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Peter Paschke
Università Ca' Foscari Venezia
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Non-final focus accents in the learner variety of Italian L1 learners of German L2 (together with Peter Paschke, Università Ca'Foscari, Venezia) View project
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Die ein wenig reißerische Überschrift dieses Beitrags wurde bewusst gewählt, denn hier soll für
etwas geworben werden. Ich plädiere dafür, im italienischen Hochschulkontext Lesekurse Deutsch
anzubieten, und zwar für Studierende der geisteswissenschaftlichen Fächer, inbesondere auch für
Nullanfänger. Durch Konzentration auf die Lesefertigkeit, auf bestimmte Textsorten und Themen
lassen sich übrigens tatsächlich rasche Fortschritte erzielen. Aber es gibt noch weitere gute Gründe
für ein solches Lehrangebot. Im Mittelpunkt des Beitrags steht also nicht die Ausbildung von
Germanisten, sondern der „studienbegleitende Deutschunterricht“ (Serena/Lévy-Hillerich 2009).
Einerseits möchte ich die Einsicht vermitteln, dass Lesekurse eine sinnvolle Ergänzung des
universitären Lehrangebots sind. Andererseits geht es darum, einige Schlaglichter auf die
Konzeption solcher Kurse zu werfen. Dies soll in Form von Thesen geschehen, die jeweils kurz
erläutert werden.1 Zur Vertiefung sei auf die angegebene Literatur verwiesen.
Die ersten nach der „kommunikativen Wende“ veröffentlichten Lehrmittel für Anfänger-Lesekurse
gehen auf die frühen 1980er Jahre zurück. Recht bekannt wurde der (einsprachige) „Lesekurs
Deutsch“ von Hajny/ Wirbelauer (1983). Der „Lesekurs Deutsch für Geisteswissenschaftler“ von
Brandi/ Momenteau (1992), der mit englischem und französischem Begleitheft erschien, richtete
sich bereits an eine speziellere Zielgruppe. Vorreiter auf dem italienischen Markt war „Il tedesco
scientifico“ von Böhmer/ Tassinari (1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1997), gefolgt von „Leggere il tedesco.
Guida per gli archeologi“ von Gagliardi (2001) und „Leggere il tedesco per gli studi umanistici.
Principianti/Progrediti“ von Paschke (2007, 2009a). Diese Veröffentlichungen lassen bereits einen
Bedarf vermuten. Manifest wird die Nachfrage nach Lesekursen im italienischen Hochschulkontext
aber erst, wenn ein entsprechendes Lehrangebot besteht. Das Dipartimento di Filosofia der
Universität Padua z.B. bietet seit ca. 15 Jahren Zusatzveranstaltungen an, die bei Studenten und
Doktoranden stets großen Anklang gefunden haben. Aktuell absolvieren pro Jahr etwa 30
Studenten einen Anfänger- und ca. 10 Studenten einen Fortgeschrittenenkurs (inkl. Prüfung). Am
Sprachenzentrum der Universität Venedig gab es ein ähnliches nicht-curriculares Angebot in den
Jahren 1998-2006, das von Studenten, Doktoranden, Nachwuchswissenschaftlern und Dozenten
gern angenommen wurde. Allerdings existieren solche Angebote meist in Nischen und sind
untereinander nicht oder kaum vernetzt. Im Vergleich etwa zu Wirtschaftsdeutsch sind Lesekurse
für Geisteswissenschaftler an italienischen Hochschulen deutlich weniger institutionalisiert. Das ist
insofern zu bedauern, als es in Fächern wie Archäologie, Philosophie, Geschichte, klassische
Philologie u.a. durchaus ein Interesse an der Wissenschaftssprache Deutsch gibt.
1
Es soll also bewusst der „statementartige“ Charakter beibehalten werden, den Marianne Hepp und Marcello
Soffritti in ihrer Einladung zum sprachwissenschaftlichen Workshop der AIG-Tagung 2010 zum Thema
“Lesen” angeregt hatten.
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2. LESEN IST EIN INTERAKTIVER PROZESS: ES GILT, VORWISSEN UND TEXTDATEN SO IN BEZIEHUNG ZU SETZEN,
DASS SPRACHLICHE LÜCKEN ÜBERBRÜCKT WERDEN, OHNE DASS DAS VERSTEHEN VON DER TEXTGRUNDLAGE
„ABHEBT“.
Verstehensleistungen beruhen zwar stets auf der Interaktion von Textdaten und Leserwissen, aber
in fachlich orientierten Lesekursen kommt dem inhaltlichen Wissen doch eine ganz spezielle Rolle
zu. Im Vordergrund stehen stehen hier nämlich nicht fremde landeskundliche Inhalte, sondern
fachliche Themen, die den Lernenden (potentiell) vertraut sind. Im Idealfall ist das inhaltliche
Vorwissen daher geeignet, sprachliche Defizite auszugleichen, z.B. indem die Leser thematische
Erwartungen aufbauen und im Text die zugehörigen Belege suchen. Vorwissen ist also eine ganz
entscheidende Ressource beim fachlichen Lesen. Allerdings kann der auf inhaltliches Wissen
gestützte Leseprozess in zweifacher Weise „entgleisen“, wenn die Textdaten in sprachlicher
Hinsicht die Leserkompetenz übersteigen: Entweder wird dann die gesamte Aufmerksamkeit von
den (schwierigen) Textdaten absorbiert und Prozesse des wissensgestützten Inferierens (top-down)
kommen gar nicht erst zum Einsatz oder die Lesenden stützen sich umgekehrt zu ausschließlich auf
ihr Vorwissen, lassen sozusagen ihrer Phantasie freien Lauf, ohne die Textdaten (bottom-up)
genügend zu würdigen. Bei Lernenden mit geringer L2-Lesekompetenz kann also inhaltliches
Vorwissen u.U. keine kompensatorische Funktion übernehmen. Für diese plausible Annahme gibt
es auch empirische Evidenz. So hat Clapham (1996) für das Englische einen doppelten
Schwelleneffekt nachgewiesen. Demnach ist inhaltliches Wissen unterhalb einer gewissen
Sprachbeherrschungsstufe nicht produktiv und kann nicht eingesetzt werden, um sprachliche
Defizite auszugleichen. Erst in einem mittleren Bereich kommt es zu einer sinnvollen Interaktion
von Sprach- und Inhaltswissen. Schließlich existiert anscheinend eine obere Schwelle der
Sprachbeherrschung, jenseits derer Unterschiede im inhaltlichen Wissen kaum noch einen Einfluss
auf die Verstehensleistungen ausüben. D.h. Sprachkenntnisse sind so gut entwickelt, dass die L2-
Leser auch inhaltlich schwierige Texte, mit deren Themen sie wenig vertraut sind, verstehen
können. Für die Konzeption von Lesekursen ist aus all dem zu schließen, dass man versuchen
sollte, den mittleren Bereich einer kompensatorischen Funktion des inhaltlichen Vorwissens durch
entsprechende Textauswahl und Aufgabenstellungen zu fördern (vgl. Paschke 2009b, 2009c).
Einmal, weil sich nur so Fachtexte überhaupt erschließen lassen; zweitens, weil sich so rasch
motivierende Erfolgserlebnisse einstellen. Auch das Textsortenwissen, also die Vertrautheit mit
bestimmten, sich wiederholenden Textsorten (bei Anfängern z.B. Kurzbiographie,
Vorlesungskommentar), stützt den Leseprozess2. Ein probates Mittel, um die Interaktion zwischen
verschiedenen Wissensbereichen in Gang zu setzen, ist die Textarbeit in kleinen Gruppen, wo sich
einige Teilnehmer auf sprachliche Aspekte konzentrieren können, während andere eher
übergreifende inhaltliche Bezüge im Blick behalten.
3. DIE GRÖSSTE HERAUSFORDERUNG IST DER WORTSCHATZERWERB, ALLERDINGS NICHT DER FACHWORTSCHATZ,
SONDERN DAS ALLTÄGLICHE ODER ALLGEMEINE WISSENSCHAFTSDEUTSCH.
Der Wortschatz ist die eigentliche Herausforderung eines Lesekurses für Anfänger, denn im
Unterschied zu den grammatischen Strukturen er ist prinzipiell unbegrenzt. Um diese Hürde zu
nehmen, sind zwei Faktoren zu beachten: a) eine sinnvolle Auswahl des Vokabulars, die den
Zugang zu möglichst vielen Texten eröffnet, b) Mittel, welche die Erschließung und Memorierung
von Vokabeln erleichtern. Bei der Auswahl des Wortschatzes helfen noch heute die Studien von
Erk (1972 ff.) aus den 1970er und 1980er Jahren, in denen er aufgrund von Korpusanalysen die
Lexik wissenschaftlicher Texte fachübergreifend untersucht hat. Für den hier betrachteten
2
Dem Prinzip, Verstehensleistungen durch (zunehmendes) inhaltliches (und sprachliches) Vorwissen zu
stützen, ist auch der Ansatz des „narrow reading“ von Krashen (2004) verpflichtet.
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4. DIE GRAMMATIKVERMITTLUNG UNTERSCHEIDET SICH SOWOHL IN AUSWAHL UND PROGRESSION ALS AUCH
AUFGRUND DER REZEPTIVEN PERSPEKTIVE VOM ÜBLICHEN GRAMMATIKUNTERRICHT.
Auswahl und Progression der grammatischen Themen richten sich in Lesekursen nach den
Merkmalen der ausgewählten wissenschaftlichen Prosa, weichen also vom Grammatikprogramm
kommunikativer Anfängerkurse grundlegend ab. Schon einfachste Textsorten wie Titel von
Veröffentlichungen, Online-Kataloge, Bildunterschriften und Zeittafeln lassen sich z.B. nicht ohne
Kenntnis des Genitivattributs entschlüsseln. Überhaupt spielt die Nominalsyntax in
wissenschaftlichen Texten eine zentrale Rolle (z.B. Nominalisierung, erweiterte Partizipialattribute).
Weitere Schwerpunkte des Unterrichts liegen auf Objektivierung bzw. Deagentivierung (Passiv,
Passivumschreibungen, Modalverb sollen), auf der epistemischen Abstufung von Aussagen
(Heckenausdrücke, epistemischer Modalverbgebrauch) sowie auf den grammatischen
Ausdrucksformen des eristischen Charakters von Wissenschaft (Formen der Redewiedergabe) (vgl.
Paschke 2009c). Grammatikvermittlung in Lesekursen unterscheidet sich darüberhinaus von der
üblichen DaF-Praxis durch die rezeptive Perspektive: Den Lernern stellt sich die Frage, wie
vorgegebene grammatische Formen zu interpretieren sind, d.h. wie Form in Bedeutung übersetzt
werden kann (Dekodierung), während in anderen Kursen die (schwierige) Frage der Enkodierung
im Vordergrund steht. Ein Beispiel mag verdeutlichen, welche Konsequenzen der rezeptive Ansatz
hat: Die Endung des attributiven Adjektivs nach „dem“ (z.B. dem alten Dichter) kann beim Lesen
ignoriert werden, da der Artikel bereits alle syntaktisch relevanten Informationen enthält (Kasus,
Numerus), während nach dem Artikel „die“ die Adjektivendung numerusrelevant ist (die alte =
Sing., die alten =Pl.). Der rezeptive Zugriff auf die Grammatik hat sich also unter anderem mit der
Ambiguität von Formen sowie mit der Frage der Redundanz auseinanderzusetzen. Heringer (1989)
hat in seiner Grammatik „Lesen lehren lernen“ aufgezeigt, wie ein rezeptiver Ansatz umfassend
durchgeführt werden kann.
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5. LESEKURSE WERDEN VON STUDIERENDEN (UND LEHRENDEN) OFT ALS SEHR MOTIVIEREND ERLEBT.
Überraschend ist für viele TeilnehmerInnen an Lesekursen die Erkenntnis, dass man selbst bei
einer als schwierig geltenden Sprache wie Deutsch nicht mehrere Jahre braucht, um Texte aus dem
eigenen Fach zu lesen: Wer einen direkten Weg geht, kommt schneller ans gewünschte Ziel. Durch
die Beschränkung auf die rezeptive Fertigkeit des Lesens, auf bestimmte Textsorten und Themen
sind die im Titel des Beitrags angesprochenen raschen Lernfortschritte möglich. Der zweite Grund,
warum Lesekurse als motivierend erlebt werden, ist die Möglichkeit, das eigene Fach- und
Weltwissen als Ressource in den interaktiven Prozess des Lesens einzubringen. Die Teilnehmer
sind (angehende) Fachleute, sie sind dem Text nicht passiv ausgeliefert, sondern können
Erwartungen aufbauen und eine aktivere Rolle übernehmen. In den Texten geht es weniger um das
landeskundlich Typische (und den Lernenden Fremde) als um Ausschnitte aus dem gemeinsamen
kulturellen Erbe Europas. Durch das Angebot unterschiedlicher Texte zu einem Thema kann die
Chance des Wiedererkennens von bereits vertrauten Inhalten weiter erhöht werden. Drittens hat
ein solcher Leseprozess den Charakter eines Problemlösungsprozesses: Ähnlich wie Detektive
müssen die Studierenden Indizien (Textelemente) und Erfahrung (Fachwissen) kombinieren und
Hypothesen formulieren und testen, um Antworten auf bestimmte Fragen zu finden. Diese
Herangehensweise kann durch geeignete Aufgabenstellungen (und durch Gruppenarbeit)
unterstützt werden. Es sollte aber auch nicht verschwiegen werden, was die Motivation
beeinträchtigen kann: die hohe Hürde der Aneignung eines ausreichenden Wortschatzes, die früher
oder später bei den meisten Studierenden zu einer gewissen Ernüchterung oder sogar Entmutigung
führt. Hier kommt es auf die richtige Progression, auf Wiederaufnahme in nachfolgenden Texten,
auf ständiges Wiederholen und Üben, auf die Vermittlung von Lerntechniken usw. an. Am
effektivsten ist eine aktive, selbstgesteuerte Auseinandersetzung mit dem Problem (Vokabelheft,
Kartei/Datei usw.).
6. LESEKURSE SIND EIN SINNVOLLER BEITRAG ZUR ALLSEITS PROPAGIERTEN (REZEPTIVEN) MEHRSPRACHIGKEIT.
Seit dem Weißbuch der Europäischen Gemeinschaft von 1995 „Auf dem Weg zur kognitiven
Gesellschaft“ ist die Dreisprachigkeit der europäischen Bürger das erklärte Ziel der EU (ebd., 62f.),
aber auch des Europarats. Wünschenswert wäre es, wenn die fremdsprachlichen Kompetenzen der
EU-Bürger darüber hinaus wenigstens im rezeptiven Bereich noch weiter ausgebaut werden
könnten. In diese Richtung arbeitet z.B. der schon erwähnte Interkomprehensions-Ansatz (vgl. für
die germanischen Sprachen Hufeisen/Marx 2007). Demgegenüber haben Fremdsprachen im
studienbegleitenden Deutschunterricht an italienischen Universitäten einen immer schwereren
Stand. Nicht umsonst hat die AIG, gemeinsam mit anderen Verbänden, gegen die tendenzielle
Reduzierung des curricularen Fremdsprachenangebots durch das Studienreform-Dekret 270/2004
bzw. die entsprechenden Durchführungsbestimmungen protestiert3. Da der studienbegleitende
universitäre DaF-Unterricht zudem immer weniger auf schulische Vorkenntnisse zählen kann,
besteht die Gefahr einer Banalisierung oder eines gänzlichen Verzichts auf entsprechende
Lehrangebote. Angesichts dieser oft widrigen Rahmenbedingungen erscheinen Lesekurse als
Möglichkeit, auch bei knapp bemessener Unterrichtszeit ein hochschuladäquates und auf das
Fachstudium bezogenes Angebot zu machen. Die Erfahrung zeigt, dass ein solcher schneller
Einstieg und Überblick über das Deutsche oftmals ein weiter gehendes Interesse an der Sprache
3
Vgl. Newsletter elettronico dell’Associazione Italiana di Anglistica, Nr. 45, Juni 2007, S. 11: Gemeinsamer
Brief der Verbände AIA, AIG, AIS, AISPI, DoRiF, SUSLLF. http://www.lett.unitn.it/aia/newsletter/
news45giu2007.pdf.
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7. LITERATUR
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