 19 ff., 27 ff. Steiermärker G-Dur; WAB 122; um 1850; Widmung an
Ouvertüre g-Moll; WAB 98; 18. Nov. 1862 bis 4. Jan. Aloisia Bogner; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA
1863, Überarbeitung 6. Jan. bis 22. Jan. 1863; EA 8. XII/2, S. 11.
Sept. 1921 Klosterneuburg, Philharmonie; Erstdruck Quadrille für Klavier zu vier Händen, sechs Sätze A-
1921 (Wien, Universal Edition); NGA XII/5. Dur, D-Dur, A-Dur, F-Dur, d-Moll, E-Dur; WAB
121; um 1854; Widmung an Georg Ruckensteiner,
3. Musik für Bläser Stiftsrichter von St. Florian; Erstdruck 1928 (Göll.-A.
Aequale c-Moll; WAB 114; 3 Posaunen; Ende Jan. 1847; 2/2); NGA XII/3, S. 8 ff.
EA 1847 St. Florian (?); Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); Drei kleine Stücke für Klavier zu vier Händen, G-Dur,
NGA XXI, S. 52. G-Dur, F-Dur; WAB 124; Nr. 1 1853, Nr. 2 1854,
Aequale c-Moll; WAB 149; 3 Posaunen; Ende Jan. 1847; Nr. 3 1855; Widmung an Marie und Josef Marböck;
EA 1847 St. Florian (?); NGA XXI, S. 53. Erstdruck 1925 (Wien, Universal Edition); NGA
Marsch Es-Dur; WAB 116; Militärmusik; 12. Aug. 1865 XII/3, S. 4 ff.
vollendet; EA vermutlich 1865 Linz; Erstdruck 1930 Klavierstück Es-Dur; WAB 119; um 1856; Erstdruck
(Göll.-A. 3/2); NGA XII/8. 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XII/2, S. 12.
Fuge d-Moll (für Orgel); WAB 125; 6. und 7. Nov. 1861;
Widmung an Pfarrer Ferdinand Kerschbaum; EA 27.
Juli 1862 Linz, Stadtpfarrkirche; Erstdruck 1911 (Franz
376 Werkverzeichnis

Gräflinger: Anton Bruckner. Bausteine zu seiner Le- Messe ohne Kyrie und Gloria für den Gründonnerstag
bensgeschichte. München 1911, Notenbeilage nach F-Dur (»Christus factus est«, I); WAB 9; 4st. ge-
S. 87); NGA XII/6, S. 9 ff. mischter Chor; 1844; Erstdruck 1922 (Göll.-A. 1);
Walzer Es-Dur; WAB deest; 1. Jan. 1862; Kitzler-Studi- NGA XXI, S. 17 ff.
enbuch, S. 25. Messe ohne Gloria d-Moll (»Kronstorfer Messe«); WAB
Walzer C-Dur; WAB deest; 2. Jan. 1862; Kitzler-Studi- 146; 4st. gemischter Chor a cappella; vermutlich
enbuch, S. 26. Anfang 1844; EA 1. Dez. 1974 St. Florian; NGA XXI,
Mazurca a-Moll; WAB deest; zwischen 2. und 6. Jan. S. 167 ff.
1862; Kitzler-Studienbuch, S. 29. Requiem d-Moll; WAB 39; Soli, 4st. gemischter Chor, 1
Menuett C-Dur; WAB deest; zwischen 2. und 6. Jan. Horn, 3 Posaunen, Streicher, Orgel; 1848/49, vollen-
1862; Kitzler-Studienbuch, S. 30. det 14. März 1849, Überarbeitung 1892; auf den Tod
Polka C-Dur; WAB deest; zwischen 2. und 6. Jan. 1862; Franz Sailers; Widmung an Musikdirektor Franz
Kitzler-Studienbuch, S. 27. Bayer (regens chori) in Steyr (2. Manuskript); EA
Menuett mit Trio G-Dur; WAB deest; kurz nach dem 1849 St. Florian; Erstdruck 1930 (AGA XV); NGA
6. Jan. 1862; Kitzler-Studienbuch, S. 35. XIV.
Andante Es-Dur; WAB deest; Frühjahr 1862; Kitzler- Missa solemnis b-Moll; WAB 29; Soli, 4st. gemischter
Studienbuch, S. 49. Chor, Orchester, Orgel; Apr./Mai bis 8. Aug. 1854;
Andante d-Moll; WAB deest; Frühjahr 1862; Kitzler- Widmung an Friedrich Theophil Mayr (»Zur hoch-
Studienbuch, S. 50 f. feierlichen Infulierung des Hochwürdigsten Herrn
Chromatische Etüde F-Dur; WAB deest; Frühjahr 1862; Prälaten Friedrich I« / »Seiner Hochwürden und
Kitzler-Studienbuch, S. 79 f. Gnaden dem Hochwohlgebornen, Hochgelehrten
Etüde G-Dur; WAB deest; Frühjahr 1862; Kitzler-Stu- Herrn Friedrich Theophilus Mayr, Probste des regu-
dienbuch, S. 77 f. lirten Chorherrnstiftes St. Florian, lateranenschen
Marsch d-Moll; WAB deest; Frühjahr 1862; Kitzler- Abte, Seiner k.k. apostolischen Majestät Rath und
Studienbuch, S. 37. Oberst-Erbland-Hofcaplan, Mitglied des löblichen
Thema und Variationen G-Dur; WAB deest; Frühjahr Prälatenstandes in Oesterreich ob der Enns etc. etc.
1862; Kitzler-Studienbuch, S. 87 ff. etc. in tiefster Ehrfurcht gewidmet«); EA 14. Sept.
Sonate g-Moll (Entwurf 1. Satz); WAB deest; 29. Juni 1854 St. Florian; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA
1862; Kitzler-Studienbuch, S. 157 ff.; NGA XII/2, XV.
S. 25 ff. Messe d-Moll; WAB 26; Soli, 4st. gemischter Chor,
Vier Fantasien d-Moll, c-Moll, c-Moll, d-Moll; WAB Orchester, Orgel; Mai/Juni 1864 bis 29. Sept. 1864,
deest; beendet 25. Aug. 1862; Kitzler-Studienbuch, »verbessert« Sommer 1876, »neu verbessert« 1881/82;
S. 213 ff. EA 20. Nov. 1864 Linz, Alter Dom; Erstdruck 1892
Stille Betrachtung an einem Herbstabende fis-Moll (Innsbruck, Johann Gross); NGA XVI.
(ursprünglich lt. früher Skizze: Herbstseufzer); WAB Messe e-Moll; WAB 27; 8st. gemischter Chor, 2 Oboen,
123; 10. Okt. 1863; Widmung an Emma Thanner; 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3
Erstdruck 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XII/2, S. 13 f. Posaunen; 1. Fassung Aug. 1866 bis 25. Nov. 1866, 2.
Erinnerung, Charakterstück As-Dur; WAB 117; vermut- Fassung 1876, 1882, 1885 sowie »vor der Drucklegung«
lich um 1868; Widmung an Alexandrine Soyka; 1896; Widmung an Bischof Franz Josef Rudigier
Erstdruck 1900 (Wien, Doblinger); NGA XII/2, (»Seiner Bischöflichen Gnaden dem Hochwürdig-
S. 21 ff. sten, Hoch- und Wohlgebornen Herrn Herrn Franz
Fantasie G-Dur; WAB 118; vollendet 10. Sept. 1868; Josef Rudigier, Seiner päpstlichen Heiligkeit Haus-
Widmung an Alexandrine Soyka; Erstdruck 1921 prälaten und Thronassisten, römischen Patrizier,
(Zürich, Musikhaus Hüni); NGA XII/2, S. 15 ff. Commandeur des kais. österr. Leopold-Ordens,
Präludium (»Perger Präludium«) C-Dur; WAB 129; ständigen Mitgliede des oberösterr. Landtages, k. k.
Skizze vor 20. Aug. 1884, überarbeitet 20. Aug. 1884; Hofkaplan etc. etc. in tiefster Ehrfurcht gewidmet«);
Widmung an Josef Diernhofer; EA 21. Aug. 1884 EA 1. Fassung 29. Sept. 1869 Linz, Neuer Domplatz,
Kremsmünster, Stiftskirche; Erstdruck 1926 (Wien, 2. Fassung 4. Okt. 1885 Linz, Alter Dom; Erstdruck
Universal Edition); NGA XII/6, S. 16 ff. 2. Fassung mit kleinen Korrekturen 1896 (Wien,
Doblinger); NGA XVII/1 (1. Fassung), NGA XVII/2
(2. Fassung).
B. Vokalmusik Messe f-Moll; WAB 28; Soli, 4st. gemischter Chor,
Orchester, Orgel; 1. Fassung 14. Sept. 1867 bis 9. Sept.
1. Geistliche Vokalmusik 1868, Überarbeitungen 1876, 1877, 1881 und zwischen
1890 und 1893; Widmung an Anton Ritter Imhof von
a. Messen, Requiem Geißlinghof (Kanzleidirektor des Obersthofmeister-
Messe C-Dur (»Windhaager Messe«); WAB 25; »Alto amtes); EA 16. Juni 1872 Wien, St. Augustin, Wiener
concerto«, 2 Hörner, Orgel; um 1842; Widmung an Philharmoniker; Erstdruck 1894 (Wien, Doblinger);
Anna Maria Jobst, Solosängerin des Kirchenchores; NGA XVIII.
Erstdruck 1922 (Göll.-A. 1); NGA XXI, S. 4 ff.
Werkverzeichnis 377

b. Andere geistliche Vokalwerke 36; 5st. gemischter Chor, 3 Posaunen; Juli 1852; Wid-
»Pange lingua«, Hymnus C-Dur; WAB 31; 4st. gemisch- mung an Ignaz Assmayr; EA 1852 St. Florian in einer
ter Chor a cappella; 1. Fassung 1835 oder 1836, 2. Fas- Probe, 1. Apr. 1906 Linz; Erstdruck 1928 (Göll.-A.
sung 19. Apr. 1891; Erstdruck 1. Fassung 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XX/1.
2/1), 2. Fassung 1927 (Max Auer: Anton Bruckner als Magnificat B-Dur; WAB 24; Soli, 4st. gemischter Chor,
Kirchenmusiker. Regensburg 1927, S. 184), 1. Fassung Orchester, Orgel; vollendet 15. Aug. 1852; EA 1. Aug.
1928 (Göll.-A. 2/1); NGA XXI, S. 3. 1854 St. Florian; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA
»Tantum ergo«, Hymnus D-Dur; WAB 32; 4st. ge- XX/3.
mischter Chor a cappella; 1843; EA St. Florian?; »Libera me«, Responsorium f-Moll; WAB 22; 5st. ge-
Erstdruck 1914 (Wien, Universal Edition); NGA mischter Chor (SSATB), 3 Posaunen, Basso continuo
XXI, S. 32 ff. (Violoncello, Kontrabass, Orgel); zwischen 24. und
»Asperges« F-Dur; WAB 4; 4st. gemischter Chor a 28. März 1854; Prälat Michael Arneth zur Begräbnis-
cappella, Orgel?; wahrscheinlich um 1843/44; Erst- feier; EA 28. März 1854 St. Florian, Stiftskirche;
druck 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XXI, S. 16. Erstdruck 1922 (Wien, Universal Edition); NGA
Zwei »Asperges« aeolisch, F-Dur; WAB 3,1 und 3,2; 4st. XXI, S. 58 ff.
gemischter Chor, Orgel; 1843 bis 1845; EA vermutlich »Tantum ergo«, Hymnus B-Dur; WAB 44; 4st. gemisch-
zur Entstehungszeit in Kronstorf; Erstdruck 1928 ter Chor, 2 Violinen, 2 Trompeten, Orgel; vermutlich
(Göll.-A. 2/2); NGA XXI, S. 24 ff., S. 29 ff. 1854; EA St. Florian?, gesichert 12. Apr. 1925 Vöckla-
»Libera me«, Responsorium F-Dur; WAB 21; 4st. ge- bruck; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXI,
mischter Chor, Orgel; zwischen 1843 und 1845; EA S. 68 ff.
vermutlich zur Entstehungszeit in Kronstorf; Erst- »Ave Maria« F-Dur; WAB 5; Sopran- und Alt-Solo, 4st.
druck 1922 (Göll.-A. 1); NGA XXI, S. 12 ff. gemischter Chor, Orgel, Violoncello; 24. Juli 1856;
»Tantum ergo«, Hymnus A-Dur; WAB 43; 4st. gemisch- Widmung an Ignaz Traumihler; EA 7. Okt. 1856 St.
ter Chor, Orgel; 1844 oder 1845; Erstdruck 1928 Florian, Rosenkranzfest; Erstdruck 1893 (Innsbruck,
(Göll.-A. 2/2); NGA XXI, S. 34 ff. Johann Gross); NGA XXI, S. 75 ff.
Vier »Tantum ergo«, Hymnen B-Dur, As-Dur, Es-Dur, 146. Psalm »Alleluja! Lobet den Herrn, denn lobsingen
C-Dur; WAB 41,1 bis 41,4; 4st. gemischter Chor, ist gut« A-Dur; WAB 37; Soli, 4st. gemischter Dop-
Orgel ad libitum; 1. Fassung 1846, 2. Fassung 1888; pelchor, großes Orchester; vollendet spätestens 1858,
EA St. Florian?; Erstdruck 1893 (Innsbruck, Johann möglicherweise aber auch schon in der späten St.
Gross); NGA XXI, S. 41 ff. (1. Fassung), S. 150 ff. Florianer Zeit; EA 28. Nov. 1971, Nürnberg; NGA
(2. Fassung). XX/4.
»Tantum ergo«, Hymnus D-Dur; WAB 42; 5st. ge- »Dir, Herr, dir will ich mich ergeben«, Choral A-Dur;
mischter Chor (SSATB), Orgel; 1. Fassung 1846, 2. WAB 12; 4st. gemischter Chor a cappella; um 1844/45
Fassung 1888; EA St. Florian?; Erstdruck 1893 (Inns- (so Nowak, NGA XXI, 1984), wahrscheinlicher je-
bruck, Johann Gross); NGA XXI, S. 48 ff. (1. Fas- doch zwischen 1858 und 1868; Erstdruck 1928 (Göll.-
sung), S. 155 ff. (2. Fassung). A. 2/2); NGA XXI, S. 37.
»In jener letzten der Nächte« f-Moll; WAB 17; 1. Fassung »Ave Maria«, Offertorium F-Dur; WAB 6; 7st. gemisch-
Singstimme, Orgel, 2. Fassung 4st. gemischter Chor; ter Chor (SAATTBB); Mai 1861; EA 12. Mai 1861
vermutlich 1848; EA vermutlich Gründonnerstag Linz, Alter Dom; Erstdruck 1887 (Wien, Emil Wetz-
oder Karfreitag 1848 St. Florian; Erstdruck 2. Fassung ler); NGA XXI, S. 82 ff.
1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXI, S. 54 f. »Afferentur regi virgines post eam«, Offertorium F-Dur;
Entsagen »O Maria! Du Jungfrau mild und hehr!«, WAB 1; 4st. gemischter Chor, 3 Posaunen ad libitum;
Kantate B-Dur; WAB 14; Sopran oder Tenor-Solo, 7. Nov. 1861; Widmung an Johann Baptist Burg-
4st. gemischter Chor, Orgel oder Klavier; um 1851; staller; EA 13. Dez. 1861 St. Florian; Erstdruck
Widmung an Prälat Michael Arneth; Text Oscar von 1922 (Wien, Universal Edition); NGA XXI,
Redwitz; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXII/1, S. 86 ff.
S. 49 ff. Festkantate »Preiset den Herrn, lobsingt seinem heiligen
22. Psalm »Der Herr regiert mich« Es-Dur; WAB 34; 4st. Namen« D-Dur (zur Grundsteinlegung des Mariä-
gemischter Chor, Klavier; um 1852; EA 1852?, gesi- Empfängnis-Domes in Linz); WAB 16; Bass-Solo,
chert erst 11. Okt. 1921 St. Florian; Erstdruck 1928 Männerquartett, 4st. Männerchor, Blasorchester,
(Göll.-A. 2/2); NGA XX/2. Pauken; vollendet 25. Apr. 1862; Text Maximilian
Totenlied »O ihr, die ihr heut’« Es-Dur; WAB 47; 4st. Pammesberger; EA 1. Mai 1862 Linz; Erstdruck 1930
gemischter Chor a cappella; 1852; EA 1852 St. Mari- (Göll.-A. 3/2); NGA XXII/2, S. 147.
enkirchen; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXI, 112. Psalm »Alleluja! Lobet den Herrn ihr Diener« B-
S. 56. Dur; WAB 35; 8st gemischter Doppelchor, großes
Totenlied »O ihr, die ihr heut’« F-Dur; WAB 48; 4st. Orchester; Juni 1863 bis 5. Juli 1863; EA 14. März 1926
gemischter Chor a cappella; 1852; EA 1852 St. Mari- Vöcklabruck; Erstdruck 1926 (Wien, Universal Edi-
enkirchen; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXI, tion); NGA XX/5.
S. 57. »Pange lingua et Tantum ergo«, Hymnus phrygisch;
114. Psalm »Alleluja! Liebe erfüllt mich« G-Dur; WAB WAB 33; 4st. gemischter Chor a cappella; 31. Jan.
378 Werkverzeichnis

1868; EA 1890 Steyr (?); Erstdruck 1885 (Musica sacra 4st. gemischter Chor; 28. Mai 1884; Widmung an
18, 11. Musikbeilage); NGA XXI, S. 88 ff. Pater Oddo Loidol; EA 9. Nov. 1884 Wien, Hofburg-
»Inveni David« (I), Offertorium f-Moll; WAB 19; 4st kapelle; Erstdruck 1886 (Wien, Rättig); NGA XXI,
Männerchor, 4 Posaunen; 21. Apr. 1868 vollendet; S. 122 ff.
Widmung an die Liedertafel »Frohsinn«; EA 10. Mai »Salvum fac« F-Dur; WAB 40; 4st. gemischter Chor a
1868 Linz, Alter Dom; Erstdruck 1886 (Wien, Rättig); cappella; 14. Nov. 1884; Erstdruck 1936 (Göll.-A. 4/2);
NGA XXI, S. 90 ff. NGA XXI, S. 126 ff.
In S. Angelum Custodem »Iam lucis orto sidere«, Hym- »Ecce sacerdos magnus«, Responsorium a-Moll; WAB
nus in 2 Fassungen phrygisch / e-Moll, g-Moll; WAB 13; 8st. gemischter Chor, 3 Posaunen, Orgel; 2. bis 28.
18; 1. Fassung 4st. gemischter Chor a cappella oder Apr. 1885; EA 21. Nov. 1912 Vöcklabruck; Erstdruck
mit Orgel, 2. Fassung 4st Männerchor a cappella; 1. 1911 (Wien, Universal Edition); NGA XXI, S. 130 ff.
Fassung spätestens Sommer 1868, 2. Fassung vor dem »Virga Jesse floruit«, Graduale e-Moll; WAB 52; 4st.
1. Mai 1886; Widmung an Alois Dorfer, Abt des gemischter Chor a cappella; 3. Sept. 1885; EA 8. Dez.
Stiftes Wilhering; EA 1868 Stift Wilhering; Erstdruck 1885 (Mariä Empfängnis) Wien, Hofburgkapelle;
1. Fassung 1868 (Linz, Feichtingers Erben), 2. Fassung Erstdruck 1886 (Wien, Rättig); NGA XXI, S. 141 ff.
1886 (Wien, An der schönen blauen Donau. Unter- »Ave Regina coelorum«, Cantus-firmus-Choral; WAB 8;
haltungsblatt für die Familie 1, S. 240); NGA XXI, Singstimmen unisono, Orgel; um 1886; EA 25. März
S. 94 ff. (1. Fassung), S. 146 f. (2. Fassung). 1886 Klosterneuburg; Erstdruck 1910 (Jahrbuch des
»Locus iste«, Graduale C-Dur; WAB 23; 4st. gemischter Stiftes Klosterneuburg 3, S. 132); NGA XXI,
Chor a cappella; 11. Aug. 1869; Widmung an Pater S. 148 ff.
Oddo Loidol; EA 29. Okt. 1869 Linz, Votivkapelle »Vexilla regis«, Hymnus phrygisch; WAB 51; 4st. ge-
des Neuen Domes; Erstdruck 1886 (Wien, Rättig); mischter Chor a cappella; 9. Febr. 1892; EA 15. Apr.
NGA XXI, S. 98 ff. 1892 (Karfreitag) St. Florian; Erstdruck 1892 (Wien,
»Christus factus est« (II), Graduale d-Moll; WAB 10; Weinberger); NGA XXI, S. 159 ff.
8st. gemischter Chor, Streicher, 3 Posaunen; vor dem 150. Psalm »Halleluja! Lobet den Herrn in seinem Hei-
8. Dez. 1873; EA 8. Dez. 1873 Wien, Hofburgkapelle; ligtum« C-Dur; WAB 38; Sopran-Solo, 4st. gemisch-
Erstdruck 1934 (Wien, Musikwissenschaftlicher Ver- ter Chor, großes Orchester; vollendet 29. Juni 1892,
lag); NGA XXI, S. 100 ff. revidiert 7. und 11. Juli 1892; Widmung an Max von
»Tota pulchra es«, Litanei phrygisch; WAB 46; Tenor- Oberleithner; EA 13. Nov. 1892 Wien, Musikvereins-
Solo, 4st. gemischter Chor, Orgel; 30. März 1878; saal, Gesellschaftskonzert; Erstdruck 1893 (Wien,
Widmung an Bischof Franz Joseph Rudigier; EA 4. Doblinger); NGA XX/6.
Juni 1878 Linz, Votivkapelle des Neuen Domes;
Erstdruck 1887 (Wien, Emil Wetzler); NGA XXI,
S. 107 ff. 2. Weltliche Vokalmusik
»Os justi«, Graduale lydisch; WAB 30; 4st.–8st. ge-
mischter Chor a cappella; 1. Fassung 18. Juli 1879, a. Kantaten
2. Fassung Aug. 1879; Widmung an Ignaz Traumihler; Vergißmeinnicht »Es blühten wunderschön auf der Au«,
EA 2. Fassung 28. Aug. 1879 St. Florian; Erstdruck Kantate D-Dur, 1. und 2. Fassung als Musikalischer
2. Fassung 1886 (Wien, Rättig), 1. Fassung 1936 Versuch »Es blühten wunderschön auf der Au«; WAB
(Göll.-A. 4/1); NGA XXI, S. 113 ff. 93; Soli, 4st. und 8st. gemischter Chor, Klavier; 1.
»Inveni David« (II); WAB 20; Singstimmen unisono, und 2. Fassung vor dem 27. Mai 1845 bzw. vor dem
Orgel; 28. Juli 1879; Widmung an Ignaz Traumihler; 21. Juni 1845, 3. Fassung wahrscheinlich Juni oder Juli
EA 28. Aug. 1879 St. Florian, Augustinusfest; NGA 1845; 2. Fassung Widmung an Pfarrer Alois Knauer,
XXI, S. 113 ff. 3. Fassung Widmung an Friedrich Theophil Mayr;
Te Deum C-Dur; WAB 45; Soli, 4st. gemischter Chor, Erstdruck 3. Fassung 1922 (Göll.-A. 1); NGA XXII/1,
Orchester, Orgel; 1. Fassung 3. bis 17. Mai 1881 (un- S. 1 ff., S. 17 ff., S. 33 ff.
vollendet), 2. Fassung 28. Sept. 1883 bis 16. März 1884; »Heil, Vater! Dir zum hohen Feste«, Kantate D-Dur;
EA Fassung mit 2 Klavieren 2. Mai 1885 Wien, Wie- WAB 61b (recte a); 5st. gemischter Chor (SATTB),
ner Akademischer Wagner-Verein, 2. Fassung 10. Jan. 3 Hörner, 2 Trompeten, Bassposaune; vollendet 27.
1886 Wien, Musikvereinssaal; Erstdruck 1885 (Wien, Sept. 1852; Widmung an Prälat Michael Arneth; Text
Rättig); NGA XIX. Ernst Marinelli; EA 28. oder 29. Sept. 1852 St. Flo-
»Ave Maria« F-Dur; WAB 7; Alt, Klavier oder Orgel rian; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/1); NGA XXII/1,
oder Harmonium; 5. Febr. 1882; Widmung an Luise S. 57 ff.
Hochleitner; EA Okt. 1921 Stuttgart, Brucknerfest; »Auf, Brüder! auf zur frohen Feier« (2. Fassung von
Erstdruck 1902 (Neue Musikzeitung 23, Musikbeilage »Heil, Vater!«), Kantate D-Dur; WAB 61a (recte b);
13); NGA XXI, S. 118 ff. Sopran, Alt, 2 Tenöre, 2 Bässe, 3 Hörner, 2 Trompe-
»Veni creator spiritus«, Hymnus; WAB 50; Singstimme, ten, Bassposaune; 1. Fassung: 27. Sept. 1852, Umar-
Orgel; um 1884 oder früher; Erstdruck 1936 (Göll.-A. beitungen 10. Juli 1857 (2. Fassung) und 1870 (3.
4/1); NGA XXI, S. 129. Fassung); 1. Fassung Widmung an Prälat Michael
»Christus factus est« (III), Graduale d-Moll; WAB 11; Arneth, 2. Fassung Widmung an Prälat Friedrich
Werkverzeichnis 379

Theophil Mayr, 3. Fassung zur Primizfeier in Krems- St. Florian?; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/1); NGA
münster; Text 1. und 2. Fassung Ernst Marinelli, 3. XXIII/2, S. 5 ff.
Fassung Pater Beda Piringer; EA 1. Fassung 28./29. Der Lehrerstand »Die Zeit weiset auf einen Stand« Es-
Sept. 1852 St. Florian, 2. Fassung 17. Juli 1857 ebda.; Dur; WAB 77; Soloquartett, 4st. Männerchor a
Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/1 (Faksimile) und Göll.-A. cappella; um 1847; Widmung an Michael Bogner,
2/2 (Partitur-Abschrift)); NGA XXII/1, S. 57 ff., Schullehrer in St. Florian; Text Ernst Marinelli?;
S. 77 ff. Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2, S. 8 ff.
»Auf, Brüder! auf, und die Saiten zur Hand« D-Dur; Sternschnuppen »Wenn Natur die sanften Lider« F-Dur;
WAB 60; Männer-Soloquartett, 4st. Männerchor, WAB 85; Männerquartett a cappella; um 1848; Text
4st. gemischter Chor, Bläser; 1. Juli 1855; Text Ernst Ernst Marinelli; EA St. Florian?; Erstdruck 1928
Marinelli; EA 17. Juli 1855 St. Florian; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2, S. 17 ff.
(Göll.-A. 2/2); NGA XXII/1; S. 97 ff. »Ein jubelnd Hoch in Leid und Lust«, Sängerspruch
Festgesang »Sankt Jodok sproß aus edlem Stamme«, D-Dur; WAB 83,1; 4st. Männerchor; 1851; Widmung
Kantate C-Dur; WAB 15; Sopran-, Alt-, Bass-Solo, an die Liedertafel Eferding; EA 6. Juli 1851 Passau (?);
4st. gemischter Chor, Klavier; vollendet 6. Dez. 1855; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2, S. 20.
Widmung an Pfarrer Jodok Stülz, Stiftsdechant in St. »Lebt wohl, ihr Sangesbrüder«, Sängerspruch (Motto)
Florian; EA vermutlich Dez. 1855 St. Florian; Erst- A-Dur; WAB 83,2; 4st. Männerchor a cappella; 1851;
druck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXII/1, S. 127. Widmung an die Liedertafel Eferding; EA 6. Juli 1851
Festkantate »Preiset den Herrn, lobsingt seinem heiligen Passau; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2,
Namen« D-Dur (zur Grundsteinlegung des Mariä- S. 20.
Empfängnis-Domes in Linz); WAB 16; Bass-Solo, Das edle Herz »Wer im Busen nicht die Flamme« (1.
Männerquartett, 4st. Männerchor, Blasorchester, Vertonung) A-Dur; WAB 65; 4st. Männerchor a
Pauken; vollendet 25. Apr. 1862; Text Maximilian cappella; um 1851; Widmung an Johann Paulitsch;
Pammesberger; EA 1. Mai 1862 Linz; Erstdruck 1930 Text Ernst Marinelli; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2);
(Göll.-A. 3/2); NGA XXII/2, S. 147. NGA XXIII/2, S. 21 ff.
»Heil Dir zum schönen Erstlingsfeste« (Neutextierung Die Geburt »Es landet ein Fremdling im Hafen der
und Umarbeitung von »Auf, Brüder« bzw. »Heil, Welt« Des-Dur; WAB 69; 4st. Männerchor a cap-
Vater!«), Kantate D-Dur; WAB 61c; 5st. gemischter pella; 1851; Widmung an Josef Seiberl; Erstdruck 1928
Chor (SATTB), 3 Hörner, 2 Trompeten, Bassposaune; (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2, S. 24 f.
vor Sept. 1870; Text Pater Beda Piringer; EA Krems- Vor Arneths Grab »Brüder, trocknet eure Zähren« f-
münster? (entstanden für eine Primizfeier in Krems- Moll; WAB 53; 4st. Männerchor, 3 Posaunen; März
münster); in NGA nicht vorhanden. 1854; auf den Tod Michael Arneths; EA 28. Febr. 1954
St. Florian, Friedhof; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2);
b. Weltliche Chöre NGA XXIII/2, S. 26 ff.
Festlied »Freudig laßt das Lied erschallen« D-Dur; WAB »Laßt Jubeltöne laut erklingen« Es-Dur; WAB 76; 4st.
67; 4st. Männerchor a cappella; 1843; Text Ludwig Männerchor, Bläser; 1854; Umtextierungen von
Carl Kraus; Erstdruck 1928 (Augsburg/Wien, Anton Anton August Naaf (1898) und Anton Weiß; EA 22.
Böhm); in NGA nicht vorhanden (bzw. nur in der Apr. 1854 Linz, Liedertafel »Frohsinn«, für den Emp-
neu textierten Des-Dur-Fassung WAB 59, s.u.). fang der kaiserlichen Braut Elisabeth in Linz kompo-
»An dem Feste« (neu textierte Fassung von WAB 67) niert; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2,
Des-Dur; WAB 59; 4st. Männerchor a cappella; 1843; S. 29 ff.
Widmung an Joseph Ritter von Pessler; Text Alois »Des Dankes Wort sei mir vergönnt« F-Dur; WAB 62;
Knauer; EA 19. Sept. 1843 Enns, Pfarrkirche; Erst- Tenor-, Bass-Solo, 5st. Männerchor a cappella; ver-
druck 1922 (Göll.-A. 1); NGA XXIII/2, S. 1 f. mutlich zwischen 1845 und 1849, spätestens 1855;
Tafellied Des-Dur »Durch des Saales bunte Scheiben« Widmung an Charles Graf O’Hegerty; Text Ernst
(überarbeitete Fassung von WAB 59); WAB 86; 4st. Marinelli; NGA XXIII/2, S. 37 ff.
Männerchor a cappella; 1843, Ergänzungen und Än- Das edle Herz »Wer im Busen nicht die Flamme« (2.
derungen 22. Febr. 1893; Text Karl Ptak; EA 11. März Vertonung) A-Dur; WAB 66; 4st. gemischter Chor a
1893 Wien, Musikvereinssaal; Erstdruck 1922 (Göll.- cappella; Dez. 1857; Text Ernst Marinelli; Erstdruck
A. 1); NGA XXIII/2, S. 172 f. 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XXIII/2, S. 44 ff.
Das Lied vom deutschen Vaterland »Wohlauf, ihr Ge- Am Grabe »Brüder, trocknet eure Zähren« f-Moll; WAB
nossen, stimmt an« Des-Dur; WAB 78; 4st. Männer- 2; 4st. Männerchor a cappella; Febr. 1861; Widmung
chor a cappella; um 1845; Widmung an Hans Schlä- an Josefine Hafferl; EA 1861 Linz, Liedertafel »Froh-
ger, Gründer des Männerchores von St. Florian; Text sinn«; Erstdruck 1923 (Wien, Universal Edition);
Franz Xaver Müller (Strophen 2 bis 4); EA 1924 St. NGA XXIII/2, S. 47 f.
Florian; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/2, »Du bist wie eine Blume« F-Dur; WAB 64; gemischtes
S. 3 f. Vokalquartett; 5. Dez. 1861; Widmung an den Män-
Ständchen »Wie des Bächleins Silberquelle« G-Dur; nergesangverein »Sängerbund«, Linz; Text Heinrich
WAB 84; Tenor-Solo, Männerquartett mit Brumm- Heine; EA 16. Dez. 1861 Linz; Erstdruck 1930 (Göll.-
stimmen; um 1846; Widmung an Frau Schläger; EA A. 3/2); NGA XXIII/2, S. 49 f.
380 Werkverzeichnis

Der Abendhimmel »Wenn ich an deiner Seite« As-Dur; (Motto) A-Dur; WAB 95,1; 4st. Männerchor a cap-
WAB 55; Männerquartett; vollendet Jan. 1862; Wid- pella; vor dem 17. Mai 1868; Widmung an die Lieder-
mung an Anton Munsch (1. Tenor), Anton Stiefler (2. tafel »Frohsinn«; Text Karl Kerschbaum; EA 17. Mai
Tenor), Eduard Benoni (1. Bass), Mathias Weißmann 1868, Hierschenstadel im Kiernbergerwald; Erstdruck
(2. Bass); Text Joseph Christian Zedlitz; EA Bearbei- 1888 (Linz, Wahl- und Sängersprüche hg. von H.
tung für Männerchor 4. Juli 1900 Linz, Märzenkeller; Poscher, Nr. 86); NGA XXIII/2, S. 93.
Erstdruck 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XXIII/2, »Im Wort und Liede wahr und frei«, Motto C-Dur (zum
S. 51 ff. Namensfest für Simon Sechter); WAB 148,1; 4st.
Germanenzug »Germanen durchschreiten des Urwaldes Männerchor; 28. Okt. 1869; Text Johann Kajetan
Nacht« d-Moll; WAB 70; Männer-Soloquartett, 4st. Markus; Erstdruck 1939 (Zeitschrift für Musik 106,
Männerchor, Blechbläser; Ende Juli 1863 bis Aug. S. 256); NGA XXIII/2, S. 93.
1864; Text August Silberstein; EA 5. Juni 1865 Linz, 1. »Wir alle jung und alt«, Motto (»Begrüßung«) d-Moll
Oberösterreichisch-Salzburgisches Sängerbundesfest; (zum Namensfest für Simon Sechter); WAB 148,2;
Erstdruck 1864 (Ried, Josef Kränzl); NGA XXII/2, 4st. Männerchor a cappella; 28. Okt. 1869; Text Jo-
S. 179 ff. hann Kajetan Markus; Erstdruck 1939 (Zeitschrift für
Herbstlied »Durch die Wälder streif ’ ich munter« fis- Musik 106, S. 256); NGA XXIII/2, S. 94.
Moll; WAB 73; 2 Sopran-Soli, 4st. Männerchor, Mitternacht »Die Blumen glüh’n im Mondenlicht« As-
Klavier; vollendet 19. März 1864; Widmung an Josef Dur; WAB 80; Tenor-Solo, 4st. Männerchor, Klavier;
Hafferl; Text Friedrich von Sallet; EA 24. Nov. 1864 Nov. 1869; Widmung an die Liedertafel »Frohsinn«;
Linz, Redoutensaal; Erstdruck 1911 (Wien, Universal Text Joseph Mendelssohn; EA 15. Mai 1870 Linz,
Edition); NGA XXIII/2, S. 54 ff. Volksfesthalle; Erstdruck 1903 (Wien, Doblinger);
Um Mitternacht »Um Mitternacht, in ernster Stunde« NGA XXIII/2, S. 95 ff.
f-Moll; WAB 89; Alt-Solo, 4st. Männerchor, Klavier; »Freier Sinn und froher Mut« D-Dur; WAB 147; 4st.
vollendet 12. Apr. 1864; Widmung an den Männerge- Männerchor a cappella; 21. März 1874; Widmung an
sangverein »Sängerbund«, Linz; Text Robert Prutz; den Gesangverein »Liederkranz« in Grein; Erstdruck
EA 11. Dez. 1864 Linz, Redoutensaal; Erstdruck 1911 1905 (Wahl- und Sängersprüche gesammelt von der
(Wien, Universal Edition); NGA XXIII/2, S. 62 ff. Liedertafel »Frohsinn« Linz, Nr. 32); NGA XXIII/2,
Trauungs-Chor »O schöner Tag, o dreimal sel’ge Stunde« S. 108.
F-Dur; WAB 49; Soloquartett, 4st. Männerchor, Das hohe Lied »Im Tale rauscht die Mühle« As-Dur;
Orgel; 8. Jan. 1865; Text Franz Isidor Proschko; EA 5. WAB 74; 1. Fassung 2 Tenöre, Bariton, 4–8st. Män-
Febr. 1865 Linz, Stadtpfarrkirche, zur Vermählungs- nerchor, 2. Fassung 2 Tenöre, Bariton, 4–8st. Män-
feier von Karl Kerschbaum und Maria Schimatschek nerchor, 4 Hörner, 3 Posaunen, Tuba, 2 Violen,
komponiert; Erstdruck 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA Violoncello, Kontrabass; 1. Fassung vollendet 31. Dez.
XXIII/2, S. 70 ff. 1876, 2. Fassung Anfang 1879; Widmung an den
Vaterlandslied »O könnt’ ich dich beglücken« As-Dur; Wiener Akademischen Gesangverein; Text Heinrich
WAB 92; Tenor-, Bariton-Solo, 4st. Männerchor a von der Mattig; EA 10. Dez. 1879 Wien, in einer
cappella; Nov. 1866; Widmung an den Niederöster- Probe des Wiener Akademischen Gesangvereins,
reichischen Sängerbund; Text August Silberstein; EA Bearbeitung von Hans Wagner 13. März 1902 ebda.;
4. Apr. 1868 Linz, Redoutensaal; Erstdruck 1902 Erstdruck 1902 (Wien, Doblinger); NGA XXIII/2,
(Wien, Doblinger); NGA XXIII/2, S. 77 ff. S. 109 ff.
Vaterländisches Weinlied »Wer möchte nicht beim Re- Nachruf »Vereint bist, Töneheld und Meister« c-Moll;
bensaft des Vaterlands gedenken?« C-Dur; WAB 91; WAB 81; 4st. Männerchor, Orgel; vollendet 19. Okt.
4st. Männerchor a cappella; Nov. 1866; Text August 1877; Text Heinrich von der Mattig; EA 28. Okt.
Silberstein; EA 13. Febr. 1868 Linz, Seegs Lokalitäten 1877, St. Florian, Josef Seiberl zum Gedenken kom-
in Urfahr; Erstdruck 1892 (Wien, Emil Berté & Cie.); poniert; Erstdruck 1911 (Wien, Universal Edition);
NGA XXIII/2, S. 90 f. NGA XXIII/2, S. 117 ff.
Der Abendhimmel »Wenn ich an deiner Seite« (2. Ver- Trösterin Musik »Musik! Du herrliches Gebilde« c-Moll
tonung) F-Dur; WAB 56; 4st. Männerchor a cappella; (ursprüngliche Fassung von Nachruf WAB 81); WAB
vollendet 6. Dez. 1866; Widmung an den Niederö- 88; 4st. Männerchor, Orgel; vollendet 19. Okt. 1877;
sterreichischen Sängerbund; Text Joseph Christian Text August Seuffert; EA 11. Apr. 1886 Wien, Musik-
Zedlitz; EA 17. Dez. 1898 Wien, Musikverein; Erst- vereinssaal; Erstdruck 1911 (Wien, Universal Edition);
druck 1902 (Wien, Doblinger); NGA XXIII/2, NGA XXIII/2, S. 121 ff.
S. 75 f. Abendzauber »Der See träumt zwischen Felsen« Ges-
»Des Höchsten Preis, des Vaterlandes Ruhm« C-Dur Dur; WAB 57; Tenorbariton-Solo, 4st. Männerchor,
(Älterer Wahlspruch der Liedertafel Sierning); WAB 3 Fern-Frauenstimmen, 4 Hörner; vollendet 13. Jan.
95,2; 4st. Männerchor a cappella; 1850 oder 1868; 1878; Widmung an Carl Almeroth; Text Heinrich
Text Andreas Mittermayer; Erstdruck 1888 (Linz, von der Mattig; EA Bearbeitung Viktor Keldorfer 18.
Wahl- und Sängersprüche hg. von H. Poscher, März 1911 Wien, Musikverein; Erstdruck 1911 (Wien,
Nr. 89); NGA XXIII/2, S. 92. Universal Edition); NGA XXIII/2, S. 125 ff.
»Das Frauenherz, die Mannesbrust«, Wahlspruch Zur Vermählungsfeier »Zwei Herzen haben sich gefun-
Werkverzeichnis 381

den« D-Dur; WAB 54; 4st. Männerchor a cappella; »O habt die Thräne gern« a-Moll; WAB deest; Dez.
27. Nov. 1878; Widmung an Anton Ölzelt Ritter von 1861; Kitzler-Studienbuch, S. 18 f.
Newin; Text Heinrich von der Mattig (?); Erstdruck Nachglück »Wenn die Sonne niedersank« C-Dur; WAB
1910 (Wien/Leipzig, Jahrbuch des Stiftes Klosterneu- deest; 24. Dez. 1861; Kitzler-Studienbuch, S. 19.
burg 3, S. 133 ff.); NGA XXIII/2, S. 135 ff. Des Baches Frühlingsfeier »Was solls mit deinem Brau-
Sängerbund »Nichts Schön’res auf der ganzen Erde« C- sen« d-Moll/A-Dur; WAB deest; 1861/62; Kitzler-
Dur; WAB 82; 4st. Männerchor a cappella; vollendet Studienbuch, S. 23.
3. Febr. 1882; Widmung an August Göllerich sen.; Herzeleid »Die Menschenbrust ist freudlos und verlas-
Text Version A Heinrich von der Mattig, Version B sen« e-Moll; WAB deest; 1861/62; Kitzler-Studien-
Karl Kerschbaum; EA 18. Juni 1883 Wels, Volksfest- buch, S. 20.
halle; Erstdruck 1911 (Wien, Universal Edition); Von der schlummernden Mutter »Du schlummerst nach
NGA XXIII/2, S. 140 ff. Schweiß und Mühen« F-Dur; WAB deest; 1861/62;
Volkslied »Anheben laßt uns all zusamm’« C-Dur; WAB Kitzler-Studienbuch, S. 22.
94; 4st. Männerchor a cappella oder Singstimme und »Wie neid ich dich, du stolzer Wald« Es-Dur; WAB
Klavier; 1882; Text Josef Winter; Erstdruck 1930 deest; 1861/62; Kitzler-Studienbuch, S. 24.
(Göll.-A. 3/2); NGA XXIII/2, S. 145 ff. Der Trompeter an der Katzbach »Von Wunden ganz
Um Mitternacht »Um Mitternacht, in ernster Stunde« bedecket« f-Moll; WAB deest; beendet 22. Aug. 1862;
f-Moll; WAB 90; Tenor-Solo, 4st. Männerchor a Text Julius Mosen; Kitzler-Studienbuch, S. 207 ff.
cappella; vollendet 11. Febr. 1886; Widmung an den Herbstkummer »Die Blumen vergehen, der Sommer ist
Straßburger Männergesangverein; Text Robert Prutz; hin« e-Moll; WAB 72; um 1868; Text Ernst Mari-
EA 15. Apr. 1886 Linz, Städtischer Volksgartensalon; nelli?; Erstdruck 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XXIII/1,
Erstdruck 1886 (Straßburg); NGA XXIII/2, S. 148 ff. S. 12 ff.
»Heut kommt ja Freund Klose«, »unendlicher Kanon« Im April »Du feuchter Frühlingsabend, wie hab’ ich
C-Dur; WAB deest; 4 Singstimmen; 29. Apr. 1889; dich so gern« As-Dur; WAB 75; 1868; Widmung an
Widmung an Friedrich Klose; Text Anton Bruckner; Helene Hofmann; Text Emanuel Geibel; EA 5. Febr.
EA 29. Apr. 1889 Wien?; Erstdruck 1927 (Friedrich 1903 Wien, Wiener Akademischer Wagner-Verein;
Klose: Meine Lehrjahre bei Anton Bruckner. Regens- Erstdruck 1898 (Wien, Doblinger); NGA XXIII/1,
burg 1927, S. 152 f.). S. 23 ff.
Träumen und Wachen »Schatten sind des Lebens Güter« Mein Herz und deine Stimme »Laß tief in dir mich le-
As-Dur; WAB 87; Tenor-Solo, 4st. Männerchor a sen« A-Dur; WAB 79; 1868; Widmung an Pauline
cappella; vollendet 15. Dez. 1890, revidiert 4. Febr. Hofmann; Text August von Platen; Erstdruck 1930
1892; Widmung an Wilhelm Ritter von Hartel; Text (Göll.-A. 3/2); NGA XXIII/1, S. 18 ff.
Franz Grillparzer; EA 15. Jan. 1891 Wien, Festsaal der Volkslied »Anheben laßt uns all zusamm« C-Dur (auch
Universität; Erstdruck 1891 (Wien, Rättig); NGA in Chorfassung); WAB 94; 1882; Text Josef Winter;
XXIII/2, S. 154 ff. Erstdruck 1930 (Göll.-A. 3/2); NGA XXIII/2,
Der deutsche Gesang (Das deutsche Lied) »Wie durchs S. 145 ff.
Bergtal dumpf grollt Donnergedröhn« d-Moll; WAB
63; 4st. Männerchor, Blechbläser; vollendet 29. Apr.
1892; Text Erich Fels; EA 5. Juni 1892 Salzburg, Aula C. Fragmente, Entwürfe, verschollene Werke, zwei-
academica; Erstdruck 1911 (Wien, Universal Edition); felhafte Werke
NGA XXIII/2, S. 158 ff.
Helgoland »Hoch auf der Nordsee«, Sinfonischer Chor »Domine ad adjuvandum«, Ingressus D-Dur (25-taktige
g-Moll; WAB 71; 4st. Männerchor, großes Orchester; Skizze, vermutlich von Johann Baptist Weiß); WAB
Apr. bis 7. Aug. 1893; Widmung an den Wiener 136; 14. Juli 1835.
Männer-Gesangverein; Text August Silberstein; EA 8. Präludium für Orgel Es-Dur (nicht von Bruckner, nur
Okt. 1893 Wien, Winterreitschule; Erstdruck 1899 Vorlagen bearbeitet bzw. kopiert); WAB 127; 1835/36;
(Wien, Doblinger); NGA XXII/2, S. 213 ff. Erstdruck 1923 (Max Auer: Anton Bruckner. Sein
Leben und Werk. Wien 1923, Notenanhang, Nr. 1).
c. Lieder Vier Präludien für Orgel Es-Dur (nicht von Bruckner,
Frühlingslied »Leise zieht durch mein Gemüt« A-Dur; nur Vorlagen bearbeitet bzw. kopiert); WAB 128,1–4;
WAB 68; 1851; Widmung an Aloisia Bogner; Text 1835/36; Erstdruck 1922 (Göll.-A. 1).
Heinrich Heine; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA Litanei (verschollen); WAB 132; 4st. gemischter Chor,
XXIII/1, S. 1 f. Blechbläser; entstanden um 1844.
Amaranths Waldeslieder »Wie bist du, Frühling, gut »Salve Maria« bzw. »Salve Regina« (verschollen); WAB
und treu« G-Dur; WAB 58; wahrscheinlich Okt. 134; möglicherweise um 1844.
1858; Widmung an Prälat Friedrich Theophil Mayr; Duetto »Wie des Bächleins Silberquelle«, Liedskizze
Text Oscar von Redwitz; EA vermutlich St. Florian, G-Dur; WAB 137; um 1845; Widmung an Prälat
Bearbeitung von Franz Sales Reiter 11. Apr. 1886 Linz, Michael Arneth; Text Ernst Marinelli?; Erstdruck
Redoutensaal; Erstdruck 1902 (Die Musik 1, Heft 17); 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/1, S. 31 f.
NGA XXIII/1, S. 3 ff. »O du liebes Jesu-Kind« F-Dur (zweifelhaft); WAB 145;
382 Werkverzeichnis

Singstimme, Orgel; um 1845; EA St. Florian?; Erst- vermutlich 1862; nicht von Bruckner, sondern Kopie
druck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXI, S. 38. der Partitur des 1857 für das altösterreichische Infan-
»Mild wie Bäche«, Liedentwurf As-Dur (Skizze); WAB terie-Regiment Nr. 10 komponierten »Mazzuchelli-
138; um 1845; Text Ernst Marinelli?; Erstdruck 1928 Marsches« von Béla Kéler (Adalbert Paul von Keler,
(Göll.-A. 2/2); NGA XXIII/1, S. 30. 1820–1882); Erstdruck 1930 (Göll.-A. 2/2); NGA
Requiem (verschollen); WAB 133; 4st. Männerchor, XII/8, S. 13 ff.
Orgel; März 1845; EA 1845 Kirchberg bei Eferding. Zigeuner-Waldlied (verschollen); WAB 135; Männer-
Kyrie und Gloria (verschollen); WAB deest; 1845. chor?; um 1863.
Herz Jesu-Lied »Aus allen Herzen eines« B-Dur (zwei- Sinfonie-Entwurf B-Dur (Klavierskizze); WAB 142; 29.
felhaft); WAB 144; 4st. gemischter Chor, Orgel; um und 31. Okt. 1869; Erstdruck 1936 (Göll.-A. 4/1).
1845/46 (?); Text Ernst Marinelli (?); Erstdruck 1928 Requiem d-Moll (18-taktige Skizze); WAB 141; 19. Sept.
(Göll.-A. 2/2); NGA XXI, S. 39 f. 1875; Erstdruck 1930 (AGA XV).
Messe Es-Dur (nur Kyrie, Fragment); WAB 139; 4st. Die Rose, Lied oder Marsch (verschollen); WAB deest;
gemischter Chor, Orchester; um 1846 (nach NGA um 1885; Widmung an Maria Wimmer.
zwischen 1845 und 1848); Erstdruck 1928 (Göll.-A. Adagio (Entwurf für Orgel) H-Dur; WAB deest; 20.
2/2); NGA XXI, S. 173 ff. Mai 1890?; Erstdruck 1953 (Stuttgart, Georg Kinsky,
Missa pro Quadragesima g-Moll (Fragment); WAB 140; Katalog der Musikautographen-Sammlung Louis
4st. gemischter Chor, 3 Posaunen, Orgel; 1845 oder Koch, S. 277 f. [Nr. 291]).
1846; Erstdruck 1928 (Göll.-A. 2/2); NGA XXI, Improvisationsskizze Ischl 1890; WAB deest; Ende Juli
S. 172. 1890; NGA XII/6, S. 18 ff.
Apollo-Marsch Es-Dur; WAB 115; Militärorchester;
383

Werkverzeichnis nach WAB-Nummern

WAB 1 »Afferentur regi virgines post eam«, Offertorium F-Dur


WAB 2 Am Grabe »Brüder, trocknet eure Zähren« f-Moll
WAB 3 Zwei »Asperges« aeolisch, F-Dur
WAB 4 »Asperges« F-Dur
WAB 5 »Ave Maria« F-Dur
WAB 6 »Ave Maria«, Offertorium F-Dur
WAB 7 »Ave Maria« F-Dur
WAB 8 »Ave Regina coelorum«, Cantus-firmus-Choral
WAB 9 Messe für den Gründonnerstag F-Dur (»Christus factus est«, I)
WAB 10 »Christus factus est« (II), Graduale d-Moll
WAB 11 »Christus factus est« (III), Graduale d-Moll
WAB 12 »Dir, Herr, dir will ich mich ergeben«, Choral A-Dur
WAB 13 »Ecce sacerdos magnus«, Responsorium a-Moll
WAB 14 Entsagen »O Maria! Du Jungfrau mild und hehr!«, Kantate B-Dur
WAB 15 Festgesang »Sankt Jodok sproß aus edlem Stamme«, Kantate C-Dur
WAB 16 Festkantate »Preiset den Herrn, lobsingt seinem heiligen Namen« D-Dur
WAB 17 »In jener letzten der Nächte« f-Moll
WAB 18 In S. Angelum Custodem »Iam lucis orto sidere«, Hymnus phrygisch/e-Moll, g-Moll
WAB 19 »Inveni David« (I), Offertorium f-Moll
WAB 20 »Inveni David« (II)
WAB 21 »Libera me«, Responsorium F-Dur
WAB 22 »Libera me«, Responsorium f-Moll
WAB 23 »Locus iste«, Graduale C-Dur
WAB 24 Magnificat B-Dur
WAB 25 Messe C-Dur (»Windhaager Messe«)
WAB 26 Messe d-Moll
WAB 27 Messe e-Moll
WAB 28 Messe f-Moll
WAB 29 Missa solemnis b-Moll
WAB 30 »Os justi«, Graduale lydisch
WAB 31 »Pange lingua«, Hymnus C-Dur
WAB 32 »Tantum ergo«, Hymnus D-Dur
WAB 33 »Pange lingua et Tantum ergo«, Hymnus phrygisch
WAB 34 22. Psalm »Der Herr regiert mich« Es-Dur
WAB 35 112. Psalm »Alleluja! Lobet den Herrn ihr Diener« B-Dur
WAB 36 114. Psalm »Alleluja! Liebe erfüllt mich« G-Dur
WAB 37 146. Psalm »Alleluja! Lobet den Herrn, denn lobsingen ist gut« A-Dur
WAB 38 150. Psalm »Halleluja! Lobet den Herrn in seinem Heiligtum« C-Dur
384 Werkverzeichnis nach WAB-Nummern

WAB 39 Requiem d-Moll


WAB 40 »Salvum fac« F-Dur
WAB 41 Nr. 1–4 Vier »Tantum ergo«, Hymnen B-Dur, As-Dur, Es-Dur, C-Dur
WAB 42 »Tantum ergo«, Hymnus D-Dur
WAB 43 »Tantum ergo«, Hymnus A-Dur
WAB 44 »Tantum ergo«, Hymnus B-Dur
WAB 45 Te Deum C-Dur
WAB 46 »Tota pulchra es«, Litanei phrygisch
WAB 47 Totenlied »O ihr, die ihr heut’« Es-Dur
WAB 48 Totenlied »O ihr, die ihr heut’« F-Dur
WAB 49 Trauungs-Chor »O schöner Tag, o dreimal sel’ge Stunde« F-Dur
WAB 50 »Veni creator spiritus«, Hymnus
WAB 51 »Vexilla regis«, Hymnus phrygisch
WAB 52 »Virga Jesse floruit«, Graduale e-Moll
WAB 53 Vor Arneths Grab »Brüder, trocknet eure Zähren« f-Moll
WAB 54 Zur Vermählungsfeier »Zwei Herzen haben sich gefunden« D-Dur
WAB 55 Der Abendhimmel »Wenn ich an deiner Seite« As-Dur
WAB 56 Der Abendhimmel »Wenn ich an deiner Seite« F-Dur
WAB 57 Abendzauber »Der See träumt zwischen Felsen« Ges-Dur
WAB 58 Amaranths Waldeslieder »Wie bist du, Frühling, gut und treu« G-Dur
WAB 59 »An dem Feste« Des-Dur
WAB 60 »Auf, Brüder! auf, und die Saiten zur Hand« D-Dur
WAB 61b (recte a) »Heil, Vater! Dir zum hohen Feste«, Kantate D-Dur
WAB 61a (recte b) »Auf, Brüder! auf zur frohen Feier«, Kantate D-Dur
WAB 61c »Heil Dir zum schönen Erstlingsfeste«, Kantate D-Dur
WAB 62 »Des Dankes Wort sei mir vergönnt« F-Dur
WAB 63 Der deutsche Gesang (Das deutsche Lied) »Wie durchs Bergtal dumpf grollt Donnergedröhn«
d-Moll
WAB 64 »Du bist wie eine Blume« F-Dur
WAB 65 Das edle Herz »Wer im Busen nicht die Flamme« A-Dur
WAB 66 Das edle Herz »Wer im Busen nicht die Flamme« A-Dur
WAB 67 Festlied »Freudig laßt das Lied erschallen« D-Dur
WAB 68 Frühlingslied »Leise zieht durch mein Gemüt« A-Dur
WAB 69 Die Geburt »Es landet ein Fremdling im Hafen der Welt« Des-Dur
WAB 70 Germanenzug »Germanen durchschreiten des Urwaldes Nacht« d-Moll
WAB 71 Helgoland »Hoch auf der Nordsee«, Sinfonischer Chor g-Moll
WAB 72 Herbstkummer »Die Blumen vergehen, der Sommer ist hin« e-Moll
WAB 73 Herbstlied »Durch die Wälder streif ’ ich munter« fis-Moll
WAB 74 Das hohe Lied »Im Tale rauscht die Mühle« As-Dur
WAB 75 Im April »Du feuchter Frühlingsabend, wie hab’ ich dich so gern« As-Dur
WAB 76 »Laßt Jubeltöne laut erklingen« Es-Dur
WAB 77 Der Lehrerstand »Die Zeit weiset auf einen Stand« Es-Dur
WAB 78 Das Lied vom deutschen Vaterland »Wohlauf, ihr Genossen, stimmt an« Des-Dur
WAB 79 Mein Herz und deine Stimme »Laß tief in dir mich lesen« A-Dur
WAB 80 Mitternacht »Die Blumen glüh’n im Mondenlicht« As-Dur
WAB 81 Nachruf »Vereint bist, Töneheld und Meister« c-Moll
WAB 82 Sängerbund »Nichts Schön’res auf der ganzen Erde« C-Dur
WAB 83,1 »Ein jubelnd Hoch in Leid und Lust«, Sängerspruch D-Dur
WAB 83,2 »Lebt wohl, ihr Sangesbrüder«, Sängerspruch (Motto) A-Dur
WAB 84 Ständchen »Wie des Bächleins Silberquelle« G-Dur
WAB 85 Sternschnuppen »Wenn Natur die sanften Lider« F-Dur
WAB 86 Tafellied »Durch des Saales bunte Scheiben« Des-Dur
WAB 87 Träumen und Wachen »Schatten sind des Lebens Güter« As-Dur
WAB 88 Trösterin Musik »Musik! Du herrliches Gebilde« c-Moll
Werkverzeichnis nach WAB-Nummern 385

WAB 89 Um Mitternacht »Um Mitternacht, in ernster Stunde« f-Moll


WAB 90 Um Mitternacht »Um Mitternacht, in ernster Stunde« f-Moll
WAB 91 Vaterländisches Weinlied »Wer möchte nicht beim Rebensaft des Vaterlands gedenken?« C-Dur
WAB 92 Vaterlandslied »O könnt’ ich dich beglücken« As-Dur
WAB 93 Vergißmeinnicht »Es blühten wunderschön auf der Au«, Kantate D-Dur
WAB 94 Volkslied »Anheben laßt uns all zusamm« C-Dur
WAB 95,1 »Das Frauenherz, die Mannesbrust«, Wahlspruch (Motto) A-Dur
WAB 95,2 »Des Höchsten Preis, des Vaterlandes Ruhm« C-Dur
WAB 96 Marsch d-Moll
WAB 97 Drei Orchesterstücke Es-Dur, e-Moll, F-Dur
WAB 98 Ouvertüre g-Moll
WAB 99 Sinfonie f-Moll (»Studiensinfonie«)
WAB 100 Sinfonie d-Moll (»Annullierte«)
WAB 101 Erste Sinfonie c-Moll
WAB 102 Zweite Sinfonie c-Moll
WAB 103 Dritte Sinfonie d-Moll
WAB 104 Vierte Sinfonie Es-Dur
WAB 105 Fünfte Sinfonie B-Dur
WAB 106 Sechste Sinfonie A-Dur
WAB 107 Siebte Sinfonie E-Dur
WAB 108 Achte Sinfonie c-Moll
WAB 109 Neunte Sinfonie, d-Moll (unvollendet)
WAB 110 Abendklänge, Charakterstück e-Moll (für Violine und Klavier)
WAB 111 Streichquartett c-Moll
WAB 112 Streichquintett F-Dur
WAB 113 Intermezzo d-Moll (für Streichquintett)
WAB 114 Aequale c-Moll
WAB 115 Apollo-Marsch Es-Dur
WAB 116 Marsch Es-Dur (nicht von Bruckner)
WAB 117 Erinnerung, Charakterstück As-Dur
WAB 118 Fantasie G-Dur
WAB 119 Klavierstück Es-Dur
WAB 120 Lancier-Quadrille C-Dur
WAB 121 Quadrille für Klavier zu vier Händen
WAB 122 Steiermärker G-Dur
WAB 123 Stille Betrachtung an einem Herbstabende fis-Moll
WAB 124 Drei kleine Stücke für Klavier zu vier Händen G-Dur, G-Dur, F-Dur
WAB 125 Fuge d-Moll (für Orgel)
WAB 126 Nachspiel d-Moll (für Orgel)
WAB 127 Präludium Es-Dur für Orgel (zweifelhaft)
WAB 128,1–4 Vier Präludien für Orgel Es-Dur (zweifelhaft)
WAB 129 Präludium (»Perger Präludium«) C-Dur
WAB 130 Andante (Vorspiel) d-Moll (für Orgel)
WAB 131 Vorspiel und Fuge c-Moll (für Orgel)
WAB 132 Litanei (verschollen)
WAB 133 Requiem (verschollen)
WAB 134 »Salve Maria« bzw. »Salve Regina« (verschollen)
WAB 135 Zigeuner-Waldlied (Urgestalt des Germanenzug, verschollen)
WAB 136 »Domine ad adjuvandum«, Ingressus D-Dur (vermutlich von Baptist Weiss)
WAB 137 Duetto »Wie des Bächleins Silberquelle«, Liedskizze G-Dur
WAB 138 »Mild wie Bäche«, Liedentwurf As-Dur
WAB 139 Messe Es-Dur (nur Kyrie, Fragment)
WAB 140 Missa pro Quadragesima g-Moll (Fragment)
WAB 141 Requiem d-Moll (18taktige Skizze)
386 Werkverzeichnis nach WAB-Nummern

WAB 142 Sinfonie-Entwurf B-Dur (Klavierskizze)


WAB 143 Neunte Sinfonie Finale (Skizzen)
WAB 144 Herz Jesu-Lied »Aus allen Herzen eines« B-Dur (zweifelhaft)
WAB 145 »O du liebes Jesu-Kind« F-Dur (zweifelhaft)
WAB 146 Messe ohne Gloria d-Moll (»Kronstorfer Messe«)
WAB 147 »Freier Sinn und froher Mut« D-Dur
WAB 148,1 »Im Wort und Liede wahr und frei«, Motto C-Dur
WAB 148,2 »Wir alle jung und alt«, Motto (»Begrüßung«) d-Moll
WAB 149 Aequale c-Moll

WAB deest Adagio (Entwurf für Orgel) H-Dur


WAB deest Andante d-Moll
WAB deest Andante Es-Dur
WAB deest Chromatische Etüde F-Dur
WAB deest Des Baches Frühlingsfeier »Was solls mit deinem Brausen« d-Moll/A-Dur
WAB deest Etüde G-Dur
WAB deest Vier Fantasien d-Moll, c-Moll, c-Moll, d-Moll
WAB deest Herzeleid »Die Menschenbrust ist freudlos und verlassen« e-Moll
WAB deest »Heut kommt ja Freund Klose«, »unendlicher Kanon« C-Dur
WAB deest Improvisationsskizze Ischl 1890
WAB deest Kyrie und Gloria (verschollen)
WAB deest Marsch d-Moll
WAB deest Mazurca a-Moll
WAB deest Menuett C-Dur
WAB deest Menuett mit Trio G-Dur
WAB deest Nachglück »Wenn die Sonne niedersank« C-Dur
WAB deest »O habt die Thräne gern« a-Moll
WAB deest Polka C-Dur
WAB deest Rondo für Klavier
WAB deest Rondo c-Moll (für Streichquartett)
WAB deest Die Rose, Lied oder Marsch (verschollen)
WAB deest Scherzo g-Moll (für Streichquartett)
WAB deest Sonate g-Moll (Entwurf 1. Satz)
WAB deest Thema und Variationen G-Dur
WAB deest Der Trompeter an der Katzbach »Von Wunden ganz bedecket« f-Moll
WAB deest Von der schlummernden Mutter »Du schlummerst nach Schweiß und Mühen« F-Dur
WAB deest Walzer C-Dur
WAB deest Walzer Es-Dur
WAB deest »Wie neid ich dich, du stolzer Wald« Es-Dur
387

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Erben, Dietrich (*1961), Professor für Theorie und seinem Kontext: Bruckner – Brahms. Urbanes Milieu als
Geschichte von Architektur, Kunst und Design an der kompositorische Lebenswelt im Wien der Gründerzeit,
TU München (seit 2009). Studium der Kunstgeschichte, Kassel 2006 (hrsg. gemeinsam mit Laurenz Lütteken).
Geschichte und Literaturwissenschaft. Promotion 1994 Jacob, Andreas (*1967), Professor für Musikwissen-
an der Universität Augsburg, Oberassistenz und Habili- schaft an der Folkwang Universität der Künste Essen
tation 2002 am Departement Architektur der ETH (seit 2009). Studium der Ev. Kirchenmusik an der
Zürich. Danach (bis 2009) Professor für Kunstgeschichte Folkwang-Hochschule Essen. Nach dem A-Examen
an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte (1992) Student in den Orgelsolistenklassen (Konzert-
in der Kunst- und Architekturgeschichte seit der Frühen
examen 1995) von Gisbert Schneider (Essen) und Ludger
Neuzeit, insbesondere der Architekturtheorie, der Insti-
Lohmann (Stuttgart), gleichzeitig Studium der Musik-
tutionengeschichte und der politischen Ikonographie.
wissenschaft, Philosophie und Psychologie in Essen,
Jüngste Buchveröffentlichungen: Die Kunst des Barock
Bochum und Bonn (Promotion 1996). Habilitation
(München 2008) und Komponistenporträts. Von der Re-
2002 (Universität Erlangen-Nürnberg 2002). Zahlreiche
naissance bis zur Gegenwart (Stuttgart 2008).
Auszeichnungen für wissenschaftliche wie künstlerische
Aktivitäten. Lehre in unterschiedlichen Funktionen an
Hansen, Mathias (*1941), Professor für Musikwissen-
verschiedenen deutschen Hochschulen, zuletzt als Pro-
schaft an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«,
fessor für Musikwissenschaft an den Universitäten
Berlin (seit 1991, pensioniert 2006). Studium der Mu-
Potsdam und Münster.
sikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-
Universität, Berlin. Ab 1970 wissenschaftlicher Mitar- Lütteken, Laurenz (*1964), Professor für Musikwissen-
beiter an der Akademie der Künste der DDR. Promotion schaft an der Universität Zürich (seit 2001). Studium der
1981, Habilitation 1986. Buchpublikationen: Anton Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte
Bruckner (Leipzig 1987), Arnold Schönberg. Ein Konzept an den Universitäten Münster und Heidelberg. 1991
der Moderne (Kassel 1993), Gustav Mahler (Stuttgart Promotion in Münster mit einer Arbeit über Guillaume
1996), Die Sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss Dufay. Nach Tätigkeit als freier Journalist und Stipen-
(Kassel 2003). Zahlreiche Aufsätze, Vorträge, Rundfunk- dien am Deutschen Historischen Institut in Rom, an
sendungen zur Musikgeschichte des 19. und 20. Jahr- der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sowie der
hunderts. Fritz Thyssen Stiftung von 1992 bis 1995 Assistententä-
tigkeit am Musikwissenschaftlichen Seminar der Uni-
Hinrichsen, Hans-Joachim (*1952), Professor für Mu- versität Münster; dort 1995 Habilitation. 1995/96 für ein
sikwissenschaft an der Universität Zürich (seit 1999). Jahr kommissarischer Leiter des Musikwissenschaftli-
Studium der Germanistik und Geschichte an der Freien chen Seminars der Universität Heidelberg; anschließend
Universität Berlin, Erstes und Zweites Staatsexamen Lehrtätigkeit an der Universität Erlangen-Nürnberg.
1980/82, Studium der Musikwissenschaft an der FU 1996–2001 Professor für Musikwissenschaft an der Uni-
Berlin (M.A. 1987, Promotion 1992). 1989–1994 Wissen- versität Marburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur
schaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin, Lehraufträge Musik des 14.–20. Jahrhunderts; Hauptarbeitsgebiete
an den Musikhochschulen in Berlin und Dresden. Ha- sind die Musik des Spätmittelalters bzw. der ›Renais-
bilitation an der FU Berlin 1998. Mitherausgeber des sance‹ und des 18. Jahrhunderts sowie musikalische
Archiv für Musikwissenschaft und der Schubert : Perspek- Gattungs- und Ideengeschichte. Neuere Buchpublika-
tiven. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Musikge- tion zu Bruckner und seinem Kontext: Bruckner –
schichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, zur Rezeptionsge- Brahms. Urbanes Milieu als kompositorische Lebenswelt im
schichte und zur Geschichte der musikalischen Interpre- Wien der Gründerzeit, Kassel 2006 (hrsg. gemeinsam
tation. Neuere Buchpublikation zu Bruckner und mit Hans-Joachim Hinrichsen).
388 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Leibnitz, Thomas (*1955), Direktor der Musiksamm- des Liedes vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhun-
lung der Österreichischen Nationalbibliothek (seit dert.
2002). Studium der Musikwissenschaft und Germani-
stik an der Universität Wien, Promotion 1980. Ab 1978 Röder, Thomas (*1950), Lektor für Musiktheorie am
Mitarbeiter des Instituts für Österreichische Musikdo- Institut für Musikforschung Würzburg (seit 2009),
kumentation, ab 1986 Wissenschaftlicher Bibliothekar Mitarbeiter an der Bruckner-Gesamtausgabe sowie
der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbi- Mitherausgeber der Gesamtausgabe von Johann Pachel-
bliothek. Präsident der Internationalen Bruckner-Ge- bels Vokalwerken. Studium am Konservatorium Nürn-
sellschaft (seit 2005). Arbeitsschwerpunkte in der berg (1973–1977) sowie Musikwissenschaft, Pädagogik
österreichischen Musik des späten 19. und des frühen und Italoromanische Philologie an der Universität Er-
20. Jahrhunderts. Publikationen zu Anton Bruckner langen-Nürnberg (1977–1981). Promotion (1984) mit
(Auswahl): Die Brüder Schalk und Anton Bruckner. Dar- einer Arbeit zu Bruckners Dritter Sinfonie. Wissen-
gestellt an den Nachlaßbeständen in der Musiksammlung schaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Institut für Musik-
der Österreichischen Nationalbibliothek (Tutzing 1988), wissenschaft (bis 2009). Arbeitsschwerpunkte (neben
sowie zahlreiche Aufsätze. der Musik Anton Bruckners) in der Musikgeschichte
Nürnbergs und Augsburgs im 16. und 17. Jahrhundert
Partsch, Erich Wolfgang (*1959), Koordinator der sowie der Musiklehre um 1500.
»Arbeitsstelle Anton Bruckner« der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften. Studium der Musikwis- Schubert, Giselher (*1944), Editionsleiter, seit 1991
senschaft und Pädagogik an der Universität Wien, Pro- Direktor der Hindemith-Gesamtausgabe im Hindemith-
motion 1983. Vizepräsident der Internationalen Gustav Institut, Frankfurt/Main, und Honorarprofessor an der
Mahler Gesellschaft; Lehraufträge an der Universität Musikhochschule Frankfurt/Main. Studium der Musik-
Wien (Musikwissenschaft, Germanistik). Arbeitsschwer- wissenschaft, Soziologie und Philosophie an den Uni-
punkte: Bruckner, Mahler und die Musik um 1900, versitäten in Bonn, Berlin (FU) und Zürich. Promotion
Musikkultur des Biedermeier, Mitherausgeber zahlrei- 1973. 1985–1996 Mitherausgeber der Zeitschrift Musik-
cher Bruckner-Symposionsberichte und des Bruckner- theorie, Mitherausgeber der Hindemith- und der Weill-
Handbuchs 1996. Gesamtausgabe, Mitglied im Editionsrat der Martinů-
Gesamtausgabe und Vorsitzender des Vereins zur Förde-
Rathert, Wolfgang (*1960), Professor für Historische rung der Schönberg-Gesamtausgabe. Arbeitsschwer-
Musikwissenschaft an der LMU München mit Schwer- punkte in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts.
punkt 20. Jahrhundert und Musik der Gegenwart (seit Jüngste Publikationen: Symphonik 1930–1950. Gattungs-
2002). Nach Kirchenmusiker-Examen Studium der geschichtliche und analytische Beiträge (Mainz 2003, ge-
Musikwissenschaft, Philosophie und Neueren Ge- meinsam mit Wolfgang Osthoff ), Verflechtungen im
schichte an der Freien Universität Berlin von 1980–1987; 20. Jahrhundert. Komponisten im Spannungsfeld elitär –
Promotion bei Rudolf Stephan mit »Ives-Studien« populär (Mainz 2005, mit Walter Salmen) und Hinde-
(Joachim-Tiburtius-Preis des Landes Berlin 1988). Aus- mith und Honegger. Konturen einer ungewöhnlichen
bildung zum Wissenschaftlichen Bibliothekar, anschlie- Freundschaft (Winterthur 2009).
ßend von 1991–2002 Leiter der Musik- und Theaterbi-
bliothek der Universität der Künste Berlin. 1999 Habi- Suppan, Wolfgang (*1933), Professor für Musikethno-
litation an der Humboldt-Universität zu Berlin. logie an der Kunst-Universität Graz (seit 1974, emeritiert
Zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen zur neueren 2001). Musikstudium am Steiermärkischen Landeskon-
und neuesten Musikgeschichte; Edition der Kammer- servatorium; Studium der Musikwissenschaft (bei
musik Kurt Weills im Rahmen der Gesamtausgabe. Hellmut Federhofer und Joseph Marx) an der Karl-
Stellvertretender Vorsitzender des Beirats des Deutschen Franzens-Universität in Graz. Promotion 1959. 1963
Musikarchivs, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Leiter der musikwissenschaftlichen Abteilung am Deut-
der Max-Reger-Tage Weiden und der Zeitschrift Musik- schen Volksliedarchiv (Freiburg im Breisgau). Habilita-
Konzepte. tion 1971 (Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, dort
zum apl. Prof. ernannt). Gastprofessuren in Dänemark,
Rentsch, Ivana (*1974), Privatdozentin an der Univer- Deutschland und den USA. 1974 Gründungspräsident
sität Zürich. Studium der Musikwissenschaft, Publizi- der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung und
stikwissenschaft und deutschen Linguistik an der Uni- Förderung der Blasmusik, 1995–1997 Präsident der
versität Zürich. Von 2000 bis 2005 Wissenschaftliche UNESCO-World Association for Symphonic Bands
Mitarbeiterin und Assistentin am Institut für Musikwis- and Ensembles, 1995–2001 Präsident der Johann-Joseph-
senschaft der Universität Bern. Promotion (2004), seit Fux-Gesellschaft. Publikationen s. www.hlkstmk.at.
2006 Assistentin am Musikwissenschaftlichen Institut
der Universität Zürich (Habilitation 2010). Mitglied im Wald-Fuhrmann, Melanie (*1979), Professorin für
Editionsrat der Martinů-Gesamtausgabe. Arbeitsschwer- Musikwissenschaft an der Musikhochschule Lübeck
punkte: Tanz und Tanzmusik im 17. und frühen (seit 2010). 1997–2002 Studium der Griechischen Phi-
18. Jahrhundert, Musiktheater des 19. und 20. Jahrhun- lologie und Musikwissenschaft an den Universitäten
derts, tschechische Musikgeschichte, Gattungsgeschichte Rostock, Marburg, Salzburg und an der Freien Univer-
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 389

sität Berlin (M.A. 2002). Seit 2003 Wissenschaftliche trum«) und des Liszt-Museums Raiding (seit 1989).
Mitarbeiterin, später (Ober-)Assistentin und Privatdo- Studium der Musikwissenschaft an der Universität Wien
zentin an der Universität Zürich. 2005 Promotion, 2009 (1974–1981), Promotion mit einer Arbeit über Richard
Habilitation ebenda. Mehrere Auszeichnungen für wis- Wagners Ring des Nibelungen 1981. Studium Klavier
senschaftliche Leistungen; seit 2010 Schriftleitung der Konzertfach (1974–1975) und Musikpädagogik Klavier
Acta Mozartiana. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: (1975–1979) in Wien, 1982–1983 Lehrbeauftragter am
Geschichte der Komposition, der Musiktheorie und der Institut für Wertungsforschung der Musikhochschule
Musikästhetik des 15. bis 19. Jahrhunderts, Musikalische Graz; seit 1983 im Landesdienst des Burgenlands, seit
Ideengeschichte, Aspekte der Musikgeschichte im Habs- 1989 Landesbeamter. Zahlreiche Ausstellungen und
burgerreich. Veröffentlichungen zu Joseph Haydn, Franz Liszt und
zur Musikgeschichte des burgenländisch-westungari-
Winkler, Gerhard (*1956), Musikreferent des Burgen- schen Raumes; weiterer Forschungs- und Publikations-
ländischen Landesmuseums, wissenschaftlicher Leiter schwerpunkt: Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts.
des Haydn-Museums Eisenstadt (heute: »Haydn-Zen-
390

Namenregister

Adler, Guido 33 f. Bernuth, Julius von 353


Adler, Moritz 350 Biba, Otto 328
Adorno, Theodor W. 94, 358, 360 Bibl, Rudolf 44, 237
Aichinger, Johann Evangelist XIX, XXIII Bilinski, Claudius XXII
Aigner, Karl 76 Bilse, Benjamin 165
Albert, Eugène d’ 9 Bizet, Georges 112
Albrechtsberger, Johann Georg XIV, 42, 327 Bloch, Ernst 360
Allioli, Franz 279 Bogner, Aloisia XIII f., 294, 322 f.
Almeroth, Carl 36, 79 f. Bogner, Michael XIII f., 294, 301, 322
Ambros, August Wilhelm 148, 349 Böhler, Otto 342
Androsch, Peter 346 Bohnen, Kurt 347
Antoine, Franz 34 Boss, Rainer 363
Antonicek, Theophil 362 Bote & Bock (Verlag) 166
Arneth, Michael XV, 18, 229 f., 246, 297 Brahms, Johannes XVIII, 14, 17, 19–22, 24, 37, 58, 68,
Asahina, Takashi 358 73, 76, 90 f., 93, 107 f., 110, 131 f., 140, 167, 194, 199,
Aßmayr, Ignaz XV, 230 239, 290, 310, 312 f., 317 f., 328, 345, 349–351, 354
Attfield, Nicholas 363 Breinbauer, Josef 43
Auber, Daniel-François-Esprit 45 Breitkopf & Härtel (Verlag) 364
Auer, Max 6, 26, 39, 42, 46 f., 59, 73, 76, 78, 101, 112, Brischar, Franz XIX
114, 119, 121, 126, 133, 136, 186 f., 219, 224, 231, 243, Bruch, Max 16
259, 263 f., 268 f., 283 f., 322, 334, 343 f., 356, 359, 361, Bruckner, Anton (Vater) XIII, 18, 31, 50, 52
364, 366 Bruckner, Ignaz XIII
Bruckner, Maria Anna XVI, XVIII
Bach, Carl Philipp Emanuel 16 Bruckner, Rosalia XIV
Bach, Johann Sebastian XIV, XVIII, 9, 27, 46 f., 51, 82, Bruckner, Theresia (geb. Helm) XIII, XVI, 18, 157
226 f., 239, 336, 342, 356, 359 f. Brugier, Gustav 240
Backes, Dieter M. 363 Brüll, Ignaz 14
Bajgarové, Jitka 363 Brunner, Franz XXIII, 359
Barenboim, Daniel 357 Buckow, Carl Friedrich Ferdinand 44
Bayer, Franz XXIII Buhz, Ida XXIII, 28
Beethoven, Ludwig van XIII, XVI–XVIII, XX f., 16, Bülow, Hans von XVI f., XX, 14, 108, 341
27, 50, 53, 55–57, 59, 62, 68, 76, 81, 91, 93 f., 96, 99 f., Buonarroti, Michelangelo 222
104, 106, 108, 110 f., 114, 116 f., 129, 131, 140, 151 f., Burgarth, Franz XIX
163, 182, 186 f., 191, 194, 207 f., 213, 215, 218, 225, 233, Burgstaller, Johann Baptist XVII, 258, 277
239, 242, 244 f., 250, 287, 310, 312 f., 315–318, 320 f., Busch, Hermann J. 47
345, 348–350, 354, 356, 359 f. Busoni, Ferruccio 9, 336
Behn, Hermann 34
Bekker, Paul 345 Cage, John 71
Berger, Alfons 327 Cambala, Franz XX
Berger, Joachim 327 Carda (oder Csarda, Vorname nicht nachweisbar) 76,
Berio, Luciano 172 165
Berlioz, Hector XVI, 33, 57 f., 68, 207 f., 283, 310, 333, Carlone, Carlo Antonio 50
335, 345 Carragan, William 86, 140, 149, 220, 347
Namenregister 391

Cavaillé-Coll, Aristide 45 Ganglbauer, Cölestin Josef 283


Celibidache, Sergiu 357 Gänsbacher, Johann 233
Cézanne, Paul 9 Gastaldi, Giuseppe 347
Cherubini, Luigi 233 Geck, Martin 204, 207 f.
Chopin, Frédéric 314, 326 Geibel, Emanuel 296
Chrismann, Franz Xaver 43 f., 231 Gericke, Wilhelm XVIII, XXII, 269, 280
Christ, Viktor 175 Glöggl, Franz Xaver 233, 241, 248
Cohrs, Benjamin-Gunnar 221, 347, 362, 370 Goebbels, Joseph 344, 357
Commenda, Hans 359 Gogh, Vincent van 9
Czerny, Carl 16 Göhler, Georg 75, 363 f.
Goldmann, Friedrich 201
Dahlhaus, Carl 67–69, 71 Goldmark, Karl 105
Damisch, Heinrich 366 Goller, Vincenz 346
Damrosch, Walter XXI, 353 Göllerich, August (jun.) XXI, 6, 26, 38 f., 42, 46 f., 59,
David, Johann Nepomuk 346 73, 76, 78, 104, 112, 114, 119, 121, 126, 133, 136, 173,
Decsey, Ernst 3, 63, 341, 344, 358 f. 187, 231, 263, 283, 322, 343, 359, 363
Dehnert, Max 362 Gounod, Charles 45
Denhof, Ernst XIX Graf, Max 6, 290
Desing, Julius XX, 315 Gräflinger, Franz 6, 8, 359
Dessoff, Otto XVI, XVIII, 133, 147, 349 Grandjean, Wolfgang 306 f., 363, 369
Diabelli, Anton 233 Gräner, Georg 343
Diernhofer, Josef 331 Grasberger, Franz 362, 369
Dittrich, Rudolf XIX Grasberger, Renate 362
Doblinger (Verlag) XXII f., 239 Gravesande, Hein ’s 347
Doebel, Wolfgang 363 Grienberger, Hugo von 314
Doernberg, Erwin 361 Grillich, Ludwig 26
Dömpcke, Gustav 317, 352 Grillparzer, Franz 302
Donizetti, Gaetano 322 Gross (Verlag) XXII, 239
Dorn, Ignaz XVI, 33, 54, 57–59, 78, 232 f., 246 Gruber, Josef 213
Dorfer, Alois (Abt des Stiftes Wilhering) 235 Grunsky, Karl 86, 361
Drechsler, Joseph 52 Gülke, Peter 63 f., 204, 209 f., 358, 362
Duesberg-Quartett 317 Gutmann, Albert XX–XXII, 166, 315
Dürrnberger, Johann August XIII, 31
Haas, Robert XX, 38, 41, 85–87, 96, 149, 153 f., 168, 174,
Eckstein, Friedrich 34–36, 39, 76 f., 207, 358 209, 360, 364–366, 368–370
Ehrenecker, Ludwig 55 Habel, Ferdinand 250
Ehrenfels, Christian 30 Habert, Johann Evangelist 261, 263
Einem, Gottfried von 346 Habert, Jordan 225
Engel, Gabriel 361 Hain, Raimund 43
Erhard, Caspar 241 Haitink, Bernard 353
Erkel, Sándor XXI Halbreich, Harry 370
Erpf, Hermann 95 Halm, August 63–65, 67–70, 78, 86, 92 f., 97 f., 105,
Eybler, Joseph von 233 164, 343, 350, 359 f.
Händel, Georg Friedrich XVIII, 46
Fassone, Alberto 363 Hansen, Mathias 119, 231, 358, 362
Fiedler, Conrad 4 Hansen, Theophil 33
Filser, Benno 364, 366 Hanslick, Eduard XVII, XIX, 15, 34, 37, 106, 147 f., 155,
Fine, Marshall 347 163 f., 179, 186, 199, 208 f., 235, 239, 313, 314 f.,
Finscher, Ludwig 122 317–319, 342, 351 f.
Fischer, Franz 166 Harrandt, Andrea 231, 362, 370
Floderer, Wilhelm 345 Harten, Uwe X, 362
Floros, Constantin 58, 105, 312, 335, 362 Hartung, Julie 18
Förster, August 350 Haslinger, Carl 233
Franck, César 45, 318 Hausegger, Siegmund von 366
Franz Joseph I., Kaiser von Österreich XVIII, Hawkshaw, Paul 74–76, 362, 369
XXI–XXIII, 19, 154, 166, 232, 328 Haydn, Joseph XVIII, 16, 53 f., 99, 147, 225, 233 f., 242,
Führer, Robert 233, 279 244 f., 248, 250, 294, 308, 310, 312–314, 325, 345
Führich, Carl 33 Haydn, Michael XIII, 42, 53, 233, 246, 327
Furtwängler, Wilhelm 346, 358 Hayez, Francesco 8
Fux, Johann Joseph 53, 245 Heine, Heinrich 294
392 Namenregister

Heller, Richard 76, 213 111 f., 119, 121, 232, 250, 270, 280, 292, 295, 297 f.,
Hellmesberger, Ferdinand 316 303, 309, 311 f., 325, 345
Hellmesberger, Joseph XVI, XXI, 24, 33, 84, 179, 186, Klose, Friedrich 34–38, 345, 358
314–317 Knab, Armin 359
Hellmesberger, Richard 283 Koch, Heinrich Christoph XIV
Helm, Theodor 132, 258, 315, 317, 349, 355 Koeckert-Quartett 314
Hengel, W. van (eig. Norbert Loeser) 361 Korngold, Julius XIX
Henry, Pierre 347 Korstvedt, Benjamin 40, 362, 370
Herbeck, Johann XVI–XIX, 33, 55, 57, 153, 165, 179, Korte, Werner F. 66–70, 102 f., 204, 306, 362
235, 237, 263, 348 f. Kralik von Meyrswalden, Mathilde 345
Herhaus, Ernst 162 f. Kränzl, Josef XVI, 291, 304, 347
Hermann, Hermann Julius XXII Kraus, Felix (von) XXII
Heuberger, Richard 280, 342 Kraus, Karl 351 f.
Heyse, Paul 173, 175 Kreft, Ekkehard 363
Hiller, Ferdinand 16 Kremser, Eduard XX, XXII, 304
Hindemith, Paul 346 Krenek, Ernst 343
Hinrichsen, Hans-Joachim 69 f. Krenn, Franz 225, 237
Hirschfeld, Robert 354 Kretzschmar, Hermann 175
Hitler, Adolf 357 Kreutzinger, Hans XX, 315
Hlawaczek, Franz 76 Krohn, Ilmari 163, 362
Hochleitner, Luise 273 Kronsteiner, Hermann 346
Hofmann, Helene 295 Kropfreiter, Augustinus Franz 346
Hofmann, Pauline 295 Krüger, Else 347
Hofmeyer, Leopold 76 Krzyszanowski, Rudolf 154
Hohenlohe-Schillingsfürst, Fürst Constantin von 19, Kupka, Hermann 316
166, 238 Kurth, Ernst 6, 86, 92, 94, 97, 102 f., 135, 139, 164, 207,
Horn, Erwin 46, 328 215 f., 242, 259, 264, 268, 321, 343, 359 f.
Horn, Richard 14
Lachner, Franz XVI, 121
Howie, Crawford 363
Lamber, Emil 34
Hrkal, Eduard XXII
Lancelot, Michel 361
Hruby, Carl 56, 358
Lang, Josefine XVI, 28
Huber, Klaus 346
Langevin, Paul-Gilbert 370
Hueber, Rosalie 76 Lanz, Engelbert XV, 43, 225, 232–235
Hugo, Victor 317, 321 Lehofer (Familie) XIV
Hummel, Johann Nepomuk 16, 233 Lenbach, Franz von 8
Humperdinck, Engelbert XXII Léon, Victor 3, 341
Hupfauf, Johannes Peregrin 283 Lessmann, Otto 108
Hynais, Cyrill 33 Levi, Hermann XXI, 39, 84 f., 91–93, 108, 166, 168, 179,
195–200, 210, 238, 283, 350, 352–354
Imhof von Geislinghof (oder Geißlinghof ), Ritter Liebig (oder Liebieg bzw. Liebweg?), Otto von XIX
Anton 263 Liechtenstein, Johann (oder Rudolf ) von und zu 349
Lillich, Carl XX, 315
Jahn, Wilhelm XX Liszt, Franz XVI, XX f., 10, 16, 33, 46 f., 53, 55–59, 62,
Jobst, Anna Maria XIV, 226 68, 108, 147, 166, 195, 208, 237, 239, 244, 280, 306,
310, 312, 333, 335, 344 f., 352, 354
Kabasta, Oswald 366 Litschauer, Walburga 322, 326
Kachelmaier, Katharina XVIII Lobe, Johann Christian 94 f., 312 f., 318
Kalbeck, Max 132, 198, 286, 317, 342, 351 f., 354 Loidol, Oddo XIX, 76, 272, 332
Kastner, Emerich 108 Lorenz, Franz 245
Kattinger, Anton XIII f., 31, 43, 228 Lortzing, Albert 322
Kaufmann, Harald 56 Lotti, Antonio 234 f., 245
Keldorfer, Viktor 356 Louis, Rudolf 151, 290
Kéler, Béla (eig. Adalbert Paul von Keler) 334 Löwe, Ferdinand XX, XXII f., 33, 35–41, 76, 101, 155,
Kerschbaum, Ferdinand 331 166, 168, 220, 238, 350, 352, 355 f., 360, 366
Keyhl, Maximilian 21 Löwe, Hans 40
Kirchberger, Matthäus 233 Löwy, Josef 6, 8
Kircher, Athanasius 312 Lucca, Theodor XX, 315
Kislinger, Harald 346 Ludwig II., König von Bayern XXI, 19, 194, 213
Kitzler, Otto XVI, XXIII, 17, 33, 54–56, 74, 90, 94 f., Lütteken, Laurenz 306
Namenregister 393

Machabey, Armand 361 Orel, Alfred 86, 220, 335, 360, 364, 366
Mahler, Gustav XXI f., 9, 14, 19 f., 56, 59, 71, 93 f., 108, Orlik, Emil 4, 6–10
112, 140, 154, 172, 199, 208, 213, 215 f., 220, 222, 251, Ostini, Fritz von 108
283, 310 f., 341, 345 f., 349 f., 352, 354 f., 358, 361, 363
Mahler-Werfel, Alma 9, 154 Pachelbel, Johann 328
Maier, Elisabeth 77, 362 Pachovsky, Angela 295
Mandel, Thomas 347 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 53, 135, 234, 245
Marböck, Josef (jun. u. sen.) 323 Palmer, Peter 363
Marböck, Marie 323 Pammesberger, Maximilian 234
Marböck, Moritz 323 Papier, Rosa 290
Marie Valerie, Erzherzogin von Österreich XXII f., 46 Partsch, Erich Wolfgang X, 362
Marinelli, Ernst 293, 297, 301 Paumgartner, Bernhard 351
Marpurg, Friedrich Wilhelm XIV Paumgartner, Hans 166, 355
Marschner, Bo 122, 363 Penderecki, Krzysztof 346
Marsop, Paul 108 Petters, Josef XX
Marx, Adolf Bernhard 57, 95, 111, 312, 318 Pfeiffer, Joseph XIV, 228
Märzendorfer, Ernst 220, 347 Pfitzner, Hans 9, 64
Mauracher, Josef 44 Phillips, John A. 220 f., 347, 362, 370
Mauracher, Matthäus (d.Ä.) 43 Piel, Peter 225
Max (Maximilian) Emanuel, Herzog in Bayern XX, 19, Pietschmann, Heinrich XX
315 Pius IX., Papst 232
Maxintsak, Josef 316 Platen, August von 296
Mayfeld, Betty von 199, 286 Pohl, Carl Ferdinand 147
Mayfeld, Moritz von 121 f., 132, 164, 179, 232, 236, 258, Pohoryles, Marie 34
286, 347 Porges, Heinrich 173 f.
Mayr, Friedrich Theophil XV, 229 f., 248, 294, 296 f. Prammesberger, Maximilian 297
Mazzuca, Giuseppe 220, 347 Prandtauer, Jakob 50
Megyesi-Schwartz, Eugen 345 Praßl, Franz Karl 228
Meißner, Anton XIX, 33, 75 f. Preindl, Joseph 42, 233, 328
Mendelssohn Bartholdy, Felix XIV, XVIII, 16, 46 f., Preyer, Gottfried XV, 225, 237
54 f., 68, 110 f., 140, 230–232, 248, 279 f., 293, 324, Prill-Quartett 317
335, 345, 350
Mengelberg, Willem 353 Raabe, Peter 361
Merklin & Schütze (Orgelbaufirma) 21, 45 Raff, Joachim 59, 91, 105
Metternich, Fürst Klemens Wenzel Lothar von 18, 228 Ramann, Lina 108
Mirus, Eduard XX Rappoport, Lidija Grigorevna 361
Moißl, Franz 140, 356 Rättig, Theodor XIX, XXI f., 36, 153 f., 185, 199, 239,
Morold, Max (eig. Millenkovich-Morold, Max von) 274–276, 349
290, 344, 359, 368 Redel, Martin Christoph 346
Moser, Ludwig 231 Redlich, Hans Ferdinand 168, 268, 319, 345
Mottl, Felix XX, 166, 168, 174, 352–355 Redwitz, Oskar von 294, 297
Mozart, Wolfgang Amadeus XVIII, XXI, 27, 53 f., 81, Reichardt, Johann Friedrich 291
84, 163, 180, 182, 233, 242, 244–246, 294, 310–312, Reimer, Ernst XX
316 f. Reinhardt, Max 9
Muck, Karl XXI, XXIII, 166, 196, 352 f. Reinisch, Simon Leo 351, 354
Müller, Ernest Maria 237, 278 Reisch, Theodor 76
Murschhauser, Franz Xaver 328 Reischl, Minna 28
Myklebust, Olav G. 363 Rheinberger, Joseph 105
Richter, Ernst Friedrich 111, 117 f.
Neill, Edward D.R. 347 Richter, Hans XIX–XXIII, 104, 132, 148, 155, 166, 179,
Newlin, Dika 361 198, 238, 352 f.
Nikisch, Arthur XX f., 6, 9 f., 35, 39, 191, 195, 352 f., 355 Richter, Pius 44
Nowak, Leopold 3, 62, 73, 85–87, 103, 149, 153, 155, 168, Riemann, Hugo 95
209–211, 226, 248, 314, 361, 368 f. Rink, Ferdinand 327
Rink, Johann Christian Heinrich 327
Oberleithner, Max von 34–36, 38, 40, 345, 355, 358 Robitschek, Adolf XXII, 291
Ochs, Siegfried XXII f., 84 Röder, Thomas 325, 370
Oehn (oder Öhn), Carl Bernhard XIX Rosé-Quartett 317
Oeser, Fritz 154, 347 Rossini, Gioachino XIII, 8
Ölzelt Ritter von Newin, Anton XIX, 19, 25, 165 Rott, Hans 23, 33, 345
394 Namenregister

Rotter, Ludwig 44 Speidel, Ludwig 148, 235, 258, 286 f., 317
Rubinstein, Anton 105 Spiegler, Eduard XX
Ruckensteiner, Georg 323 Spohr, Louis 16, 137, 349
Ruckensteiner, Marie 324 Statz, Vinzenz 234
Rudigier, Franz Joseph XV f., 20, 232–234, 236–238, Steinbeck, Wolfram 69 f., 93, 98 f., 101, 105, 107, 213,
258, 277 f., 297 216, 290, 306
Steiner, Rudolf XIX
Sailer, Franz XIV, 229, 246 Stephan, Rudolf 68 f., 71
Samale, Nicola 220 f., 347 Stephani, Albert Michael XX
Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Prinzessin Marie zu Storch, Anton 232
179 Stoyanova, Elena 363
Schalk, Franz XIX–XXI, XXIII, 33, 35 f., 38–41, 59, 65, Stradal, August 34, 37, 55, 59, 326, 358
76, 87, 91, 93, 97 f., 101, 154, 159, 178, 199 f., 315, Strauss, Richard 9, 35, 112, 208, 280
352 f., 355, 366, 368 Stremayr, Karl von XVIII, 34
Schalk, Josef XX–XXII, 33, 35–41, 59, 76, 87, 91, 108, Stülz, Jodok 229, 297
154 f., 166, 191, 195, 198–200, 208, 220, 238, 263, 269,
315 f., 349, 354 f. Talmor, Ohad 346
Schalk, Lili 366 Tappert, Wilhelm XIX, 80, 165–167, 175, 184 f., 315, 349
Scharpff, Richard XX Thanner, Emma 324
Scharschmid, Franz 231 Thomas, Ambroise 45
Scharwenka, Xaver 108 Thomas, Theodore XXI, 354
Schaumann, Franz XX Tilgner, Viktor 10, 355
Scheder, Franz 362 Tomaschek, Johann Wenzel 233
Schelle, Karl Eduard 153, 352 Traumihler, Ignaz XIX, 52, 229, 234, 237 f., 271 f., 276,
Schenker, Heinrich 33 315, 328
Schering, Arnold 362 Trebitsch, Oscar XXII
Schiedermayr, Johann Baptist 51, 233, 279 Trenitz (Tanzmeister, Vorname nicht nachweisbar) 324
Schimatschek, Franz 74 Tschaikowsky, Peter 137, 208
Schiske, Karl 362 Türk, Daniel Gottlob XIV
Schmidt, Franz 345 f.
Schnabl, Josef XIX Uhde, Fritz von 10
Schneider, Enjott (Norbert Jürgen) 346
Schneider, Friedrich 279 Vanhal, Johann Baptist 233
Schneider, Otto 370 Verdi, Giuseppe 19, 164
Schnitzler, Arthur 14 f. Vergeiner, Hermann Pius XIX
Schober, Franz 132 Vockner, Josef 34
Scholz, Horst-Günther 242, 362 Voigt, Wolfgang 347
Schönberg, Arnold 9, 69, 71, 213, 361
Schostakowitsch, Dimitri 93, 346 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 340
Schreker, Franz 9, 71 Wagner, Cosima XIX, 21, 24
Schreyer, Adalbert XXI Wagner, Eva 162
Schubert, Franz XVIII, 27, 55 f., 59, 68, 93, 99, 110–112, Wagner, Manfred 51–53, 71, 212, 357, 362
117, 120, 193, 215, 219, 225, 242, 244, 248, 250, 280, Wagner, Richard XVI–XXI, 14–17, 19, 21, 28, 33, 35, 38,
310–312, 314, 316, 318 f., 345, 348, 350, 352 40, 46, 50, 55, 57–59, 62 f., 66, 68, 90, 102, 104–108,
Schuch, Ernst von XXI 111 f., 114, 123, 126, 148, 151–155, 161–166, 169, 173,
Schuch, Julius 353 179, 184 f., 191, 194–196, 207, 215, 221, 232 f.,
Schuler, Manfred 246 236–239, 243 f., 246, 269, 271, 278, 283, 299, 310, 312,
Schumann, Robert 16, 66, 68, 110, 137, 140, 191, 232, 315, 317, 319, 331, 333, 335, 344 f., 347, 349–355, 357,
345, 350 359 f., 362
Schütz, Karl 46 Waldeck, Karl 39, 78
Schwanzara, Ernst 361 Walter, Joseph 240 f.
Schwebsch, Erich 361 Ward, Ken 363
Sechter, Simon XV–XVII, 19, 31, 33 f., 51, 74, 90, 110 f., Weber, Carl Maria von XIII, 114 f.
230 f., 233 f., 248, 250, 263, 311, 328, 330, 334, 348 Weingartner, Felix von 207, 209, 335
Seiberl, Josef 230 Weinwurm, Alois 232
Seiberl, Karl XIII Weinwurm, Rudolf XV f., 20, 22, 27, 43, 111, 121, 232,
Seidl, Anton XXI, 166, 168, 352 f. 235, 286, 304, 312
Sibelius, Jean 93, 346 Weisbach, Hans 220, 347, 357
Silberstein, August 28, 291, 304, 306 Weiser, Theresa 361
Soika, Alexandrine 325 Weiß, Anton 42
Namenregister 395

Weiß, Johann Baptist XIII f., 31, 42, 51, 54, 73, 327 Zamara, Alfred XIX
Wessely, Othmar 42, 327 f., 361 Zappe, Karl XIII, 231, 235
Wetzler, Emil XXI, 239 Zemlinsky, Alexander von 9
Willis, Henry 21 Zenetti, Leopold Edler von XIV, 31, 43, 51 f., 54, 226 f.
Winkler, Julius XX, 315 f. Zottmann, Franz XX f., 35, 37, 178, 195
Witt, Franz Xaver 279 Zumpe, Hermann 352
Wolf, Hugo XX, XXII, 23, 38, 59, 132, 317, 321 Zumsteeg, Johann Rudolf 291
Wolff, Werner 361 Zwol, Cornelis van 363
Wüllner, Franz 353
396

Werkregister
erstellt von Alexandra Jud und Damaris Leimgruber

Die Auflistung erfolgt in der Gruppe »Instrumentalmusik« alphabetisch nach Werktitel und in der Gruppe »Vokal-
musik« alphabetisch nach Werktitel und/oder Text-Incipit. Zur eindeutigen Identifizierung der Werke sind die
WAB-Nummern vorangestellt.

Instrumentalmusik
WAB 110 Abendklänge, Charakterstück e-Moll (für Violine und Klavier) 310 f., 314
WAB 114 Aequale c-Moll 248, 333 f.
WAB 149 Aequale c-Moll 248, 333 f.
WAB 130 Andante (Vorspiel) d-Moll (für Orgel) 52, 327, 328 f.
WAB 100 »Annullierte« siehe Sinfonie d-Moll
WAB 115 Apollo-Marsch Es-Dur (nicht von Bruckner) 334
WAB 124 Drei kleine Stücke für Klavier zu vier Händen G-Dur, G-Dur, F-Dur 323
WAB 97 Drei Orchesterstücke Es-Dur, e-Moll, F-Dur 74, 112–114, 356, 368
WAB 117 Erinnerung, Charakterstück As-Dur 326 f.
WAB 118 Fantasie G-Dur 325 f.
WAB 125 Fuge d-Moll (für Orgel) 327, 330–332
WAB 131 Fuge siehe Vorspiel und Fuge c-Moll
WAB deest Improvisationsskizze Ischl 1890 46
WAB 113 Intermezzo d-Moll (für Streichquintett) 85, 315–317, 319 f., 356, 369
WAB 124 Klavierstücke siehe Drei kleine Stücke für Klavier zu vier Händen
WAB 119 Klavierstück Es-Dur 324
WAB 120 Lancier-Quadrille C-Dur 322 f.
WAB 96 Marsch d-Moll 74, 112 f., 334, 356, 368
WAB 116 Marsch Es-Dur 333 f.
WAB 126 Nachspiel d-Moll (für Orgel) 52, 327, 328 f.
WAB 97 Orchesterstücke siehe Drei Orchesterstücke
WAB 98 Ouvertüre g-Moll 74, 111, 114 f., 116, 118, 234, 356
WAB 128,1–4 Präludien siehe Vier Präludien für Orgel Es-Dur
WAB 129 Präludium (»Perger Präludium«) C-Dur 327, 330–332
WAB 127 Präludium Es-Dur für Orgel (zweifelhaft) 42, 327 f.
WAB 121 Quadrille für Klavier zu vier Händen 323 f.
WAB deest Rondo c-Moll (für Streichquartett) 311 f., 313 f.
WAB deest Scherzo g-Moll (für Streichquartett) 311 f.
WAB 99 Sinfonie f-Moll (»Studiensinfonie«) 74, 95, 111, 116–121, 122–124, 126, 128–130, 132, 136, 234,
311, 356, 359, 369
WAB 101 Sinfonie c-Moll (Erste) 21 f., 45 f., 57, 75, 79–82, 84–86, 93, 100, 107 f., 112 f., 116, 122 f., 123–133,
134–137, 140–147, 157, 160, 165, 178, 185, 200, 235, 314, 334, 348, 366, 369
WAB 100 Sinfonie d-Moll (»Annullierte«) 57, 83 f., 93, 96 f., 106, 121–123, 129, 133–140, 142–146, 151, 157,
161, 163, 178, 185, 349, 356, 359, 369
WAB 102 Sinfonie c-Moll (Zweite) 41, 57, 76, 84, 86, 93, 96–98, 100, 102, 106, 110, 122 f., 128, 133, 137 f.,
139, 140–150, 151–153, 161–163, 165, 178 f., 185, 187, 200, 238, 263, 311, 349, 368, 369
Werkregister 397

WAB 103 Sinfonie d-Moll (Dritte) 22, 35–37, 39 f., 50, 52, 57–59, 63 f., 68 f., 71, 75 f., 78–81, 83 f., 85–87,
93, 95–102, 104–107, 110, 122 f., 128, 133, 137, 139–141, 145, 147, 149, 151–163, 164 f., 168–170, 172,
174, 178 f., 182, 184 f., 187, 199 f., 209, 311, 316, 335, 349–351, 353, 358, 368–370
WAB 104 Sinfonie Es-Dur (Vierte) 19, 39 f., 58, 64, 75, 77 f., 80 f., 83 f., 86 f., 96–102, 104–107, 136, 151,
153, 155, 164–176, 179, 181 f., 184 f., 187, 238, 311, 316, 334, 344, 351–353, 356, 360, 364, 370
WAB 105 Sinfonie B-Dur (Fünfte) 35–38, 40 f., 83 f., 96 f., 100–102, 107, 116, 136 f., 139, 144, 152, 158,
164 f., 167, 178–185, 186–188, 190 f., 334, 343, 346 f., 353, 359, 365–368
WAB 106 Sinfonie A-Dur (Sechste) 19, 25, 75 f., 80 f., 84, 95, 98 f., 102, 128, 145, 167, 185–190, 191, 238,
283, 311, 316, 334, 355, 363 f., 366
WAB 107 Sinfonie E-Dur (Siebte) 10, 19 f., 35, 39, 75, 77–80, 84, 91 f., 95 f., 98, 100–102, 104, 106, 113, 116,
128, 137 f., 144 f., 154, 164, 167, 178, 185, 191–196, 197 f., 213, 238, 283, 286, 290, 311, 331, 334, 347,
351–354, 360, 368 f.
WAB 108 Sinfonie c-Moll (Achte) 19, 39–41, 57 f., 62, 64, 69 f., 73, 75 f., 81 f., 84 f., 87, 91 f., 95–99,
101–104, 105, 131, 138–140, 144, 152, 168, 173, 185, 197–212, 213 f., 307, 311, 320, 331, 334 f., 346,
351, 353 f, 364 f., 368 f.
WAB 109 Sinfonie d-Moll (Neunte) 36, 39–41, 50, 57, 70, 75 f., 79, 81, 86, 93, 95, 97, 99, 101 f., 107, 113,
116, 128, 137, 140, 151, 164, 167, 185, 197, 199 f., 206, 213–222, 246, 281, 287, 290, 300, 306 f., 311,
334 f., 341, 346 f., 350, 352, 355 f., 360, 362, 366, 369 f.
WAB 143 Sinfonie Finale (Skizzen zur Neunten Sinfonie) 75, 79, 81, 101, 219–222, 346 f.
WAB deest Sonate g-Moll (Entwurf 1. Satz) 325
WAB 122 Steiermärker G-Dur 322, 323
WAB 123 Stille Betrachtung an einem Herbstabende fis-Moll 324 f.
WAB 111 Streichquartett c-Moll 111, 311 f., 313 f.
WAB 112 Streichquintett F-Dur 19, 84–86, 95, 184, 186, 205, 305, 310 f., 313, 314–321, 354, 369
WAB 99 »Studiensinfonie« siehe Sinfonie f-Moll
WAB 128,1–4 Vier Präludien für Orgel Es-Dur (zweifelhaft) 42, 327 f.
WAB 130 Vorspiel siehe Andante (Vorspiel) d-Moll
WAB 131 Vorspiel und Fuge c-Moll (für Orgel) 327, 328–330

Vokalmusik
WAB 57 Abendzauber »Der See träumt zwischen Felsen« Ges-Dur 299, 302, 305, 334, 356
WAB 1 »Afferentur regi virgines post eam«, Offertorium F-Dur 231, 235, 271 f., 274, 333
WAB 2 Am Grabe »Brüder, trocknet eure Zähren« f-Moll 298 f.
WAB 58 Amaranths Waldeslieder »Wie bist du, Frühling, gut und treu« G-Dur 292, 294
WAB 59 »An dem Feste« Des-Dur 298–300
WAB 3,1–2 »Asperges« siehe Zwei »Asperges«
WAB 4 »Asperges« F-Dur 226
WAB 61a (recte b) »Auf, Brüder! auf zur frohen Feier«, Kantate D-Dur 74, 296 f., 333
WAB 60 »Auf, Brüder! auf, und die Saiten zur Hand« D-Dur 229, 296 f., 333
WAB 5 »Ave Maria« F-Dur 227–229, 234, 239, 271 f., 272–274
WAB 7 »Ave Maria« F-Dur 237, 272–274
WAB 6 »Ave Maria«, Offertorium F-Dur 231, 234–236, 238 f., 272–274
WAB 8 »Ave Regina coelorum«, Cantus-firmus-Choral 237, 279
WAB 9 »Christus factus est« (I), Messe für den Gründonnerstag F-Dur 226 f., 248, 271
WAB 10 »Christus factus est« (II), Graduale d-Moll 237 f., 271, 275, 334
WAB 11 »Christus factus est« (III), Graduale d-Moll 237–239, 271 f., 274, 275
WAB 63 Das deutsche Lied siehe Der deutsche Gesang
WAB 65 Das edle Herz »Wer im Busen nicht die Flamme« A-Dur 298 f., 301
WAB 66 Das edle Herz »Wer im Busen nicht die Flamme« A-Dur 298 f.
WAB 95,1 »Das Frauenherz, die Mannesbrust«, Wahlspruch (Motto) A-Dur 299 f.
WAB 74 Das hohe Lied »Im Tale rauscht die Mühle« As-Dur 299, 301 f., 303, 334
WAB 78 Das Lied vom deutschen Vaterland »Wohlauf, ihr Genossen, stimmt an« Des-Dur 298, 303
WAB 55 Der Abendhimmel »Wenn ich an deiner Seite« As-Dur 298–300
WAB 56 Der Abendhimmel »Wenn ich an deiner Seite« F-Dur 298–300
WAB 63 Der deutsche Gesang »Wie durchs Bergtal dumpf grollt Donnergedröhn« d-Moll 297, 299,
302 f., 304–308, 334
WAB 77 Der Lehrerstand »Die Zeit weiset auf einen Stand« Es-Dur 298, 301
398 Werkregister

WAB deest Der Trompeter an der Katzbach »Von Wunden ganz bedecket« f-Moll 292, 295
WAB deest Des Baches Frühlingsfeier »Was solls mit deinem Brausen« d-Moll/A-Dur 292
WAB 62 »Des Dankes Wort sei mir vergönnt« F-Dur 298, 301
WAB 95,2 »Des höchsten Preis, des Vaterlandes Ruhm« C-Dur 298, 300
WAB 69 Die Geburt »Es landet ein Fremdling im Hafen der Welt« Des-Dur 298
WAB 12 »Dir, Herr, dir will ich mich ergeben«, Choral A-Dur 226
WAB 64 »Du bist wie eine Blume« F-Dur 298 f., 303
WAB 137 Duetto »Wie des Bächleins Silberquelle«, Liedskizze G-Dur 292, 293
WAB 13 »Ecce sacerdos magnus«, Responsorium a-Moll 237, 276, 277 f., 334, 356
WAB 83,1 »Ein jubelnd Hoch in Leid und Lust«, Sängerspruch D-Dur 298, 300
WAB 14 Entsagen »O Maria! Du Jungfrau mild und hehr!«, Kantate B-Dur 227, 229, 296, 297
WAB 140 Fastenmesse siehe Missa pro Quadragesima
WAB 15 Festgesang »Sankt Jodok sproß aus edlem Stamme«, Kantate C-Dur 229, 296 f.
WAB 16 Festkantate »Preiset den Herrn, lobsingt seinem heiligen Namen« D-Dur 231, 234, 236, 258,
296–298, 303–305, 333
WAB 147 »Freier Sinn und froher Mut« D-Dur 299 f.
WAB 68 Frühlingslied »Leise zieht durch mein Gemüt« A-Dur 292 f., 294 f., 322
WAB 70 Germanenzug »Germanen durchschreiten des Urwaldes Nacht« d-Moll 5, 54, 121, 291, 297 f.,
303–309, 333 f., 347
WAB 61c »Heil Dir zum schönen Erstlingsfeste«, Kantate D-Dur 296 f.
WAB 61b (recte a) »Heil, Vater! Dir zum hohen Feste«, Kantate D-Dur 229 f., 296, 297, 333
WAB 71 Helgoland »Hoch auf der Nordsee«, Sinfonischer Chor g-Moll 5, 27, 54, 106, 200, 281, 297,
299, 303–309, 311, 334 f., 354
WAB 72 Herbstkummer »Die Blumen vergehen, der Sommer ist hin« e-Moll 292, 295 f.
WAB 73 Herbstlied »Durch die Wälder streif ’ ich munter« fis-Moll 298, 303
WAB deest Herzeleid »Die Menschenbrust ist freudlos und verlassen« e-Moll 292
WAB deest »Heut kommt ja Freund Klose«, »unendlicher Kanon« C-Dur 299
WAB 18 »Iam lucis orto sidere« siehe In S. Angelum Custodem
WAB 75 Im April »Du feuchter Frühlingsabend, wie hab’ ich dich so gern« As-Dur 292, 295 f.
WAB 148,1 »Im Wort und Liede wahr und frei«, Motto C-Dur 299 f.
WAB 17 »In jener letzten der Nächte« f-Moll 227, 229
WAB 18 In S. Angelum Custodem »Iam lucis orto sidere«, Hymnus phrygisch/e-Moll, g-Moll 231, 235,
237, 278
WAB 19 »Inveni David« (I), Offertorium f-Moll 231, 234, 271, 274, 333
WAB 20 »Inveni David« (II) 237, 271, 276
WAB 146 »Kronstorfer Messe« siehe Messe ohne Gloria d-Moll
WAB deest Kyrie und Gloria (verschollen) 226
WAB 76 »Laßt Jubeltöne laut erklingen« Es-Dur 298, 303–305, 307, 333
WAB 83,2 »Lebt wohl, ihr Sangesbrüder«, Sängerspruch (Motto) A-Dur 298, 300
WAB 21 »Libera me«, Responsorium F-Dur 226
WAB 22 »Libera me«, Responsorium f-Moll 227, 248, 334
WAB 132 Litanei (verschollen) 226
WAB 23 »Locus iste«, Graduale C-Dur 234, 237, 239, 271, 274 f., 358
WAB 24 Magnificat B-Dur 74, 227, 229 f., 271, 280
WAB 79 Mein Herz und deine Stimme »Laß tief in dir mich lesen« A-Dur 292, 295 f.
WAB 25 Messe C-Dur (»Windhaager Messe«) 53, 226 f., 248, 333, 347
WAB 26 Messe d-Moll 19, 63, 74 f., 84, 96, 106 f., 110, 112 f., 121 f., 123, 136, 156, 186, 219, 231, 233–239,
241–246, 250–258, 261, 263, 269–272, 274, 276, 303, 311, 334, 347 f., 354
WAB 27 Messe e-Moll 63, 79, 84, 110, 133, 179, 231, 234–239, 241–244, 250 f., 258–263, 267, 269–271,
274, 276 f., 311, 314, 333–335, 368
WAB 139 Messe Es-Dur (nur Kyrie, Fragment) 74, 228
WAB 28 Messe f-Moll 38–40, 46, 63, 75, 78 f., 81, 84 f., 97, 110, 133, 144–147, 149, 179, 231, 235, 237–239,
241–244, 250 f., 258, 263–269, 270–272, 274, 311, 325, 334 f., 346, 348 f., 368–370
WAB 9 Messe für den Gründonnerstag F-Dur (»Christus factus est« I) 226 f., 248, 271
WAB 146 Messe ohne Gloria d-Moll (»Kronstorfer Messe«) 53, 226, 227, 248
WAB 138 »Mild wie Bäche«, Liedentwurf As-Dur 292, 293 f.
WAB 140 Missa pro Quadragesima g-Moll (Fragment) 226
WAB 29 Missa solemnis b-Moll 31, 74, 227, 229 f., 242, 248–250, 280, 311, 334, 365, 368
WAB 80 Mitternacht »Die Blumen glüh’n im Mondenlicht« As-Dur 299
WAB deest Nachglück »Wenn die Sonne niedersank« C-Dur 292
Werkregister 399

WAB 81 Nachruf »Vereint bist, Töneheld und Meister« c-Moll 299


WAB deest »O habt die Thräne gern« a-Moll 292
WAB 30 »Os justi«, Graduale lydisch 75, 237–239, 271 f., 274, 276
WAB 33 »Pange lingua et Tantum ergo«, Hymnus phrygisch 231, 234, 239, 278 f.
WAB 31 »Pange lingua«, Hymnus C-Dur 224, 237, 239
WAB 16 »Preiset den Herrn, lobsingt seinem heiligen Namen« siehe Festkantate
WAB 34 Psalm 22 »Der Herr regiert mich« Es-Dur 227, 230, 279 f., 356
WAB 35 Psalm 112 »Alleluja! Lobet den Herrn ihr Diener« B-Dur 121, 231, 234, 280, 334
WAB 36 Psalm 114 »Alleluja! Liebe erfüllt mich« G-Dur 227, 230, 279 f., 333, 335, 356
WAB 37 Psalm 146 »Alleluja! Lobet den Herrn, denn lobsingen ist gut« A-Dur 74, 228, 279 f.
WAB 38 Psalm 150 »Halleluja! Lobet den Herrn in seinem Heiligtum« C-Dur 63, 200, 224, 237–239,
250, 280–283, 286 f., 305, 311, 334, 369
WAB 133 Requiem (verschollen) 226
WAB 39 Requiem d-Moll 74, 227, 229 f., 237, 239, 246–248, 249, 311, 334, 347, 365, 368
WAB 134 »Salve Maria« bzw. »Salve Regina« (verschollen) 226
WAB 40 »Salvum fac« F-Dur 237, 279
WAB 82 Sängerbund »Nichts Schön’res auf der ganzen Erde« C-Dur 299
WAB 15 »Sankt Jodok sproß aus edlem Stamme« siehe Festgesang
WAB 18 Schutzengelhymnus siehe In S. Angelum Custodem
WAB 84 Ständchen »Wie des Bächleins Silberquelle« G-Dur 74, 298, 301
WAB 85 Sternschnuppen »Wenn Natur die sanften Lider« F-Dur 298
WAB 86 Tafellied »Durch des Saales bunte Scheiben« Des-Dur 299 f.
WAB 43 »Tantum ergo«, Hymnus A-Dur 226
WAB 44 »Tantum ergo«, Hymnus B-Dur 227
WAB 32 »Tantum ergo«, Hymnus D-Dur 226
WAB 42 »Tantum ergo«, Hymnus D-Dur 227, 229, 237, 239
WAB 41,1–4 »Tantum ergo« siehe Vier »Tantum ergo«
WAB 45 Te Deum C-Dur 36, 63, 84 f., 91, 106, 191–194, 197, 219–222, 237–239, 250 f., 279, 281, 283–287,
305, 311, 334, 351, 354
WAB 46 »Tota pulchra es«, Litanei phrygisch 237, 239, 277, 335
WAB 47 Totenlied »O ihr, die ihr heut’« Es-Dur 227
WAB 48 Totenlied »O ihr, die ihr heut’« F-Dur 227
WAB 87 Träumen und Wachen »Schatten sind des Lebens Güter« As-Dur 299, 302
WAB 49 Trauungs-Chor »O schöner Tag, o dreimal sel’ge Stunde« F-Dur 298
WAB 88 Trösterin Musik »Musik! Du herrliches Gebilde« c-Moll 299
WAB 89 Um Mitternacht »Um Mitternacht, in ernster Stunde« f-Moll 298 f.
WAB 90 Um Mitternacht »Um Mitternacht, in ernster Stunde« f-Moll 299
WAB 91 Vaterländisches Weinlied »Wer möchte nicht beim Rebensaft des Vaterlands gedenken?« C-Dur
298
WAB 92 Vaterlandslied »O könnt’ ich dich beglücken« As-Dur 298 f.
WAB 50 »Veni creator spiritus«, Hymnus 237, 278, 279
WAB 93 Vergißmeinnicht »Es blühten wunderschön auf der Au«, Kantate D-Dur 73 f., 229, 296 f.
WAB 51 »Vexilla regis«, Hymnus phrygisch 224, 237, 239, 278
WAB 41,1–4 Vier »Tantum ergo«, Hymnen B-Dur, As-Dur, Es-Dur, C-Dur 227, 229, 237, 239
WAB 52 »Virga Jesse floruit«, Graduale e-Moll 237–239, 271, 274, 276 f.
WAB 94 Volkslied »Anheben laßt uns all zusamm« C-Dur 292, 299, 302 f.
WAB deest Von der schlummernden Mutter »Du schlummerst nach Schweiß und Mühen« F-Dur 292
WAB 53 Vor Arneths Grab »Brüder, trocknet eure Zähren« f-Moll 230, 248, 298 f., 303, 305, 333
WAB 58 »Wie bist du Frühling gut und treu« siehe Amaranths Waldeslieder
WAB 84 »Wie des Bächleins Silberquelle« siehe Ständchen
WAB 137 »Wie des Bächleins Silberquelle« siehe Duetto
WAB deest »Wie neid ich dich, du stolzer Wald« Es-Dur 292
WAB 25 »Windhaager Messe« siehe Messe C-Dur
WAB 148,2 »Wir alle jung und alt«, Motto (»Begrüßung«) d-Moll 299 f.
WAB 54 Zur Vermählungsfeier »Zwei Herzen haben sich gefunden« D-Dur 299
WAB 3,1–2 Zwei »Asperges« aeolisch, F-Dur 18, 226, 227, 347

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