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KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|11


AUSLANDSINFORMATIONEN Umbruch im Nahen Osten –
Was folgt auf die Ereignisse
in Tunesien und Ägypten?
Michael A. Lange

Der Südsudan vor der


Unabhängigkeit – Jubel vor
Ort, Enttäuschung im Nord-
sudan, Besorgnis weltweit
Martin Pabst

Kenias neue Verfassung:


Dem Triumph folgt die
Bewährungsprobe
Tom Wolf

Wirtschaftspolitik in
Südafrika – Wachstumspläne
und Wachstumshemmnisse
Werner Böhler

Pakistan nach der Flut


Karl Fischer

Der lange Schatten der


Präsidentschaftswahlen
in Weissrussland
Stephan Malerius

Die deutsche Minderheit


in Polen
Stephan Georg Raabe
KAS
AUSLA N D S I N F O R M A T I O N E N
3|11
ISSN 0177-7521
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
27. Jahrgang

Tiergartenstraße 35
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Herausgeber:
Dr. Gerhard Wahlers

Redaktion:
Frank Spengler
Hans-Hartwig Blomeier
Dr. Stefan Friedrich
Dr. Hardy Ostry
Jens Paulus
Dr. Helmut Reifeld

Verantwortlicher Redakteur:
Stefan Burgdörfer

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Inhalt

5 | EDITORIAL

7 | UMBRUCH IM NAHEN OSTEN – WAS FOLGT


AUF DIE EREIGNISSE IN TUNESIEN UND
ÄGYPTEN?
Michael A. Lange

34 | DER SÜDSUDAN VOR DER UNABHÄNGIGKEIT –


JUBEL VOR ORT, ENTTÄUSCHUNG IM NORD-
SUDAN, BESORGNIS WELTWEIT
Martin Pabst

56 | KENIAS NEUE VERFASSUNG: DEM TRIUMPH


FOLGT DIE BEWÄHRUNGSPROBE
Tom Wolf

72 | WIRTSCHAF TSPOLITIK IN SÜDAFRIKA –


WACHSTUMSPLÄNE UND WACHSTUMS-
HEMMNISSE
Werner Böhler

99 | PAKISTAN NACH DER FLUT


Karl Fischer

118 | DER LANGE SCHATTEN DER PRÄSIDENT-


SCHAF TSWAHLEN IN WEISSRUSSLAND –
VERLAUF, ERGEBNISSE UND POLITISCHE
FOLGEN
Stephan Malerius

141 | DIE DEUTSCHE MINDERHEIT IN POLEN


Stephan Georg Raabe
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Policy Expertise Worldwide


3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 5

EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

steht man auf dem Tahrir-Platz, so kann man sich der


Freude und dem Optimismus, den die jungen Frauen und
Männer ausstrahlen, kaum entziehen. Sie sind stolz auf
das, was sie erreicht haben und entschlossen, die Verän-
derungen weiter voranzutreiben. In der Tat können die
jungen Leute und mit ihnen die vielen, die unter Einsatz
ihres Lebens die bisherigen Machthaber vertrieben haben,
auf das bislang erreichte stolz sein. Ein Polizeistaat, der
Tausende mit brutaler Macht unterdrückt hat, musste
weichen. Die Polizei wagt sich nicht mehr auf die Straße,
denn die Menschen haben die Schreie der Gefolterten, die
durch geöffnete Fenster aus den Polizeistationen auf die
Straße drangen, nicht vergessen. Viele Orte der Folter und
der Willkür gingen in Flammen auf, die Stasigefängnisse
wurden gestürmt. Die Tausende von geschredderten Akten
erinnern uns an 1989.

Die Verzagtheit, auf die mancherorts im Westen auf diese


Veränderungen reagiert wird, macht traurig. Natürlich
besteht eine große Ungewissheit, was die Zukunft tatsäch-
lich bringen wird. Sicherlich lehrt die Erfahrung, dass die-
jenigen, die Revolutionen beginnen, zum Schluss nicht die
Siegreichen sein müssen. Dies sollte uns aber nicht daran
hindern, zunächst einmal mit ganzem Herzen die Verän-
derungen zu begrüßen, um jetzt mit Tatkraft denjenigen
Unterstützung anzubieten, die einen rechtsstaatlichen,
demokratischen und sozial gerechten Staat anstreben.
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Die Herausforderungen sind enorm. Dazu zählen verkrus-


tete Wirtschaftsstrukturen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer
Bildungsgrad, fehlende Rechtsstaatlichkeit, eine kaum aus-
geprägte Zivilgesellschaft und islamistische, organisierte
Kräfte. Naivität ist also fehl am Platze. Die Freude darüber,
dass es der arabischen Bevölkerung gelungen ist, dem
Despotismus und der menschenverachtenden Gewalt die
Stirn zu bieten, sollten wir uns darüber nicht nehmen
lassen.

Dr. Gerhard Wahlers


Stellvertretender Generalsekretär

gerhard.wahlers@kas.de
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UMBRUCH IM NAHEN OSTEN


WAS FOLGT AUF DIE EREIGNISSE IN TUNESIEN
UND ÄGYPTEN?

Michael A. Lange

Die Welt blickt in diesen Tagen mit großer Neugier und


wohl auch etwas Verwunderung auf die Arabische Welt und
begleitet über die Medien das sensationelle Geschehen.
Die Ereignisse sind, vor allem für politische Beobachter,
die diese Länder aus früheren Begegnungen zu kennen
glaubten, ebenso überraschend wie besorgniserregend.

Die lange unterdrückten und drangsalierten Bürger dieser Dr. Michael A. Lange
arabischen Staaten erheben sich gegen die despotische ist Teamleiter Politik-
dialog und Analyse
Willkür ihrer Autokraten und begehren auf gegen Bevor- der Hauptabteilung
mundung und Vernachlässigung. Sie fordern Gehör und Europäische und
Beachtung ihrer Würde. Sie wollen teilhaben an den Internationale Zusam-
menarbeit der Konrad-
Entscheidungen über ihre Zukunft und werden sich nicht Adenauer-Stiftung. Er
mehr vertrösten lassen: „We want democracy – now!‟ leitete nahezu 20 Jah-
re lang verschiedene
Büros der Stiftung im
UMBRUCH IN TUNESIEN Nahen Osten, u.a. in
Tunis (1985 bis 1988)
und Kairo (2001 bis
Den Anfang nahmen die Entwicklungen in Tunesien. Ein
2007).
junger Hochschulabsolvent der Informatik aus der Klein-
stadt Sidi Bouzid im Süden Tunesiens, Mohamed Bouazizi,
findet trotz abgeschlossenen Studiums und angestrengter
Suche in der Hauptstadt seines Landes keinen adäquaten
Berufseinstieg. Er überwindet seinen Stolz und kehrt in
seine Heimatstadt zurück, wo er versucht, seinen Lebens-
unterhalt auf weniger akademische Weise, aber ehrlich, zu
verdienen.

Er sucht ein Auskommen als fliegender Gemüsehändler.


Die dortigen Behörden begegnen diesem erfolglosen
„abtrünnigen‟ Akademiker mit Misstrauen und verweigern
ihm die nötige Lizenz zum Straßenverkauf, auch weil er
die geforderten Beschleunigungsgelder (Korruption) nicht
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zahlen kann oder zahlen will. Als er trotzdem weitermacht,


greift ihn die Polizei auf, sperrt ihn ein, konfisziert seinen
Eselskarren und sein Gemüse, verprügelt ihn in Erman-
gelung requirierbaren Barvermögens und lässt ihn wieder
gehen.

Der diplomierte Heimkehrer  – in seiner Menschenwürde


zutiefst verletzt  – sieht nach mehrmaliger Wiederholung
dieses Verfahrens vor Aussichtslosigkeit und Scham keine
Alternative als den Freitod. Er übergießt sich mit Benzin
und versucht, sich das Leben zu nehmen, überlebt jedoch
zunächst. Der Präsident des Landes, Zine El-Abidine Ben
Ali, erschrocken über diese grausige Tat, reist noch an das
Krankenbett des offensichtlich Verzweifelten und spricht
ihm telegen sein Mitgefühl aus. Zu spät, der symbolische
Handschlag wird weder das verzweifelte „Opfer‟ noch den
beunruhigten „Täter‟ retten. Am 4. Januar stirbt Mohamed
Bouazizi an seinen Verletzungen.

1987 hatte Ben Ali als damaliger Minis- Fast 25 Jahre zuvor, an einem friedlichen
terpräsident die Macht an sich gerissen. Novembermorgen im Jahr 1987, hatte Ben Ali
Mit Unterstützung des Militärs und der
Polizei zwang er den senilen Republik- als damaliger Ministerpräsident die Macht in
gründer Boughiba in den Ruhestand. Tunesien an sich gerissen. Mit Unterstützung
des Militärs und der Polizei zwang er in einem
Medical Coup den senilen Republikgründer Habib Boug-
hiba, seinen langjährigen Förderer, ohne Blutvergießen
in den „krankheitsbedingten‟ Ruhestand. Die tunesische
Bevölkerung begrüßte das Ende einer längeren Phase wirt-
schaftlicher Stagnation und politischen Attentismus.

Der neue Präsident formierte sogleich eine neue politische


Sammlungsbewegung, die sich Rassemblement Constituti-
onnel Démocratique (RCD) nannte, zu neuen Ufern strebte
und viele engagierte junge Kräfte anzog. Die überalterte
Führungselite der Ära Bourghiba wurde abgelöst. Eine dem
neuen Präsidenten verpflichtete Staatspartei sicherte ihm
die notwendige parteipolitische Unterstützung.

Die Erfahrungen, die das Nachbarland Algerien mit dem


Wahlerfolg der Islamisten und dem folgenden Bürgerkrieg
machte, sicherten dem neuen Präsidenten Anfang der
neunziger Jahre die Unterstützung der Mehrheit der Bürger
bei der dann einsetzenden massiven Verfolgung der Isla-
misten im eigenen Land. Deren damaliger Führer Rachid
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Ghannouchi verließ schließlich isoliert das Land und ging


nach London ins Exil.

Nachdem der Präsident sich auch noch aus der Verbande-


lung Tunesiens mit der PLO gelöst und von pan-arabischen
Träumen und dem Palästinakonflikt distanziert hatte,
konnte er auf die Bereitschaft des Westens zu verstärkter
politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zählen.
Innenpolitisch stabilisiert und außenpolitisch neu positio-
niert, setzte man in Tunesien nun auf wirtschaftliche Libe-
ralisierung und die Förderung der Klein- und Mittelindustrie
sowie des Tourismus. Die Wirtschaft wuchs im Schatten
eines von der Polizei kontrollierten Staates.

Dann heiratete der Präsident eine Tochter des bekannten


Trabelsi-Clans, einer in der tunesischen Wirtschaft schon
damals in äußerst umstrittener Weise aktiven
tunesischen Großfamilie. Unter dem Schutz Kein größeres Geschäft, keine gewinn-
des Präsidenten agierte der Familienclan bringende Lizenz mehr ohne die Beteili-
gung des Trabelsi-Clans oder der Familie
immer unverschämter und beugte das Recht des Präsidenten.
zu seinen Gunsten. Kein größeres Geschäft,
keine gewinnbringende Lizenz mehr ohne die Beteiligung
des Trabelsi-Clans oder der Familie des Präsidenten. Selbst
die dem Präsidenten bisher nahestehende tunesische Unter-
nehmerschaft begann unter seiner Präsidentschaft mehr
zu leiden als zu profitieren. Sie fühlte sich durch seitens
des Trabelsi-Clans erzwungene Geschäftsbeteiligungen um
ihren Profit gebracht und weigerte sich immer häufiger,
die „Schutzgeldzahlungen‟ an das Regime zu akzeptieren.
Unternehmer enthielten sich weiterer Investitionen, orien-
tierten sich nach Europa und entzogen dem Land Zug um
Zug das so dringend benötigte Investitionskapital. Als
dann schließlich die Wirtschafts- und Finanzkrise auch
Tunesiens Wirtschaft erreichte und die Schaffung weiterer,
für die wachsende Zahl gut ausgebildeter Hochschulabsol-
venten notwendiger Arbeitsplätze erschwerte, schwand in
der tunesischen Bevölkerung die neuerliche Zuversicht und
wich wachsender Frustration.

Schließlich erschütterte der Selbstmord des jungen


Studenten das Land und die latente Unzufriedenheit
führte zu ersten Übergriffen auf Polizeistationen  – zuerst
noch in den vernachlässigten ländlichen Gebieten, dann
auch in der Hauptstadt. Die Unzufriedenheit der Bürger
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mit dem menschenverachtenden Vorgehen der (Polizei-)


Behörden ließ sich nicht mehr kontrollieren und entlud
sich in Protesten sogar der städtische Mittelschicht, die,
­unterstützt von in die Hauptstadt strömenden Unzufrie-
denen aus den ländlichen Regionen Tunesiens, den begin-
nenden Volksaufstand nährte. Der Präsidentenclan geriet
in Panik und versuchte, mit seiner dem Präsidenten selbst
treu ergebenen Staats- und Sicherheitspolizei die Situation
in den Griff zu bekommen. Als dies nicht mehr gelang und
die Armee die Gefolgschaft bei der Niederschlagung des
Volksaufstandes verweigerte, war das Spiel vorbei.

Der Präsident erwies sich nur kurz als Kämpfer, flüchtete


dann aber aus seinem Land wie ein Dieb, jedoch nicht,
ohne zuvor noch die Aneignung der in der tunesischen
Zentralbank verwahrten Goldreserven durch seine Ehefrau
durchzusetzen. Er floh zunächst in Richtung Frankreich,
eines vermeintlich befreundeten Landes, und musste dann
schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass sich auch in einem
verbündeten Land ein flüchtender Staatschef sehr schnell
in einen verfemten verwandelt.

UMBRUCH IN ÄGYPTEN

Ein junger ägyptischer Student, Khalid Said, begeistert


sich für die neue Welt des Internets, für soziale Netzwerke
und neue Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu
treten und sich über vieles auseinanderzusetzen, darunter
auch über Politik. Mit ihm im Netz sind aber von Beginn
an nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch
Die totale Kontrolle des Internets galt Vertreter des gut ausgestatteten und ausge-
zwar vornehmlich den Islamisten, doch bildeten ägyptischen Sicherheitsdienstes,
en passant ließ sie sich auch zum Auf-
spüren von Homosexuellen und studen- denen die viel beschworene Freiheit im Netz
tischen Rebellen nutzen. viel zu weit geht, um sie nicht zumindest zu
beobachten und, wenn Politik im Spiel ist, auch zu interve-
nieren. Die totale Kontrolle galt zwar vornehmlich den Isla-
misten und ihren ebenfalls technisch erstaunlich versierten
Protagonisten, doch en passant ließ sie sich eben auch zum
Aufspüren von Homosexuellen und studentischen Rebellen
nutzen.

Zum Rebellen wurde auch der Student. Er startete eine


Karriere als Blogger, die ihn in der ägyptischen Blogger-
szene auffallen ließ, aber nicht nur dort. Die Sicherheits­
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behörden bestellten ihn ein  – eine übliche Warnung, sich


mit seinen Aktivitäten nicht zu weit vom staatlich gedul-
deten Freiraum zu entfernen. Als er diese Mahnung nicht
befolgte, verhaftete ihn die Polizei mehrmals und verprü-
gelte ihn schließlich so schwer, dass er an seinen dabei
erlittenen Verletzungen starb. Als sich diese Nachricht
zuerst in der Bloggerszene und schließlich im gesamten
studentischen Umfeld des Bloggers verbreitete, wuchsen
der Unmut und die Protestbereitschaft der Studenten.
Dann kamen die Neuigkeiten aus Tunis.

Fast drei Jahrzehnte zuvor, nach der Ermordung von


Präsident Anwar As Sadat im Oktober 1981, hatte Hosni
Mubarak als damaliger Vize-Präsident verfassungsgemäß
die Macht in Ägypten übernommen. Wegen der Unterstel-
lung, Sadat habe gerade ihn für dieses bedeutende Amt
ausgewählt, weil er seinem ehemaligen Luftwaffenchef
nicht das Charisma eines möglicherweise erfolgreichen
Herausforderers zubilligte, galt er vielen als Übergangs-
präsident.

Mubarak konzentrierte sich vor dem Hinter- Mubarak säuberte die islamistisch un-
grund des islamistisch inspirierten Attentats terwanderten unteren Mannschafts-
und Offiziersränge, die seitdem nur
zuerst auf die Konsolidierung der innenpoli- noch regimetreuen Berufssoldaten
tischen Lage. Mit Unterstützung des Militärs offenstehen.
säuberte er die offensichtlich islamistisch
unterwanderten unteren Mannschafts- und Offiziersränge,
die seitdem nur noch regimetreuen Berufssoldaten offen-
stehen. Auch gründete er seine politische Macht auf eine
neue politische Sammlungsbewegung, die National Demo-
cratic Party (NDP). Er erhob sie zur Staatspartei und setzte
damit den parteitaktischen Spielereien seines Vorgängers
ein Ende.

Nach der gelungenen innenpolitischen Stabilisierung kon-


zentrierte sich Mubarak auf die außenpolitische Rehabilitie-
rung Ägyptens, das wegen der Friedensverträge von Camp
David zwischenzeitlich den Sitz in der Arabischen Liga und
die Unterstützung der Mehrheit der arabischen Staaten
verloren hatte. Mubarak brachte es fertig, den Friedens-
vertrag im Kern zu erhalten, ihn nach der erfolgreichen
Rückkehr in die Gemeinschaft der Arabischen Staaten für
diese sogar „hinnehmbar‟ zu machen.
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Dieser Beweis seiner Standfestigkeit und Verlässlichkeit


machte ihn zum vertrauenswürdigsten außen- und sicher-
heitspolitischen Verbündeten des Westens in der Nahost-
region. Als unermüdlicher, wenn auch immer weniger
erfolgreicher Vermittler im Nahostkonflikt profitierte er
nicht zuletzt von der finanziellen Unterstützung dieser
westlichen Verbündeten und der Bereitschaft ausländischer
Investoren, sich in dem Land zu engagieren. Er vollendete
schließlich die wirtschaftliche Öffnung seines Landes,
indem er der lokalen Unternehmerschaft sogar den Einzug
in die Spitzengremien seiner Partei ermöglichte, die bis
dahin von alten Verbündeten aus Militär und staatlicher
Bürokratie dominiert gewesen war.

In den letzten Jahren wurde diese Regierungsbilanz jedoch


immer stärker durch die ungelöste Nachfolgefrage über-
schattet. Es schien immer wieder gute Gründe für den
ägyptischen Präsidenten zu geben, das Amt noch einmal
„auf sich zu nehmen‟, obwohl die Unzufriedenheit mit
seiner Herrschaft stetig wuchs und sich die Repression
durch die Sicherheitskräfte verschärfte.

Gerade in den letzten Monaten hatten die Diskussionen


um eine neuerliche Kandidatur Mubaraks viele Gemüter
bewegt, ohne dass diese Kritiker eine klare oder gar
einheitliche Vorstellung davon hatten, wer denn an Muba-
raks Stelle als Kandidat antreten sollte. Zu sehr hatten
potentielle Kandidaten jahrelang im Schatten des Präsi-
denten gestanden und keine individuelle Profilierung
geschafft. Eine dynastische Erbfolge, die Übertragung der
politischen Macht auf Mubaraks Sohn Gamal, stieß auch
auf die entschiedene Ablehnung der überwiegend „republi-
kanisch‟ gesinnten Militärs.

Die Kraft des Regimes, deutliche Re- Auch hier wuchs also der Attentismus. Die
formschritte einzuleiten, schwand. Kraft des Regimes, zukunftsorientierte Politik
Selbst die Staatspartei versäumte es,
rechtzeitig Zeichen zu setzen. zu skizzieren und deutliche Reformschritte
ins Werk zu setzen, schwand mit jedem wei-
teren Monat im Leben des gesundheitlich angeschlagenen
Präsidenten. Selbst die Staatspartei versäumte es, recht-
zeitig Zeichen zu setzen und einer jüngeren Gruppe um
Gamal Mubarak tatsächlich exekutive Funktionen zu über-
tragen.
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So kam es, wie es vielleicht kommen musste. Als die Ereig-


nisse in Tunis der Jugend in Kairo ein vielversprechendes
Beispiel gaben und der Fall Bouazizi den Fall des in Poli-
zeigewahrsam getöteten ägyptischen Bloggers wieder in
Erinnerung rief, war die revolutionäre Kraft des Moments
groß genug, um die Angst zu überwinden und trotz
Ausgangssperre auf den Straßen ein Ende der obwaltenden
Zustände zu fordern.

DER NORDAFRIKANISCHE AUFBRUCH

Blickt man auf diese jüngsten Ereignisse und Entwick-


lungen in den beiden bis dahin wohl stabilsten nordafrika-
nischen Ländern, in denen über einen Zeitraum von mehr
als fünf Jahrzehnten nur wenige Präsidenten die Geschicke
bestimmten, zwei in Tunesien (Bourghiba, Ben Ali) und
drei in Ägypten (Nasser, Sadat, Mubarak), so erkennt man
durchaus Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede
in den Ursachen, die zu den jüngsten Ereignissen geführt
haben.

In beiden Ländern konsolidierte der neue Machthaber nach


Amtsantritt eine krisenhafte innenpolitische Situation.
In Tunesien drohte die Staatsführung durch persönliche
Sympathien von Angehörigen der Präsidentenfamilie über
Gebühr in den israelisch-palästinensischen Konflikt verwi-
ckelt zu werden, wobei gleichzeitig radikale
Islamisten, angefeuert und unterstützt von In Tunesien konnte sich eine Mittel-
den Ereignissen im Nachbarland, Tunesien zu schicht bilden, in Ägypten profitierten
dagegen zu wenige, als dass sich dies
destabilisieren drohten. In Ägypten musste dauerhaft stabilisierend hätte auswir-
nach dem erfolgreichen Attentat der isla- ken können.
mistisch inspirierten Soldaten der säkulare
Staat im Innern verteidigt und dem Land wieder der Weg
zurück in die Arabische Staatenfamilie gewiesen werden.
Dass dies gelang, ohne sich vom Westen abzuwenden
oder eingeleitete ökonomische und politische „Öffnungen‟
(Infitah, Friedensprozess) zurückzunehmen, war ein wirk-
licher Erfolg. Die wirtschaftliche Liberalisierung dieser
Länder brachte Wohlstand, wenn auch nicht für alle. In
Tunesien konnte sich eine wachsende Mittelschicht bilden,
in Ägypten profitierten dagegen zu wenige, als dass sich
dies dauerhaft stabilisierend auf die innenpolitische Lage
hätte auswirken können.
14 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Auch die beiden monolithischen Sammlungsbewegungen


der Präsidenten, RCD und NDP, trugen durch ihre Exklusi-
vität und Nähe zum Präsidenten dazu bei, dass es keinen
wirklichen Spielraum für parteipolitischen Wettbewerb gab,
ja dieser zeitweise sogar künstlich herbeigeführt werden
musste. Selbst vage Hoffnungen auf einen durch Parteien,
also auf demokratischem Wege, betriebenen politischen
Wandel konnten so nicht bedient werden.

In beiden Ländern war mit dem Ähnlich verlaufen ist auch der Prozess der
Machtwechsel ein Ausnahmezustand wachsenden Repression gegen die Masse
verhängt worden. Die Repression nahm
stetig zu. der Bevölkerung. In beiden Ländern war mit
dem Machtwechsel ein Ausnahmezustand
verhängt worden, der in Ägypten bis zu den jüngsten
Ereignissen fortbestand. Die Repression nahm stetig zu.
Die Kontrolle der Bürger erstreckte sich mit Hilfe neuar-
tiger Instrumente (Internet, Mobilfunk) auf fast alle
Lebensbereiche. Nahezu nichts blieb den Sicherheitsbe-
hörden verborgen, der „gläserne Bürger‟ wurde, sobald
er die Kreise der Herrschenden störte, unweigerlich zum
Objekt der Einschüchterung und Disziplinierung.

Jüngere Bürger arabischer Staaten, nicht zuletzt durch die


Globalisierung der Medien mündig geworden, sahen sich
ihrer Menschenrechte beraubt und protestierten frustriert.
Bald entlud sich die mühsam kontrollierte Wut. Es ist ein
Zeichen für den „Überdruck‟, der in den beiden Gesell-
schaften gerade auch in der Jugend entstanden ist, dass,
bildlich gesprochen, ein kleines Loch im Fahrradschlauch
sofort den ganzen Reifen platzen ließ – ohne Chance, das
Fahrrad noch mit weichendem Reifendruck kontrolliert
nach Hause zu steuern. Der Reifen ist geplatzt und die
Panne zwingt zur Reparatur. Kein Flicken hilft, ein neuer
Schlauch muss her.

Was nun geschieht, wird wohl auch den Unterschieden


in den politischen Konstellationen der jeweiligen Länder
Rechnung tragen müssen. Für beide Präsidenten, selbst
für ihre Sicherheitsorgane kam dieser „Aufschrei‟ überra-
schend, aber nicht nur für sie. Keine Oppositionspartei war
vorbereitet. Selbst die als gut organisiert und informiert
geltenden Muslimbrüder sprangen spät auf den Zug der
Demonstranten auf.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 15

So wird sich der ehemalige Kampfpilot Hosni Mubarak nicht


wie sein Amtskollege Ben Ali davon stehlen. Er verfügt bei
den Massen der ägyptischen Bevölkerung (nicht dagegen
bei den Demonstranten am Tahrir-Platz) noch über eine
deutlich höhere Akzeptanz als der geflohene tunesische
Präsident. Zwar haben beide den Zeitpunkt für eine
würdige Übergabe der Macht verpasst, Mubarak hätte
einen solchen aber zweifellos eher verdient als Ben Ali.
Zudem stützt sich der ägyptische Präsident eher auf die
Armee, der tunesische eher auf die (Geheim-) Polizei. In
beiden Ländern hat die Armee einen eher guten, die Polizei
jedoch einen katastrophalen Ruf.

In Tunesien waren es nicht nur die arbeitslosen Jugendli-


chen, sondern vor allem auch der von der Korruption der
Präsidentenfamilie und der Wirtschafts- und Finanzkrise
gebeutelte Mittelstand, der sich des Präsidenten entledigen
wollte. In Ägypten sind es vorwiegend wütende Jugend-
liche, die den Protest tragen. Das Militär und die riesige
staatliche Bürokratie stehen bisher (noch) abseits. Sie
haben zu viel zu verlieren, wenn nicht nur der Präsident,
sondern mit ihm das gesamte Regime abdanken müsste.
Deshalb nun zu möglichen alternativen Szenarien der
weiteren politischen Entwicklung.

ZUKUNFTSSZENARIO TUNESIEN

Politik

Es war absehbar, dass der verständliche Versuch der


erst einmal im Amt verbliebenen Regierung, sich nahezu
unverändert zur „Übergangsregierung‟ zu machen, schei-
tern musste. Allein schon die Tatsache, dass sich der
Präsident quasi freiwillig und nahezu unmittelbar dem
Urteil des Volkes entzogen hatte, ließ die tunesischen
Demonstranten weitere Opfer der Revolte fordern. Zwar
zerstörte man das Parteigebäude des RCD
in Tunis nicht annähernd so umfassend wie Unbelastete Männer brauchte das
später das der NDP in Kairo. Doch sollten Land. Allein dem Ministerpräsidenten
billigte man schließlich eine Rolle als
weitere mit dem RCD verbandelte Minister „Moderator des Übergangs‟ zu.
und sonstige politische Amtsträger ebenfalls
„bestraft‟ werden. Da half auch kein plötzlicher Parteiaus-
tritt, die „Beschmutzung‟ durch die Regimenähe war nicht
zu reinigen. Unbelastete Männer brauchte das Land. Allein
16 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

dem Ministerpräsidenten billigte man schließlich eine Rolle


als „Moderator des Übergangs‟ zu, und dies wohl auch nur
deshalb, weil er selbst seine Rolle und Funktion auf diesen
absehbaren Zeitraum beschränkt sah und angab, darüber
hinaus kein öffentliches Amt anzustreben.

Man folgt in Tunesien jetzt also weitestgehend den verfas-


sungsrechtlichen Vorgaben  – auch wenn viele noch der
Ära Ben Ali entstammen. Für die Etablierung einer wirkli-
chen, parlamentarischen Demokratie mangelt es an einer
entsprechenden Verfassungsrealität und an einer ausrei-
chenden Zahl in der Bevölkerung verankerter politischer
Parteien. Deshalb muss es vor neuen Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen jetzt vorrangig um eine Reorga-
nisation des (vor-) politischen Raumes gehen. Die auch
staatstragenden, in der Vergangenheit aber zu staats-
nahen Gewerkschaften und Berufsverbände müssen sich
neu erfinden. Die neuen politischen Überzeugungen brau-
chen jetzt den nötigen Raum und die Zeit, sich neu zu
formieren.

Zeit wird zudem benötigt, um die verfassungsrechtlichen


Grundlagen für andersartige (Aus-) Wahlverfahren zu
schaffen und diese im Konsens zur Grundlage der jetzt
anstehenden politischen Weichenstellungen zu machen.
Wie dies geschehen kann, muss nun entschieden werden –
ob mit einem gewählten Parlament, das aber
In vielem – nicht in allem – ist die eigentlich diskreditiert ist, mit einem verfas-
Situation in Tunesien jetzt durchaus sungsgebenden Konvent aus „Weisen‟ oder
mit der sich auflösenden DDR zu ver-
gleichen. durch einen runden Tisch aller politischen
Kräfte. In vielem  – nicht in allem  – ist die
Situation in Tunesien jetzt durchaus mit der sich auflö-
senden DDR zu vergleichen.

Wirtschaft

Neben der Umstrukturierung der politischen Akteure und


Instanzen gilt es jetzt jedoch auch, die zügig wiederge-
wonnene Stabilität im Lande zu nutzen, um die wirtschaft-
liche Entwicklung wieder in Gang zu bringen. Zum Glück
sind die Touristenressorts von der Zerstörungswut der
Demonstranten weitgehend verschont geblieben. Auch
die mittelständischen Lohnfertigungsbetriebe sollten die
Revolte überwiegend heil überstanden haben.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 17

Die Zeichen für eine schnelle Wiedergewinnung der schon


einmal erreichten Wirtschaftskraft stehen deshalb recht
gut, wenn diese auch nicht in der Lage sein wird, sofort
alle aufgelaufenen sozioökonomischen Defizite kurzfristig
zu beheben. Der Wegfall der präsidentiellen Korruption ist
sicher ein wichtiger Faktor, der tunesische Unternehmer
dazu bewegen wird, wieder in Tunesien und nicht mehr
vorrangig im Ausland zu investieren. Ein solches „patri-
otisches‟ Verhalten wird den Prozess der wirtschaftlichen
Gesundung sicher beschleunigen.

Gesellschaft

Die Tatsache, dass der auslösende Faktor der Revolte in


Tunesien die Verzweifelungstat eines frustrierten Absol-
venten eines Informatikstudiums gewesen ist, wirft ein
bezeichnendes Licht nicht nur auf die ökonomischen,
sondern vor allem die demographischen Herausforde-
rungen, denen sich die arabischen Staaten gegenüber-
sehen. Wenn über 50 Prozent der Bevölkerung in der
Arabischen Welt unter 30 Jahre alt sind und die Facebook-
Generation der 20- bis 30-Jährigen allein über 20 Prozent
der Bevölkerung ausmacht, entsteht ein ernstzunehmendes
Protestpotential. Ihre andersartige Sozialisation lässt die
Demonstranten mehrheitlich nicht mehr resignieren, wie
es der Tunesier Mohamed Bouazizi getan hat, sondern
stattdessen ihre Rechte auf Teilhabe am wirtschaftlichen
Wohlstand und an politischen Entscheidungsprozessen
einfordern.

Das Ausmaß des Konfliktpotentials wird noch deutlicher,


wenn man bedenkt, dass in Tunesien das Verhältnis der
Sechzigjährigen, die heute die Machtelite
bilden, zu den Zwanzigjährigen eins zu 2,3 Selbst bei Komplettbeseitigung der
beträgt, in Ländern wie Ägypten sogar eins zu aktuellen Elite würden für jeden frei-
werdenden Posten in Wirtschaft und
vier. Hier existiert ein längerfristiges Protest- Gesellschaft mindestens drei Bewer-
ja Gewaltpotential, dass sich jetzt offensicht- ber bereitstehen.
lich immer stärker auf die eigene, verkrus-
tete Machtelite fixiert. Selbst bei Komplettbeseitigung der
aktuellen Elite würden für jeden freiwerdenden Posten in
Wirtschaft und Gesellschaft mindestens drei Bewerber
bereitstehen. Dabei kann die tunesische Gesellschaft sogar
noch ganz beruhigt in die Zukunft sehen, weil sie es heute
„nur‟ auf ein Durchschnittsalter von dreißig Jahren bringt.
18 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Im Vergleich zu den Nachbarländern ist die Zahl mögli-


cherweise frustrierter oder gar gewaltbereiter Jugendlicher
geringer. Länder wie Ägypten mit einem Durchschnittsalter
von 24 Jahren oder gar der Jemen und der Gazastreifen
mit 17 Jahren haben da ganz andere Sorgen.

ZUKUNFTSSZENARIO ÄGYPTEN

In Ägypten werden sich die Dinge dagegen nicht so schnell


wieder normalisieren. Es gibt verschiedene Faktoren, die
den „Heilungsprozess‟ deutlich erschweren werden. Ent-
scheidend ist dabei der Umstand, dass das, was in Ägypten
geschieht, enorme Bedeutung für die Entwicklungen in
anderen Arabischen Staaten haben wird. Zwar ging nicht
alles, was die Arabische Welt verändert hat, von Ägypten
aus, aber erst durch die Adaption dieser Neuerung durch
Ägypten erlangte es Bedeutung für die gesamte Region.
Von einem demokratischen Erwachen der sunnitischen
Staaten ist zweifellos zu erwarten, dass es Auswirkungen
auf andere islamische Regime zeitigen wird. Das ägyptische
Staatswesen war immer schon ein hoch zentralisiertes,
bürokratisches Gebilde, in dem die öffentliche Verwaltung,
das Militär, die zahlreichen Sicherheitsorgane und die früher
noch zahlreicheren Staatsunternehmen über die Staats-
partei aufs Engste miteinander verwoben waren. Nahezu
alle Funktionen waren mit Parteimitgliedern besetzt. Ohne
eine ausreichend bewiesene Loyalität zum Regime konnte
man dort keine auskömmliche Beschäftigung finden.

Sollte die gezeigte Loyalität zum „alten‟ Regime zum


Ausschlusskriterium für zukünftige politische Funktionen
und berufliche Verwendungen werden, wie
Das Militär, aber auch die Sicherheits- dies die bisherige Entwicklung in Tunesien
organe, werden angesichts anhalten- vermuten lässt, wird es viele geben, die etwas
der Massenproteste eine wichtige Rolle
bei der Begleitung der politischen Um- zu verlieren haben  – zu viele womöglich.
strukturierung spielen. Gleichzeitig werden vor allem das Militär, aber
auch die Sicherheitsorgane, angesichts anhaltender Mas-
senproteste weiterhin eine wichtige, wenn nicht entschei-
dende Rolle bei der Begleitung der politischen Umstruktu-
rierung spielen.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 19

Seit der Ausrufung der Republik hat der stets dem Miltär
entstammende ägyptische Präsident immer auch die Ehre
und Würde des Militärs verkörpert. Das Militär hat deshalb
kein Interesse daran gehabt, dass ihr „höchster Repräsen-
tant‟, auch wenn er sich inzwischen „zivilisiert‟ hatte, in
unwürdiger Weise von einigen Demonstranten aus seinem
Amt vertrieben worden wäre. Deshalb hat der inzwi-
schen installierte „Oberste Militärrat‟ die von ihm selbst
vollzogene Entmachtung des Präsidenten als „Rücktritt‟
verkündet, obwohl offensichtlich scheint, dass dieser von
Mubarak selbst nicht initiiert worden ist.

Wenn hier von „einigen Demonstranten‟ die Rede ist, dann


deshalb, weil selbst 50.000 oder 100.000 mutige Mubarak-
Gegner noch lange nicht die Wünsche und Hoffnungen
einer Mehrheit der über 80 Millionen Ägypter
widerspiegeln. Auch wenn die Meinungen der Allein freie Wahlen können über die
Demonstranten durch die internationalen inhaltlichen und personellen Präfe-
renzen der ägyptischen Bevölkerung
Medien eine beeindruckende Verbreitung präzise Auskunft geben.
erfahren, allein freie Wahlen können über
die inhaltlichen und personellen Präferenzen der ägypti-
schen Bevölkerung präzise Auskunft geben. Man sollte
sich davor hüten, die Interviews mit demonstrierenden
Regimegegnern zum Maßstab einer möglichen Stimmab-
gabe in kommenden Wahlen zu nehmen. Sie stellen eine
Momentaufnahme dar und tragen vielleicht sogar dazu bei,
die wahre Stimmungslage im Land zu verfälschen. Das
gilt vor allem für das, was sich eine Mehrheit der Ägypter,
und nicht allein die Demonstranten am Tahrir-Platz, von
einer neuen Staatsführung erhoffen. Dies herauszufinden
wird momentan zudem erschwert durch das erschreckende
Fehlen inhalt­licher und personeller Stringenz in dem, was
die Opposition bisher an Forderungen artikuliert hat.

Kenner des Landes wissen schon lange um die Zersplit-


terung der (partei-) politischen Opposition im Land, die
sich zwischen den Parteien immer wieder genauso mani-
festiert wie in ihrem Inneren. Immer wieder konnten sich
die Gruppierungen nur gegen, selten aber gemeinsam für
etwas aussprechen. Deshalb kann die Einigung der Oppo-
sitionellen, keine fortgesetzte Ausübung der Staatsgewalt
durch den Amtsinhaber zu akzeptieren, auch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass daneben wenig existiert, worauf sie
sich einigen könnten. Dabei sind noch nicht einmal alle
20 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

jene Ägypter ins Kalkül einbezogen, die sich täglich ganz


anderen Problemen gegenübersehen als die überwiegend
der ägyptischen Mittelklasse entstammenden Studenten
auf dem Tahrir-Platz.

Ist also schon die Zielrichtung der Revolte inhaltlich vage


bis unbestimmt, so fehlt es der Opposition zusätzlich an
einer alle Kräfte hinter sich versammelnden Führungs-
figur  – übrigens auch in Tunesien. Allein der langjährige
ägyptische Außenminister Amr Moussa kann für sich ein
wenig das Etikett eines „Dissidenten‟ in Anspruch nehmen,
weil er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Präsi-
denten sein Amt abgeben und vor Jahren die Funktion
des Generalsekretärs der Arabischen Liga übernehmen
musste. So konnte er eine gewisse Distanz zum Mubarak-
Regime bewahren, die ihm in der jetzigen Phase noch
zugute kommen könnte.

Der in den westlichen Medien immer wieder genannte


Mohamed El Baradei dagegen mag in der Weltöffent-
lichkeit ob seiner Verdienste und Auszeichnungen über
eine gewisse Bekanntheit und vielleicht sogar Sympathie
verfügen, den meistern Ägyptern ist er jedoch schon durch
seinen Jahrzehnte langen Auslandsaufenthalt heute eher
fremd. Zudem gelten Landsleute, die ihrer Heimat für so
lange Zeit den Rücken kehren, vor allem den vielen heimat-
verbundenen Ägyptern in den ländlichen
El Baradei hat nicht jahrelang unter Regionen immer ein wenig als „Verräter‟.
dem Regime gelitten, wie es die De- Auch wenn er dafür seine internationalen
monstranten für sich in Anspruch neh-
men. Deshalb wird er nicht die Befrei- Berufungen als Erklärung anführen kann, so
ung von diesem Regime anführen. hat er doch sicher nicht jahrelang unter dem
Regime gelitten, wie es die Demonstranten
für sich in Anspruch nehmen. Deshalb wird er nicht die
Befreiung von diesem Regime anführen, auch wenn sich
das mancher in den westlichen Hauptstädten wünschen
würde.

Es bleiben also das Militär und die Sicherheitsorgane als


wichtige Akteure, die sich nicht durch Gruppen der Zivilge-
sellschaft bevormunden lassen werden. Wenn man ande-
rerseits aber den Hass kennt, den ein Innenminister Adli
auf sich ziehen konnte, und weiß, das zwischen ihm und
anderen Vertretern der Sicherheitsorgane immer großes
Einvernehmen über das herrschte, was politisch notwendig
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 21

erschien, ist daran zu zweifeln, dass dieses Militär wirk-


lich allen Forderungen der Demonstranten gerecht werden
kann. Die Zukunft der Revolte und damit des Landes
allein dem Militär zu überlassen, wäre also ebenso fahr-
lässig, zumal ein Rückfall in autokratische Strukturen und
Prozesse dann nicht auszuschließen wäre. Das Werk wird
also wohl nicht ohne einen Prozess der „Versöhnung‟ von
zivilem und militärischem Denken und Handeln gelingen.
Politik und Militär müssen zusammenkommen, um das in
die Sackgasse manövrierte Land in eine hoffnungsvollere
Zukunft zu führen.

Inzwischen hat sich auch die Vermutung mancher poli-


tischer Beobachter, dass man in Ägypten einen schon in
der Vergangenheit praktizierten Weg über einen „Revoluti-
onsrat‟ mit exekutiven Vollmachten gehen würde, bewahr-
heitet. Die mit Vertretern der ägyptischen
Zivilgesellschaft besetzten „runden Tische‟ Es gilt, eine Art „Übergangsverfassung‟
konnten, auch wegen der offensichtlichen per Referendum in Kraft zu setzen und
zur Grundlage der in sechs Monaten
Zerstrittenheit der verschiedenen Fraktionen, anberaumten Neuwahlen zu machen.
keine dauerhafte Wirkung entfalten. Statt-
dessen hat der „Oberste Militärrat‟ die ägyptische Verfas-
sung kurzerhand außer Kraft gesetzt und ein Gremium ihm
vertrauter Verfassungsexperten mit der Aufgabe betraut,
innerhalb von nur zwei Wochen einen neuen Verfassungs-
entwurf vorzulegen, den es dann zumindest als eine Art
„Übergangsverfassung‟ per Referendum in Kraft zu setzen
gilt, als Grundlage der in sechs Monaten anberaumten
Neuwahlen.

Die Entscheidung des „Obersten Militärrates‟, das gerade


erst unter dubiosen Umständen gewählte ägyptische Parla-
ment aufzulösen, ist konsequent, da von diesem Parlament
niemand eine wirklich konstruktive Rolle im beginnenden
Umbauprozess des ägyptischen Regierungssystems erwar-
ten konnte.

ÄGYPTENS MUSLIMBRÜDER –
IST DER WEG FREI ZUR MACHT?

Zu den bedeutendsten Unwägbarkeiten, die mit diesem


umfassenden Restrukturierungsprozess in Ägypten verbun-
den sind, gehört natürlich die Frage nach der zukünf-
tigen Rolle, die die ägyptische Muslimbruderschaft spielen
22 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

könnte. Die angebliche oder tatsächliche Bedrohung des


ägyptischen Regimes durch die Muslimbrüder war über
Jahre das Hauptargument, weswegen westliche Regie-
rungen eine „robuste‟ Regierungsführung in Ägypten in
Kauf genommen haben.

Die Meinungen über die Bereitschaft und die Fähigkeit


dieser Gruppierung, das möglicherweise gerade entste-
hende politische Machtvakuum zu füllen, den jetzt auf
den Weg zu bringenden politischen Wandlungsprozess
in Ägypten zu beeinflussen oder sogar entscheidend zu
bestimmen, gehen sehr weit auseinander.
Wenige Ägypter, mit denen sich west- Für viele ist die ägyptische Muslimbruder-
liche Vertreter in Kairo politisch ausei- schaft bis heute immer noch eine „Blackbox‟.
nandersetzen, bekennen sich zu einer
Mitgliedschaft in der Muslimbruder- Wenige Ägypter, mit denen sich westliche
schaft. Vertreter in Kairo vornehmlich politisch aus­­
einandersetzen, bekennen sich zu einer Mitgliedschaft.
Die nominelle Größe dieser offiziell zwar verbotenen, vom
Regime aber immer wieder geduldeten Organisation bleibt
deshalb bis heute genauso unbestimmt, wie ihre mögliche
Attraktivität in freien und geheimen Wahlen.

Viele Experten schätzen ihre Wahlchancen zumindest


momentan eher geringer ein als noch vor wenigen
Monaten. Dies mag den neuen Alternativen geschuldet
sein, kann sich aber als Trugschluss und Ergebnis eines
klugen politischen Kalküls der Bruderschaft erweisen. Ihr
Verhalten während des aktuelle Protestes am Tahrir-Platz,
wo es überraschend so gut wie keine islamischen Parolen
zu sehen und hören gab, sollte nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass die politische Zukunft Ägyptens langfristig
eben nicht im Zentrum Kairos, sondern in einem neuen,
frei gewählten ägyptischen Parlament entschieden werden
wird. Dort werden die jungen Studenten, die heute auslän-
dischen TV-Sendern bereitwillig Interviews geben, sicher-
lich in der Minderheit sein.

Zudem verfolgt die Bruderschaft erklärtermaßen seit


geraumer Zeit eine Strategie, die sich nicht an kurzen Fris-
ten orientiert, wie sie Legislaturperioden darstellen, son-
dern langfristig die islamische „Unterwanderung‟ aller poli-
tischen Institutionen zum Ziel hat. Diese muss, nimmt man
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 23

vergangene Wahlerfolge der Muslimbrüder in verschie-


denen ägyptischen Berufverbänden für bare Münze, inzwi-
schen als weitgehend erfolgreich angesehen werden.

Es ist nicht vollständig abwegig zu unterstellen, dass


die von der Bruderschaft aktuell gezeigte Zurückhaltung
Kalkül ist, um die in den westlichen Medien populäreren
Kairoer Studenten den demokratischen Wandel erzwingen
zu lassen und ihn dann zur mehrheitlichen demokratischen
und damit legitimen Machtübernahme zu nutzen. Dabei
bleibt momentan ebenso ungewiss, ob die Bruderschaft
in der bekannten ideologischen Erstarrung verharren wird
oder ob ein Teil der Bewegung nicht doch bereit sein wird,
den parlamentarischen Weg in Richtung der
türkischen Regierungspartei AKP zu gehen. Es gibt schon Positionspapiere, vorge-
Richtig ist, dass sich die bisher in der ägyp- legt von Parlamentsvertretern, die der
Muslimbruderschaft zugeordnet wer-
tischen Öffentlichkeit auftretenden höchsten den können. Klarheit wird aber erst
Repräsentanten der immer noch geheimnis- der anstehende Politikdialog bringen.
umwitterten Organisation bislang mit politi-
schen Standortbestimmungen sehr zurückhielten. Es gibt
zwar durchaus schon politische Positionspapiere, vorgelegt
von einigen Parlamentsvertretern, die der Muslimbruder-
schaft zugeordnet werden können. Klarheit wird aber erst
der anstehende Politikdialog bringen.

Diese Papiere zu studieren, kann schon jetzt nicht schaden,


will man das breite Spektrum der politischen Meinungen
ermessen, das sich bald beim ägyptischen Wähler um
Unterstützung bemühen wird. Ob die überalterten
Führungen der existierenden Oppositionsparteien dieser
organisierten und ideologisch „gestählten‟ Bewegung
tatsächlich wirksam, vor allem aber ideologisch konsistent
und erfolgversprechend entgegentreten können, ist heute
noch nicht absehbar.

Realistisch erscheint, dass die neue ägyptische Staats-


führung Vertreter des Militärs und der Sicherheits-
dienste einschließen wird, und dass deshalb einige der
umfassenden Privilegien dieser Staatsorgane zumindest
vorläufig erhalten bleiben. Ob es noch die alten Generäle
sein können, die mehr als die unmittelbare Übergangs-
phase beeinflussen werden, ist fraglich. Einige jüngere
24 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Militärs könnten die neuerliche konstruktive Distanz zum


politischen Prozess sicher besser dokumentieren als jene
Generäle, die sich noch vor wenigen Tagen im staatlichen
Fernsehen mit dem bedrängten Präsidenten abbilden
lassen mussten.

Die Vertreter der NDP werden es dagegen schwer haben,


ihren politischen Einfluss auch in Zukunft geltend zu
machen. Die Chancen für den Hoffnungsträger des alten
Systems, den Sohn des Präsidenten und Vorsitzenden des
Politischen Komitees der NDP, Gamal Mubarak, in Zukunft
noch eine Rolle zu spielen, scheinen dahin.

DIE ÄGYPTISCHE WIRTSCHAFT

Die Zukunft der ägyptischen Wirtschaft haben die jüngsten


Ausschreitungen zumindest kurzfristig verdüstert. Viele
Vermögenswerte sind in den chaotischen Tagen der Revolte
nicht nur in Kairo zerstört worden, darunter auch viele
neue mittelständische Existenzen, die der Zerstörungswut
und den Plünderungen zum Opfer gefallen sind. Gerade auf
den Mittelstand hatte sich das in den vergangenen Jahren
erstaunlich robuste Wirtschaftswachstum in
Wirtschaftliche Wachstumsraten von Ägypten gegründet. Der infolge der wirt-
bis zu sieben Prozent werden sich nur schaftlichen Liberalisierungspolitik der jetzt
schwer wieder erreichen lassen – und
wenn, dann nur mit ausländischer abgelösten Regierung Nacif erlangte Status
Hilfe. als drittgrößte arabische Volkswirtschaft ist
akut gefährdet. Wirtschaftliche Wachstumsraten von bis
zu sieben Prozent und zuletzt immerhin noch fünf Prozent
werden sich nur schwer wieder erreichen lassen  – und
wenn, dann nur mit ausländischer Hilfe. Es gilt, die depri-
mierenden Erfahrungen, die ägyptischen Jungunternehmer
mit der „Revolte‟ machen mussten, in neue Hoffnung und
in neuerliche Bereitschaft zu Engagement und Investi-
tion zu überführen. Um diese Existenzen zu retten und
Neuanfänge zu ermöglichen, wird es der Unterstützung
nationaler und internationaler Banken durch neue Kredite
bedürfen. Viel wird davon abhängen, wie die internatio-
nalen Wirtschaftsinstitutionen den weiteren Verlauf des
Umbruchs bewerten. Mittelfristige Herabstufungen der
Kreditwürdigkeit des Landes durch internationale Rating-
Agenturen werden sich ebenso wenig vermeiden lassen
wie ein Absturz der ägyptischen Börse und eine deutliche
Schwächung der ägyptischen Währung.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 25

All dies kann und wird einen zweifellos notwendigen wirt-


schaftlichen Neuanfang in Ägypten deutlich erschweren,
wenn nicht sogar unmöglich machen, sollte sich die inter-
nationale Gemeinschaft nicht umgehend entschließen,
Ägypten mit aller Kraft wirtschaftlich zur Seite zu stehen.
Ohne eine Art „Marshallplan‟ wird der ägyptische Banken-
sektor mit der Finanzierung des Wiederaufbaus völlig über-
fordert sein.

Gesucht wird auch eine zukünftige Rolle für nicht der


Korruption verdächtigte Vertreter der ägyptischen (Privat-)
Wirtschaft. Diese haben eine ebenso große Verantwor-
tung, das Staatsschiff wieder flott zu machen, wie ihre
politischen Mitstreiter. Ohne die Sicherstellung des Über-
lebens der ägyptischen Industrie und des Tourismus kann
Ägypten seinen Weg in eine neue politische Ordnung nicht
konfliktfrei schaffen. Dann stünde zu befürchten, dass sich
radikale Autokraten jeglicher Couleur als Ergebnis einer
umfassenden Wirtschaftskrise des Landes ein weiteres Mal
bemächtigen könnten. Klar ist aber auch, dass wirtschaftli-
ches Wachstum und daraus resultierender Wohlstand nicht
wie in der Vergangenheit allein auf wenige beschränkt
bleiben können. Zwar haben sich die Regie-
rung und vor allem der ägyptische Präsident Die staatlich administrierten Löhne
jahrelang erfolgreich gegen die Forderungen konnten nur selten mit der Inflation
im Land mithalten. Dies hatte der
des IWF gewehrt, die Subventionen für Revolte den Boden bereitet.
Grundnahrungsmittel und Energie zu kürzen,
und damit der Masse der Bevölkerung eine Verschlech-
terung ihres Lebensstandards erspart, doch konnten die
staatlich administrierten Löhne nur selten mit der Infla-
tion im Land mithalten. Dies hatte der Revolte den Boden
bereitet.

Jede neue ägyptische Regierung wird deshalb rigide gegen


Korruption und eine andauernde Verschwägerung von poli-
tischer und wirtschaftlicher Oligarchie vorgehen müssen.
Nur eine gerechtere Verteilung von Einkommen und
Vermögen kann in Ägypten den Weg in eine vielverspre-
chende Zukunft weisen, in der der „einfache Ägypter‟ auch
materiell von dem eingeleiteten Umbruch profitieren kann.
26 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

DIE LAGE DER KOPTEN

Eine besondere Herausforderung einer jeden zukünfti-


gen, demokratischeren ägyptischen Regierung liegt
im Verhältnis zwischen der Mehrheit der Muslime und
der christlichen Minderheit der Kopten. Angesichts der
jüngsten Anschläge auf koptische Christen muss es darum
gehen, die Lage nicht nur zu beruhigen, sondern, wenn
schon nicht zu einem gleichberechtigten Miteinander, dann
doch wenigstens zu einem friedlichen Nebeneinander
zurückzuführen.

Die bisherige Staatsführung unter Präsident Mubarak hat


bisher durch ihr resolutes Eintreten für den Schutz der
Religionsfreiheit der Kopten die Rechte dieser religiösen
Minderheit erfolgreich geschützt, auch wenn
Ob es der koptischen Minderheit in sie nicht alle Anschläge verhindern konnte.
einer demokratischeren Ordnung wirk- Ob es dieser Minderheit in einer demokra-
lich besser ginge, muss (noch) bezwei-
felt werden. tischeren Ordnung wirklich besser ginge,
muss (noch) bezweifelt werden. Das hängt
wesentlich vom Grad der konfessionellen Komposition und
Ausrichtung der demokratisierten politischen Institutionen
ab. Die Forderung nach einem Dialog mit den Muslimbrü-
dern, ohne auch der koptischen Minderheit Gespräche
anzubieten oder sie doch wenigstens bewusst einzube-
ziehen, deutet daraufhin, dass die Vertreter der religiösen
Mehrheit ein Vorrecht zur Strukturierung der Zukunft
Ägyptens beanspruchen. Unklar ist heute, inwieweit eine
auch politisch erstarkte Muslimbruderschaft bereit sein
wird, der koptischen Minderheit dieselben Rechte und
denselben Schutz zu garantieren, wie dies die bisherige
Staatsführung zumindest immer bemüht war zu tun.

AUSWIRKUNGEN AUF DIE ARABISCHE WELT

Angesichts der Ereignisse in Tunesien und Ägypten war


absehbar, dass es auch in anderen arabischen Ländern
zu Demonstrationen kommen würde. Schließlich unter-
scheiden sich die politischen und sozioökonomischen
Rahmenbedingungen in diesen Ländern nur graduell
von denen in Tunesien und Ägypten. Gleichzeitig speku-
lierten viele Außenstehende sofort auf eine dem Zerfall
des Ostblocks vergleichbare Entwicklung. Auch wenn das
noch nicht ausgeschlossen werden kann, spricht doch
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 27

einiges dafür, dass es keinen Dominoeffekt geben wird.


Stattdessen ist wohl eher mit einer flexiblen, wenn auch
durchaus ernsthaften Reaktion der einzelnen Regime auf
die jüngsten Entwicklungen zu rechnen.

Klar ist, dass der geflohene ehemalige tunesische Präsi-


dent Ben Ali seinen Amtskollegen mit seinem überhasteten
Abgang keinen Gefallen getan hat. Interessant wird es
sein, zu beobachten, wie sich die saudische Staatsführung
dem offensichtlichen Exilgesuch des tunesischen Präsi-
denten Ben Ali gegenüber verhalten wird, auch angesichts
des gegen ihn ausgestellten internationalen Haftbefehls.

Die vorläufige Aufnahme ist für Saudi Arabien ein zwei-


schneidiges Schwert, kann es sich doch nicht auf das
Argument zurückziehen, man müsse einen muslimischen
Regenten, wie ehedem Idi Amin, vor der „Rache der
Nicht-Muslime‟ schützen. Einen für seine Religiosität nicht
gerade berühmten muslimischen „Dieb‟ vor seinen eben-
falls muslimischen „Opfern‟ zu schützen und ihn bei sich
dauerhaft zu beherbergen, könnte sich als ein schwierig
durchzuhaltendes Unterfangen erweisen, auch wenn die
Gründe dafür recht offensichtlich sind. Eine Bezugnahme
auf das Verhalten der ägyptischen Staatsführung gegen-
über dem persischen Schah Pahlevi kann der saudischen
Führung wohl auch nicht helfen.

Wenn es dann schließlich doch noch zur Mit Blick auf die Entwicklungen in
Auslieferung Ben Alis kommen sollte, könnte Ägypten hat sich der iranische Revo-
lutionsführer Chamenei auf die Seite
sich dies als durchaus destabilisierende der Demonstranten gestellt.
Blamage für die saudische Führung heraus-
stellen. Dass sie vom Iran, dem größten Konkurrenten
um die Hegemonie in der Region, genüsslich ausgenutzt
werden würde, ist anzunehmen. Schon mit Blick auf die
aktuellen Entwicklungen in Ägypten hat sich der iranische
Revolutionsführer Chamenei indirekt auf die Seite der
ihm nun wirklich nicht nahestehenden Demonstranten
gestellt, indem er auf eine ihm jetzt offensichtlich erschei-
nende Islamisierung der ägyptischen Bevölkerung glaubte
hinzuweisen zu müssen. Die ägyptische Führung reagierte
entsprechend erzürnt auf diese Einmischung in die inneren
Angelegenheiten.
28 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Anders stellt sich die augenblickliche Situation im Falle


des ehemaligen ägyptischen Präsidenten dar. Es ist davon
auszugehen, dass dieser vom „Obersten Militärrat‟ gegen
seine ausdrücklichen Willen zum Rücktritt gezwungen
und in seiner Villa in Scharm El-Scheich unter Hausarrest
gestellt wurde. Dass eine Machtübergabe in Form eines
Militärputsches nicht verfassungsgemäß erfolgt ist, liegt
auf der Hand, spielt aber auch keine Rolle mehr, nachdem
der „Oberste Militärrat‟ die ägyptische Verfassung inzwi-
schen außer Kraft gesetzt hat.

Gerüchten zufolge soll Mubarak sich – tief enttäuscht von


„seinen‟ Generälen – momentan weigern, die ihm nach
seiner Operation in Deutschland verordneten Medika-
mente einzunehmen. Einigen arabischen Pressemeldungen
zufolge soll er deshalb sogar schon heimlich
Unter den Nachbarstaaten erscheint zur medizinischen Behandlung  gebracht
der Jemen momentan am meisten worden sein, möglicherweise nach Tabuk in
gefährdet, den Rest an innerer Stabi-
lität zu verlieren. Saudi Arabien.

Unter den Nachbarstaaten Tunesiens und Ägyptens er-


scheint der Jemen momentan am meisten gefährdet, den
Rest an innerer Stabilität zu verlieren, den dieser Staat
noch besitzt. Dies mag auch der Grund für die überhastet
wirkende Erklärung des jemenitischen Staatspräsidenten
gewesen sein, im Gegensatz zu seinen bisherigen Absichten
im Jahr 2013 keine weitere Amtszeit mehr anzustreben.
Damit bot er an, einen noch unklaren politischen Umbruch-
prozess zu begleiten und ihm einen ordnenden Rahmen zu
geben.

Anders gelagert ist die Situation in den ehemaligen


„sozialistisch‟ inspirierten Republiken in Algerien und
Syrien. Auch dort kam es zu Demonstrationen, die jedoch
weniger die Staatsspitze angriffen, sondern eher sozio­
ökonomische Missstände beklagten und Abhilfe forderten.
Für eine unmittelbare Herausforderung der Staatsfüh-
rung reichte der revolutionäre Impetus in diesen Ländern
(noch) nicht. Die Staatssicherheit hätte das wohl auch
sofort unterbunden. Den im Vergleich zu anderen arabi-
schen Staaten weniger brisanten Forderungen der
Protestierenden, die vielleicht sogar durch die Staats-
partei initiiert oder gesteuert worden sind, begegnete
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 29

das Regime durch rasche Preissenkungen und Subventions­


erhöhungen und „entkräftete‟ damit den Protest.

Noch weniger von einem Dominoeffekt bedroht erscheinen


die arabischen Monarchien, vor allem jene in Jordanien und
Marokko. Wie schon in der Vergangenheit zielt der kontrol-
lierte Protest auf ökonomische Defizite und auf die für die
Stabilität dieser Staaten noch weniger bedeutenden Regie-
rungen. Entsprechend könnte die entstandene Unruhe in
der jeweiligen Bevölkerung durch kosmetische Umbeset-
zungen der Regierungen behoben werden.
Sicherlich verbergen sich hinter den artiku- Sicherlich gibt es auch in Jordanien und
lierten sozioökonomischen Missständen auch Marokko „ernstere‟ politische Frustra­
tionen, doch sie kollidieren mit der
„ernstere‟ politische Frustrationen, doch sie Loyalität gegenüber den Monarchen.
kollidieren mit der Loyalität, die in diesen
Ländern den Monarchen immer noch entgegengebracht
wird. Zudem stehen die Sicherheitsorgane und vor allem
die Armee in diesen Ländern vorbehaltlos zum Monarchen
und nicht auf der Seite des Volkes, was mit ihrer Zusam-
mensetzung und Art der Rekrutierung der höheren Offi-
ziersränge zusammenhängt.

Das libysche Regime erscheint zwar nicht zuletzt wegen der


teilweise konfusen Äußerungen des „Revolutionsführers‟
Ghaddafi ebenso herausgefordert. Es wird aber abzuwarten
bleiben, ob die sicher noch anhaltenden Demonstrationen
in diesem Land tatsächlich die „kritische Masse‟ errei-
chen, um für den seit mehr als 40 Jahren herrschenden
Ghaddafi gefährlich zu werden. Wie andere Autokraten in
der Region, hatte auch er in jüngerer Vergangenheit eine
Revolte, ausgehend von Bengasi, mit militärischen Mitteln
erfolgreich niedergeschlagen.

AUSWIRKUNGEN AUF ISRAEL

Ein Blick auf die Auswirkungen der Ereignisse in Tunesien


und Ägypten für die Region muss unvollständig bleiben,
würde man die Situation und die möglichen Reaktionen des
Staates Israel ausblenden. Jedem politischen Beobachter
der Region ist klar, dass mit der eingetretenen Destabili-
sierung der „Südfront‟ das alte Menetekel eines Zweifron-
tenkrieges wieder wahrscheinlicher geworden ist. Nach
den Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien und
30 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

der Intervention im Irak konnte sich Israel ganz der mili-


tärischen Bedrohung aus dem „Norden‟, also unmittelbar
aus dem Libanon und Syrien sowie mittelbar aus dem
Iran, konzentrieren. Zwar gab es eine Restbedrohung
aus dem Gazastreifen, doch diese bedurfte
Israel muss bewusst sein, dass eine keiner strategischen Umorientierung der
„Demokratisierung‟ in Ägypten die eigenen Verteidigungsanstrengungen. Dies
Beziehungen zwischen den Ländern
verstärkt zu einem Gegenstand der po- könnte sich  – je nach weiterem Verlauf der
litischen Auseinandersetzung machen Ereignisse vor allem in Ägypten – jedoch als
wird.
notwendig erweisen.

Auch Israel muss bewusst sein, dass eine stärkere „Demo-


kratisierung‟ in Ägypten die ägyptisch-israelischen Bezie-
hungen verstärkt zu einem Gegenstand der politischen
Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern
machen wird. Solange diese Diskussion auf die entspre-
chenden demokratischen Institutionen wie das Parlament
und die Regierung beschränkt bliebe, wäre sie für Israel
wohl unbedenklich. Wenn dieser zentrale außenpolitische
Aspekt jedoch Gegenstand einer demokratischeren Wahl-
auseinandersetzung würde, könnte dies unkalkulierbare
Folgen für das israelisch-ägyptische Verhältnis zeitigen.
Bekanntermaßen ist die Mehrheit der ägyptischen Bevöl-
kerung gegen einen Frieden mit Israel und hat schon in der
Vergangenheit immer wieder die Aufkündigung des Frie-
densabkommens mit Israel und die Ausweisung des isra-
elischen Botschafters oder sogar die (endgültige) Schlie-
ßung der israelischen Botschaft gefordert. Es würde sehr
überraschen, wenn es in zukünftigen, demokratischeren
Wahlauseinandersetzungen keine Gruppierungen gäbe, die
dies zum Thema machen würden.

Die große Zurückhaltung israelischer Beobachter gegen-


über einer Zulassung der Muslimbrüder fußt wesentlich
auf der Erkenntnis, dass diese, sollten sie in Zukunft als
politische Partei an demokratischen Wahlprozessen teil-
nehmen, ihre bekannten  – um es vorsichtig auszudrü-
cken – Israel-kritischen Positionen in die Auseinanderset-
zung um die Unterstützung der Wähler einbringen würden.
Die Folgen wären absehbar. Selbst eine Vertretung dieser
Denkrichtung durch 20 bis 30 Prozent der Abgeordneten
eines zukünftigen ägyptischen Parlaments, was einem
best case-Szenario entspricht, würde es jeder ägyptischen
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 31

Koalitionsregierung unmöglich machen, den bisherigen


außenpolitischen Kurs gegenüber Israel unverändert
fortzusetzen. Und auf eine Koalitionsregierung ähnlich
derjenigen im Libanon muss man sich wohl jetzt auch in
Ägypten vorbereiten. Eine parlamentarische Mehrheit für
eine der zukünftigen Fraktionen im Ägyptischen Parlament
ist schon wegen der zu erwartenden Parteineugründungen
nicht zu erwarten. Die Gründung eines parteipolitischen
Zweigs der Muslimbruderschaft ist ebenso wahrscheinlich
wie das Entstehen einer koptisch ausgerichteten Partei.

All dies ist den Israelis wohl bewusst, weshalb sie sich
bisher auch sehr zurückhaltend gegenüber der „Demo-
kratiebewegung‟ in Ägypten und den anderen arabischen
Staaten geäußert haben. Indessen gilt grundsätzlich, dass
Demokratien weniger häufig (und schnell) zu kriegeri-
schen Mitteln greifen als Diktaturen, zumal gegen andere
­Demokratien. Genauso gilt allerdings, dass ein „kriegs-
müder‟ arabischer Diktator für Israel allemal besser ist,
als eine „kriegslüsterne‟ arabische Bevölkerungsmehrheit.
Darüber hinaus ist der israelischen Führung natürlich auch
klar, dass im Falle einer Aufkündigung des ägyptisch-isra-
elischen Friedensvertrags durch eine zukünftige, demo-
kratisch gewählte ägyptische Regierung Jordanien dem
Beispiel folgen müsste, um das eigene Regime zu erhalten.
Damit wären die Stabilisierungserfolge von Jahrzehnten
dahin, und die Zukunft Israels in der Region wäre unge-
wisser als zuvor.

Manche Beobachter sind optimistischer und versprechen


sich eine Entspannung der Beziehungen durch ein Ende
der Praxis vieler despotischer arabischer Regime, die Kritik
an der Politik Israels als bequemes Ventil zur
Ableitung der Frustrationen ihrer Bevölke- Wenn interne politische und sozioöko-
rung einzusetzen. Wenn interne politische nomische Probleme verstärkt die poli-
tische Auseinandersetzung bestim-
und sozioökonomische Probleme verstärkt men, so das Kalkül, rücken die Bezie-
die politische Auseinandersetzung in den hungen zu Israel aus dem Fokus der
Printmedien.
sich demokratisierenden arabischen Staaten
bestimmen, so das Kalkül, rücken die Außen-
politik und damit die Beziehungen zu Israel aus dem Fokus
der Printmedien. Ob sich diese Hoffnung erfüllen wird,
bleibt jedoch abzuwarten.
32 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

FAZIT

Dieser Beitrag sollte nicht den Eindruck erwecken, als


würden die Forderungen von Teilen der ägyptischen Bevöl-
kerung nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit und einem
Umbau der politischen Ordnung hin zu mehr Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit nicht uneingeschränkt begrüßt. Es
besteht kein Zweifel, dass eine solche Veränderung über-
fällig war und die etablierten Machtsysteme, vor allem das
in Ägypten, zuletzt offensichtlich nicht mehr den notwen-
digen Reformwillen aufbrachten, um ihre Länder aus den
Sackgassen ungelöster Nachfolgefragen und politischer
Reformprozesse herauszuführen.

Nun steht allerdings ein schwieriger, weil umfassender


Umbruch der politischen Ordnung bevor. Diesen zu struk-
turieren und gewaltlos zu einem zufriedenstellenden
Ergebnis zu führen, ist nun Aufgabe aller,
Der Vorwurf, das Geschehene sei in vorrangig ­natürlich der in den politischen
Kollaboration mit den üblichen „Fein- Instanzen agierenden Amts- und Funkti-
den im Ausland‟ herbeigeführt wor-
den, wird von den meisten Beobach- onsträgern, aber eben auch neuer Akteure.
tern als übliche Schutzbehauptung der Es waren schließlich die nach Freiheit und
Regierung zurückgewiesen.
Demokratie strebenden Bürger, die diesen
Prozess erzwungen haben, und sie werden
es auch sein, die ihn zu einem Ergebnis führen. Der
Vorwurf der Ewig-Gestrigen, das Geschehene sei von radi-
kalen Fundamentalisten in Kollaboration mit den üblichen
„Feinden im Ausland‟ herbeigeführt worden, um mit Hilfe
naiver, unschuldiger Bürger das Regime zu stürzen, wird
von den allermeisten Beobachtern als übliche Schutzbe-
hauptung der Regierung zurückgewiesen.

Was den amerikanischen Regierungen über acht Jahre


nicht gelungen ist, nämlich den ägyptischen Präsidenten
zu umfassenden Reformen zu bewegen, das schafften
mutige, ihre Apathie überwindende Bürger in acht Tagen.
Dies belegt sowohl die Relativität externer Einflussnahme
als auch die Relativität angeblicher politischer Allmacht
von Autokraten. Viele Amtsträger in der Region wird das
zu Recht beunruhigen und hoffentlich zu reformerischem
Handeln bewegen.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 33

Das Ausland mag jetzt Sorgen und Hoffnungen artiku-


lieren, verantwortet wird die politische Entwicklung aber
von den Akteuren in den betroffenen Staaten selbst.
Unaufgefordert Ratschläge zu erteilen oder sich gar von
außen in den Prozess einzumischen, wird nicht hilfreich
sein. Die Tunesier und die Ägypter würden sich das
verbitten. Die Würde und der Stolz, in Verbindung mit
dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein, werden den
Prozess intern voranbringen, bis er einen Punkt erreicht,
da sich die Vertreter der neuen politischen
Ordnung in Ägypten mit ihren Vorstellungen Es ist absehbar, dass Ägypten diesen
und Wünschen auch an das Ausland wenden Umbruch nicht vollkommen eigen-
ständig und ganz ohne ausländische
werden. Es ist absehbar, dass Ägypten diesen Hilfe und finanzielle Unterstützung
Umbruch nicht vollkommen eigenständig und erfolgreich bewältigen kann.
ganz ohne ausländische Hilfe und finanzielle
Unterstützung erfolgreich bewältigen kann. Der Wirtschaft
Ägyptens wird ebenso geholfen werden müssen wie die
demokratische Neuordnung des (vor-) politischen Raumes
Unterstützung bedarf. Die notwendigen Neuwahlen ver-
langen nach gründlicher, auch legislativer Vorbereitung.
Sie können erst stattfinden, wenn sich die neuen demo-
kratischen politischen Akteure so weit konsolidiert haben,
dass sie sowohl den gut organisierten Muslimbrüdern, als
auch den bis dahin sicher umgruppierten Profiteuren der
alten Ordnung Paroli bieten können.

In diesem Zusammenhang wird sich auch und vor allem


für Europa die Chance bieten, sich konstruktiv in die Wand-
lungsprozesse einzubringen und den in jüngster Vergan-
genheit geschaffenen Institutionen und Instrumenten der
Mittelmeerpolitik eine neue Bedeutung zu geben. Gerade
Deutschland, aber auch einige osteuropäische Länder
verfügen über noch lebendige Erinnerungen und Erfah-
rungen mit vergleichbaren politischen Umbrüchen. Sicher
können nicht alle Schritte eins zu eins übertragen werden,
nicht alle Instrumente passen in diesen andersartigen
kulturellen und religiösen Bezugsrahmen. Aber vollständig
unbrauchbar und nutzlos sind sie nicht. Es liegt jetzt an
den Ägyptern, zu entscheiden, ob und inwieweit sie die
angebotene Unterstützung annehmen wollen. Entspre-
chende Kooperationsangebote sollten nicht lange auf sich
warten lassen.
34 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

DER SÜDSUDAN VOR DER


UNABHÄNGIGKEIT
JUBEL VOR ORT, ENTTÄUSCHUNG IM NORDSUDAN,
BESORGNIS WELTWEIT

Dr. Martin Pabst ist


Martin Pabst
selbstständiger Politik-
wissenschaftler in
München mit Schwer-
punkt Subsahara-
Afrika. 2008 erschien Nach der überwältigenden Zustimmung in einer Volks-
in der Beck’schen abstimmung soll am 9. Juli im Südsudan ein neuer Staat
Reihe „Länder‟ (C.H.
proklamiert werden. 55 Jahre nach seiner Unabhängigkeit
Beck Verlag) sein Buch
„Südafrika‟ in Neuauf- wird der Sudan damit in zwei Teile zerfallen, und die regio­
lage. nalen Kräfteverhältnisse müssen neu austariert werden.

Mit der Entlassung des Sudans in die Unabhängigkeit hatte


am 1. Januar 1956 die Entkolonialisierung in Subsahara-
Afrika begonnen. Schnell stieg die Zahl neuer Staaten an.
Die 1963 gegründete Organisation Afrikanischer Einheit
war bemüht, den Zerfall in Kleinstaaten zu vermeiden, und
sprach sich ein Jahr nach ihrer Gründung für die Beibe-
haltung der Kolonialgrenzen aus. Auch die Supermächte
und die ehemaligen Kolonialmächte fürchteten eine unkon-
trollierbare Destabilisierung und stützten die territoriale
Integrität der Nachfolgestaaten, selbst wenn inzwischen
diktatorische Regime regierten, die bestimmte Ethnien
diskriminierten und periphere Regionen benachteiligten.1
Bis 1990 verlief kein Sezessionsversuch erfolgreich. In
diesem Jahr wurde die Entkolonialisierung Subsahara-
Afrikas mit der Aufnahme Namibias als 151. Mitglied in die
Vereinten Nationen abgeschlossen.

1 | Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. So förderte Belgien


von 1960 bis 1963 maßgeblich die Abspaltung Katangas vom
Kongo, und Frankreich unterstützte in den Jahren 1967 bis
1970 mit verdeckter Militärhilfe die Trennung Biafras von
Nigeria. Beide Sezessionen erhielten durch die europäische
Unterstützung Auftrieb, wurden schließlich jedoch von den
Zentralregierungen niedergekämpft.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 35

Die im Ost-West-Konflikt weitgehend von außen aufrecht


erhaltene Stabilität war nun freilich passé. Die internatio­
nale Staatengemeinschaft muss sich in Subsahara-Afrika
heute mit „gescheiterten Staaten‟, Aufständen und Bürger-
kriegen, Ressourcenplünderung, massiven Menschen­
rechtsverletzungen, Piraterie und auch Sezessionen befas-
sen. 1991 erklärte sich Somaliland für unabhängig von
Somalia. Heute ist es ein De-facto-Staat, der
auf seine diplomatische Anerkennung wartet. Nun ist der als erster afrikanische
1993 spaltete sich Eritrea nach einem inter- Staat in die Unabhängigkeit entlassene
Sudan von einer Sezession betroffen.
national anerkannten Referendum von Äthi- Er verliert damit rund neun Millionen
opien ab. Nun ist auch der als erster Staat Einwohner.
in die Unabhängigkeit entlassene Sudan
von einer Sezession betroffen. Nach langem Kampf trennt
sich der schwarzafrikanische, von Christen und Animisten
dominierte Südsudan vom arabisch-islamisch geprägten
Nordsudan. Der größte Staat Afrikas (2,5 Millionen km²
und 39 Millionen Bürger) wird damit 620.000 km² seines
Territoriums, rund neun Millionen Einwohner, drei Viertel
seiner Ölreserven sowie fruchtbare Ackerbau- und Weide-
regionen verlieren.

Mit großer Sorge blickt die internationale Gemeinschaft auf


die Entwicklungen im Sudan. In kurzfristiger Perspektive
wird befürchtet, dass der Norden die verlustreiche Abspal-
tung mit Waffengewalt unterbinden könnte. Mittelfristig
drohen in beiden Nachfolgestaaten Destabilisierung, im
schlimmsten Fall sogar weitere territoriale Desintegration.
Schließlich fürchtet die internationale Gemeinschaft die
langfristigen Folgewirkungen der Abspaltung des Südsu-
dans. Werden Sezessionsbestrebungen im Nordosten und
anderen Teilen Afrikas ermuntert? Wird sich die Trennlinie
zwischen dem schwarzafrikanischen und dem arabisch-
muslimischen Afrika verstärken? Werden Dschihadisten
die Entwicklungen im Sudan für ihre Zwecke instrumen-
talisieren und Subsahara-Afrika zu einem bevorzugten
Kampffeld machen?

NORD VERSUS SÜD – DAUERKONFLIKT


DER SUDANESISCHEN GESCHICHTE

In Khartum spricht man enttäuscht von der „Sezession‟


des Südens. Nicht wenige Nordsudanesen vermuten
dahinter eine vom Westen angezettelte Verschwörung  –
36 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

eigene Verantwortung für diese Entwicklung will kaum


jemand einräumen. Hingegen feiern die Südsudanesen ihre
„Unabhängigkeit‟ von einem als fremd und autokratisch
empfundenen Regime in Khartum. Für sie ist erst jetzt die
Entkolonialisierung abgeschlossen, und so sehen es auch
viele Afrikaner zwischen Nairobi und Kapstadt.

Der Graben zwischen Nord und Süd ist größer, als es lange
Zeit im Ausland wahrgenommen wurde. Die Südsudanesen
haben keine guten Erinnerungen an das 19. Jahrhundert.
Unter der Herrschaft des ägyptisch-osmanischen Khedive
(1821 bis 1881) fielen Sklavenjäger in ihre Siedlungsge-
biete ein. Das von 1881 bis 1899 in Khartum herrschende
Mahdi-Regime führte die Scharia im Südsudan ein und
suchte die „Ungläubigen‟ mit Feuer und Schwert zum
Islam zu bekehren.

Während des anglo-ägyptischen Kondominiums (1899 bis


1955) wurde der Südsudan getrennt vom Norden verwaltet
und weitgehend isoliert. So brauchten Nordsudanesen
und Ausländer Sondergenehmigungen, wenn sie in die
closed districts des Südens einreisen wollten. Englisch
statt Arabisch war dort Verwaltungs- und
London investierte während des anglo- Unterrichtssprache, und christliche Missi-
sudanesischen Kondominiums in stra- onstätigkeit wurde gefördert, während dem
tegische Regionen im Norden und
schirmte die traditionell lebenden Vordringen des Islam Einhalt geboten wurde.
Südsudanesen von der modernen Welt London investierte in strategische Regionen
ab.
im Norden und schirmte die traditionell
lebenden Südsudanesen von der modernen Welt ab. Obwohl
es nicht alleinige Verwaltungsmacht war, plante Großbri-
tannien gemäß einer Direktive von 1930, den Südsudan an
seine ostafrikanischen Kolonien anzuschließen.

Doch auf der Konferenz von Juba im Jahr 1947 vollzog die
britische Regierung einen folgenschweren Kurswechsel:
Fortan betrieb sie die Entlassung des Sudans in die Unab-
hängigkeit als einheitlicher Staat. Nun wurde auch die
Entwicklung des zurückgebliebenen Südsudans in Angriff
genommen. Mangels qualifizierter einheimischer Kräfte
wurden nordsudanesische Beamte in den Süden geschickt.
Sie förderten die Ausbreitung der arabischen Sprache und
Kultur.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 37

Die Südsudanesen waren auf der Konferenz von Juba nicht


vertreten und wurden nicht nach ihrer Meinung gefragt.
Viele von ihnen fürchteten eine Majorisierung und Über-
fremdung durch den Norden. Sie hofften auf die von
der britischen Regierung in Aussicht gestellte föderative
Ordnung, doch als der Sudan zum 1. Januar 1956 in die
Unabhängigkeit entlassen wurde, setzte sich der Nordsudan
mit einem zentralistischen Staatsaufbau durch. Während
der kommenden fünf Jahrzehnte versuchten die Macht-
haber in Khartum immer wieder, dem Land
eine einheitliche Identität aufzuzwingen,
Das bei der Unabhängigkeit gegebene
zunächst unter arabisch-nationalistischen, Versprechen einer gleichmäßigen Ent-
wicklung aller Landesteile wurde nicht
dann unter arabisch-sozialistischen, schließ- eingehalten. Bis heute sind die Unter-
lich unter arabisch-islamistischen Vorzeichen.­ schiede immens.

Auch wurde das bei der Unabhängigkeit gegebene Verspre-


chen einer gleichmäßigen Entwicklung aller Landesteile
nicht eingehalten. Bis heute sind die Unterschiede immens.
2006 besuchten im Bundesstaat Khartum 86,3 Prozent
aller Kinder die Grundschule, in Sinnar 66,6 Prozent, in
Süd-Kordofan 53,3 Prozent, in West-Darfur 46,4 Prozent.
Noch schlechter steht der Süden da: So kam Zentral-
Äquatoria mit der südsudanesischen Hauptstadt Juba auf
43,0 Prozent, das benachbarte Ost-Äquatoria nur auf 13,9
Prozent, das Schlusslicht bildeten die Bundesstaaten Nort-
hern Bahr el-Ghazal und Unity mit 5,7 Prozent bzw. 4,3
Prozent (Landesdurchschnitt 53,7 Prozent).2

Wie bereits in der Zeit des anglo-ägyptischen Kondomi-


niums wurden Investitionen und Entwicklungsvorhaben
im Dreieck Dongola/Sinnar/Kosti mit dem Großraum
Khartum-Omdurman in seiner Mitte konzentriert. Noch
2005 propagierte der frühere Finanzminister Abdul Rahim
Hamdi in einem Strategiepapier für die regierende National
Congress Party (NCP) ein solches Vorgehen auch für die
Zukunft.

Die politische und wirtschaftliche Elite des Sudans rekrutiert


sich seit der Unabhängigkeit aus drei nördlich von Khartum
ansässigen arabischsprachigen Bevölkerungsgruppen, den

2 | Summary Table of Findings. Sudan Household Health Survey


(SHHS) and Millennium Development Goals (MDG) indicators,
Sudan, 2006, http://www.irinnews.org/pdf/pn/SHHS
report.pdf [20.01.2011].
38 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Ja’aliyyin, Shaigiya und Danagla, die zusammen fünf


Prozent der sudanesischen Bevölkerung stellen. So ist
der 1989 durch einen Militärputsch an die Macht gekom-
mene Staatspräsident Umar al-Bashir ein Ja′aliyyin,
Vizepräsident Ali Osman Taha ein Shaigiya. Auch die
langjährigen Führer der Oppositionsparteien in Khartum
gehören diesen ethnischen Gruppen an. Die politisch-
ökonomische Elite legitimiert ihre Vorrangstellung
durch die angeblich „reine arabische Abstammung‟, die
Ja’aliyyin postulieren sogar eine Herkunft
Hautfarbe und Religion sind im Sudan vom Stamm des Propheten Mohammed, den
Kriterien für den Zugang zu Prestige, Quraysh.3 Doch sind die meisten arabisch-
Macht und Ressourcen. An der Spitze
der Gesellschaftspyramide stehen hell- sprachigen Bevölkerungsgruppen im Nord-
häutige arabischsprachige Muslime. sudan gemischt arabisch-afrikanischer Her-
kunft, wie auch optisch unschwer erkennbar.

Hautfarbe und Religion sind im Sudan Kriterien für den


Zugang zu Prestige, Macht und Ressourcen. An der Spitze
der Gesellschaftspyramide stehen hellhäutige arabisch-
sprachige Muslime, in der Mitte schwarzafrikanische
Muslime, ganz unten schwarzafrikanische Christen und
Animisten. Auch heute kommt es noch vor, dass Nordsu-
danesen ihre schwarzafrikanischen Landsleute aus dem
Süden mit diskriminierenden Ausdrücken wie kufr (Ungläu-
biger) oder abid (Sklave) provozieren.

Die Herrschaft einer kleinen Elite im Zentrum wurde durch


Bündnisse mit lokalen Herrschern an der Peripherie sowie
durch Kooptierung bzw. Korrumpierung einzelner Reprä-
sentanten aus anderen Bevölkerungsgruppen abgesichert.
Wenn nötig, schürte Khartum in peripheren Regionen
Zwietracht und rekrutierte dort Hilfstruppen. Dabei machte
es keinen großen Unterschied, ob Demokraten, Einpartei-
enherrscher oder Generäle an der Macht waren.

Wie von skeptischen britischen Verwaltungsbeamten


prophezeit, brach ein südsudanesischer Aufstand gegen
den gemeinsamen Staat aus, und zwar bereits vor der
Unabhängigkeit, im August 1955. Zunächst forderten die
Rebellen ein föderatives System, später die Unabhängigkeit
des Südsudans unter dem Namen Asania, der lateinischen

3 | Von den Südsudanesen wird die ungeliebte Elite aus dem


Norden nach ihren traditionellen arabischen Gewändern als
die jellaba bezeichnet.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 39

Bezeichnung für Ostafrika. Weitgehend auf sich gestellt,


kämpften die Anya Nya („Schlangengift‟) zäh gegen die
weit überlegene Armee des Nordens. 1972 einigte man
sich in Addis Abeba auf einen Friedensvertrag. Dem
Südsudan wurde Autonomie mit eigener Regierung und
eigenem Parlament zugestanden. Die Anya Nya wurden in
die Armee eingegliedert.

Den Südsudanesen brachten die siebziger Jahre eine kurze


Phase des Friedens und der Entwicklung. Doch als sich
der sozialistische Staatschef General Jaafar Mohammed
al-Nimeiri 1977 mit der islamisch-konservativen Umma
Party und den islamistischen Muslimbrü-
dern versöhnte, wurde der Graben zum Mit der Aufkündigung der südsudane-
Südsudan wieder vertieft. Mit der Aufkündi- sischen Autonomie und der landes-
weiten Einführung der Scharia im Jahr
gung der südsudanesischen Autonomie und 1983 brach erneut eine Rebellion aus.
der landesweiten Einführung der Scharia im
Jahr 1983 brach erneut eine Rebellion aus. Das auch auf
Nichtmuslime angewendete islamische Recht (Scharia)
erstreckte sich nicht nur auf Alkoholverbot, Körperstrafen
und Kleiderzwang, sondern reichte bis in das Erziehungs-
wesen, die Landvergabe sowie die Wirtschaft und das
Bankwesen.

Das neuformierte Sudan People‛s Liberation Movement/


Army (SPLM/A) kämpfte auch gegen wirtschaftliche Groß-
projekte, die primär den Interessen des Zentrums dienten,
Heimat und Lebensgrundlagen von ansässigen Menschen
bedrohten oder ökologisch bedenklich waren: die Erschlie-
ßung der südsudanesischen Ölvorkommen und den Bau
des Jonglei-Kanals durch das große Sumpfgebiet des
Weißen Nils.

Nach dem islamistischen Militärputsch unter Führung


von General Umar al-Bashir und des Chefideologen
Scheich Hasan al-Turabi im Jahr 1989 wurde der Nord/
Süd-Bürgerkrieg weiter brutalisiert. Die Machthaber in
Khartum verschärften die Bestimmungen der Scharia,
riefen 1992 den „Heiligen Krieg‟ gegen die „Ungläubigen‟
aus und rekrutierten fanatisierte Jugendliche in ihre neu
aufgestellte Hilfsmiliz mit dem Namen Popular Defence
Forces (PDF). Sie weiteten den Krieg auf die Nubaberge in
Süd-Kordofan nördlich der Nord/Süd-Trennlinie aus, wo die
schwarzafrikanischen, überwiegend muslimischen Nuba
40 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

leben. Weil manche Nuba mit den aufständischen Südsu-


danesen sympathisierten, erklärte ihnen Khartum kollektiv
den Krieg und griff in den Nubabergen und im Südsudan
zu denselben Mitteln wie später in Darfur: gewaltsame
Umsiedlungen und Vertreibungen, Bombardierung von
Zivilisten mit der Luftwaffe, systematische Aushungerung
ganzer Regionen, Rekrutierung von Hilfsmilizen unter
Aufforderung zu Plünderung und Vergewaltigung.

Die SPLM/A kämpfte nicht für die Unabhängigkeit, sondern


für einen reformierten „Neuen Sudan‟ – folgerichtig enthielt
der Name der Befreiungsbewegung nicht die Bezeichnung
„South‟. Der SPLM/A-Führer John Garang de Mabior, ein
Dinka aus dem Südsudan, hatte sich während einer Dozen-
tentätigkeit in Tansania dem Marxismus zugewandt und
strebte einen sozialistischen, säkularen Sudan an, der allen
Bürgern und Regionen gleichberechtigten
Der SPLM/A-Führer John Garang de Zugang zu Macht und Ressourcen garan-
Mabior dachte gesamtsudanesisch. tierte. Für ethnisch-kulturellen Nationalismus
Viele seiner Anhänger setzten aber
weiterhin auf die Unabhängigkeit. hatte er kein Verständnis. Auch dachte er als
früherer Oberst der sudanesischen Armee
gesamt­sudanesisch. Die Befreiungsbewegung führte er
mit harter Hand. Abweichende Meinungen duldete er nicht.
Viele seiner Anhänger setzten aber weiterhin auf die Unab-
hängigkeit, ebenso wie konkurrierende südsudanesische
Befreiungsbewegungen.

Im Jahr 1995 verbündete sich die SPLM mit den verbo-


tenen nordsudanesischen Oppositionsparteien und wurde
Teil der National Democratic Alliance (NDA). Damit wurde
sie auch zu einem Faktor in der nordsudanesischen Politik,
wo sie nicht nur unter dort lebenden Südsudanesen,
sondern auch unter reformorientierten Nordsudanesen
Anhänger fand. Ab 1997 setzte die SPLM/A die Regierung
mit einer zweiten Front im Osten unter Druck. Zusammen
mit nordsudanesischen Widerstandsgruppen und Truppen
des Nachbarlandes Eritrea kämpfte sie gegen die Regie-
rung in Khartum.

Trotz der anlaufenden Ölförderung konnte sich der


hoch verschuldete Sudan Ende der neunziger Jahre die
immensen Kriegskosten von ein bis zwei Millionen US-Dollar
pro Tag nicht mehr dauerhaft leisten. Auch gelangen der
SPLA immer wieder erfolgreiche Guerilla­attacken gegen
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 41

Ölfelder, Pipelines und Straßen. 1999 bot Staatspräsident


Umar al-Bashir den Rebellen Friedensverhandlungen an,
stellte sogar die Möglichkeit einer Sezession
in Aussicht. Unter dem Schirm der Regional- Unter Federführung der USA enga-
organisation Intergovernmental Authority on gierte sich die internationale Gemein-
schaft intensiv für einen Frieden, da
Development (IGAD) wurden im Jahr 2002 die humanitären Folgen des Krieges
Friedensverhandlungen in Kenia aufgenom- katastrophal waren.
men. Unter Federführung der USA engagierte
sich die internationale Gemeinschaft intensiv für einen
Frieden, da die humanitären Folgen des Krieges katast-
rophal waren. Zwischen 1983 und 2005 kamen mehr als
zwei Millionen Menschen um, und vier Millionen wurden
vertrieben. Aufeinanderfolgende Protokolle zu Einzel-
fragen mündeten schließlich am 9. Januar 2005 in einem
umfassenden Friedensabkommen, dem Comprehensive
Peace Agreement (CPA). Der UN-Sicherheitsrat hatte
den Abschluss auf einer spektakulären Sitzung vor Ort
in Nairobi unterstützt (UNSR-Resolution 1574 vom 19.
November 2004). Die UNO, die Afrikanische Union, die
Arabische Liga, die EU, die IGAD, Ägypten, Italien, die
Niederlande, Norwegen, Großbritannien und die USA
unterzeichneten das Abkommen als Garanten. Eine frie-
densunterstützende militärisch-zivile Mission, die United
Nations Mission in Sudan (UNMIS), wurde entsandt, um
die Umsetzung während der Interimsphase in den Jahren
2005 bis 2011 zu unterstützen.

WIE DIE LANDESEINHEIT VERSPIELT WURDE

Bei Aufnahme der Friedensverhandlungen im Jahr 2002


war die Landeseinheit noch eine aussichtsreiche Option.
Beide Seiten, Garangs SPLM und die NCP von Präsident
al-Bashir, favorisierten dieses Ziel, das auch den ökonomi-
schen Realitäten Rechnung trug. Grundlage der Verhand-
lungen war die von den Konfliktparteien angenommene
IGAD-Prinzipienerklärung vom 20. Juli 1994, die den
Südsudanesen das Recht auf Selbstbestimmung über ihren
künftigen politischen Status in einer Volksabstimmung
zugestand, jedoch die Einheit des Sudans zur Priorität
erklärte und kein Sezessionsrecht erwähnte.

Verschiedene Faktoren führten dazu, dass das Ziel der


Landeseinheit nach 2002 immer mehr in den Hintergrund
trat und die Entwicklung schließlich unausweichlich auf
42 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

die Sezession des Südsudans zusteuerte. Am folgen-


schwersten war wohl die Weigerung der NCP-Regierung,
die Scharia im Nordsudan aufzugeben – trotz der von ihr
1997 angenommenen IGAD-Prinzipienerklärung. Darin war
ausgeführt worden: „Der Sudan ist eine multirassische,
multiethnische, multireligiöse und multi-
Die NCP setzte im Friedensabkommen kulturelle Gesellschaft. Volle Anerkennung
durch, dass die Scharia im Nordsudan und Berücksichtigung dieser Unterschiede
wichtigste Rechtsgrundlage blieb. Ohne
Trennung von Religion und Staat war muss zugesichert werden. […] Ein säkularer
die Landeseinheit für die Südsudane- und demokratischer Staat muss im Sudan
sen aber keine attraktive Option mehr.
verwirklicht werden. Freiheit des Glaubens,
des Bekenntnisses und der religiösen Hand-
lungen ist allen Sudanesen in vollem Umfang zu gewähren.
Staat und Religion müssen getrennt werden. Grundlage
der Personen- und Familiengesetze können Religion und
Tradition sein.‟4 Ungeachtet dessen setzte die NCP durch,
dass die Scharia im Nordsudan wichtigste Rechtsgrundlage
blieb und dort lebende christliche oder animistische Südsu-
danesen lediglich von ihrer Anwendung befreit wurden,
und auch dies nur während der Interimsphase. Ohne Tren-
nung von Religion und Staat war die Landeseinheit für die
Südsudanesen aber keine attraktive Option mehr.

Das Recht auf Sezession hatte Garang bereits 2002 in


einem ersten Abkommen verankern lassen  – nicht weil
er diese Lösung anstrebte, sondern weil er sich eine Aus-
stiegsoption offen halten wollte. Denn Garang misstraute
Khartum wegen des früheren Bruchs von Zusagen und
beharrte auf zwei effektiven Druckmitteln im CPA: dem
Fortbestand seines militärischen Arms SPLA bis zum Ende
der Interimsphase sowie dem Recht auf Sezession im
abschließenden Selbstbestimmungsreferendum. Basierend
auf der IGAD-Prinzipienerklärung bezeichnete jedoch der
CPA-Eingangsartikel5 1.1 die Landeseinheit als Priorität für
die Parteien, und in Artikel 1.5 verpflichteten diese sich
dazu, historische bedingte Unterschiede in der Entwicklung

4 | Inter-Governmental Authority on Draught (damaliger Name


der IGAD, MP): Declaration of Principles, 20.07.1994, Übers.
d. Verf.
5 | The Comprehensive Peace Agreement Between The Govern-
ment Of The Republic of The Sudan And The Sudan People‛s
Liberation Movement/Sudan People‛s Liberation Army,
Naivasha 09.01.2005. Die Rahmenbedingungen waren bereits
am 26.05.2002 im sog. Machakos-Protokoll vereinbart worden,
das Bestandteil des CPA wurde.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 43

und Ressourcenverteilung auszuräumen, um die Einheit


attraktiv zu machen.

Der tödliche Hubschrauber-Absturz von John Garang am


30. Juli 2005 nahm der Landeseinheit ihren stärksten
Befürworter unter den Südsudanesen. Sein Nachfolger und
bisheriger Stellvertreter Salva Kiir Mayardit tendierte zur
Trennung. Als sudanesischer Interims-Vizepräsident trat er
kaum in Erscheinung, sondern konzentrierte sich auf sein
Amt als Präsident des autonomen Südsudans.
In die Mehrparteien-Übergangsregie­rung in Angesichts der Schwäche der nordsu-
Khartum entsandte die SPLM ihre zweite danesischen Opposition war die von
dem arabischsprachigen Muslim Yasir
Garde, entsprechend blass blieb deren Vor- Arman geleitete SPLM-Nord eine auf-
stellung. Angesichts der Schwäche der nord- strebende Kraft.
sudanesischen Opposition war die von dem
arabischsprachigen Muslim Yasir Arman geleitete SPLM-
Nord eine aufstrebende Kraft. Eine Allianz zwischen Südsu-
danesen, marginalisierten Gebieten im Nordsudan und
Oppositionellen in Khartum hätte ein anderes politisches
Gewicht gehabt. Unvergessen ist der triumphale Empfang
Garangs am 9. Juli 2005 in Khartum, wo er nach jahrzehn-
telanger Abwesenheit von Hunderttausenden Menschen
aus dem Süden und Norden jubelnd begrüßt wurde.

Endgültig begraben wurde die Option der Landeseinheit


durch die Politik der NCP in der Interimsperiode der Jahre
2005 bis 2011. Weder leitete sie die im CPA vorgegebene
Demokratisierung ein noch ging sie die zugesagten landes-
weiten Entwicklungsprojekte an. Offenkundig war der NCP
die Sicherung des Machterhalts im Nordsudan wichtiger als
die Gewinnung der Südsudanesen für die Landeseinheit.
Auch vom Nachbarland Ägypten, einem engen Unterstützer
Khartums und Befürworter der sudanesischen Einheit,
wurde die Regierung al-Bashir jüngst gerügt: Sie habe es
versäumt, die Einheit attraktiv zu machen.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann man es den


Südsudanesen kaum verdenken, dass sie mit überwälti-
gender Mehrheit für die Sezession stimmten. Ihr Votum
darf nicht allein mit dem Prestigedenken von SPLM-Politi-
kern, nationalistischer Massenbegeisterung und (unrealis-
tischen) Erwartungen hinsichtlich schneller ökonomischer
Besserstellung erklärt werden  – Faktoren, die natürlich
auch eine Rolle spielten. Khartum hat in den vergangenen
44 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

sechs Jahren endgültig das Vertrauen der Südsudanesen


verspielt. Deren Wunsch nach einem eigenen Staat zeigt
das existenzielle Bedürfnis nach Anerkennung und Würde,
die ihnen der Norden über viele Jahrzehnte versagt hat.
Entsprechend emotional bewegt gingen die Südsudanesen
zur Abstimmung.6

VERLAUF UND AUSGANG DES REFERENDUMS

Das Referendum wurde von der Southern Sudan Refe-


rendum Commission (SSRC) organisiert, einer von der
Regierung des Sudans und der Autonomieregierung des
Südsudans unabhängigen Behörde. Stimmberechtigt
waren gemäß dem Southern Sudan Referendum Act von
2009 mindestens 18-jährige Bürger „klaren Verstandes‟.
Sie mussten ein Elternteil aus einer der einheimischen
ethnischen Gruppen im Südsudan nachweisen, die vor
oder am 1. Januar 1956 im Südsudan ansässig waren,
oder Vorfahren, die sich auf diese ethnischen Gruppen
zurückführen. Außerdem waren diejenigen zugelassen, die
selbst, deren Eltern oder Großeltern ohne Unterbrechung
seit dem 1. Januar 1956 im Südsudan gelebt haben.

Abstimmungslokale wurden im Südsudan, im Nordsudan


sowie in acht Staaten mit nennenswerter südsudanesi-
scher Diaspora (Ägypten, Äthiopien, Australien, Kanada,
Kenia, Uganda, USA, Vereinigtes Königreich) eingerichtet.
Zur Wahl gestellt waren die Alternativen Einheit oder Tren-
nung. Für ein gültiges Ergebnis mussten ein Quorum von
mindestens 60 Prozent der registrierten Stimmberech-
tigten und mehr als 50 Prozent Zustimmung für eine der
beiden Alternativen erreicht werden.

Die Zahl im Nordsudan registrierter Bei der Registrierung im Zeitraum 15. Novem-
stimmberechtigter Südsudanesen war ber bis 8. Dezember 2010 wurden über 3,7
erstaunlich niedrig. Die Mehrheit zog
es anscheinend vor, zur Abstimmung Millionen Stimmberechtigte im Südsudan,
in den Süden zu reisen. 116.000 im Nordsudan und 60.000 im Aus-
land identifiziert. Angesichts von 1,5 bis zwei Millionen
im Nordsudan lebenden Südsudanesen war die Zahl dort
registrierter Stimmberechtigter erstaunlich niedrig. Die

6 | In Juba wird erzählt, dass ein des Lesens unkundiger Mann


die Symbole auf dem Stimmzettel verwechselte und verse-
hentlich für die Einheit stimmte. Einen Tag später soll er in
seiner Verzweiflung Suizid begangen haben.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 45

Mehrheit zog es anscheinend vor, zur Abstimmung in den


Süden zu reisen, da sie Druck von Seiten der Regierung
fürchtete. Damit war auch klar, dass es keine Inflationie-
rung von Stimmberechtigten im Nordsudan gegeben hatte.
Denn es war befürchtet worden, die Regierung in Khartum
könne unter anderem durch Manipulation von Dokumenten
versuchen, eine große Zahl von Einheitsbefürwortern
einzuschleusen, die nicht aus dem Südsudan stammen.

Die Volksabstimmung fand vom 9. bis 15. In- und ausländische Beobachtermis-
Januar 2011 statt und verlief weitgehend sionen beurteilten den Prozess als „frei
und fair‟. Bereits nach drei Tagen war
friedlich. In- und ausländische Beobachter- das Quorum von 60 Prozent erreicht.
missionen beurteilten den Prozess als „frei
und fair‟. Bereits nach drei Tagen war das Quorum von 60
Prozent erreicht. Die Wahlbeteiligung betrug 97,6 Prozent.

Nach Auszählung aller Stimmen ergab sich eine überwäl-


tigende Mehrheit von 98,8 Prozent für die Trennung. Aus
dem Rahmen fällt das Teilergebnis im Nordsudan: Hier
stimmten nur 57,65 Prozent für die Trennung und 42,35
Prozent für die Einheit. Die Front verlief dort wahrschein-
lich zwischen denjenigen Südsudanesen, die eine Rückkehr
in die Heimat planen, und denjenigen, die im Nordsudan
bleiben wollen und für den Fall der Sezession des Südens
persönliche Nachteile fürchten. In der Tat drohen ihnen
mindere Rechte, im schlimmsten Fall sogar Ausschrei-
tungen und Vertreibungen, wie 1967 gegenüber den Ibos
in Nordnigeria bei der Sezession Biafras.

Gemäß dem Southern Sudan Referendum Act müssen die


Parteien bis zum Auslaufen des CPA alle strittigen Fragen
des bilateralen Zusammenlebens klären. Dann kann am
9. Juli 2010 der selbständige Staat Südsudan gegründet
werden.

WIE GEHT ES WEITER?

International wird heftig darüber spekuliert, ob der Nord­


sudan die Abspaltung des Südens hinnehmen wird oder
mit militärischen Mitteln zu verhindern sucht. Zwar hat
sich der Nordsudan im Falle eines gültigen Votums zur
Anerkennung der Sezession vertraglich verpflichtet, doch
verliert er immerhin drei Viertel der Ölreserven. 2008
hatte das Öl laut IWF einen Anteil von 95 Prozent an den­
46 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

sudanesischen Exporten und von 60 Prozent an den


Regierungseinnahmen. Befürchtet wird ein militärisches
Vorgehen Khartums, um die Abspaltung des Südens zu
verhindern oder um sich zumindest einträgliche Ölförder-
gebiete südlich der Nord/Süd-Trennlinie zu sichern.

Doch ist der beste Zeitpunkt für eine Militärintervention


bereits vorbei: Sie hätte aus Khartums Sicht vor dem
Referendum stattfinden und es verhindern müssen. Ange­
sichts der überwältigenden Legitimität für
Die internationale Aufmerksamkeit ist die Sezession würde sich der Norden mit
momentan groß. Die USA sind bemüht, einem solchen Vorgehen jetzt politisch völlig
eine Eskalation zu verhindern, und
umwerben Khartum mit einer Politik isolieren. Auch ist die internationale Auf-
der Anreize und Drohungen. merksamkeit momentan groß. Die USA sind
bemüht, eine Eskalation zu verhindern,
und umwerben Khartum mit einer Politik der Anreize und
Drohungen. US-Präsident Barack Obama entsandte 2009
als Sonderbeauftragten General a.D. Scott Gration und als
Botschafter Nathan Princeton Lyman, der bereits Südafrika
in den Jahren 1992 bis 1995 von der Apartheid in die Demo-
kratie begleitet hat und maßgeblich an der Erarbeitung
eines Kompromisses zwischen Schwarz und Weiß beteiligt
war. Die Afrikanische Union beauftragte ihr eigentlich für
Darfur gegründetes African Union High-Implementation
Panel (AUHIP) unter Führung des ehemaligen südafrika-
nischen Staatspräsidenten Thabo Mbeki mit der Unterstüt-
zung der Konfliktparteien bei der Ausarbeitung eines tragfä-
higen Arrangements nach dem Referendum. Die Vereinten
Nationen entsandten ein dreiköpfiges Panel unter Leitung
des früheren tansanischen Staatspräsidenten Benjamin
William Mkapa, um das Referendum zu beobachten. Alle
relevanten internationalen Akteure koordinieren seit Juli
2010 ihre Aktivitäten in einem Sudan Consultative Forum.

Staatspräsident Omar al-Bashir und andere hochrangige


NCP-Politiker haben in den letzten Monaten immer wieder
bekräftigt, dass sie ein Sezessionsvotum zwar bedauern,
aber akzeptieren werden. Sie wissen, dass sie einen
neuen Bürgerkrieg nicht gewinnen könnten. Eine militä-
rische Intervention würde die Ölproduktion gefährden, da
die SPLA in diesem Fall sicherlich umgehend zu Attacken
gegen Förderanlagen und Ölleitungen greifen würde.
Auch wenn es Projekte für eine Pipeline nach Kenia und
eine Raffinerie in Uganda gibt, wird der Südsudan noch
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 47

auf lange Zeit auf die Raffinierung und Verschiffung des


Öls im Nordsudan angewiesen sein. Eine ausgehandelte
Beteiligung am Ölgeschäft dürfte daher für Khartum die
attraktivere Option sein.

In der NCP hat sich wahrscheinlich die pragmatische


Ansicht durchgesetzt, dass der Süden verloren und eine
Konzentration auf den Machterhalt im Norden
ratsam ist. Auch sind die US-amerikanischen Der islamistische Flügel der NCP sieht
Anreize attraktiv: Streichung von der Terror- in der Abspaltung des Südens eine
Chance, die Durchsetzung der Scharia
liste, Aufhebung der Sanktionen, Unterstüt- im Nordsudan zu intensivieren.
zung bei großzügigem Schuldenerlass. Der
islamistische Flügel der Partei sieht in der Abspaltung des
Südens zudem eine Chance, die Durchsetzung der Scharia
im Nordsudan zu intensivieren.

Khartum wird in den kommenden Monaten hart verhandeln


und dabei Druckmittel wie den ungelösten Konflikt um die
Region Abyei nicht scheuen, um maximale Konzessionen
bei den Trennungsverhandlungen durchzusetzen. Es geht
um die Aufteilung staatlicher Vermögenswerte und Verbind-
lichkeiten, internationale Verträge, den genauen Verlauf
der Grenze, die Aufteilung der wirtschaftlichen Ressourcen,
Staatsbürgerschaftsfragen, die Rechte der jeweiligen
Minderheiten und die Regelung der Bewegungsfreiheit.

Wenn das internationale Engagement nachgelassen hat,


könnte Khartum dazu übergehen, den Südsudan nach
gewohnter Manier unter Druck zu setzen, z.B. durch
gezielte Destabilisierung. Einen Tag vor Beginn des Refe-
rendums äußerte Staatspräsident al-Bashir in einem
Interview gegenüber al-Jazeera, dass der Südsudan weder
ausreichende Kapazitäten habe, für seine Bürger zu sorgen,
noch die Fähigkeit, einen Staat und eine Verwaltung zu
begründen.7 In Juba wurden diese Worte als unverhohlene
Drohung verstanden.

Gefährlichster Brandherd ist derzeit die nördlich der Nord-


Süd-Trennlinie gelegene Region Abyei. Hier war gemäß dem
CPA am 9. Januar 2011 ein gesondertes Referendum über
die Zugehörigkeit der Region zum Nord- oder ­Südsudan

7 | „Bashir doubts south’s viability‟, al-Jazeera, 08.01.2011,


http://english.aljazeera.net/news/africa/2011/01/20111718
39053529 [20.01.2011].
48 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

vorgesehen, eine der Bevölkerung von Abyei schon seit


Jahrzehnten versprochene Entscheidung. Doch kam
zwischen den Parteien keine Einigkeit über die Stimmbe-
rechtigten zustande, weswegen das Parallelreferendum
für unbestimmte Zeit ausgesetzt wurde. Überwiegend ist
Abyei von schwarzafrikanischen Ngok Dinka besiedelt, die
die SPLM unterstützen und zum Südsudan tendieren. Zu
bestimmten Zeiten ziehen arabischsprachige Misserya-
Nomaden zu Weideplätzen in Abyei. Von Khartum bestärkt,
glauben viele Misserya, dass ihnen dieses Recht bei einem
Anschluss der Region an den Südsudan verweigert würde.
Die NCP-Regierung stützt den Anspruch der Misserya, bei
dem Referendum in großer Zahl mitstimmen zu dürfen,
was die Ngok Dinka strikt ablehnen.

Die Grenzen Abyeis wurden im Juli 2009 durch einen


von beiden Seiten gesuchten Haager Schiedsspruch fest-
gelegt. Er fiel für Khartum vergleichsweise günstig aus:
ein Gebietsstreifen inklusive zweier einträglicher Ölfelder
(Heglig und Bamboo) wurden dem Nordsudan zugespro-
chen. Im verbleibenden Territorium liegt das Diffra-Ölfeld.
Dennoch distanzierten sich NCP-Vertreter in jüngster Zeit
auch von diesem Schiedsspruch und suchen
Möglicherweise werden die beiden anscheinend die gesamte Region beim
Parteien nun anstelle eines Referen- Nordsudan zu halten. Im Mai 2008 waren
dums eine Kompromisslösung in Abyei
suchen. An dieser Streitfrage könnte in Abyei nach schweren Kämpfen zwischen
sich aber auch ein neuer Nord-Süd- Armee und SPLA Dutzende Tote sowie 60.000
Konflikt entzünden.
Vertriebene zu beklagen, der gleichnamige
Hauptort wurde völlig zerstört. Es war der schwerste Bruch
des Waffenstillstandsabkommens. Zum Jahreswechsel
2010/11 und auch noch während des Referendums kam
es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Ngok
Dinka und Misserya. Durch ein eilends vermitteltes Ab-
kommen ist vorerst Ruhe eingekehrt. Möglicherweise wer-
den die beiden Parteien nun anstelle eines Referendums
eine Kompromisslösung in Abyei suchen. An dieser hoch
emotionalisierten Streitfrage könnte sich aber auch ein
neuer Nord-Süd-Konflikt entzünden, zumal die involvierten
Bevölkerungsgruppen schwer bewaffnet und nur bedingt
von Khartum und Juba aus kontrollierbar sind.8

8 | Volatil ist die Situation auch in den beiden nördlich der Grenze
liegenden Gebieten Süd-Kordofan und Blue Nile. Hier sind
gemäß dem CPA keine Abstimmungen über die Zugehörigkeit
zum Südsudan oder Nordsudan zugelassen, sondern lediglich ▸
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 49

Durch die Aufteilung des Sudans in zwei Staaten kommt


auch eine mittelfristige Dynamik in Gang. Im Südsudan
wird die Unabhängigkeitseuphorie bald verflogen sein und
die Alltagsrealität Einzug halten. Die gemeinsame südsu-
danesische Identität erschöpft sich bisher in der Ablehnung
des arabisch-islamischen Nordens. Bezeichnenderweise
bestand während des Referendums noch keine Einigkeit
über den Namen des neuen Staates. Hier leben über 200
unterschiedliche ethnische Gruppen. 2009 kam es im
Südsudan zu zahlreichen örtlichen bewaffneten Konflikten,
oft um Land oder Wasser, mit 2.500 Toten und rund
350.000 Flüchtlingen und Vertriebenen – mehr Opfern als
im gleichen Zeitraum im Darfur-Konflikt. In den neunziger
Jahren hatte der Gegensatz zwischen den beiden größten
ethnischen Gruppen, den in der SPLM dominierenden
Dinka und den Nuern, zu einem heftigen innersüdsuda-
nesischen Bürgerkrieg geführt. SPLM-Führer
Salva Kiir hat in den letzten Jahren allerdings Ein kluger Schachzug der SPLM war
geschickt taktiert und rivalisierende Gruppen es, das im Einzugsgebiet kleinerer
Ethnien liegende Juba zur Hauptstadt
und Dissidenten eingebunden. Ein kluger des Südsudans zu erheben.
Schachzug der SPLM war es auch, nicht die
Dinka-Metropole Rumbek, sondern das im Einzugsgebiet
kleinerer Ethnien (Bari, Makaraka, Nyanwara, Pajulu)
liegende Juba zur Hauptstadt des Südsudans zu erheben.
Nichtsdestoweniger wird es für die Regierung eine große
Herausforderung sein, den heterogenen Staat zusammen-
zuhalten.

Der Südsudan ist noch kaum entwickelt und in weiten


Teilen kriegszerstört, die Bevölkerung bitterarm. UNDP
machte im September 2010 unter der Überschrift „Scary
Statistics – Southern Sudan‟ auf die immensen Herausfor-
derungen aufmerksam. So leben 50,6 Prozent der Bevölke-
rung von weniger als einem US-Dollar täglich. 4,3 Millionen
Menschen sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Eine von
sieben werdenden Müttern stirbt während der Schwan-
gerschaft oder Geburt. Über 50 Prozent der Bevölkerung
haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, nur 6,4
Prozent stehen zufrieden stellende Toiletten zur Verfü-
gung. 92 Prozent der südsudanesischen Frauen können

unverbindliche „Volksbefragungen‟ über den künftigen Status


im Nordsudan. Bei dort lebenden Schwarzafrikanern wie den
Nuba genießt die SPLM große Unterstützung. Sie könnten
versucht sein, Gebiete einseitig dem Südsudan anzuschließen.
50 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

weder lesen noch schreiben und weniger als 50 Prozent der


Kinder schließen die fünfjährige Grundschule ab.9

Qualifizierte Fachkräfte sind bislang kaum vorhanden,


und die Beamten aus dem Nordsudan werden das
Land verlassen. Leihbeamte aus Nachbarstaaten sollen
nun Lücken stopfen und „Ausbildung am Arbeitsplatz‟
betreiben. Durch den reichlichen Zufluss von Öleinnahmen
und Entwicklungshilfe ist die Korruption in Juba in den
letzten Jahren stark gestiegen. In diesem Zusammenhang
sei daran erinnert, dass die südsudanesische Autonomiere-
gierung der Jahre 1972 bis 1983 von Streit, Ineffizienz und
Korruption geprägt war.

Bis auf Weiteres kann die SPLM vom Nimbus der erfolg-
reichen Befreiungsbewegung profitieren und genießt
überwältigende Zustimmung, wie die Wahl
Die SPLM steht vor der Herausforde- Salva Kiirs mit 93 Prozent zum südsudane-
rung, den Übergang von der Befrei- sischen Präsidenten im April 2010 zeigte.
ungsbewegung zur demokratischen
Partei zu vollziehen und auch künfti- Die SPLM steht vor der Herausforderung,
gen Mitbewerbern Chancengleichheit den Übergang von der Befreiungsbewegung
einzuräumen.
zur demokratischen Partei zu vollziehen und
auch künftigen Mitbewerbern Chancengleichheit einzu-
räumen. Sollten sich die inneren Probleme des Staates
verschärfen, könnte die Regierung versucht sein, Span-
nungen nach außen abzulenken und die Konfrontation mit
dem Nordsudan oder anderen Nachbarstaaten zu suchen.
Sicherlich ist der Südsudan „kein gescheiterter Staat in der
Entstehung‟, wie manche Beobachter es vorschnell postu-
lieren. Doch steht seine Bewährungsprobe noch aus.

Im Nordsudan bringt der Verlust des Südsudans Präsi-


dent al-Bashir und die NCP in die Defensive. Da das CPA
exklusiv zwischen der NCP und der SPLM/A ausgehandelt
wurde, tragen die Oppositionsparteien keine Verantwor-
tung. Nun können sie der NCP den Ausverkauf des Landes
vorwerfen. Mit dem Auslaufen des CPA wird der durch den
Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes unter
Druck gesetzte und in einer massiv manipulierten Wahl im
April 2010 wiedergewählte Präsident al-Bashir den Rest
internationaler Legitimität verlieren.

9 | UNDP, „Scary Statistics – Southern Sudan September 2010‟,


http://unsudanig.org/docs/APPROVED%20High%20Level%20
Scary%20Statistics%20-%20Southern%20Sudan.doc
[20.01.2010].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 51

Zwei Lager ringen derzeit in der NCP um die künftige Kurs-


bestimmung. Die Pragmatiker propagieren ökonomische
Reformen, um die Wirtschaft auf eine neue Grundlage
zu stellen, sowie eine vorsichtige Öffnung des politischen
Systems, um das derzeitige Klima internationalen Wohl-
wollens zu nutzen und aufkommenden Widerständen im
Innern die Grundlage zu entziehen. So wurden Darfur
Entwicklungsprojekte in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar
in Aussicht gestellt. Hingegen setzen Hardliner und Isla-
misten auf kompromisslose Härte gegenüber Oppositio-
nellen und Rebellen.

Letztere scheinen momentan die Oberhand zu haben. So


wurde am 24. Dezember 2010 die Oppositionspolitikerin
Mariam Sadiq al–Mahdi zusammen mit Mitgliedern ihrer
Umma Party von Polizisten verprügelt, gefolgt von ihrer
Festnahme am 10. Februar. Am 18. Januar
2011 wurden der islamistische Oppositions- Präsident al-Bashir kündigte an, dass
politiker Scheich Hasan al-Turabi, der sich die im Norden verbleibenden Südsu-
danesen im Fall einer Sezession nicht
1999 mit der NCP überworfen hatte, und im Staatsdienst bleiben könnten.
weitere Mitglieder seiner Popular Congress
Party (PCP) wegen angeblicher Attentats- und Sabota-
gepläne verhaftet. Präsident al-Bashir kündigte an, dass
die im Norden verbleibenden Südsudanesen im Fall einer
Sezession nicht im Staatsdienst bleiben könnten. Ihnen
werde weder die sudanesische Staatsbürgerschaft noch
eine Doppelstaatsbürgerschaft zugestanden. Die Über-
gangsverfassung werde geändert werden. Dann seien der
Islam und die Scharia alleiniges Fundament einer neuen
Verfassung, Arabisch die einzige Amtssprache. Von einer
Diversität der Kulturen und Ethnien könne fortan keine
Rede mehr sein.10

Die unter Druck geratene NCP könnte versucht sein, die


antiwestliche Karte zu spielen, um von der eigenen Verant-
wortung abzulenken. So klagte Außenminister Ahmed
Ali Karti im September 2010, der Westen und die USA
wollten den Sudan teilen, um dem arabischen und isla-
mischen Lager Schaden zuzufügen. In Khartum kleben
Propagandaplakate, die zeigen, wie der Südsudan von
den USA und der EU aus dem Staatsverband herausge-

10 | „Islamic law in Sudan if south secedes: Bashir‟, Gulf Times,


Doha, 20.12.2010, http://gulf-times.com/site/topics/article.
asp?cu_no=2&item_no=405481&version=1&template_id=37
&parent_id=17 [20.01.2011].
52 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

schnitten wird und Israel als reife Frucht in den Schoß


fällt. In der arabischen und islamischen Welt finden solche
Thesen teilweise Anklang. So vermutet der regierungs-
nahe iranische Journalist Hassan Hanizadeh hinter der
Sezession des Südsudans ein Komplott Großbritanniens
und der USA zur Verkleinerung der islamischen Welt und
Etablierung einer israelischen Präsenz.11 Doch gibt es auch
besonnenere Stimmen. Die in London erscheinende saudi-
sche Zeitung Asharq al-Awsat kommentierte
Durch die erfolgreiche Sezession wer- Kartis Anschuldigungen mit den lakonischen
den auch die Darfur-Rebellen Auftrieb Worten: „Landeseinheit hat keine Zukunft,
erhalten. Wahrscheinlich werden sie
den bewaffneten Widerstand verstär- da die Wunde Südsudan größer ist als das
ken und ihre Forderungen erhöhen. zur Verfügung stehende Verbandsmaterial.‟12

Durch die erfolgreiche Sezession des Südsudans werden


auch die Darfur-Rebellen Auftrieb erhalten. Wahrscheinlich
werden sie ihren bewaffneten Widerstand verstärken und
ihre Forderungen erhöhen, vielleicht sogar eine separatis-
tische Agenda übernehmen. In diesem Zusammenhang sei
angemerkt, dass ein südsudanesischer Staat kein histo-
risches Vorbild hat. Hingegen bestand von ca. 1650 bis
1916 ein eigenständiges Sultanat Darfur. Freilich pflegen
die Darfuris traditionell enge Verbindungen nach Khartum.
Die stärkste Rebellenbewegung, das Justice and Equality
Movement (JEM), verfügt über gute Kontakte zur PCP und
zur Umma Party. Die NCP-Regierung demonstriert derzeit
auch im Darfur-Konflikt Härte. Zum Jahresende 2010
verließ sie die Friedensverhandlungen in Doha (Katar) und
intensivierte ihre Militäroperationen gegen Rebellen inklu-
sive Bombardierungen von Dörfern aus der Luft. Die auf
den Südsudan gerichtete internationale Aufmerksamkeit
erleichtert es derzeit allen Konfliktparteien in Darfur, die
Kriegsanstrengungen zu verstärken.

Der Verlust des Südsudans ist für den Nordsudan Alarm-


zeichen und Chance zugleich. Weitere Destabilisierung und
Desintegration könnte durch die gerechte Beteiligung peri-
pherer Regionen an der Macht und den Ressourcen sowie
durch die Erweiterung demokratischer Teilhabe ­aufgehalten

11 | Hassan Hanizadeh, „British hands behind Sudan referendum‟,


Teheran, 08.01.2010, http://mehrnews.com/en/newsdetail.
aspx?NewsID=1227710 [20.01.2011].
12 | Tariq Alhomayed, „Sudan: Crying over Spilt Milk‟, Asharq al-
Awsat, London 28.09.2010, Übers. d. Verf., http://aawsat.com/
english/news.asp?section=2&id=22484 [20.01.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 53

werden. Sollte das Regime aber auf eine kompromiss-


lose Politik des Machterhalts setzen, wird das Land nicht
zur Ruhe kommen. Denn auch der Nordsudan ist nicht
ethnisch-kulturell homogen. Zwar sind die arabischspra-
chigen Bevölkerungsgruppen dort in der Mehrheit, stellen
aber lediglich ca. 55 Prozent der Bevölkerung. Selbst in
religiöser Hinsicht ist Diversität zu konstatieren: Eine über-
große Mehrheit der Nordsudanesen gehört dem Islam an,
doch nicht alle Muslime folgen dem von der NCP oktroy-
ierten Religionsverständnis.

Derzeit sitzt die Regierung aufgrund ihrer Kontrolle der


Sicherheitskräfte und der ökonomischen Ressourcen noch
fest im Sattel. Die Opposition ist finanzschwach, ideenarm
und gespalten. Doch werden mit dem erheblichen Rück-
gang der Öleinnahmen die Mittel für das Patronagesystem
zurückgehen. Die Regierung musste bereits die Subventi-
onen für Benzin und Zucker kürzen. Ein Bündnis nordsu-
danesischer Oppositionsparteien – SPLM-Nord, PCP, Umma
Party, Democratic Unionist Party, Communist Party  – mit
Rebellen- und Oppositionsgruppen an der Peripherie könnte
die NCP mittelfristig in Schwierigkeiten bringen. Hierfür
ist es allerdings auch nötig, dass die nordsudanesischen
Oppositionsparteien mehr Verständnis für die Bedürfnisse
der Peripherie entwickeln.

Die langfristigen Folgen der Sezession des Das wichtigste Brückenland zwischen
Südsudans können zum jetzigen Zeitpunkt dem schwarzafrikanischen und (ara-
bisch-)islamischen Afrika hört auf zu
allenfalls mit einiger Vorsicht abgeschätzt existieren.
werden. Das wichtigste Brückenland zwi-
schen dem schwarzafrikanischen und (arabisch-)islami-
schen Afrika hört auf zu existieren. Zweifelsohne wird sich
damit die etwa entlang des 12. Breitengrades quer durch
den Kontinent verlaufende Trennlinie verstärken. Damit
könnten Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen in
anderen Staaten wie dem Tschad, Niger, Nigeria oder Mau-
retanien verschärft werden.13

13 | AU-Vermittler Thabo Mbeki sucht dem Eindruck entgegenzu-


arbeiten, dass sich der „afrikanische‟ Südsudan vom „arabi-
schen‟ Nordsudan trennt. Dezidiert bezeichnete er im Januar
2011 in einer Rede an der Universität Khartum den gesamten
Sudan als afrikanisches Land, den Islam als Teil Afrikas. Speech
by Thabo Mbeki, Chairperson of the AUHIP, for the University
of Khartoum. Friendship Hall, 05.01.2011, http://thabombeki
foundation.org.za/files/downloads/speech-thabo-mbeki-friend
ship-hall-khartoum-january5-2011.pdf [20.01.2011].
54 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Die Abtrennung des „christlichen‟ Südsudans bringt den


Sudan in das Fadenkreuz internationaler Dschihadisten.
Bereits jetzt sind Ableger und Verbündete von al-Qaida
im Sahelraum (Algerien, Mauretanien, Mali, Niger), in
Ägypten und Somalia aktiv. In den neunziger Jahren gab
es Verbindungen zwischen der Regierung in Khartum und
islamistischen Terrorgruppen, weswegen vorübergehend
UNO-Sanktionen gegen den Sudan verhängt wurden.
Osama bin Laden genoss von 1991 bis 1996 in Khartum
Exil. Im Oktober 2008 drohte eine Gruppe mit dem Namen
Al-Qaeda in the Land of the Two Niles westlichen Auslän-
dern im Sudan mit Anschlägen. Zuvor war ein US-Diplomat
in Khartum erschossen worden. Die NCP-Regierung hat
sich allerdings seit Ende der neunziger Jahre vom Terro-
rismus abgewandt, und der spirituell geprägte Islam der
nordsudanesischen Bevölkerung ist wenig empfänglich für
dschihadistische Ideen.

Das ohnehin labile regionale Gleichgewicht im Nordosten


Afrikas wird durch die Teilung des Sudans gestört und muss
neu austariert werden. Sollte es in den beiden Nachfolge-
staaten zu Destabilisierung bzw. Desintegra-
Folgewirkungen in der Region und in tion kommen, werden benachbarte Mächte
anderen Teilen Afrikas können nicht wie Äthiopien, Eritrea, Ägypten, Libyen,
ausgeschlossen werden, auch wenn
die Politiker derzeit bemüht sind, die Uganda und Kenia bemüht sein, das Vakuum
Singularität des Falles Südsudan zu zu besetzen. Dabei besteht die Gefahr eines
postulieren.
Regionalkrieges.

Folgewirkungen auf Sezessionsbewegungen in der Region


(Oromia, Ogaden, Somaliland) und in anderen Teilen
Afrikas können nicht ausgeschlossen werden, auch wenn
die Politiker derzeit bemüht sind, die Singularität des Falles
Südsudan zu postulieren. Größtes Stabilitätsrisiko wäre
eine territoriale Desintegration Nigerias, der nach Südaf-
rika bedeutendsten Regionalmacht in Subsahara-Afrika.

Die internationale Gemeinschaft steht im Sudan vor einer


ihrer größten Herausforderungen. Sie hat die Herkule-
saufgabe, den unterentwickelten Südsudan beim schwie-
rigen Aufbau des Staates politisch und ökonomisch zu
unterstützen. Gleichzeitig darf sie den Nordsudan nicht
aus dem Auge verlieren, sondern muss dort engagiert
reformorientierte Kräfte unterstützen. Wünschenswert für
die kommenden Jahre wäre die Entsendung einer UNMIS-
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 55

Folgemission, zu deren wichtigsten Aufgaben die Überwa-


chung einer demilitarisierten Pufferzone entlang der neuen
zwischenstaatlichen Grenze und die Unterstützung der
Staatlichkeit im Norden und im Süden gehören sollte.
56 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

KENIAS NEUE VERFASSUNG:


DEM TRIUMPH FOLGT DIE
BEWÄHRUNGSPROBE

Tom Wolf
Dr. Tom Wolf aus
Detroit, USA, arbeitet
als Regierungsberater
und Meinungsforscher
Nach zwei Jahrzehnten der Irrwege hat Kenia endlich eine
in Kenia. Er unter-
richtete Politikwissen- neue Verfassung erhalten. Am 4. August 2010 stimmten
schaft an der Univer- zwei Drittel der Kenianer, die an der Volksabstimmung teil-
sität Nairobi und war
nahmen, dafür. Drei Wochen später verkündete Präsident
Berater für USAID.
Nach Kenia kam er Mwai Kibaki die Verabschiedung der Verfassung in einer
1967. feierlichen Zeremonie in Nairobi.

Obwohl die Umsetzung noch aussteht, ist schon jetzt zu


betonen, dass die Verabschiedung einer neuen Verfas-
sung, oder auch nur die wesentliche Überarbeitung einer
bestehenden, global betrachtet ein sehr seltenes Ereignis
ist. Darüber hinaus ereignen sich solche Transformationen
meist unter Umständen, die mit Gewalt einhergehen, etwa
wenn ein Teil eines bestehenden Staates sich abspaltet und
seine Unabhängigkeit erklärt. Oder wenn ein Aufstand oder
eine Rebellion den Sturz oder die Ablösung einer beste-
henden Ordnung zur Folge hat oder zu einer ‚Kompromiss‛-
Vereinbarung führt, die zumindest die wesentlichen Forde-
rungen der verschiedenen Parteien in sich aufnimmt.

Diese Art der ‚tektonischen Verschiebung‛ fehlte in Kenia


größtenteils. Der stärkste Impuls für die Reform kam über
die Jahre hinweg, und eher weniger aus der politischen
Klasse als von außerhalb, von bekannten Persönlichkeiten
aus Religion und Zivilgesellschaft – auch wenn bestimmte
politische Führer regelmäßig den ein oder anderen einge-
brachten Vorschlag aufgriffen, aus vielen verschiedenen
Motiven.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 57

Diese sehr lang gezogenen und oft mit Gewalt beantwor-


teten Bemühungen spiegelten wider, dass es immer mehr
Stimmen in Bezug auf Fehler in der verfassungsmäßigen
Ordnung des Landes gab, die sowohl von inhaltlicher als
auch von praktischer Natur waren. Dazu gehörte vor allem
Folgendes:

1. eine Konzentration größtenteils unkontrollierter Macht


in der Exekutive,
2. eine Machtkonzentration in Nairobi auf Kosten der
Regionen,
3. in bestimmten Regionen häufig auftretende Gewalt
bei Wahlen (oft von den Macht­inhabern instrumen-
tiert) und körperliche Angriffe auf politische Gegner,
einschließlich Folter, mehrere Attentate gegen hoch-
rangige Persönlichkeiten und andere mysteriöse
Todesfälle,
4. regelmäßige, groß angelegte Tötungen ohne Gerichts-
prozess und ein minimaler Schutz der Menschenrechte,
5. ein Mangel an jeglichen Zuwendungen für Frauen,
‚Randgruppen‛ und Menschen mit Behinderung,
was tief verwurzelte kulturelle Befangenheiten wider-
spiegelt.

Drei Hauptfaktoren machen den bemerkenswerten Erfolg


der neuen Verfassung aus. Erstens erzeugten die Jahre
größtenteils fruchtloser Bemühungen um eine neue
Verfassung eine erhebliche Reformmüdigkeit, so dass sich
sogar viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die
sich nie persönlich um Veränderungen bemüht hatten, nun
damit in Verbindung brachten  – wenn auch
nur, um es dem Land zu ermöglichen, diesen Insbesondere das Scheitern der Bemü-
Meilenstein endlich hinter sich zu bringen hung während Kibakis erster Amtszeit
regte wichtige Akteure an, es dieses
und Platz zu schaffen für zahlreiche andere Mal ‚richtig zu machen‛.
wichtige Themen. Insbesondere das Schei-
tern der vorangegangenen Bemühung während Kibakis
erster Amtszeit  – in der Volksabstimmung im November
2005 wurde ein Verfassungsentwurf mit 57 zu 43 Prozent
abgelehnt – regte wichtige Akteure sowohl aus der politi-
schen Klasse als auch aus der breiteren Gesellschaft dazu
an, es dieses Mal ‚richtig zu machen‛.
58 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Zweitens hatte die Wahlkrise in den Jahren 2007 und


2008, die in Bezug auf den Umfang und die Ausbreitung
der Gewalt seit der Unabhängigkeit sicher die ernsteste
Bedrohung für die Integrität des Landes darstellte, drei
positive Haupteffekte auf die Reform. Zunächst demonst-
rierte sie vor allem den wichtigsten Akteuren im politischen
und privatwirtschaftlichen Sektor die fragile Natur des sozi-
alen Zusammenhalts im Land und die nun offensichtlichen
Gefahren der Durchführung nationaler Wahlen im Rahmen
der bestehenden Regeln und Institutionen. Darüber
hinaus ermöglichte sie den starken Einsatz internationaler
Akteure (insbesondere einige westliche Regierungen durch
deren diplomatische Vertreter, die UNO und
Die Wahlkrise ermöglichte den starken die Afrikanische Union), um die Gewalt zu
Einsatz internationaler Akteure, um beenden und eine kurzfristige politische
die Gewalt zu beenden und eine kurz-
fristige politische Lösung zu erreichen. Lösung zu erreichen. Ziel war die Gestaltung
einer längerfristigen Reformagenda, bekannt
unter dem Namen Agenda Four, die eine große Verfas-
sungsreform beinhaltete. Eng mit den beiden vorange-
gangenen Faktoren verbunden, ermutigten die Umstände
die späteren Verfasser des Review Acts selbst dazu, den
Prozess vor einer „Sabotage in letzter Minute‟ durch die
politische Klasse und die Abgeordneten zu schützen, auch
wenn ihnen dies einen wesentlichen Einfluss auf bestimmte
Abschnitte ermöglichte.

Ein dritter und unmittelbarer Faktor bestand darin, dass


viele einzelne politische Karrieren davon profitieren
konnten, in dem Strom der Unterstützer einer neuen
Verfassung mitzuschwimmen. Insbesondere in Anbetracht
des früh in Meinungsumfragen vorhergesagten weiten
Vorsprungs hielten es mehrere führende Persönlichkeiten
für besser, ihre ernsthaften Bedenken zu verbergen. Präsi-
dent Kibaki wurde im Hinblick auf seine Leistung während
seiner ersten Amtszeit von manchen als ein eher zurück-
haltender ‚Bekehrter‛ in Bezug auf die Reform angesehen.

Unabhängig von der Richtigkeit einer solchen Charakteri-


sierung ist es Fakt, dass Kibaki, frei von jeglichen Präsi-
dentschaftsambitionen über 2012 hinaus, von vielen darin
bestärkt wurde, durch eine nach vorne gerichtete Führung
ein „positives Vermächtnis‟ zu hinterlassen. Das hat er
schließlich auch getan, und es wurde ihm hoch ange-
rechnet. Diese drei Gegebenheiten haben, unabhängig
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 59

von ihrem jeweiligen Beitrag zum Erfolg der Reform,


weit reichende Auswirkungen auf die Umsetzung und die
zukünftige Handhabung der neuen Verfassung.

DIE NEUE VERFASSUNGSORDNUNG: GRUNDZÜGE

Eine kurze Auflistung von einigen Hauptmerkmalen der


neuen Verfassung Kenias verdeutlicht die neu eingeschla-
gene Richtung.

1. Ein Präsidialsystem mit viel deutlicherer Gewalten­


teilung und Kontrolle der Exekutive, vor allem durch
eine deutlich mächtigere und erweiterte Legislative

Maßgeblich sind hier die folgenden Bestimmungen:

▪▪Kabinettsmitglieder dürfen weder Beamte politischer


Parteien noch Abgeordnete sein, wie sie es derzeit sein
müssen;
▪▪das Parlament hat eine Legislaturperiode von fünf
Jahren mit einem festgelegten Wahltermin;
▪▪der stellvertretende Präsident muss aus der Reihe
der Kandidaten für die Vizepräsidentschaft bestimmt
werden;
▪▪der Senat kann einen Präsidenten mit einer Zweidrittel­
mehrheit seines Amtes entheben, wenn die National­
versammlung zuvor genauso entschieden hat;
▪▪alle wichtigen Ernennungen durch die Regierung
werden entweder gründlich von der Nationalversamm-
lung geprüft oder geschehen auf der Grundlage von
Beschlüssen von Kommissionen, die vom Präsidenten
weitgehend unbeeinflusst sind; und
▪▪die Größe des Kabinetts ist auf 22 Minister und 44
stellvertretende Minister begrenzt.

In der neu gestalteten Nationalversammlung wird es


neben den 80 zusätzlichen regulären Wahlkreisen je einen
weiblichen Vertreter aus jedem der 47 Landkreise geben,
sowie weitere zwölf Abgeordnete, die von ihren Parteien
entsprechend ihres Anteils an Mandaten nominiert werden,
aber nur „zur Vertretung der Interessen der Jugendlichen,
Menschen mit Behinderungen und Arbeitnehmer‟. Im
Vergleich zu den derzeit 222 Abgeordneten (von denen 210
gewählt wurden) wird es nun insgesamt 349 geben. Das
60 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Oberhaus (Senat), das sich ausschließlich mit Themen auf


Landkreisebene beschäftigt, wird bestehen aus 47 regel-
mäßig gewählten Mitgliedern, 16 von politischen Parteien
gewählten Mitgliedern und je einem weiblichen und einem
männlichen Vertreter der Jugendlichen und Menschen mit
Behinderung.

Andere Beispiele für das erweiterte Format der Legislative


sind:

1. ein mit einer Zweidrittelmehrheit ein zweites Mal vom


Parlament verabschiedeter Gesetzesentwurf wird auch
ohne Zustimmung des Präsidenten nach zwei Wochen
zum Gesetz;
2. eine Kriegserklärung bedarf der Zustimmung der
Nationalversammlung genauso wie
3. eine Verlängerung eines (vom Präsidenten ausgespro-
chenen) Ausnahmezustands über zwei Wochen hinaus.

Abgeordnete können nicht länger ihre Gleichzeitig zielen einige Merkmale im Sinne
eigenen Gehälter festsetzen. Das hatte der ‚internen‛ Verantwortlichkeit darauf ab,
sie in der Vergangenheit in den Kreis
der bestbezahlten Parlamentarier der auch die Abgeordneten zu ‚zähmen‛. Dazu
Welt geführt. gehört, dass eine unabhängige Kommission
für Gehälter und Vergütungen deren Arbeitsbedingungen
festlegen wird (genauso wie für alle öffentlichen Bediens-
teten). Abgeordnete werden dann nicht länger über die
Kommission für Parlamentsdienste ihre eigenen Gehälter
und Leistungen festsetzen können, was sie in der Vergan-
genheit in den Kreis der bestbezahlten Parlamentarier der
Welt geführt hatte. Und auf individueller Ebene könnte eine
(durch eine öffentliche Petition auf Wahlkreisebene initi-
ierte) Rückrufregelung sie dazu ermutigen, vorsichtiger zu
sein als in der Vergangenheit, wenn es um Wahlverspre-
chen oder die Einhaltung der Parteiprinzipien geht.

2. Neue Regeln für die Präsidentschaftswahlen zur


Entschärfung von Konflikten

Das Konfliktpotential von Präsidentschaftswahlkämpfen


wird reduziert durch die Einführung einer verpflichtenden
zweiten Runde, einer Stichwahl zwischen den beiden
Bestplatzierten des ersten Wahlgangs, es sei denn, einer
von ihnen erlangt mehr als die Hälfte aller Stimmen in
der ersten Runde, einschließlich mindestens 25 Prozent
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 61

in mindestens der Hälfte der Landkreise. Darüber hinaus


sollte die Rolle des neuen Obersten Gerichtshofes bei der
Beilegung etwaiger Petitionen bei Präsidentschaftswahlen
innerhalb von zwei Wochen auch dazu beitragen, potenti-
elle Spannungen zu mindern. Dieselbe Wir-
kung soll die Bestimmung haben, wonach In den ersten sieben Tagen nach der
in den ersten sieben Tagen nach der offizi- offiziellen Bekanntgabe der Ergebnis-
se muss noch kein Sieger vereidigt
ellen Bekanntgabe der Ergebnisse noch kein werden.
Sieger vereidigt werden muss. Die Isolierung
vom Einfluss jeglicher Behörden sichert schließlich die
Glaubwürdigkeit der (noch zu gründenden) Kommission
für Wahlen und Grenzen – in scharfem Gegensatz zu der
Wahlkommission, welche die katastrophale Wahl im Jahre
2007 beaufsichtigte. Dies sollte das Vertrauen der Öffent-
lichkeit in deren Entscheidungen stärken.

3. Weitere Aspekte beschränkter und


verantwortlicherer Macht der Exekutive

Im Zusammenhang mit der ‚Zähmung‛ der Exekutivgewalt


sollten drei weitere wichtige Bestimmungen der neuen
Verfassung kurz erwähnt werden. Eine davon ist die erheb-
liche Abschwächung der Befugnisse des Finanzministe-
riums durch die Aufteilung der Kontrolle der Staatsfinanzen
auf zwei Stellen  – den Kontrolleur des Staatshaushalts
(Controller of Budget) und den Rechnungsprüfer (Auditor
General) – wobei beide institutionelle Unabhängigkeit vom
Amt des Präsidenten genießen.

Außerdem werden die Befugnisse der Polizei bestimmten


Einschränkungen unterzogen. Darunter befindet sich die
Bestimmung, dass Tatverdächtige auf Kaution freigelassen
werden müssen, wenn die Höchststrafe für das fragliche
Vergehen weniger als sechs Monate beträgt. In der Regel
kommen Verdächtige künftig also gegen Kaution auf freien
Fuß, bis sie angeklagt oder vor Gericht gebracht werden,
es sei denn, es gibt zwingende Gründe, dies nicht zu tun.

Noch allgemeiner gesagt soll also die reguläre Polizei mit


der Regierungspolizei zusammengeführt werden, wobei
beide gegenüber einem Generalinspektor verantwortlich
sind, der zwar vom Präsidenten ernannt wird, aber vom
Parlament bestätigt werden muss, und der seine Anwei-
sungen von einer unabhängigen nationalen Polizeidienst-
62 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

kommission erhält. Zu beobachten, wie diese verschie-


denen Zweige der Zentralregierung – sowohl untereinander
als auch im Verhältnis zu der niedrigeren (dezentralen)
Ebene der Regierung  – abschneiden werden, wird jedoch
eine lange Zeit nach der nächsten Wahl, wenn alles umge-
setzt wurde, in Anspruch nehmen.

4. Ein stabileres, dezentrales Regierungssystem

Die 47 Kommunalverwaltungen  – Landkreise, welche die


ersten unter britischer Herrschaft gegründeten Bezirke
repräsentieren – werden eine garantierte Zuwendung von
15 Prozent des Gesamtbudgets erhalten. Zugeteilt wird
auf der Grundlage einer (noch auszuarbei-
Die Tatsache, dass ein erfolgreicher tenden) Formel, in der die Bevölkerung mit
Präsidentschaftskandidat 25 Prozent der Flächenausdehnung kombiniert wird.
der Stimmen in der Hälfte der Kommu-
nen gewinnen muss, verschafft den Während manche argumentierten, dass die
Landkreisen politische Anerkennung. solchen Kommunalverwaltungen zugeteilten
Befugnisse nicht weit genug reichen, ge-
währt ihnen die Tatsache, dass ein erfolgreicher Präsi-
dentschaftskandidat (wie oben erwähnt) mindestens
25 Prozent der Stimmen in mindestens der Hälfte von
ihnen gewinnen muss, einige politische Anerkennung. Ihr
Gewicht wird auch dadurch zunehmen, dass sie von einem
vom Volk gewählten Gouverneur geführt werden, der einen
auf gleiche Weise gewählten Rat leiten wird.

Ein verwandtes Thema ist das Schicksal der derzeit 175


Gemeindeverwaltungsräte. In der neuen Verfassung wer-
den sie nicht erwähnt. Daher wurden sie nach der Verkün-
dung nicht in die Vereidigungszeremonien ihrer offiziellen
nationalen Amtskollegen (Abgeordnete, Justizbeamte,
usw.) einbezogen, so dass ihr Schicksal dem Parlament
nach den Wahlen im Jahre 2012 überlassen wird. Was
jedoch die Exekutive betrifft, so gibt es noch eine Reihe von
Unwägbarkeiten darüber, wie diese Landkreis­verwaltungen
tatsächlich funktionieren werden, angefangen bei deren
Fähigkeit, die Einnahmen (über die vom Finanzministerium
vorgeschriebenen Kontingente hinaus) zu steigern und
über deren Verwendung ordentlich Rechenschaft abzu-
legen.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 63

5. Deutlich verstärkte Sicherung der Menschenrechte

Die neue Verfassung umfasst die bekanntesten Rechte,


wie z.B. die Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-
und Bewegungsfreiheit sowie das Recht auf Eigentum und
auf einen fairen Prozess, und erkennt auch viele andere
an, einschließlich: ein breiter gefasstes Recht auf Privat-
sphäre, auf Informationen, Medienfreiheit, das Recht zu
wählen und auf faire Arbeitsbedingungen, einschließlich
des Rechts zu streiken, die Sprache zu sprechen, die man
sprechen möchte, die Rechte der Verbraucher, das Recht
auf faire Verwaltungsvorschriften und auf eine saubere
Umwelt.

Aber die „Bill of Rights‟ geht deutlich darüber hinaus und


nennt zahlreiche sozialökonomische Rechte, einschließlich
der Grundversorgungsrechte in den Bereichen Nahrung,
Unterkunft, Hygiene und Wasser sowie den Schutz der
Kinder und der älteren Menschen vor „Vernachlässigung‟.
Darüber hinaus sind gerichtlich durchsetzbare staatliche
Verpflichtungen vorgesehen, diese Rechte
schrittweise zu verwirklichen, auch im Namen Die Verfassung bezieht umfangreiche
von Gruppen oder Einzelpersonen, die nicht sozialökonomische Rechte und Bestim-
mungen zu deren Durchsetzung mit
in der Lage sind, sie einzufordern. In diesem ein. Sie ist damit weltweit erst die
Zusammenhang darf es keinen unangemes- vierte ihrer Art.
senen Aufwand oder übertriebene Kosten
geben  – und in manchen Fällen sogar überhaupt keine.
Ferner verpflichtet die Verfassung die Regierung völker-
rechtlich zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen hinsichtlich der
Menschenrechte. In der Tat macht die Einbeziehung aller
oben genannten Rechte zusammen mit Bestimmungen zu
deren Durchsetzung diese Verfassung weltweit erst zur
vierten ihrer Art.

6. Eine neu erfundene Judikative

Korruption und die Anfälligkeit gegenüber der politischen


Einflussnahme haben Kenias Judikative jahrelang geplagt.
Eine Reform in diesem Bereich wurde seit dem Beginn der
Bemühungen um eine neue Verfassung als schlechthin
unerlässlich angesehen.

Die Gesamtstruktur der Judikative bleibt weitgehend


bestehen. Bemerkenswert ist die ­Schaffung eines Obersten
64 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Gerichtshofes, der final über Urteile des Berufunsgerichts


entscheidet, verfassungsrechtliche Unstimmigkeiten besei-
tigt und für Streitfälle in Bezug auf Präsident­schaftswahlen
die alleinige Zuständigkeit hat. Eine Reihe weiterer Ände-
rungen sind als positiv anzusehen, auch wenn sie immer
noch nicht ganz der Idealvorstellung entsprechen. Dazu
gehören:

▪▪der obligatorische Rücktritt des derzeitigen Obersten


Richters innerhalb von sechs Monaten. Zukünftige
Träger dieses entscheidenden Amtes werden von der
Justizdienstkommission ausgewählt und von der Natio-
nalversammlung bestätigt (deren Ernennung durch den
Präsidenten nur zeremonieller Natur ist). Ihre Amtszeit
wird maximal zehn Jahre betragen. Der Generalstaats-
anwalt muss, obwohl er eigentlich ein Teil der Exekutive
ist, ebenfalls zurücktreten, in seinem Fall innerhalb eines
Jahres;
▪▪eine viel unabhängigere, professionelle Justizdienstkom-
mission;
▪▪höhere Sicherheit für die Amtszeit und die Vergütung,
ohne jede Möglichkeit, die Gehälter der Richter während
ihres Dienstes oder im Ruhestand zu kürzen;
▪▪eine Sicherheitsüberprüfung für alle derzeitigen Richter,
die weiter im Amt bleiben. Sie soll sicherstellen, dass
diejenigen, die unter der neuen Verfassung dienen, deren
strenge ethische Standards erfüllen. Dies gilt nicht für
Magistrate, die weit mehr Fälle behandeln, die die Allge-
meinheit betreffen.

7. Verschiedene Formen ausgleichender Behandlung


von Frauen und anderer marginalisierter Gruppen

Die Stellung der Frau wurde auf verschiedenen Wegen


verbessert. So hat ein ausländischer Mann, der eine kenia­
nische Frau heiratet (genauso wie eine Ausländerin, die
einen Kenianer heiratet) ein Anrecht auf die
Die Verfassung sieht außerdem gleiche kenianische Staatsbürgerschaft. Die Verfas-
Rechte auf das eheliche Vermögen im sung sieht außerdem gleiche Rechte auf das
Fall einer Scheidung vor, sowie Rechte
in Bezug auf Fragen des Landbesitzes. eheliche Vermögen im Fall einer Scheidung
vor, sowie allgemeinere Rechte in Bezug auf
Fragen des Landbesitzes. 16 Sitze im Senat sind für Frauen
vorgesehen, während jeder der 47 Landkreise in der Natio­
nalversammlung durch eine Abgeordnete vertreten sein
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 65

wird. Darüber hinaus wird mindestens ein Drittel der Land-


kreissitze in der Nationalversammlung von Frauen besetzt
sein. Andere Einrichtungen (z.B. Kommissionen) müssen
auch einen bestimmten Mindestanteil an Frauen aufweisen,
üblicher­weise ein Drittel. „Chancengleichheit‟ in Bezug
auf das Geschlecht muss im gesamten öffentlichen Dienst
gewährleistet sein. Abgesehen von diesen gesetzlichen
Anforderungen ist das Parlament dazu verpflichtet, inner-
halb von fünf Jahren ein Gesetz zu verabschieden, das
die Repräsentation von Frauen fördert, wenn auch nicht
garantiert.

Wie sehr die kombinierte Wirkung solcher Maßnahmen die


Ungleichheit der Geschlechter reduzieren wird, bleibt abzu-
warten. Aber sie scheinen zumindest erhebliche Vorteile in
Bezug auf den Status der Frauen zu bieten.

8. Ein zweigleisiger, aufwändigerer Änderungsprozess

Wie bereits erwähnt, wurde Kenias Unabhängigkeitsver­


fassung nach 1963 radikal verändert (vor allem während
des ersten halben Jahrzehnts), wobei viele der Änderungen
begrenzten Zwecken dienten. Erforderlich war die Zustim-
mung von 65 Prozent aller 222 Abgeordneten.

Um solch kurzfristige, eigennützige Veränderungen zu


erschweren, wurde die Messlatte deutlich angehoben.
Vorgesehen sind zwei Methoden. Die erste setzt voraus,
dass die vorgeschlagene Änderung im Unterhaus des
Parlaments vorgestellt wird und dort 90 Tage
lang verbleibt, um dann die Zustimmung Für Verfassungsänderungen ist eine
von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder Zweidrittelmehrheit in beiden Kam-
mern notwendig. Änderungen der Be-
beider Kammern zu gewinnen. Darüber stimmungen der Bill of Rights machen
hinaus werden Änderungen einiger Bestim- eine Volksabstimmung erforderlich.
mungen auch eine Mehrheit in einer Volksab-
stimmung erfordern, wobei eine Zustimmung von mindes-
tens 20 Prozent in mindestens der Hälfte der 47 Landkreise
erreicht werden muss. Zu diesen Bestimmungen gehören
all jene in der Bill of Rights. Die zweite Methode besteht
darin, mindestens eine Million Unterschriften zu sammeln,
die danach dem Parlament vorgelegt werden. Die Abgeord-
neten leiten dann das Verfahren aus der ersten Methode
ein.
66 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Da so viele Bestimmungen dieser Verfassung eher dem


Inhalt der normalen Gesetzgebung zu entsprechen schei-
nen, könnten die erschwerten Bedingungen für Änderun-
gen später noch bedauert werden. Verschie-
Verschiedene Vorschläge zur Anpas- dene Vorschläge zur Anpassung von Kenias
sung von Kenias ‚Mehrheits‛-Wahlsys- ‚Mehrheits‛-Wahlsystem erhielten nicht genü-
tem erhielten nicht genügend Unter-
stützung. gend Unterstützung, und da dieses System
anstatt des normalen legislativen Status nun
einen verfassungsrechtlichen besitzt, wird es sehr viel
schwerer zu ändern sein, sollte sich die nationale Meinung
in diese Richtung verlagern. Das gleiche gilt auch für alle
anderen Bestimmungen.

DIE UMSETZUNG: NUN ZUM SCHWIERIGEN TEIL

Unabhängig von ihrem Siegesvorsprung bei der Volks-


abstimmung und der möglichen Attraktivität vieler ihrer
Bestimmungen können die tatsächlichen zukünftigen Aus-
wirkungen der Verfassung, selbst in diesem sehr frühen
Stadium, nicht entsprechend gewürdigt werden, ohne
auf einige der Herausforderungen bei ihrer tatsächlichen
Umsetzung hinzuweisen.

1. Funktionale und andere Schwächen der Regierungs-


führung: Leichter gesagt als getan?

Das Versprechen einer Vielzahl sozialökonomischer An-


sprüche dürfte bei Weitem hinter der Erfüllung zurück-
bleiben, so aufrichtig das Engagement auch sein mag, sie
zu gewährleisten. Eine Volkszählung im Jahr 2009 offen-
barte einen Anstieg von acht Millionen Einwohnern im
letzten Jahrzehnt und künftig einen jährlichen Anstieg von
fast einer Million. Eine so deutliche Bevölkerungszunahme
hat sicher tief greifende Konsequenzen für das Verspre-
chen der neuen Verfassung, eine breite Palette sozialöko-
nomischer Rechte zu bieten.

Mit einer Bevölkerung, die zur Hälfte unterhalb der Armuts-


grenze lebt, bieten solche Zahlen in der Tat einen ernüch-
ternden Realitätscheck im Hinblick auf die garantierten
Rechte. Denn diese schließen neben allgemeiner medizi-
nischer Versorgung („auf hohem Niveau‟), kostenloser
allgemeiner Schulbildung, Unterkunft und Ernährung auch
Arbeit für die „Jugend‟, zusammen mit der notwendigen
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 67

Ausbildung, sowie Altenpflege ein. Zusätzlich zu den vorge-


schriebenen Leistungen werden die Kosten als Folge der
zahlreichen neuen öffentlichen Ämter und Einrichtungen
eskalieren (gewählte Amtsträger, Regierungseinheiten,
Aufsichtskommissionen, usw.). Sie erfordern zusätzliches
Personal in einer Größenordnung von fast 2.500 Personen.

Eine weitere große Herausforderung betrifft die Dezentra­


lisierung. Infrage steht insbesondere die finanzielle Leis-
tungsfähigkeit dieser Einheiten, die ihnen zugewiesenen
Funktionen auszuführen, trotz der ihnen zustehenden
Mindestzuschüsse der Zentralregierung, die
vor allem auf den (potentiellen) Kommunal­ Dem Generaldirektor des kenianischen
steuern und den natürlichen Grundressour- Statistikamtes zufolge wird man sehen,
wie manche Kommunen schnell von
cen beruhen. Der Generaldirektor des kenia­ der Dezentralisierung profitieren und
nischen Statistik­amtes meint: „Wenn sie ein- andere einen Rückgang der Wirtschaft
verzeichnen werden.
mal gestartet sind, wird man schnell sehen, wie
die einen schnell vorankommen und großes
Wirtschaftswachstum erzielen werden, während andere
einen Rückgang zu verzeichnen haben.‟ Gleichzeitig
werden die Führungs- und die technischen Kapazitäten
dieser Einheiten bei der Ausführung der ihnen zugewie-
senen Funktionen wahrscheinlich stark variieren, wobei
diejenigen, die ‚Randgemeinden‛ (d.h. vor allem die
Hirtenvölkergemeinden) vertreten, deutlich benachteiligt
sind, was sowohl schwierige natürliche Umgebungen als
auch mangelnde personelle Ressourcen widerspiegelt.

Vielleicht noch gravierender ist, dass der angeordnete


Anteil des Gesamtumsatzes, der an diese Einheiten verteilt
werden soll (15 Prozent, wie bereits erwähnt), möglicher-
weise einfach nicht tragbar ist. Da Kenia eine jährliche
Schuldenverpflichtung von rund 40 Prozent aller solcher
Einnahmen hat, wird diese Zuweisung der Zentralregie-
rung voraussichtlich ein großes Aufwandsdefizit bescheren,
zumal die Landkreise selbst nicht dafür verantwortlich
sind, sich an solchen nationalen Schuldenverpflichtungen
zu beteiligen.

Eine weitere Frage in Bezug auf die finanzielle Leistungs­


fähigkeit hat mit dem gesamten Umsetzungsprozess selbst
zu tun. Der gerade erst gegründeten parlamentarischen
Kommission zur Umsetzung der Verfassung (CoIC) zufolge
werden rund vier Milliarden Kenia-Schilling über die
68 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

nächsten zwei Jahre hinweg benötigt. Was Führungsper-


sönlichkeiten betrifft, so verfügen Personen, die ausrei-
chend Popularität besitzen, um Gouverneurspositionen
zu erlangen, möglicherweise nicht über die notwendigen
Qualitäten. Ein letztes und mit der Umsetzung verbun-
denes Problem ist die Korruption. In dieser Hinsicht wurden
Befürchtungen geäußert, dass Kontrollmechanismen, vor
allem auf Landkreisebene, womöglich nicht ausreichen und
in Anbetracht des Umfangs der involvierten Mittel zu stark
erweiterten Möglichkeiten für Vetternwirtschaft und Beste-
chung führen.

2. Widerstand: Auf die Plätze, fertig... Nicht so schnell!

Die politische Elite, die vom Macht- Angesichts der Geschichte des Machtmiss-
missbrauch profitiert hat, ist noch brauchs in Kenia und der Tatsache, dass die
weitgehend vorhanden. Die Grund-
sätze der neuen Verfassung kollidie- politische Elite, die vom Missbrauch profitiert
ren mit den alten Handlungsmustern. hat, noch weitgehend vorhanden ist, wird
klar, dass viele Bestimmungen in der neuen
Verfassung eine starke Bedrohung für tief verwurzelte
Handlungsmuster sind. Die Bemühungen der alten Eliten
könnten darin bestehen,

1. sicherzustellen, dass solche Beamte bestimmte ent-


scheidende Ämter besetzen, die denjenigen gegenüber
wohlwollend eingestellt sind, die am wahrscheinlichs-
ten von den verschiedenen Bestimmungen bedroht
sind;
2. die Anwendung solcher Befugnisse durch korrumpie-
rende Anreize zu untergraben; und
3. den Aufstieg derjenigen zu verhindern, die in Fälle
von Amtsmissbrauch verwickelten Personen gefährlich
werden können.

Vor der Ratifizierung und Verkündung der neuen Verfassung


schienen zwei Vorfälle, die deutlich über mehrere (erfolg-
lose) juristische Anfechtungen des Referendums hinaus-
gingen, solche Befürchtungen zu bestätigen. Einer dieser
Vorfälle war das ‚heimliche‛ Einfügen der Worte „nationale
Unsicherheit‟ in den Abschnitt zur Bill of Rights kurz vor
Druck. Damit verbunden war offensichtlich die Absicht, die
Garantie nationaler Sicherheit effektiv zu negieren oder
sie zumindest dem Ermessen der zuständigen Regierungs-
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 69

beamten zu überlassen. Der Verdacht kam auf, als der


Generalstaatsanwalt, dessen letzter Auftrag in dem Prozess
darin bestand, nur „redaktionelle und grammatikalische
Korrekturen‟ vor der Veröffentlichung vorzunehmen, ent-
hüllte, er sei von einem „hohen Beamten‟ des nationalen
Sicherheits- und Nachrichtendienstes (NSIS) aufgefordert
worden, die Worte einzufügen. Er behauptete allerdings,
er habe sich geweigert, dies zu tun. Doch obwohl er der
Öffentlichkeit versicherte, es werde eine Untersuchung der
Angelegenheit geben, wurden keine weiteren Fortschritte
gemeldet. Auch identi­fizierte der Generalstaatsanwalt
selbst bisher nicht die Person, die ihn aufgefordert hatte.

Der andere Vorfall ereignete sich rund zwei Zwei Monate vor der Volksabstimmung
Monate vor der Volksabstimmung gegen wurden in Nairobi gegen Ende einer
Gebetsstunde drei Handgranaten in
Ende einer christlichen Freiluft-Gebetsstunde die Menge geworfen – sechs Menschen
im Uhuru-Park in Nairobi. Drei Handgranaten starben.
wurden in die Menge geworfen – sechs Men-
schen starben und mehr als hundert wurden verletzt.
Angesichts der Tatsache, dass dieses Treffen in Wirklichkeit
Teil der ‚Nein‛-Kampagne war, nahmen viele an, dass das
Ziel der Täter darin bestand, die ‚Ja‛-Gegner zu diskredi-
tieren. Darüber hinaus zogen viele angesichts der Art der
verwendeten Waffen und der anschließenden Unfähigkeit
der Polizei, Fortschritte bei der Untersuchung zu machen,
die Schlussfolgerung, dass der NSIS selbst auf Anweisung
von ‚oben‛ dahinter gesteckt haben musste.

Vor der Betrachtung des Umsetzungsprozesses selbst


sollten dessen Grundzüge dargestellt werden. Erforder-
lich sind zwei wichtige Einrichtungen: eine unabhängige
Kommission zur Umsetzung (CoI) und ein parlamentari-
sches Komitee zur Überwachung der Umsetzung (PIOC).
Relevante Gesetzesentwürfe (im Übergangsabschnitt der
neuen Verfassung sind 49 aufgelistet) werden dann vom
Generalstaatsanwalt nach Vorgaben und mit der Unterstüt-
zung der CoI und der kenianischen Rechtsreformkommis-
sion abgefasst. Der Prozess geht im Anschluss unter der
Aufsicht des PIOC weiter.

Verschiedene Ereignisse deuteten an, dass ein umfas-


sendes Engagement sowohl in Bezug auf den Prozess als
auch auf den Inhalt der Umsetzung fehlen könnte. Auf
70 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

der Grundlage solcher Ereignisse haben Beobachter drei


Haupttaktiken identifiziert, mit denen die Umsetzung be-
hindert werden könnte:

1. die neuen Strukturen der Verfassung mit möglichst


vielen Loyalisten der alten Ordnung besetzen;
2. sich auf wohlwollende Personen innerhalb der Judika-
tive verlassen, die positive Interpretationen abgeben,
sobald relevante Fälle sie erreichen;
3. Verfassungsänderungen fördern, die verschiedene,
vermeintlich fehlerhafte Bestimmungen rückgängig
machen würden.

Die Bühne für einen zunehmend dramatischen Kampf


zwischen diesen gegensätzlichen Kräften könnte dadurch
aufgebaut sein.

FAZIT: DIE HÄRTERE PRÜFUNG DES


KONSTITUTIONALISMUS

Ein auffälliges Merkmal der neuen Verfassung ist ihre


Länge, wobei ein Großteil ihres Inhaltes häufiger in einfa-
chen Gesetzen zu finden ist. Dies scheint das Ergebnis von
drei verstärkenden Faktoren zu sein:

1. dem enormen Ausmaß an sozialer Ungleichheit, so


dass ein Ersatz für die alte Verfassung wahrscheinlich
keine ausreichende öffentliche Unterstützung für die
Verabschiedung gewonnen hätte, wenn nicht wenigs-
tens mehr Gerechtigkeit (wenn nicht sogar Gleichheit)
versprochen worden wäre,
2. einem der Regierung entgegengebrachten, weit verbrei-
teten Misstrauen der Öffentlichkeit aufgrund ziemlich
bitterer Erfahrungen,
3. eine sehr widerspenstige politische Klasse, die dazu
neigte, die meisten Kompromissversuche nur in Bezug
auf kurzfristige parteiliche Gewinne und Verluste zu
betrachten und die nicht bereit war, die Details künftigen
Interpretationen der ‚Grundprinzipien‛  – geschweige
denn dem ‚guten Glauben‛ – zu überlassen, so dass ein
Großteil des Textes den kleinsten gemeinsamen Nenner
darstellt.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 71

Trotz aller Schwächen stellt Kenias neue Verfassung mit


ihren deutlichen Verbesserungen in allen Bereichen der
Regierungsführung eine radikale Abkehr von
der Vergangenheit dar. Ihr Schicksal hängt Kenias neue Verfassung stellt eine
wahrscheinlich vor allem von der politischen deutliche Verbesserungen in allen
Bereichen der Regierungsführung und
Dynamik ab. Die ultimative Frage, die sich eine radikale Abkehr von der Vergan-
Kenia stellt, ist also: wenn die neue Verfas- genheit dar.
sung einen echten Sieg für die Benachtei-
ligten und Ausgegrenzten darstellt und droht, der Elite
einen Großteil ihrer eigennützigen, willkürlichen Macht zu
verweigern, wird letztere  – die immer noch gegenwärtig
ist – dies dann geschehen lassen? Oder wird das ‚keniani-
sche Volk‛ in der Lage sein, an dem Sieg ihrer Volksabstim-
mung festzuhalten und diese so in ihrem vollen Ausmaß zu
bestätigen?

Diejenigen, für die gegenwärtig am meisten auf dem Spiel


steht, wurden durch die Kombination lokaler Reformkräfte
und internationaler Akteure überflügelt, deren Schlagkraft
durch die Krise von 2008 stark verbessert wurde. Das Drama
um die nationale Verfassung hat in vielerlei Hinsicht gerade
erst begonnen. Und das, obwohl die beiden wichtigsten
Protagonisten bei dem vorangegangenen, unglücklich ver-
laufenen Versuch von 2005 – der derzeitige Präsident und
der Premierminister – diesmal an einem Strang zogen. Die
grundlegenden Konfliktlinien der kenianischen Gesellschaft
und Politik bleiben erhalten und werden zwangsläufig akti-
viert werden, wenn das Land sich auf die Wahlen im Jahr
2012 zu bewegt. Die Möglichkeit, dass dieser Wettkampf
oder eine möglicherweise früh auftretende Herausforde-
rung für die nationale Integrität, einschließlich der Ergeb-
nisse der Untersuchungen des Internationalen Strafge-
richtshofs, das Versprechen der Verfassung untergraben
könnten, darf denjenigen nicht entgehen, die so hart, zu
diesem Preis und so lange dafür gekämpft haben.
72 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

WIRTSCHAFTSPOLITIK IN
SÜDAFRIKA – WACHSTUMS-
PLÄNE UND WACHSTUMS-
HEMMNISSE

Dr. Werner Böhler ist


Werner Böhler
Auslandsmitarbeiter
der Konrad-Adenauer-
Stiftung in Johannes-
burg.
Südafrika beeindruckte die Welt im Jahr 2010 mit einer
nahezu perfekt organisierten Fußball-Weltmeisterschaft.
Umfangreiche Infrastrukturprojekte und neue Weltklasse-
Stadien demonstrierten eindrucksvoll die Investitions- und
Mobilisierungsfähigkeit des Landes. Auch die Wirtschafts-
und Finanzkrise bewältigte Südafrika relativ gut. Zwar gab
es 2009 ein Negativwachstum von 1,8 Prozent und etwa
eine Millionen mehr Arbeitslose. Für 2010 werden jedoch
wieder gut drei Prozent Wachstum erwartet, und die Infla-
tion bewegt sich mit etwa vier Prozent im von der Zentral-
bank vorgegebenen Rahmen von drei bis sechs Prozent.
Der Rand demonstriert ungewohnte Stärke gegenüber dem
US-Dollar und dem Euro, ausgelöst durch starke (volatile)
Kapitalzuflüsse am Finanzmarkt. Als einziges afrikanisches
Land zählt Südafrika zur G-20, organisiert die Klimakonfe-
renz COP-17 im November 2011 in Durban, gehört neuer-
dings zu den BRICS-Ländern und ist für 2011/12 erneut als
nicht ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat berufen
worden.

Andererseits liegt Südafrika mit einem Gini-Index von über


65 mit Ländern wie Namibia, Botswana oder Sierra Leone
an der Spitze der ungleichen Einkommensverteilung. Die
ausländischen Direktinvestitionen fielen gemäß dem letzten
UNCTAD-Report um 78 Prozent, in der Region lag der
Rückgang bei nur 14 Prozent.1 Die offizielle Arbeitslosens-
rate liegt bei 25,3 Prozent, die tatsächliche Rate übersteigt
40 Prozent. Nach einer Studie des Center for Development

1 | Vgl. „FDI slumps 80 per cent as mining debate deters


investors‟, The Star – Business Report, 19.01.2011, 1.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 73

and Enterprise (CDE) waren 2005 in den Großstädten von


vier Millionen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren
2,6 Millionen oder 65 Prozent ohne Beschäftigung.2 Dabei
sind nach dem South Africa Survey 2009/2010 des South
African Institute of Race Relations (SAIRR) 52,7 Prozent
der Arbeitslosen zwischen 15 und 34 Jahren.3 Mitverant-
wortlich dafür ist das defizitäre Bildungssystem mit vielen
Schulabbrechern und niedrigem Niveau
insbesondere in den naturwissenschaftlichen Die Regierungspartei ANC hat sich pro-
Fächern. Folge davon ist, dass dringend grammatisch auf den Developmental
State festgelegt. Allerdings handelt es
benötigte Fachkräfte am Arbeitsmarkt nicht sich dabei bislang eher um eine Wort-
oder nicht ausreichend vorhanden sind. hülse.

Die dominante Regierungspartei ANC hat sich programma-


tisch auf den Developmental State festgelegt. Allerdings
handelt es sich dabei bislang eher um eine Worthülse,
deren Inhalt wenig oder widersprüchlich definiert ist. Klare
Eckpunkte des angestrebten Wirtschaftssystems sind
schwer erkennbar. Die Democratic Aliance (DA), nach dem
britischen System Official Opposition, propagiert hingegen
mit der Open Opportunity Society ein liberalistisches Wirt-
schaftsmodell, das angesichts der Mehrheitsverhältnisse
derzeit keine Chance zur Umsetzung hat.

ENTWICKLUNG DES WIRTSCHAFTSSYSTEMS SEIT


DEM DEMOKRATISCHEN NEUBEGINN

Zur Mitte der Amtsperiode von Nelson Mandela verabschie-


dete die damalige Regierung der Nationalen Einheit (ANC,
NP, IFP) im Juni 1996 den makroökonomischen Wachs-
tums-, Beschäftigungs- und Umverteilungsplan (GEAR).4
Damit wurde das 1994 eingeführte Wiederaufbau- und
Entwicklungsprogramm (RDP) abgelöst, das die Befriedi-
gung der Grundbedürfnisse (Wasser, Low-Cost-Houses,
Strom) für die arme Bevölkerung aber auch einen Politik­
wechsel zum Ziel hatte – mit negativen Auswirkungen

2 | Vgl. Ann Bernstein (Hrsg.), „South Africa’s ‚Door Knockers‛ –


Young people and unemployment in metropolitan South
Africa‟, CDE In Depth, Nr. 8, 07/2008.
3 | Vgl. South African Institute of Race Relations (Hrsg.), South
Africa Survey 2009/2010, http://sairr.org.za/services/
publications/south-africa-survey/south-africa-survey-online-
2009-2010/employment-incomes [02.02.2011].
4 | Department of Finance, Republic of South Africa (Hrsg.),
Growth, Employment and Redestribution. A Macroeconomic
Strategy, in: http://www.treasury.gov.za/publications/other/
gear/chapters.pdf [02.02.2011].
74 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

auf Investorenvertrauen und Wirtschaftswachstum.5 Vor


allem vom Gewerkschaftsdachverband, dem Congress of
South African Trade Unions (COSATU), wurde GEAR heftig
kritisiert und als liberales Konzept abgelehnt.
Die angestrebten Wachstumsraten Die angestrebten Wachstumsraten blieben
blieben weit hinter den Erwartungen mit etwa drei Prozent weit hinter den Erwar-
zurück. Sechs Prozent werden als Vor-
aussetzung für einen Abbau der hohen tungen zurück. Sechs Prozent werden als
Arbeitslosig­keit angesehen. Voraussetzung für einen Abbau der hohen
Arbeitslosig­keit angesehen. Während Infla-
tion und Budgetdefizit sanken, gingen zwischen 1996 und
1999 nach Angaben des Nationalen Arbeits- und Wirt-
schaftsentwicklungsinstituts (NALEDI) 400.000 Arbeits-
plätze im formalen Sektor verloren.6 Präsident Thabo
Mbeki und die Regierung behielten die Programmatik
jedoch in der Erwartung auf längerfristiges wirtschaftliches
Wachstum bei.

Abgelöst wurde GEAR durch die Accelerated and Shared


Growth Initiative for South Africa (AsgiSA) im Februar
2006, die zum Ziel hatte, Arbeitslosigkeit und Armut bis
2014 zu halbieren. Identifiziert wurden sechs Punkte, die
eine höhere Wachstumsrate verhindern:

▪▪Volatilität der Währung,


▪▪Kosten, Effizienz und Kapazität des nationalen
logistischen Systems,
▪▪Mangelnde Ausbildung und fehlende Fachkräfte,
▪▪Eintrittsbarrieren, Wettbewerbsbeschränkungen und
fehlende Investitionsmöglichkeiten,
▪▪Überregulierung vor allem im Hinblick auf Klein- und
Mittelunternehmen (SMEs),
▪▪Defizite der staatlichen Administration und Führungs-
qualitäten.

An der Initiative sollten die Wirtschaft, Gewerkschaften,


Staatsunternehmen und alle Regierungsinstitutionen ein-
schließlich Ministerien mitwirken.7

5 | Vgl. Jeffrey Anthea, „Chasing the Rainbow – South Africa’s


Move from Mandela to Zuma‟, South African Institut of Race
Relations (Hrsg.), 2010, 235-268.
6 | Richard Knight, „South Africa: Economic Policy and Develop-
ment‟, 07/2001, in: http:/richardknight.homestead.com/
files/sisaeconomy.htm [02.02.2011].
7 | South Africa Government Information, Accelerated and
Shared Growth Initiative for South Africa (AsgiSA), in:
http://www.info.gov.za/asgisa [02.02.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 75

Dieses Programm wurde einen Monat später durch die


Gemeinsame Initiative zum Erwerb Vorrangiger Fähig-
keiten (JIPSA) vervollständigt, die auf die berufliche Quali-
fizierung insbesondere in Mangelberufen abzielte (Fachar-
beiter, Ingenieure).8

Die Infragestellung von GEAR war der Beginn des abneh-


menden Einflusses Thabo Mbekis auf die wirtschaftspo-
litische Orientierung des Landes. Obwohl Mbeki von der
marxistischen Schule kam, sahen die internationalen
Organisationen, die Wirtschaft und weite Kreise innerhalb
des ANC in ihm den Garant für eine offene, marktorien-
tierte Wirtschaft. Im Vorfeld der Nationalwahlen 2004
brachte der ANC eine Debatte um den Developmental
State in Gang. Das Konzept wurde Teil des Wahlprogramms
und zielte zunächst vor allem darauf ab, die radikaleren
Partner, COSATU und die South African Communist Party
(SACP), sowie deren Wähler innerhalb der Dreiparteien-
allianz (Tripartite Alliance) zu halten.9 Das mit der 2001
ins Leben gerufenen Neuen Partnerschaft für Afrikanische
Entwicklung (NEPAD) verbundene Bekenntnis der afrika-
nischen Staats- und Regierungschefs, mehr
Eigenverantwortung zu übernehmen und die Der Parteitag 2007 veränderte die
Entwicklungsorientierung der afrikanischen Kräfteverhältnisse im ANC und der
Allianz grundlegend. Die radikaleren
Eliten von innen heraus zu thematisieren, und linksorientierten Kräfte bestimm-
war dieser neuen Debatte zuträglich. ten Programm und Agenda.

Der Parteitag in Polokwane im Dezember 2007 veränderte


die Kräfteverhältnisse innerhalb des ANC und der Drei-
parteienallianz grundlegend. Die radikaleren und links-
orientierten Teile der Allianz bestimmten Programm und
Agenda und wählten mit Jacob Zuma einen populären
Volkstribunen aus KwaZulu/Natal zum Parteipräsidenten.

8 | Joint Initiative on Priority Skills Acquisition (JIPSA), in:


http://www.thepresidency.gov.za/docs/final-rep2.pdf
[02.02.2011].
9 | Vgl. Roger Southall, „Introduction: Can South Africa be a
developmental state?‟, in: Sakhela Buhlungu et al. (Hrsg.),
State of the Nation, South Africa 2005-2006, (Kapstadt:
HSRC Press 2006), xvii-xliv; Peter Meyns, Charity Musamba
(Hrsg.), „The Develepmental State in Africa – Problems and
Prospects: Introcuction: Recent Debates on the Developmen-
tal State in Africa‟, INEF-Report 101/2010, 7-10; Charity
Musamba, „The Developmental State Concept and its Rele-
vance for Africa‟, in: Meyns, Chrity Musamba (Hrsg.), 2010,
a.a.O., 11-41.
76 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Thabo Mbeki und seine gesamte Parteiführung wurden


abgewählt. Am 25. September 2008 folgte der erzwungene
Rücktritt Mbekis als Staatspräsident. Er beugte sich damit
der neuen Parteiführung, die ihn zum Rücktritt aufgefor-
dert hatte. Es folgte eine Interimsregierung unter Kgalema
Motlanthe. Jacob Zuma wurde in der ANC-Tradition als
Parteichef Spitzenkandidat für die Wahlen am 22. April
2009, und aufgrund der Mehrheitsverhältnisse auch zum
Staatspräsidenten gewählt.

In seiner ersten Regierungserklärung (State of the Nation


Address) vom 17. Juni 2009 erklärte Zuma, er wolle einen
Developmental State aufbauen, den öffentlichen Dienst
verbessern und demokratische Insitutionen stärken.10 In
der folgenden Regierungserklärung am 11. Februar 2010
lobte Zuma seine Regierung und deren harte Arbeit „am
Aufbau eines starken Developmental State‟.11 Es scheint
verfrüht, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, dass der
Bezug zu den demokratischen Institutionen nicht erneut
hergestellt wurde. Signifikant ist jedoch, dass „durch
die Verbesserung der Planung ein leistungsorientierter
Staat‟ etabliert werden soll, der gemäß den
Der private Sektor als Akteur oder weiteren Ausführungen für fast alle Bereiche,
der Beitrag der Wirtschaft für die Ent- einschließlich der Wirtschaft, zuständig sein
wicklung des Landes werden in Zumas
ersten Reden zur Lage der Nation nicht soll. Offen bleibt, woher die dafür notwen-
erwähnt. digen Planungskapazitäten und die entspre-
chenden Qualifikationen kommen und wie diese effizient
verwaltet werden sollen. Der private Sektor als Akteur oder
der Beitrag der Wirtschaft für die Entwicklung des Landes
werden nicht erwähnt. Ebenso fehlt eine Aussage über die
Schaffung von angemessenen Rahmenbedingungen für
die Privatwirtschaft, insbesondere den Aufbau mittelstän­
discher, produktiver Unternehmen seitens des Staates.

Im Vorfeld und während des Parteitages von Polokwane


machte Jacob Zuma weitgehende Versprechungen und
Zugeständnisse an seine Bündnispartner aus dem linken
Parteispektrum, COSATU und SACP, und die einflussreiche
ANC Youth League. Auch in den beiden Regierungserklä-
rungen und weiteren Ansprachen auf Parteiebene oder als

10 | http://www.info.gov.za/speeches/2009/09060310551001.
htm [02.02.2011].
11 | http://www.info.gov.za/speeches/2010/10021119051001.
htm [02.02.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 77

Regierungschef gab es weitreichende Ankündigungen. Da


sichtbare Erfolge vor allem im Bereich der Armutslinderung,
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Bereitstellung
öffentlicher Sozial- und Dienstleistungen (Service Delivery)
auch zwei Jahre nach seinem Amtsantritt ausblieben, kam
Zuma innerhalb des ANC immer stärker unter Druck, die
Politikrichtung insbesondere in der Wirtschaft zu ändern.

Die Kabinettsumbildung im Oktober 2010 festigte seine


Position. Allerdings wurde erneut die Zahl der Regierungs-
mitglieder um sechs Vize-Minister­positionen erweitert.
Bereits bei der Regierungsbildung im Juni 2009 hatte
Zuma die Zahl der Minister von 28 auf 34 erhöht und ein
zusätzliches Planungsministerium im Präsidialamt ge-
schaffen. So konnte Zuma seine parteiinternen Kritiker vor
allem aus dem linken Parteienspektrum in die Kabinetts-
disziplin einbinden. Es entstanden viele Ressortzuständig­
keiten, die mit wirtschaftspolitischen Entscheidungen be-
fasst sind und eigenständige Pläne vorlegen. Neben der
Regierungserklärung gibt es den nationalen Haushalt
des Finanzministers, der die Fiskalpolitik vorgibt, den
Mittelfristigen Ausgabenrahmen (MTEF) 2009 bis 2014,
den Industriepolitischen Aktionsplan (IPAP) des Handels-
und Industrieministeriums, und jüngst den Nationalen
Wachstumsplan (NGP) des Ministeriums für Wirtschaft-
liche Entwicklung. Die Nationale Planungskommission,
mit Ministerrang im Präsidialamt angesiedelt, arbeitet
derweil an ihrem ersten Nationalen Plan, der langfristige
Ziele enthalten und im November dieses Jahres vorgelegt
werden soll.12

Der im November 2010 veröffentlichte NGP13 Der Nationale Wachstumsplan (NGP)


weist dem Staat eine umfassende Steue­ definiert kaum zeitliche Vorgaben oder
konkrete Umsetzungspläne. Es bleibt
rungskompetenz zu und wird deshalb von im Wesentlichen bei Absichtserklärun-
Opposition und Zivilgesellschaft heftig kri- gen.
tisiert. Der NGP definiert kaum zeitliche Vor-
gaben oder konkrete Umsetzungspläne. Im Wesentlichen
bleibt es bei Absichtserklärungen, wie sie teilweise in
GEAR und RDP bzw. AsgiSA und Jipsa enthalten waren.
Das Wort „Entrepreneur‟ kommt in dem 35-Seiten-Doku-
ment nur einmal vor.

12 | Vgl. Anthony Butler, „Sloppy jobs promises set Zuma up for a


backlash‟, Business Day, 28.01.2011, 11.
13 | http://www.info.gov.za/view/DownloadFileAction?id=135748
[02.02.2011].
78 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Völlig ignoriert werden die drei nach dem Tagungsort bei


Johannesburg benannten „Dinokeng‟-Szenarien,14 die
2009 von 35 respektierten Persönlichkeiten unterschied-
lichster Herkunft erarbeitet und zur Diskussion gestellt
wurden. Das erste Szenario endet im Niedergang und der
Desintegration des Landes, weil die Führung überfordert,
schwach und zerstritten ist und die wichtigsten Probleme
der Menschen wie Armut, Unterbeschäftigung, Sicherheit,
Bildung und Gesundheit nicht lösen kann. Im zweiten
Szenario übernimmt der Staat die Rolle als Führer und
Manager und würgt jede private Initiative aus Wirtschaft
und Zivilgesellschaft ab. Staatlich gelenkte Entwicklung
scheitert in diesem Szenario aufgrund der Unfähigkeit
und mangelnden Kapazitäten des Staates und führt in
ein zunehmend autoritäres System. Das Walk Together-
Szenario als dritte Möglichkeit ist besonders komplex,
weil es die Bürger in Entscheidungsprozesse einbezieht,
Initiativen aus der Zivilgesellschaft fördert und für die
wirtschaftliche Entwicklung stabile Rahmenbedingungen
schafft. Ergebnis ist eine inklusive Gesellschaft, wie es die
Verfassung fordert, und eine verantwortungsvolle Regie-
rungsführung. An diesem offenen Dialog aus der Zivilge-
sellschaft beteiligte sich der ANC nicht.

Trotz kritischer Stellungnahmen auch aus Kreisen der


Regierungsallianz verlangt Jacob Zuma von den Parteigre-
mien und allen Ministerien, mit der Umsetzung des NGP zu
beginnen. In seiner Rede zum 99. Parteitag des ANC am 8.
Januar in Polokwane erklärte er das Jahr 2011 zum „Jahr
der Schaffung von Arbeitsplätzen durch sinn-
Verwirrung entstand, als beim Partei- volle Wirtschaftstransformation‟.15 Wesent­
treffen im Januar 2011 Teile des ANC liches Instrument zur Erreichung dieses Ziels
die Position einnahmen, dass irgend-
eine Arbeit besser sei als keine. ist der NGP, der zur Schaffung von nachhal-
tigen Arbeitsplätzen (decent work) führen
soll, wie es auch die im Dezember 2010 in Kraft getretenen
neuen Arbeitsgesetze verlangen. Verwirrung entstand nun,
als beim Parteitreffen vom 12. bis 14. Januar 2011 Teile
des ANC die Position einnahmen, dass irgendeine Arbeit

14 | http://www.dinokengscenarios.co.za [02.02.2011]. Zu den


Initiatoren zählen die ehemalige Anti-Apartheid-Aktivistin
Ramphele Mamphela und die Ehefrau von Nelson Mandela,
Graca Machel.
15 | „ANC 99th Anniversary speech by Jacob Zuma‟, 08.01.2011,
in: http://www.news24.com/SouthAfrica/Politics/ANC-99th-
Anniversary-speech-by-Jacob-Zuma-20110108 [02.02.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 79

besser sei als keine.16 Die Frage nach der Abgestimmtheit


all dieser Pläne griff Zuma nicht auf.

Der Chefredakteur der Wochenzeitung Mail & „Seit dieser Woche hat Südafrika drei
Guardian, Nic Dawes, kommentiert die Ein- wirtschaftspolitische Konzepte – oder
sind es vier? Und das ist nur die Regie-
führung des NGP im November 2010 spitz: rung.‟ (Mail & Guardian)
„Seit dieser Woche hat Südafrika drei wirt-
schaftspolitische Konzepte  – oder sind es vier? Und das
ist nur die Regierung. Der ANC und seine Allianzpartner
stehen noch für diverse weitere.‟17 Der bekannte Cartoo-
nist Jonathan Zapiro drückt das in seiner Karikatur mit
dem berühmten Kochtopf und den Minister-Köchen aus
und lässt Präsident Zuma fragen: „Wie kann ich helfen?
Brauchen wir mehr Köche?‟18 Justice Malala hingegen kriti-
siert in seinem Kommentar in The Times vom 10. Januar
das unkritische Vertrauen in den Staat als Change Agent
und beklagt den Mangel an Visionen in der politischen
Führung.19

WELCHES WIRTSCHAFTSSYSTEM?

Das südafrikanische Wirtschaftsmodell kann zutreffend als


„Staatsinterventionistische Marktwirtschaft‟ umschrieben
werden. Ordnungspolitik im Sinne einer klaren Definition
des Wirtschaftssystems gibt es in Südafrika nicht. Das mag
aus der Sicht des dominanten ANC in einem faktisch beste-
henden asymmetrischen Zweiparteiensystem20 durchaus
mit Absicht verbunden sein. Mit dem Developmental
State als Konzept, das durch direkte Intervention seitens
der Regierung ausgehöhlt wird, können sich alle Interes-
sengruppen der Dreierallianz unter dem Dach der Broad
Church ANC21 treffen.

16 | Vgl. Terry Bell, „Decent Work and temp jobs tie ANC and
Unions in Knots‟, The Star – Business Report, 21.01.2011, 2.
Vgl. dazu auch die kontroverse Analyse von Christopher
Malikan, „Decent work: Key to growth‟; Loane Sharp, „… Or
a hidden agenda?‟, Mail & Guardian, 28.01.-03.02.2011, 33
und 36.
17 | Vgl. Nic Dawes, „Crisis calls for decisive Leadership‟, Mail &
Guardian, 26.11.-02.12.2010, 3.
18 | Jonathan Zapiro, Mail & Guardian, 26.11.-02.12.2010.
19 | Vgl. Justice Malala, „SA needs visionary at the helm‟, The
Times, 10.01.2011, 8.
20 | Vgl. Siegmar Schmidt, „Länderprojekt Südafrika, Evaluierung‟,
2010, 19.
21 | Vgl. Hans-Georg Schleicher, „Bald 100 – und dann?‟, Afrika
Post, 4/2010, 41.
80 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Nicht erst seit der Finanzkrise interessieren sich der ANC


und die von ihm gestellte Regierung für in Asien entwickelte
Wirtschaftskonzepte. Die positive wirtschaftliche Entwick-
lung in einigen Ländern und die schnelle Überwindung der
Folgen der Finanzkrise sowie der zunehmende Handels-
austausch sind dafür ausschlaggebend. Es ist jedoch sehr
fragwürdig, ob das so genannte Asiatische Modell eines
Developmental State auf die afrikanische Region oder
einzelne Länder übertragbar ist. Obwohl unterschiedlich,
sind den asiatischen Entwicklungsmodellen einige kons-
tituierende Voraussetzungen gemein. Dazu gehören in
erster Linie eine klare Definition der Ziele und eine fokus-
sierte Strategie, ein starker Staat mit einer effizienten und
unabhängigen öffentlichen Verwaltung und eine effektive
Führung.22

Die staatlichen Interventionen zerstören einerseits die


Grundlagen für einen Developmental State, der in Südaf-
rika ein Democratic Developmental State sein könnte.
Ein solcher würde Allianzen mit einer breiten Basis in der
Gesellschaft schmieden und öffentliche Partizipation nicht
nur zulassen, sondern fördern.23 Dafür sind allerdings
die Voraussetzungen nicht gegeben, solange der ANC
und dessen Allianzpartner an dem Konzept
Seit 2007 entwickelt sich Südafrika von der Nationalen Demokratischen Revolution
einem Marktwirtschaftssystem weg. Mit (NDR) festhalten.24 Andererseits entwickelt
dem Nationalen Wachstumsplan setzt
die ANC-Regierung eindeutig auf staat- sich Südafrika seit 2007 von einem Markt-
liche Steuerung und Intervention. wirtschaftssystem weg und vertraut zuneh-
mend auf öffentliche Investitionspläne. Mit
dem NGP setzt die ANC-Regierung eindeutig auf staatliche
Steuerung und Intervention und beendet damit faktisch
die marktorientierte GEAR-Politik. Diesen Plan bezeichnete
ANC-Sprecher Jackson Mthembu gegenüber den Medien
am Rand des Parteitreffens als liberales Konzept, das zu
„Wachstum ohne Jobs‟ geführt habe.25 Ob andere Faktoren

22 | Vgl. John McKay, „The Asian ‚Miracle‛ after the Global Financial
Crisis: Some Lessons for Africa‟, The Brenthurst Foundation,
Diskussionspapier 2010/07.
23 | Vgl. Charity Musamba, Fn. 9, 38 ff.
24 | „ANC 99th Anniversary speech by Jacob Zuma‟, Fn. 15; vgl.
zu National Democratic Revolution: http://nehawu.org.za/
uploads/Res_political.pdf [02.02.2011]; http://www.anc.org.za/
show.php?include=docs/pol/2007/strategy_tactics.html&ID=
2535 [02.02.2011].
25 | Vgl. Sam Mkokeli, „Zuma tells ANC to put Patel plan into
action‟, Business Day, 14.01.2011.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 81

oder falsch gesetzte Rahmenbedingungen dafür verant-


wortlich waren, wird vom ANC und dessen Allianzpartnern
offensichtlich nicht hinterfragt. Eine Auseinandersetzung
mit den Dinokeng-Szenarien hätte diese Debatte inhaltlich
leiten und zu neuen Erkenntnissen führen können. Viel-
leicht wäre dann auch dieser Zusammenhang aufgeklärt
worden: Eine der wichtigsten Zielsetzungen des NGP, die
vom ANC und der Regierung mit Blick auf die im Mai 2011
anstehenden Kommunalwahlen aggressiv vermarktet
wird, ist die Schaffung von fünf Millionen Arbeitsplätzen in
zehn Jahren. In diesem Zeitraum drängen jedoch jährlich
600.000 junge Menschen in den Arbeitsmarkt.26

POLITISCHE IRRWEGE

Unklar ist, welche Ausprägung das südafrikanische Wirt-


schaftssystem in Zukunft haben wird. Aufgrund ideolo-
gischer Widersprüche in der Dreiparteienallianz scheint
jedoch auf absehbare Zeit eine Art „experimenteller
Interventionismus‟, nicht immer kongruent
und in kurzen Abständen erfolgend, prägend Mit zunehmender Zentralisierung wird
zu sein. Mit zunehmender Zentralisierung die staatliche Planung das Wirschafts-
handeln der Regierung bestimmen. An
wird dabei die staatliche Planung das Wirt- dieser Stelle ist der Einfluss Chinas
schaftshandeln der Regierung bestimmen. nicht zu unterschätzen.
An dieser Stelle ist der Einfluss Chinas nicht
zu unterschätzen. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolgs-
zahlen scheint manchen Ländern – vor allem im globalen
Süden  – Pekings „Marktautoritäres Modell‟ zunehmend
attraktiv.27 In den zurückliegenden drei Jahren kam in
Südafrika zu dem Ausbau der Wirtschaftskooperation
politische Einflussnahme hinzu. Seit der Übernahme der
Parteiführung durch Jacob Zuma finden regelmäßig Dele-
gationsreisen aus der ANC-Führung nach China statt.
Die Kosten teilen sich ANC und Chinas Kommunistische
Partei. Als ein Ergebnis verkündete der ANC die Einrich-
tung einer politischen Schule für Parteimitglieder, die sich
am Chinesischen Modell orientiert.28 Deren Leiter soll
Toni Yengeni werden, ehemaliger Chief Whip des ANC im

26 | Vgl. Opinion & Analysis: „ANC cannot wish jobs into existence‟,
Business Day, 10.01.2011, 5.
27 | Vgl. Stefan Halper, The Peking Consensus: How China’s
Authoritarian Model Will Dominate the Twenty-First Century
(New York: Basic Books 2010).
28 | Vgl. Mandy Rossouw, „ANC ponders Chinese policy‟, Mail &
Guardian, 26.11.-02.12.2010, 39.
82 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Nationalen Parlament, der im Zusammenhang mit dem


Arms Deal29 wegen Korruption zu vier Jahren Haft verur-
teilt wurde. Bei dem Galadinner vor dem 99. Parteitag trat
das Chinese Chapter of the Progressive Business Forum
(PBF) als Hauptsponsor auf. Das PBF ist eine der wich-
tigsten Fundraising-Organisationen des ANC.30 Im Wahl-
kampf für die Präsidentschaftswahlen 2009 bestätigte der
ANC, Gelder von befreundeten Parteien erhalten zu haben,
unter anderem von Chinas Kommunistischer Partei.31

Dieser Linie scheint die derzeitige Parteimehrheit zu folgen.


Die südafrikanische Kommunistische Partei vertraut eben-
falls zentraler Planung, leitet diesen Anspruch
Der Gewerkschaftsdachverband igno- aber eher vom marxistisch-leninistischen
riert die hohe Arbeitslosigkeit und die Gedankengut ab.32 COSATU hingegen igno-
Konsequenzen für den Arbeitsmarkt,
indem er mit hohen Lohnforderungen riert die hohe Arbeitslosigkeit und die Konse-
auftritt und Mindestlöhne durchsetzt. quenzen für den Arbeitsmarkt, indem sie mit
hohen Lohnforderungen auftritt und Mindest-
löhne durchsetzt. Hier kommt es durchaus zum Konflikt mit
billigen Textilimporten aus China, wie das Beispiel Newcastle
im Norden der Provinz KwaZulu/Natal mit der Gefahr der
Abwanderung von Produktionsstätten in Nachbarländer
zeigt.33 Julius Malema, Vorsitzender der ANC-Jugendliga
(ANCYL), hingegen fordert kontinuierlich die Verstaat-
lichung der Minen und setzte beim Nationalrat (National
General Council, NGC)34 des ANC im September 2010 durch,
dass dieses Thema beim nächsten ANC-Parteitag 2012 auf
der Tagesordnung steht. Generalsekretär Gwede Mantashe
erklärte dazu in einem Interview nach dem NGC, dass eine

29 | Vgl. Andrew Feinstein, „After the Party – A Personal and


Political Journey inside the ANC‟, Jonathan Ball Publisher.
30 | Vgl. Mandy Rossouw, „Chequebook politics‟, Mail & Guardian,
14.-20.01.2011.
31 | Vgl. Andile Sokomani, 2010: „Party financing in democratic
South Africa: harbinger of doom?‟, in: Anthony Butler (Hrsg.),
Paying for Politics – Party Funding and Political Change in
South Africa and the Global South, Konrad-Adenauer-Stiftung,
2010, 179; Mandy Rossouv, „ANC’s dodgy funders‟, Mail &
Guardian, 20.-26.03.2009.
32 | Vgl. http://www.sacp.org.za/main.php?include=docs/history/
1991/constitution7.html [02.02.2011].
33 | Vgl. Barry Terreblanche, „Minimum-wage threat to factories‟,
Business Day, 20.01.2011, 1 f.; ders., „Clothing Industry –
Only a miracle will stop Sactwu’s suicidal trajectory‟, Business
Day, 25.01.2011, 9.
34 | Vgl. Report of the 3rd National General Council, 48-49;
http://www.anc.org.za/docs/reps/2010/3rdngcx.pdf
[02.02.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 83

unabhängige Expertenkommission zur beratenden Unter-


stützung des Wirtschaftstransformationskomitees (ETC)
der Partei eingesetzt wird. Demgegenüber verlangt der
Sprecher der ANCYL, Floyd Shivambu, jedoch, dass die
Untersuchung neben den Minen auch „andere strategische
Sektoren wie Banken, Energie und Erdöl‟ einbeziehen soll,
und meint weiter: „Der politische Hintergrund der Forscher
ist klar, da sie die Charakterisierung des ANC durch den 3.
Nationalrat der Partei, vor allem den Mehrklassencharakter
des ANC mit seiner Verbundenheit zur Arbeiterklasse und
den Armen verinnerlichen und angemessen verstehen
sollten.‟35 Die eingangs genannte Unctad-Studie führt den
drastischen Rückgang der ausländischen Direktinvestiti-
onen in 2010 mit auf die Verstaatlichungsdebatte im ANC
zurück.

PARTEI UND STAAT

Auf der Grundlage der Nationalen Demokratischen Revo-


lution sieht sich der ANC als „die vorderste Front bei der
Ausübung der Macht des Volkes‟.36 Der ANC versteht
sich folglich auch als die Bewegung, die die Interessen
des Volkes vertritt und innerhalb der Partei bündelt. Das
führt bei vielen Mitgliedern und Anhängern zu der falschen
Einschätzung, der ANC habe als „inklusive
Partei‟ einen Alleinvertretungsanspruch für Die Trennung zwischen Partei und
die Belange der Menschen. Folge davon ist, Staat verwischt zunehmend. Beson-
ders deutlich wird dies bei der Beset-
dass die Trennung zwischen Partei und Staat zung von öffentlichen Ämtern.
zunehmend verwischt. Besonders deutlich
wird dies bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern. Mit
Bezug auf das Strategy and Tactics-Dokument vom Partei-
tag 2007 sagte Jacob Zuma in seiner Rede zum 99. Jahres-
tag des ANC, „dass wir großen Wert auf die Involvierung
unserer Kader in allen Zentren der Macht legen‟. Und er
führt weiter aus: „Wir brauchen ihre Präsenz und Involvie-
rung ebenfalls sowohl in Schlüsselpositionen des Staates
als auch im Privatsektor. Und wir werden in dieser Hinsicht
auch weiterhin Cadre Deployment betreiben.‟37 Der Begriff
bezeichnet die strategische Personalpolitik der Partei.

35 | Vgl. Matuma Letsola, „Nationalisation row grinds on‟, Mail &


Guardian, 26.11.-02.12.2010.
36 | „ANC 99th Anniversary speech by Jacob Zuma‟, Fn. 15, 2.
37 | „ANC 99th Anniversary speech by Jacob Zuma‟, Fn. 15, 7;
http://www.anc.org.za/show.php?include=docs/pol/2007/
strategy_tactics.html&ID=2535 [02.02.2011].
84 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Generalsekretär Gwede Mantashe erklärte im Zusammen-


hang mit dem erzwungenen Rücktritt von Thabo Mbeki als
Staatspräsident, dass der ANC seine Civil Servants einsetzt
und nach dessen Entscheidung auch entlasse.38

In der Praxis bedeutet das, dass praktisch in allen Funkti-


onen, vor allem aber im Öffentlichen Dienst und den mäch-
tigen Parastatels, aber auch im Bereich der Justiz, CSO
und sonstigen öffentlichen Bereichen, vom ANC einge-
setzte Kader sitzen. Fragwürdig ist, ob bei dieser Vielzahl
an Kadern, die in diese Positionen gelangen, die entspre-
chenden Qualifikationsvoraussetzungen vorhanden sind.
Die Praxis zeigt, dass andere Kriterien wie Verdienste im
Befreiungskampf, Zugehörigkeit zu bestimmten Parteiflü-
geln und Klientelismus häufig ausschlaggebend sind. Das
führt zu einer mangelhaften Verwaltung insbesondere auf
den beiden nachrangigen Politikebenen, den Provinzen und
Kommunen. Extensive Korruption und Patronage sind die
unausweichliche Folge. Für Begünstigung bei der Vergabe
öffentlicher Aufträge (tenders), vor allem bei
Eine Folge der „Cadre-Deployment- Infrastrukturinvestitionen, kreierte man in
Policy‟ des ANC ist die Machtansamm- Südafrika den Ausdruck „Tenderpreneur‟.
lung in Händen weniger Funktionäre.

Eine weitere Folge der Cadre-Deployment-Policy des ANC


ist die Machtansammlung in Händen weniger Funktionäre
an der Spitze der Partei, da der ANC dem Prinzip des „Demo-
kratischen Zentralismus‟ verpflichtet ist, wie Zuma aus-
führte.

Eine effiziente und nicht politisierte Verwaltung ist eine der


Grundvoraussetzungen für das Funktionieren einer Sozi-
alen Marktwirtschaft. Die asiatischen Erfahrungen belegen
eindeutig, dass dies auch eine unabdingbare Vorausset-
zung für das Wirtschaftsmodell des Developmental State
ist. Allgemeiner formuliert The Economist 1999, kein Land
sei in der Lage, sich zu entwickeln, ohne „eine unabhängige
Beamtenklasse‟, die sich selbst von ihren politischen, ethni-
schen oder anderen Loyalitätsverpflichtungen freimacht.39

38 | Vgl. Werner Böhler, Julia Weber, „Südafrika nach den Wahlen‟,


KAS-Auslandsinformationen 4/2009, 38 ff.
39 | Zitiert nach Anthea, 2010, Affirmation Action and Black
Economic Empowerment in South Africa, 13; Working Paper
für die internationale Fachkonferenz der Konrad-Adenauer-
Stiftung „Targeting Horizontal Inequality. Affirmative Action,
Identity and Conflict‟ in Kuala Lumpur, Malaysia, 11/2010.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 85

Der ANC beachtet die Verfassungsvorgabe in Section


197 nur insoweit, als der öffentliche Dienst mehr reprä-
sentativ in Bezug auf die Bevölkerung sein sollte. Er lässt
jedoch außer Acht, dass er nach demselben Artikel auch
effizient und politisch unabhängig sein muss.40 Minister
Ebrahim Patel teilt Bedenken hinsichtlich der Kapazitäten
der staatlichen Bürokratie, wenn schreibt, es fehle an einer
Bürokratie, die fähig ist, die Planziele des NGP zu imple-
mentieren.41

Da aus ideologischen Gründen vom Cadre Deployment


nicht abgerückt werden kann, hat die ANC-Regierung zwei
Reformvorhaben auf den Weg gebracht: Die Überprüfung
der Rolle, Anzahl und Grenzen der Provinzen und die Single
Public Service Bill. Beide Vorhaben führen zwangsläufig zu
mehr Machtkonzentration bei der nationalen Exekutive. Die
Veränderung der Provinzgrenzen oder deren Zusammen-
legung höhlt nicht nur das in der Verfassung verankerte
Three-Sphere-System aus, sondern würde auch die poli-
tisch ungeliebte Oppositionsregierung der DA
am Westkap beseitigen und eine langjährige Die Umsetzung der Single Public Service
strukturelle Mehrheit für den ANC schaffen. Bill würde der nationalen Regierung die
Möglichkeit geben, ihre Kader nach Be-
Die Umsetzung der Single Public Service lieben auf allen Politikebenen umzuset-
Bill würde hingegen der nationalen Regie- zen.
rung die Möglichkeit geben, ihre Kader nach
Belieben auf allen Politikebenen umzusetzen. Unliebsame
öffentlich Bedienstete könnten auf diesem Weg willkürlich
umgesetzt werden, selbst in oppositionsregierte Provinzen
und Kommunen.

PARASTATALS

Die Anzahl der Staatsunternehmen in Südafrika wird auf


300 geschätzt, soll jedoch auf 80 strategische Einheiten
reduziert werden.42 Diese reichen von Escom (Energiever-
sorgung), Acsa (Flughafenbetreiber), PetroSA, Rand Water
bis zu South African Tourism, Telcom und Transnet.43 Privati-
sierungen, wie sie in der ersten Dekade des demokratischen

40 | Vgl. The Constitution of the Republic of South Africa, 1996,


Section 197, Public Service.
41 | Vgl. Ebrahim Patel, „New Growth Path: An attemt to provoke
a long-overdue conversation‟, Business Day, 03.12.2010.
42 | Vgl. Mandy Mossouw, Lynley Donnely, „ANC ponders greater
role in parastatals‟, Mail & Guardian, 10.-16.12.2010.
43 | http://www.afribiz.info/content/parastatals-and-government-
structures-of-south-africa [02.02.2011].
86 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Südafrika diskutiert wurden, schließt der ANC ­inzwischen


aus. Vielmehr werden die Staatseigenen Betriebe (SOE) als
strategisches Instrument in Händen des Staates angesehen44
und sollen nach dem NGP u.a. zum Abbau der Arbeitslosig-
keit, zur Ausbildung Jugendlicher und zur Modernisierung
der Infrastruktur beitragen. Allerdings erfüllen die Paras­
tatals diese Aufgabe weitgehend nicht. Der Hauptgrund ist
erneut in der Cadre-Deployment-Policy und der politischen
Einflussnahme des ANC zu sehen. Häufige Wechsel auf
Leitungsebene der Staatsunternehmen, verbunden mit
hohen Abfindungszahlungen (Golden Hand-
Um das Missmanagement abzustellen, shake), sind die Folge.45 Die vom ANC
beabsichtigte die Ministerin für Öffent- gefürchteten Dienstleistungs-Proteste brin-
liche Unternehmen, den Parastatals ein
unabhängiges Management zu ermög- gen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit
lichen. 2010 wurde sie daraufhin ab- der Basisversorgung von Strom, Trinkwasser
gelöst.
und Wohnungen zum Ausdruck.

Um das verbreitete Missmanagement abzustellen, beab-


sichtigte die Ministerin für Öffentliche Unternehmen,
Barbara Hogan, den Parastatals ein unabhängiges Manage-
ment zu ermöglichen. Bei der Kabinettsumbildung im
Oktober 2010 wurde sie daraufhin abgelöst. Stattdessen
beabsichtigt der ANC, die SOE den Weisungen der ANC-
Regierung zu unterwerfen, und folgt damit dem chinesi-
schen Modell.46

Die Parastatals dienen jedoch auch der Machtsicherung


des ANC, indem sie zur Parteifinanzierung herangezogen
werden.47 Der ANC hat ein eigenes Fundraising-Unter-
nehmen, die Chancellor House Holding (CHH). Diese ist
mit 25 Prozent an Hitachi Power Africa Holdings beteiligt,
die einen Auftrag über mehrere Millionen Rand von Escom
erhielt. Indirekt finanziert sich damit der ANC über das
Staatsunternehmen. Der viel zitierte Kommentar dazu vom

44 | Vgl. Brendan Boyle, „The Big Bang – New unit mooted to take
control of 13 parastatals wit hthe president in charge‟, Sunday
Times – Business Times, 22.03.2009, 1.
45 | Vgl. Brendan Peacock, „Fat-cat parastatal boses come and go
but the get the cream‟, Sunday Times –Business Times,
02.12.2010, 1.
46 | Vgl. Mandy Rossouw, „ANC ponders Chinese Policy‟, Mail &
Guardian, 26.01.-02.02.2011, 39.
47 | Vgl. Zwelethu Jolobe, 2010, „Financing the ANC: Chancellor
House, Eskom and the dilemmas of party finance reform‟, in:
Anthony Butler (Hrsg.), Paying for Politics – Party Funding and
Political Change in South Africa and the Global South, Konrad-
Adenauer-Stiftung, 2010, 201-217.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 87

Generalsekretär von COSATU, Zwelinzima Vavi: „Gott helfe


uns allen.‟48 Und das ist nur ein Einzelbeispiel. Sowohl beim
NGC als auch beim Parteitag des ANC zum 99-jährigen
Bestehen gab es am Vorabend ein Galadinner. Unternehmen
konnten sich am Tisch von Präsident Zuma für 500.000
Rand oder am Tisch von Ministern für bis zu 300.000 Rand
einkaufen.49 Vertreten sind hier vor allem die Parastatals
und BEE-Unternehmen. Mit dem Parteitag wurde die neue
Parteizentrale des ANC in der Provinz Limpopo, eine der
ärmsten Provinzen Südafrikas, eingeweiht. Die Kosten für
das Frans Hohlala House, das von Lokalpolitikern nach dem
Originalgebäude in Johannesburg scherzhaft auch Luthuli
House II genannt wird, beliefen sich auf 40 Millionen Rand.
Den ANC kostete die neue Parteizentrale nach Aussage der
Provinzvorsitzenden, Cassel Mathale, nichts.50

AFFIRMATIVE ACTION UND BLACK


ECONOMIC EMPOWERMENT

Führende ANC-Politiker bestätigten bereits im Jahr 2007,


dass das Black Economic Empowerment (BEE) gescheitert
ist. Der ehemalige Minister für Public Enterprises, Alec
Erwin, erklärte im Juli 2007 vor dem South
African Business Club in London, dass eine Der heutige Vize-Präsident des Landes,
positive Diskriminierung vormals Benachtei- Kaglema Motlanthe, sagte im Januar
2007, das BEE habe die Korruption auf
ligter nicht mehr zu rechtfertigen und daher allen Ebenen der Regierung beflügelt.
diese Politik der affirmative action geschei-
tert sei.51 Der damalige Generalsekretär des ANC und
heutige Vize-Präsident des Landes, Kaglema Motlanthe,
sagte im Januar 2007, das BEE habe die Korruption auf
allen Ebenen der Regierung beflügelt.52 Moeletsi Mbeki,
Unternehmer und Bruder von Thabo Mbeki, drückt seine
Kritik drastisch aus, wenn er meint, das BEE „erweist dem
schwarzen Unternehmertum einen Bärendienst, indem
es aus den ANC-Politikern eine kleine Schicht unproduk-
tiver, aber reicher, miteinander verbandelter Kapitalisten

48 | Vgl. Janet Smith, „Beacon, compass, watchdog‟, The Star,


03.12.2010, 17.
49 | Vgl. Werner Böhler, „Der ANC wird 100 – und ist auf der
Suche nach seiner Idendität‟, Länderbericht, 27.09.2010,
http://kas.de/wf/doc/kas_20608-1522-1-30.pdf [02.02.2011].
50 | Vgl. Mandy Rossouw, „Checkbook Politics‟, Mail & Guardian,
14.-20.01.2011, 8.
51 | Zitiert nach Anthea, 2010, Fn. 39, 24.
52 | Vgl. Anthea, 2010, Fn. 39, 75.
88 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

macht.‟53 Im NGP führt Minister Ebrahim Patel dazu aus:


„Die Regierung hat sich die Haltung zu eigen gemacht,
dass das Black Economic Empowerment bestrebt sein
sollte, alle historisch benachteiligten Menschen mit Macht
auszustatten und nicht nur eine kleine Gruppe schwarzer
Investoren. Die laufenden BEE-Zuwendungen haben es
dagegen in mancherlei Hinsicht nicht vermocht, einen
breit gestützten Ansatz zu sichern.‟54 Für die Umsetzung
von BEE wurde 2003 der Broad Based Black Economic
Empowerment Act (BBBEE) verabschiedet, der jedoch erst
im August 2008 in Kraft gesetzt wurde.55 Damit wurden
die zuvor bestehenden sektoralen Chartas vereinheitlicht.
Integraler Bestandteil des BEE-Gesetzes ist ein komplexes
„Score Card System‟, das sieben Elemente basierend auf
Codes umfasst, mit denen der „Empowerment Progress‟
der Unternehmen gemessen werden kann. Diese sind:

▪▪Direkte Machtausstattung durch Besitz und Kontrolle von


Unternehmen und Vermögenswerten;
▪▪Management auf Führungsebene;
▪▪Entwicklung von Humanressourcen und gerechter
Beschäftigung;
▪▪Indirekte Machtausstattung durch Vorzugsbeschaffung,
Unternehmensentwicklung und Corporate Social Respon-
sibility (eine noch ausstehende Kategorie mit offenem
Ausgang).56

Zu den einzelnen Codes gibt es Zielvorgaben, die nach


fünf bis zehn Jahren erreicht sein müssen. Kontrolliert
wird deren Einhaltung durch akkreditierte Agenturen. Das
eigentliche Problem liegt jedoch nicht in der mangelnden
Bereitschaft bei den Unternehmen, die BEE-Auflagen umzu-
setzen. Von 1.500 befragten Unternehmen führten bereits
84 Prozent Affirmative Action-Maßnahmen während der

53 | Vgl. Moeletsi Mbeki, „Ripe for the plunder‟, The Citizen,


21.09.2009, siehe auch ders. 2009, „Architects of Poverty –
Why African’s Capitalism needs changing‟, Pan Macmillan
South Africa.
54 | http://www.info.gov.za/view/DownloadFileAction?id=135748,
21, [02.02.2011]; siehe auch Jana Marais, „The Billionaires
are back‟, Sunday Times – Business Times, 1 und 3.
55 | http://www.info.gov.za/view/DownloadFileAction?id=68031
[02.02.2011].
56 | http://www.southafrica.info/business/trends/empowerment/
bee.htm [02.02.2011]; vgl. ausführlich zu den Codes:
Anthea, 2010, Fn. 39, 38-57.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 89

Transitionsphase bis 1995 ein, wie der seit 1946 jährlich


durchgeführte South Africa Survey des South African Insti-
tute of Race Relations (SAIRR) belegt.57 Das schließt auch
die Beteiligung am Unternehmen und leitende Manage-
mentfunktionen für Schwarze ein. Der eigentliche Engpass
besteht jedoch in der Knappheit von Black People58, die
über eine entsprechende Ausbildung und Eignung für
Senior-Positionen verfügen. Für Anteilbesitz oder Eigentü­
merschaft ist zusätzlich Führungserfahrung erforderlich.

Die jüngste Umfrage vom September 2009, durchgeführt


von P-E Corporate Services, stellt signifikante Steige-
rungen des Anteils von schwarzen Managern
im Bereich der Senior-Positionen und dem 2009 waren 25 Prozent schwarze
mittleren Management fest. Demnach waren Manager in leitenden Funktionen von
Unternehmen tätig, und 28 Prozent
25 Prozent schwarze Manager im leitenden im mittleren Management. 1994 lagen
Management von Unternehmen tätig, und die Werte bei fünf und sieben Prozent.
28 Prozent im mittleren Management. 1994
lagen diese Werte bei fünf und sieben Prozent.59 Lawrence
Schlemmer kommt in seinen Berechnungen auf einen
vergleichbaren Anstieg bei der Herausbildung einer Black
Middle Class. Er folgert jedoch, dass diese Wachstums-
raten wegen des mittelmäßigen Bildungssystems nicht
weiter fortgesetzt werden können.60 Zahlen belegen die
steil ansteigende Nachfrage nach qualifizierten Managern
über die nächsten Jahre. Bereits 1998 wurde ein zusätzli-
cher Bedarf von bis zu 500.000 Managern für die mittlere
und leitende Ebene festgestellt. Bei einem Wachstum von
zwei bis drei Prozent pro Jahr werden in den nächsten 15
Jahren zusätzliche 750.000 Manager und Fachleute benö-
tigt. Diese Zahl steigt auf 1,25 Millionen bei einer Wachs-
tumsrate von fünf bis sechs Prozent.61

Trotz hoher Arbeitslosigkeit stehen den Unternehmen am


Arbeitsmarkt ausgebildete Facharbeitskräfte und Manager
nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Dennoch
müssen sie die BEE-Auflagen umsetzen, wenn sie an öffent-
lichen Aufträgen teilhaben wollen oder auf Lizenzen oder

57 | Vgl. Anthea, 2010, Fn. 39, 20-24.


58 | In Broad-Based Black Economnic Empowerment Act wird in
Sektion 1 festgelegt: „‚black people‛ is a generic term which
means Africans, Coloureds and Indians‟, vgl. Fn. 55.
59 | Vgl. Anthea, 2010, Fn. 39, 20-24.
60 | Ebd., 69-70.
61 | Ebd., 48-49.
90 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Genehmigungen angewiesen sind. Der jüngste South


Africa Survey des SAIRR belegt, dass selbst die Paras­tatals
die Quoten nicht einhalten können und deren Beschäftig-
tenstruktur nicht der Gesamtverteilung der Bevölkerung
entspricht. Zurückgeführt wird dies auf den Mangel an
qualifizierten Arbeitskräften, und das anteilig in jeder
Bevölkerungsgruppe. Der Leiter des Projekts, Marius Roodt,
bestätigt das in der Presseerklä­rung vom 26. Januar 2011:
„Dies ist eine Reflektion über den bedrückenden Mangel
an Fachkräften im Land. Firmen und Parastatals müssen
ausgebildete Fachkräfte einstellen, unabhängig von ihrer
Hautfarbe.‟62 Auch internationale Firmen unterliegen die-
sen Auflagen. Stellen sie aufgrund der Limitierungen am
Arbeitsmarkt und restriktiver Einwanderungs- oder Aufent-
haltsregelungen eine unüberwindliche Hürde dar, kann
dies auf Standort- und Investitionsentscheidungen Einfluss
haben.

DEFIZITÄRES BILDUNGSSYSTEM

Mit 165 Milliarden Rand war der Bildungsetat die größte


Einzelposition im Nationalen Haushalt 2010. Das entspricht
einem Anteil von knapp 18 Prozent. Südafrika
Südafrika gibt mehr für Bildung aus gibt damit mehr für Bildung aus als vergleich-
als vergleichbare Länder, liegt aber in bare Länder, liegt aber in Vergleichstests der
Vergleichstests zu den Bildungsergeb-
nissen regelmäßig am unteren Ende. Bildungsergebnisse regelmäßig am unteren
Ende.63 Als großen Erfolg wertete die Minis-
terin für Grundbildung, Angie Motshekga, den Anstieg der
Pass Rate bei den Examen zum National Senior Certificate
(NSC) von 60,6 Prozent im Jahr 2009 auf 67,8 Prozent
2010, was einem Zuwachs von 7,2 Prozent entspricht.
Die höchste Quote wurde mit 73,3 Prozent im Jahr 2003
erreicht.

Differenziert betrachtet ergibt sich jedoch ein anderes Bild.


Wurden früher zur Erreichung des Higher Grade 40 Prozent
der maximalen Punktzahl erwartet, liegen die Anforde-
rungen zum Bestehen des NSC nun in den einzelnen
Fächern bei 30 Prozent. Von 1,3 Millionen Schulanfängern

62 | South African Institute of Race Relations (SAIRR), Press


Release, „Parastatals not compliant with employment equity
demands‟, 26.01.2011 (Übers. d. Autors), http://sairr.org.za/
media/media-releases [02.02.2011].
63 | Vgl. Sue Blaine, „Key sufjects spark pride and concern‟,
Business Day, 07.01.2011.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 91

im Jahr 1999 schlossen 2010 lediglich 579.384 oder 44


Prozent mit dem NSC-Abschluss ab. Hinzu kommt, dass die
67,8 Prozent nur dann erreicht werden, wenn diejenigen
Schüler einbezogen werden, die tatsächlich die Examen
schrieben. Addiert man dazu die gut 100.000, die nicht zu
den Prüfungen antraten, und geht von dieser Basis aus,
liegt die Pass Rate bei nur 57 Prozent. Weiter gehenden
Einblick erhält man, wenn man nach privaten und staatli-
chen Schulen differenziert. Nach Zahlen des Unabhängigen
Prüfungsamtes (IEB) liegt die Pass Rate der Privatschulen
bei 98 Prozent. Es gibt durchaus auch staatliche Schulen,
die mit vergleichsweise wenig verfügbaren Mitteln sehr
gute Ergebnisse erzielten. Das bedeutet jedoch im
Umkehrschluss nur, dass andere staatliche Schulen deso-
late Ergebnisse vorzuweisen haben.

Differenziert nach Fächerkombinationen fällt auf, dass


Mathematik und Naturwissenschaften von weniger Kandi-
daten geschrieben wurden als in 2008. Gerade diese
Fähigkeiten werden jedoch dringend in der Wirtschaft
benötigt. Der NGP formuliert das Ziel, bis 2014 zusätzliche
30.000 Ingenieure auszubilden. Wie das bei dem niedrigen
Level der Pass Rate erreicht werden soll, sagt der Plan
nicht. 2009 bestanden lediglich 98.000 Abiturkandidaten
(Matric) die Physikprüfung mit mehr als 30 Prozent. Um an
naturwissenschaftlich ausgerichteten Universitäten aufge-
nommen zu werden, sind 40 Prozent erforderlich.

Auch 16 Jahre nach dem demokratischen Neubeginn stehen


die Bildungsergebnisse in keinem Verhältnis zu den einge-
setzten Finanzmitteln. Ministerin Angie Motshekga erklärte
im Januar 2011, es bedürfe zweier Jahrzehnte, um den
Rückstand im Bildungssystem aufzuholen.64
Schlechte Lehrerausbildung, Unterbezahlung Defizite im Schulmanagement, Korrup-
der Lehrkräfte, Probleme bei der Rekrutie­ tion durch „Cadre Deployment‟ sowie
unzureichende Ausstattung mit Lehr-
rung von Lehrern für Schulen auf dem Land, und Lernmitteln sind Ursachen schlech-
Defizite im Schulmanagement sowie verbrei- ter Bildungsergebnisse.
tet eine schlechte Schulinfrastruktur und un-
zureichende Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln sind
einige Ursachen. Korruption durch Cadre Deployment ist
eine weitere. Offensichtlich wurden die Qualitätsanforde-
rungen bei den letzten Matric-Examen „standardisiert‟. Der
Leiter der Qualitätssicherungsbehörde Umaluse, Professor

64 | Vgl. SA-Today, 06.12.2010, 3.


92 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Sizwe Mabizela, bestätigte in einem Interview mit der


Sunday Times, dass eine Veränderung bei den Leistungs-
anforderungen vorgenommen wurde. Er könne jedoch
keine weiteren Angaben dazu machen, da die Gefahr von
Missinterpretationen bestehe. Es handele sich um einen
„vertraulichen, aber keinen geheimen Vorgang‟.65

Lösungsansätze könnte eine im August 2010 veröffentlichte


Studie66 des CDE über Privatschulen mit Niedriggebühren
enthalten, wie sie in Ländern wie Indien, Chile und Ghana
als „Privatschulwesen für die Armen‟ eingeführt wurden.
In Südafrika, so belegt die Studie, wurden diese häufig von
Unternehmern gegründet oder mitfinanziert. Der tatsäch-
liche Anteil dieser Schulen in allen Provinzen beläuft sich
danach auf etwa 30 Prozent. Das Bildungsministerium gab
2008 die Zahl der Privatschulen mit 3,4 Prozent an. Eltern
nennen als Entscheidungsgründe vor allem bessere Resul-
tate bei Schulabschlüssen und besser ausgebildete sowie
motiviertere Lehrer, teilweise bei geringerer Bezahlung.
Es ist fraglich, ob die ANC-Regierung sich dieser Mög-
lichkeit eines gemischten Schulsystems öffnet oder ideo-
logische Gründe das verhindern. Alternativ müsste das
staatliche Schulsystem grundlegend refor-
Ohne eine verbesserte Schulausbildung miert werden, vor allem im Hinblick auf
werden die Universitäten ihr Qualitäts- die Lehrerausbildung und deren Motivation.
niveau ebenfalls nivellieren müssen.
Das hätte auch Auswirkungen auf die Dass das möglich ist, belegt das Beispiel der
internationale Wettbewerbsfähigkeit Masibambane High School in der Bloekombos
Südafrikas.
Community am Stadtrand von Kapstadt.67

Ohne eine verbesserte Schulausbildung werden die Univer-


sitäten ihr Qualitätsniveau ebenfalls nivellieren müssen.
Das hätte nicht nur Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
und die Beschäftigungssituation, sondern auch auf die
internationale Wettbewerbsfähigkeit Südafrikas, auch im
Vergleich zu anderen Wachstumsländern. Für Unternehmen
hätte das zur Konsequenz, dass sie die BEE-Auflagen nicht
erfüllen könnten. Multinationale Unternehmen könnten
Standortentscheidungen überdenken oder Investitionsent-
scheidungen revidieren.

65 | Vgl. Interview mit Chris Barron in Sunday Times,


16.01.2011, 7.
66 | Vgl. Ann Bernstein (Hrsg.), „Hidden Assets – South Africa’s
low-fee private schools‟, in: CDE in Depth, Nr. 10, 08/2010.
67 | Vgl. DA-Today, 24.01.2011.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 93

WEITERE ASPEKTE

Der NGP ist gekennzeichnet von einem generellen Miss-


trauen in die Allokationsfähigkeit des Marktes durch verant-
wortliche Entscheidungen unternehmerisch handelnder
Menschen. Deshalb hat der NGP zum Ziel, „Ersparnisse
und Investitionen in Richtung produktiver und infra-
struktureller Projekte umzuleiten, um Beschäftigung und
nachhaltiges Wachstum zu unterstützen‟.68
Außerdem sind im NGP viele Vorgaben und Eine Aussage zu partnerschaftlicher
Absichtserklärungen enthalten, über deren Kooperation mit dem Privatsektor ist
im NGP nicht zu finden. Auf die Koope-
konkrete Umsetzung und Erreichbarkeit im ration mit den Sozialpartnern ist die
vorgegebenen Zeitrahmen wenig ausgesagt Regierung jedoch bei der Umsetzung
angewiesen.
wird mit der Ausnahme, dass der Staat und
die Regierung dafür verantwortlich seien.
Eine Aussage zu partnerschaftlicher Kooperation mit dem
Privatsektor bei der Verfolgung der Zielsetzungen ist nicht
zu finden. Auf die Kooperation mit den Sozialpartnern ist
die Regierung jedoch bei der Umsetzung des NGP ange-
wiesen.69

Hinzu kommt, dass teilweise Zahlen in Verbindung mit


politisch-ideologischen Anschauungen des ANC festge-
legt werden, die keine erkennbare wirtschaftspolitische
Grundlage haben. Vorgeschlagen wird „ein breit gestützter
Entwicklungspakt für Löhne‟70, der von den Sozialpartnern
umgesetzt werden soll. Demnach sollen die Einkommen
von 3.000 bis 20.000 Rand monatlich in Höhe der Inflati-
onsrate steigen, zuzüglich einer maßvollen Lohnerhöhung.
Gehälter über 20.000 Rand sollen ebenfalls im Rahmen der
Inflationsrate steigen, ohne Lohnerhöhung. Gehälter von
„Vorstandsvorsitzenden und -mitgliedern‟ über 550.000
Rand im Jahr sollen auf diesem Niveau eingefroren werden.
Diese Formulierung scheint ein Indiz dafür, dass Beamte
(Public Servants) nicht gemeint sind. Nun ist es aber
gerade das Gehalt der Staatsbediensteten, die im Haus-
halt zu Buche schlagen. Allein die Erhöhung der Gehälter
im Jahr 2010 belastet das Budget mit 6,2 Milliarden Rand
zusätzlich.71 Üppige Bonus- und Gehaltszahlungen bei den

68 | Vgl. Fn. 10, 27.


69 | Vgl. Steven Friedman, „New Growth Path success needs ‚new
politics‛‟, Business Day, 26.01.2011, 9.
70 | Vgl. Fn. 10.
71 | Vgl. Annabel Bishop, „Civil servants wages eat into ability to
build crucial capacity‟, The Star – Business Report, 25.
94 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Parastatals sind ebenfalls kein Vorbild für das, was im


NGP von den Sozialpartnern verlangt wird. Die Kappung
von Gehältern in Höhe von etwa 45.000 Rand im Monat
bekommt zusätzlich einen üblen Beigeschmack, wenn der
Minister selbst 1,5 Millionen Rand im Jahr verdient und
Jacob Zuma darauf eine Gehaltserhöhung für seine Kabi-
nettsmitglieder in Höhe von fünf Prozent genehmigt hat.
Ebenso ist es fragwürdig, warum das Kabinetts-Treffen
vom 16. bis 20. Januar 2011 in einem luxuriösen Golf- und
Safari Resort in der Provinz Limpopo stattfand und nicht
in den Regierungsgebäuden in Pretoria. Die geschätzten
Kosten belaufen sich auf 15 Millionen Rand, mit denen die
Staatskasse belastet wird.72

Die Regierung verpflichtet sich gemäß NGP im Rahmen


des „Pakts‟ dazu, die Sozialtransfers an arme Gemein-
wesen und benachteiligte Beschäftigte zu sichern. Wie
dieses weitgehende Versprechen eingelöst werden soll,
wird nicht gesagt. Bereits jetzt erhalten etwa 14 Millionen
Menschen Sozialtransfers. Deren Zahl wird bis 2013 auf ca.
18 Millionen steigen. Demgegenüber stehen lediglich 5,5
Millionen, die 95 Prozent des Einkommen-
Die Steuerzahlerbasis ist zu gering, um steueraufkommens tragen. Hinzu kommen
die wachsenden Sozialtransfers sowie die Unternehmenssteuern von etwa 2.000
den ausufernden öffentlichen Dienst
dauerhaft zu finanzieren. Die Belas- Unternehmen. Diese Steuerzahlerbasis ist zu
tungsgrenze ist weitgehend erreicht. gering, um die wachsenden Sozialtransfers
sowie den ausufernden öffentlichen Dienst
dauerhaft zu finanzieren. Die Belastungsgrenze ist jedoch
weitgehend erreicht, so dass nur eine Vergrößerung der
Anzahl der Steuerzahler das Dilemma lösen kann.73

Unabhängig von der Nationalisierungsdebatte in der Drei-


parteienallianz kündigt der NGP die Etablierung einer
staatseigenen Minengesellschaft und einer staatseigenen
Bank an. Allerdings bleibt der NGP die Antwort schuldig,
weshalb diese neuen Unternehmen in Staatshand besser
gemanagt sein sollen als die bestehenden Parastatals. Viele
von ihnen, wie der Stromversorger Escom, die staatliche
Fluglinie SAA oder der staatliche Rundfunksender SABC,

72 | Vgl. Mandy Rossouw, „Luxury lekgotla irks officials‟, Mail &


Guardian, 21.-27.01.2011, 2.
73 | Vgl. Annabel Bishop, Fn. 71; National Treasury and South
African Revenue Service (Hrsg.), Tax-Statistics 2009, 14.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 95

benötigen regelmäßig Finanzspritzen aus dem natio­na­-


len Haushalt. Hinzu kommt eine Fluktuation an der
Spitze dieser Staatskonzerne, die entweder in politischer
Einflussnahme oder Unfähigkeit der Unternehmensführung
begründet ist. „Es ging nur um den Staat‟, kommentierte
der Business Day die Rede von Jacob Zuma auf dem
Parteitag des ANC am 8. Januar 2011. Das trifft nicht
minder auf den NGP zu.

AUSBLICK

Die Wirtschaftsleistung Südafrikas entwickelte sich in den


zurückliegenden beiden Jahrzehnten seit dem demokrati-
schen Neubeginn, mit Ausnahme des Krisenjahres 2009,
positiv, wenngleich auf niedrigem Niveau. In
den neunziger Jahren lag die Wachstums- Südafrika bleibt deutlich hinter ande-
rate bei moderaten zwei bis drei Prozent. Im ren „Emerging Countries‟ zurück. Das
Potential des Landes wird aufgrund
Kontext der positiven weltwirtschaftlichen falscher politischer Weichenstellungen
Entwicklung konnte sie in der letzten Dekade nicht ausgeschöpft.
auf vier bis 5,5 Prozent gesteigert werden.
Damit bleibt Südafrika jedoch deutlich hinter anderen
Emerging Countries wie Brasilien, Indien, Indonesien
oder Vietnam zurück. Das Potential des Landes, das über
bedeutende Rohstoffvorkommen verfügt, ein erstrangiges
Touristenziel ist und eine relativ gut entwickelte Infra-
struktur hat, wird aufgrund falscher politischer Weichen-
stellungen nicht ausgeschöpft.

Die demokratischen Rahmenbedingungen haben sich seit


der verhandelten Transition negativ verändert. Als domi-
nante Regierungspartei scheint der ANC bestrebt, seine
Machtposition dauerhaft oder zumindest längerfristig
abzusichern. Dazu zählen das ausschließlich proportio-
nale Wahlrecht mit geschlossenen Parteilisten und die
Parteienfinanzierung ebenso wie die zunehmende Zent-
ralisierung und Machtkonzentration bei der nationalen
Exekutive durch die Schwächung der nachrangigen Poli-
tikebenen, Eingriffe in die Justiz wie bei der Zusammen-
setzung der Judicial Service Commission, die Auflösung
der Spezialeinheit zur Bekämpfung von Korruption im
öffentlichen Bereich (Scorpions), die Ausschaltung der
Nationalen Staatsanwaltschaft (NPA) oder die beabsich-
tigte Beschränkung der Medien durch das Medien-Tribunal
und die Protection of Information Bill. Der entscheidende
96 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Faktor ist jedoch die Vermischung von Staat und Partei und
hier vor allem das Cadre-Deployment-System, mit fatalen
Konsequenzen für die Unabhängigkeit und Effizienz der
staatlichen Verwaltung. Entsprechend verschlechterte sich
sowohl die Qualität der Demokratie in Südafrika, vor allem
seit 2007, als auch die Wettbewerbsfähigkeit des Landes,
wie der Bertelsmann Transformation Index (BTI) und der
Global Competitiveness Index des Weltwirtschaftsforums
(WEF) 2008/2009 im Vergleich zu 2010/2011 belegen.74

Spätestens seit 2007 definiert der ANC Südafrika als Deve-


lopmental State mit einer Developmental Economy. Unab-
hängig davon, ob es sich dabei um das klas-
Eine autonome und effiziente staatliche sische Developmental State-Konzept aus den
Bürokratie, die es in Südafrika nicht asiatischen Ländern oder das in Botswana
(mehr) gibt, ist Grundvoraussetzung
für das Funktionieren eines „Develop- und Mauritius praktizierte Democratic Deve-
mental State‟-Konzepts. lopmental-Modell handeln soll, ist eine auto-
nome und effiziente staatliche Bürokratie, die es in Südaf-
rika nicht (mehr) gibt, Grundvoraussetzung für dessen
Funktionieren. Edigheji definiert den Democratic Deve-
lopmental State als einen Staat, „der breit gestützte Alli-
anzen mit der Gesellschaft schmiedet und die Teilhabe des
Volkes an den Regierungs- und Transformationsprozessen
sicherstellt‟.75 Auch dieses Kriterium ist in Südafrika nicht
erfüllt, da sich der ANC zum demokratischen Zentralismus
bekennt und die „Internen Debatten‟ innerhalb der Partei
und im Rahmen der Broad Church stattfinden. Initiati-
ven der Opposition und der (unabhängigen) Zivilgesell-
schaft werden hingegen ignoriert. Ob ein Developmental
State-Konzept in Südafrika funktionieren kann, sei dahin
gestellt. Die selbst gesetzten Realitäten werden die ANC-
Regierung immer wieder dazu zwingen, die interventio-
nistischen Eingriffe in die Wirtschaft fortzusetzen, solange
keine grundlegend anderen Weichenstellungen getroffen
werden. Das würde jedoch eine völlige Umschreibung der
Programmatik des ANC und dessen Allianzpartner COSATU
und SACP voraussetzen.

74 | Bertelsmann Stiftung, Transformation Index 2010, Gütersloh


2009, http://bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/
pdf/Anlagen_BTI_2010/BTI_2010__Rankingtabelle_D_web.pdf
[02.02.2011]; World Economic Forum, The Global Competitive-
ness Report 2010-2011, Genf 2010, http://www3.weforum.
org/docs/WEF_GlobalCompetitivenessReport_2010-11.pdf
[02.02.2011]; World Economic Forum, The Global Competitive-
ness Report 2008-2009, Genf 2008, https://members.weforum.
org/pdf/GCR08/GCR08.pdf [02.02.2011].
75 | Zitiert nach Meyns, Charity Musamba, 2010, Fn. 9, 40.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 97

Die tagespolitischen Interventionen, denen aufgrund


der Komplexität der Wirtschaftsprozesse immer weitere
Interventionen folgen müssen, übersteigen bei weitem
die Steuerungskapazität der Regierung und der Adminis-
tration. Widersprüchliche staatliche Pläne und ideologi-
sche Einflüsse verunsichern überdies die Privatwirtschaft
und schrecken internationale Investoren ab. Andererseits
bedarf das südafrikanische Wirtschaftssystem dringend
einer klaren Vorgabe, da der hohe Sockel von über 40
Prozent Arbeitslosen ein enormes Unruhepotential darstellt.
Unzufriedenheit über mangelnde Sozialleistungen (Service
Delivery) und der verbreitete Klientelismus führten in der
Vergangenheit bereits zu heftigen Straßenprotesten in
Townships, die sich vor der anstehenden Kommunalwahl
im Mai 2011 verstärken könnten. Zusätzlicher Migrations-
druck hatte bekanntlich die fremdenfeindlichen Ausbrüche
im Mai 2008 zur Folge.

Um einen Abbau der Arbeitslosigkeit zu erreichen, sind


jedoch Wachstumsraten des BIP erforderlich, die über
sechs Prozent liegen. Die Erreichung dieses Ziels setzt ein
wirtschaftsfreundliches Klima und Vertrauen in die Wirt-
schaft voraus. Klare Rahmenbedingungen und ein verläss-
licher Rechtsstaat sind unabdingbar. Hinzu kommen muss
eine aktive Mittelstandspolitik mit dem Ziel,
die Wirtschaft zu diversifizieren. Die Verar- Eine Abkehr vom staatsinterventionis-
beitung und Veredelung der Rohstoffe würde tischen Marktwirtschaftsmodell und
eine Hinwendung zu einer Ordnungs-
zu einem Mehrwert und höheren Einnahmen politik der Sozialen Marktwirtschaft
aus den Exporten führen und zusätzliche sind geboten.
Manufaktur-Arbeitsplätze schaffen. Zusätz-
liche Arbeitsplätze würden in Großunternehmen in der
verarbeitenden Industrie und einem produktiven Mittel-
stand entstehen. Und obendrein würden junge Menschen
ausgebildet. Mehr Menschen in Arbeit verbreitern die
Einnahmensbasis des Staates und führen zu einem
höheren Steueraufkommen, das für den Ausbau und die
Modernisierung der Infrastruktur sowie die Etablierung
eines transparenten Sozialleistungssystems verwendet
werden kann. In Kurzform bedeutet das: Eine Abkehr vom
staatsinterventionistischen Marktwirtschaftsmodell und
eine Hinwendung zu einer Ordnungspolitik der Sozialen
Marktwirtschaft sind geboten.
98 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Ob der ANC in der Lage ist, seine Programmatik zu er-


neuern und den (starken) Staat auf die Festsetzung von
Rahmenbedingungen zurückzuführen, um der Wirtschaft
den notwendigen Gestaltungsraum zu geben, ist zweifel-
haft. In der Zivilgesellschaft ist eine Bereitschaft zu einer
Neuausrichtung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems
vorhanden. Das dritte Szenario der Dinokeng-Initiative
zeigt diesen Weg auf.

Der Artikel wurde am 1. Februar 2011 abgeschlossen.


3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 99

PAKISTAN NACH DER FLUT

Karl Fischer

Sechs Monate nach der größten Hochwasserkatastrophe


in der Geschichte Pakistans sind von den etwa 13 Milli-
onen Menschen, die ihre Häuser und all ihre Habe in den
Fluten des Indus und seiner Nebenflüsse verloren haben1,
noch schätzungs­weise sieben Millionen Betroffene nahezu
schutzlos und ohne ausreichende Lebensmittel der seit
Dezember herrschenden Winterkälte ausgesetzt. Es sind
vor allem jene Hundert­tau­sende Familien, die bereits in Dr. Karl Fischer war
ihre zerstörten Dörfer zurückgekehrt sind, weil sie die Botschafter in Pakis-
tan (1988 bis 1990),
unwürdigen Zustände in den überfüllten Zeltlagern nicht stellvertretender
mehr ertragen konnten oder weil sie aus den zu Not- Missionschef der
unterkünften umfunktionierten Schulen, Internaten und UN-Sondermission für
Afghanistan (UNSMA
Verwaltungsgebäuden ausge­wiesen wurden. Und da 2001) und Stabschef
sind auch noch jene Zehntausende Flut­opfer, denen die der UN-Hilfsorganisa-
Wasser­massen gar keine Fluchtmöglichkeit mehr gelassen tion in Afghanistan
(UNAMA 2002 bis
hatten. Erst Anfang Dezember machten zum Beispiel 2004). Seit 2004
Vertreter des Welternährungsprogramms in Kooperation wirkt er als Regional-
berater Südasien.
mit einer Einheit der pakistanischen Armee und einer
Nichtregierungs­organisation (NRO) im Distrikt Jamshoro in
der südpakistanischen Provinz Sindh elf total vom Wasser
eingeschlossene Dörfer ausfindig. Darin hausten 1.700
Familien mit etwa 11.900 Personen2 halb verhungert in den
Überresten ihrer Lehmhütten und hatten die Hoffnung auf
Hilfe schon aufgegeben.

Doch nicht nur in den Überschwemmungsgebieten, auch


in den Flüchtlingscamps, wo nach Regierungsangaben
noch knapp eine Million Menschen ausharren, herrscht seit
Wochen akuter Mangel am Lebensnotwendigsten, so dass
renommierte NROs wie ActionAid Pakistan den baldigen

1 | Tahir Ali, „Left in the Lurch‟, The News, 12.12.2010.


2 | Laut Schadensbemessung von Weltbank (WB) und Asian
Development Bank (ADB) haben rund 1,7 Millionen Familien
ihre Häuser verloren, zu einer pakistanischen Familie gehören
durchschnittlich acht bis zehn Personen.
100 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Ausbruch von regelrechten Hunger-Revolten befürchten.


Die UNO hatte schon Ende Oktober gewarnt, dass ihre
finanziellen Mittel nicht ausreichen würden, die Flutopfer
mit Lebensmitteln und Trinkwasser über den Winter zu
bringen, denn von den knapp zwei Milliarden US-Dollar an
Spenden-Zusagen der Geber-Länder hatte sie nur knapp
die Hälfte erhalten.

Angesichts der dramatischen Notlage von Millionen


Menschen ist es am allerwenigsten für die Betroffenen selbst
nachvollziehbar, dass die Nationale Desaster Management-
Behörde (NDMA)3 bereits Ende Dezember die Phase der
unmittelbaren Katastrophenhilfe für abge­
Die Visa aller in Pakistan tätigen aus- schlos­sen erklärte. Ausdrücklich wurden in
ländischen Hilfskräfte wurden zum 31. diesem Zusammenhang auch die Visa aller
Januar annulliert. Tatsächlich aber be-
nötigt das Land auch nach der Flut in Pakistan tätigen ausländischen Hilfskräfte
noch dringend die Unterstützung. zum 31. Januar annulliert. Tatsächlich aber
benötigt das Land auch nach der Flut noch
dringend die Unterstützung internationaler Experten, um
die in ihrem Ausmaß noch gar nicht abzusehende humani-
täre Krise zu bewältigen.

In seinem offiziellen Schreiben an den UN-Koordinator für


humanitäre Hilfe in Pakistan behauptet der NDMA-Gene-
raldirektor, General a.D. Nadeem Ahmed, die Situation
habe sich „sehr schnell stabilisiert‟, ausgenommen einige
wenige Regionen in den Provinzen Sindh und Balutschis-
tan, „wo das Wasser noch steht und die Leute nicht zu
ihren Häusern zurückgehen können‟.4 Demnach misst die
NDMA den Grad der Normalisierung der Lage ausschließ-
lich an der Zahl der heimgekehrten Flüchtlinge, ungeachtet
der Lebensumstände, die sie dort vorfinden, wo einmal ihr
Zuhause war.

Die International Crisis Group5 führt diese Ignoranz auf die


Tatsache zurück, dass die NDMA von ehemaligen hohen

3 | National Disaster Management Authority (NDMA), operativer


Arm der nach dem Erdbeben 2005 von der pakistanischen
Regierung geschaffenen National Disaster Management
Commission.
4 | Riaz Khan Daudzai, „Close relief operation by end January:
NDMA‟, The News, 31.12.2010, http://thenews.com.pk/
TodaysPrintDetail.aspx?ID=23093&Cat=2 [12.01.2011].
5 | Internationale Nichtregierungsorganisation, 1995 gegründet
mit dem Ziel, Konflikte zu analysieren und Lösungsvorschläge
zu erarbeiten.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 101

Offizieren dominiert ist, und zieht Parallelen zu der Art


und Weise, wie die Armee vor anderthalb Jahren nach
ihren Militäroperationen gegen die Taliban im nordpakis-
tanischen Swat-Tal und in den angrenzenden Stammes-
gebieten die aus der Kampf­zone geflohene
Bevölkerung zur schnellen Rückkehr in ihre Die Flutkatastrophe suchte zuerst aus-
zerbombten und zerschossenen Heimatorte gerechnet die kriegszerstörten Gegen-
den heim, in denen die Menschen
gezwungen und damit das Flüchtlingspro- gerade begonnen hatten, wieder ein
blem als „erfolgreich gelöst‟ angesehen hat. einigermaßen normales Leben zu füh-
ren.
Es ist eine Tragik für sich, dass die Flutka-
tastrophe zuerst ausgerechnet diese kriegs-
zerstörten Gegenden in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa
(vor­mals North West Frontier Province  – NWFP) und in
den Stammesgebieten (FATA)6 heimsuchte, in denen die
Menschen gerade begonnen hatten, trotz der latenten
Bedrohung durch den Taliban-Terror wieder ein einiger-
maßen normales Leben zu führen.

Die Mehrheit der Flutopfer war schon vor der Überschwem-


mung bettelarm, aber nun ist ihre Lage vollkommen
trostlos. Dem Land insgesamt geht es nicht anders. Es
gibt keinen essentiellen Bereich, der nicht schon vor der
Flut in großen Schwierigkeiten steckte. Aber nun hat das
nationale Desaster die mannigfaltigen Krisen  – die wirt-
schaftliche, die soziale, die politische, die Bildungs- und die
Sicherheitskrise – um ein Vielfaches verschärft. Ausländi-
sche Finanzhilfe allein wird die Probleme nicht lösen. Dazu
bedarf es auch gewaltiger eigener Anstrengungen des
Staates, einschließlich einiger gravierender wirtschaftlicher
und politischer Kurskorrekturen.

VERLUSTE UND SCHÄDEN

Das durch die NDMA dokumentierte Ausmaß der Flut-


schäden deutet die damit verbundenen menschlichen Tra-
gödien nur an, zumal die Verluste an Hausrat und persönli-
chen Gegen­ständen von den Schadensberechnungen nicht
erfasst wurden.

Bis Mitte Oktober waren durch die Überschwemmungen


1985 Tote und knapp 3000 Verletzte zu beklagen.
Außerdem registrierte die UN-Weltgesundheitsorganisation

6 | Federally Administered Tribal Agencies (FATA): Stammes-


gebiete unter Bundesverwaltung.
102 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

(WHO) bis Ende September bereits 99 Fälle von Cholera.


Es muss jedoch befürchtet werden, dass während des
Winters schwere Atemwegserkrankungen, Malaria, Durch-
fall- und Hauterkrankungen besonders unter den unterer-
nährten Kindern und älteren Menschen zahlreiche weitere
Opfer fordern werden. Die gesundheitliche Versorgung in
den Hochwassergebieten ist stark einge­schränkt, da die
Überschwemmungen 515 ständige medizinische Einrich-
tungen vollständig oder teilweise zerstört haben.7 Und wo
einzelne Hospitäler und Krankenstationen noch funktio-
nieren, versperren eingestürzte Brücken und verschüttete
Straßen den Zugang. Noch am 9. Dezember berichtete das
Bulletin der Vereinten Nationen zur humani­tären Lage im
Hochwassergebiet, dass die mit 1.938.207.510 US-Dollar
bezifferte Summe für die unmittelbare Nothilfe erst zu 50
Prozent finanziert ist.8

Besonders schlecht sieht es für die Realisie­rung von


Bildungsprojekten (zu neun Prozent finanziert), für Unter­
künfte (20 Prozent), Wasserversorgung und
Allein im ohnehin chronisch unterver- Hygiene (29 Prozent) wie auch für die medi-
sorgten Bildungssektor sind die Schä- zinische Versor­gung (35 Prozent) aus. Allein
den immens: Über 10.000 Schulen sind
zerstört oder beschädigt. im ohnehin chronisch unterversorgten Bil-
dungssektor sind die Schäden immens: Über
10.000 Schulen sind zerstört oder beschädigt, wie auch 23
höhere Lehr­an­stalten und 21 Einrichtungen für Berufsaus-
bildung.9 Da Hunderte Bildungseinrichtungen weit über die
Sommerferien hinaus als Notunterkünfte dienen mussten
und, nachdem die Flüchtlinge sie verlassen haben, erst
einmal gründlich saniert und gereinigt werden müssen,
werden allein im Distrikt Hyderabad in der Provinz Sindh
mindestens 17.000 Schüler und Studenten ein ganzes
Ausbildungsjahr verlieren.10

7 | ADB und WB, „Pakistan Floods 2010, Damage and Needs


Assessment‟, Analyse unterbreitet auf dem Pakistan
Development Forum (PDF), Islamabad, 14./15.11.2010,
Abschnitt „Health‟.
8 | OCHA, Pakistan Humanitarian Bulletin, Nr. 9, Islamabad,
09.12.2010.
9 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Education‟.
10 | „17.000 students may face loss of academic year‟, The News,
16.10.2010.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 103

VERNICHTETE EXISTENZEN UND


VERSORGUNGSENGPÄSSE

Die katastrophalen Folgen der Überschwemmungen für


die Existenzgrundlagen im ländlichen Pakistan und für die
Versorgung Pakistans mit Produkten der Landwirtschaft
werden darin deutlich, dass 19.000 Dörfer mit 1.750.000
Häusern weggespült wurden. 2.244.644 Hektar landwirt-
schaftliche Anbaufläche gingen verloren, die Ernte wurde
vernichtet. Und niemand weiß, wann auf den verwüsteten
Feldern und Plantagen wieder gepflanzt oder gesät werden
kann. In den Fluten ertranken zudem – nach einer ersten
Übersicht vom 14. November11  – über 300.000 Kamele,
Wasserbüffel, Rinder, Pferde und Esel, etwa eine Million
Schafe und Ziegen sowie über zehn Millionen Stück
Geflügel. Sie fehlen jetzt den Heimkehrenden
als Nahrung und Erwerbsquellen. Zudem Verbreitet sind Brunnen verseucht
geht der Leder verarbeitenden Industrie, die sowie Trinkwasseranlagen und Abwas-
sersysteme zu Schaden gekommen.
nach der Textilindustrie den zweitgrößten Sie müssen dringend zumindest desin-
Anteil an Pakis­tans Exporterlösen erwirt- fiziert und repariert werden.
schaftet, ein erheblicher Teil ihrer Rohstoff-
basis verloren. Verbreitet sind Brunnen verseucht sowie
Trinkwasseranlagen und Abwassersysteme zu Schaden
gekommen. Sie müssen dringend mit einem Aufwand von
etwa 93,9 Millionen US-Dollar zumindest desinfiziert und
repariert werden,12 um Menschen und Vieh mit sauberem
Trinkwasser versorgen zu können und die Verbreitung von
Krank­heiten zu verhindern.

ZERSTÖRTE INFRASTRUKTUR

Das großflächig angelegte, aber überholungsbedürftige


Bewässerungssystem des Indus-Beckens (IBIS)13 ist das
größte zusammenhängende Bewässerungssystem der
Welt. In diesem Gebiet werden 90 Prozent der landwirt­
schaft­lichen Produktion des Landes erbracht, und 54 Pro-
zent der Arbeitskräfte Pakistans erwirtschaften hier 23 Pro-
zent des Brutto­sozialprodukts des Landes.14 Das Bewässe-
rungssystem umfasst drei große Dämme und Staubecken,

11 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Agriculture, Livestock and


Fisheries‟.
12 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Water and Sanitation‟.
13 | IBIS: Indus Basin Irrigation System.
14 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Irrigation & Flood Sector‟.
104 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

zahlreiche kleinere Dämme, Staustufen, Verbindungs-


kanäle zwischen den großen Flüssen, Kana­l­schleusen
sowie 50.000 Kilometer Kanäle.15 Die Schäden an diesem
System, das auf mehr als 18 Millionen Hektar landwirt-
schaftlicher Fläche vor allem Reis, Weizen, Mais, Zucker-
rohr, Baumwolle, Obst und Gemüse bewässert, werden mit
277,6 Millionen US-Dollar beziffert. Erste Kosten-Kalkula-
tionen für den Wiederauf­bau bewegen sich
Da die Instandsetzung an Staudäm- zwischen 427 und 982,3 Millionen US-Dollar.
men, Kanälen und Drainagesystemen Konkret handelt es sich um Schäden an 46
mindestens zwei bis drei Jahre dauern
wird, muss für diesen Zeitraum mit Staudämmen und Staustufen, um durchge-
erheblichen Ernteeinbußen gerechnet brochene Kanalwände an mehreren hundert
werden.
Stellen in allen Provinzen und an den gene-
rell unzureichenden und vernach­lässigten Drainagesys-
temen. Da die Instandsetzung dieser Anlagen mindestens
zwei bis drei Jahre dauern wird, muss für diesen Zeitraum
mit erheblichen Ernteeinbußen gerechnet werden, was in
der Konsequenz bedeu­tet: Engpässe bei der landesweiten
Lebensmittelversorgung, eingeschränkte Rohstoffversor-
gung der Industrie und entsprechend empfindliche Export-
verluste, vor allem aber eine in ihrem Umfang noch gar
nicht abzusehende Verarmung der ländlichen Bevölkerung.

Bis zum Jahresende fehlte der Bevölkerung in den meisten


Hochwassergebieten jegliche Verbindung zur Außenwelt.
Orte ohne Mobilfunk­netz verloren durch die Beschädigung
von Fernsprechleitungen, Vermitt­lungsstellen und Übertra-
gungsstationen ihre einzige Möglichkeit, mit Verwandten,
Freunden und Institutionen zu telefonieren oder im Notfall
Hilfe herbeizurufen.16 Vielerorts befand sich das einzige
öffentlich zugängliche Telefon in einem Verwaltungsge-
bäude, von denen aber mindestens 1.437 stark beschädigt
oder völlig zerstört worden sind.

Das Straßennetz ist zum großen Teil nicht mehr vorhanden


oder so schadhaft, dass es für den Transport von Hilfsgü-
tern nicht taugt. Auch die Rückkehr der Flüchtlinge wird
dadurch extrem erschwert. Insgesamt zerstörten die Fluten
793 Kilometer Bundesstraßen, einschließlich Brücken.
Untergeordnete befestigte Straßen in den Provinzen, Dis-
trikten und Kommunen sind auf einer Gesamtlänge von fast

15 | Fazlur Rahman Siddiqi, „Indus Basin Irrigation System of


Pakistan‟, CSR & Companies, Reports & Surveys, 10.07.2008, 1.
16 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Transport & Communication‟.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 105

25.000 Kilometern unbrauch­bar. Das breit gefächerte Netz


unbefestigter Straßen ist zum großen Teil überflutet oder
verschüttet, da die Flüsse durch das Hochwasser ihren Lauf
verändert haben und Berghänge abgerutscht sind.

Die wenig entwickelte und stets in roten Zahlen operie-


rende Eisenbahn kann den Transport über die Straßen
nicht annähernd ersetzen. Sie muss 1.224 Kilometer
Gleisanlagen wiederher­stellen, da auch viele Gleise bis zu
einem Meter unter Wasser lagen oder unterspült wurden.
Auf sechs wichtigen Strecken musste der Betrieb gänz-
lich eingestellt werden. Der Anfang Okto­ber geschätzte
Schaden betrug umgerechnet fast 60 Millionen Euro und
verursachte Einnahmeausfälle im Personen- und Güter-
verkehr von achteinhalb Millionen Euro sowie zusätz­
liche Ausgaben für den Einsatz von weit über einhundert
außerplanmäßigen Zügen für Nothilfe-Lieferungen. An vier
Flugplätzen entstand ebenfalls ein Sachschaden, der ihre
Nutzung für Versorgungsflüge einschränkte.17

Nachteilig für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Pakis­


tans und die Lebenslage der Bevölkerung wirken sich die
Hochwasserfolgen auf die Energieversorgung aus, die
schon seit Jahren den Bedarf der Industrie und der privaten
Haushalte nicht decken konnte. Nun kommen im Öl- und
Gassektor Schäden an Förderstätten und Pipelines, Tank-
stellen und Gas- sowie Flüssiggas-Verteilerstationen hinzu.
Die in ihre Heimatorte zurückgekehrten Menschen können,
sofern sie nicht etwas Holz oder Reisig finden, nicht einmal
einen wärmenden Tee kochen. Im ganzen Land hat sich
die Energieversorgung mit bis zu zwölfstündigen Strom-
und Gassperren täglich dramatisch verschlechtert, und in
einigen Katastrophengebieten wird sie für einen gewissen
Zeitraum total ausfallen, denn ein Umspannwerk wurde
vollkommen zerstört und 31 weitere erheblich beschädigt.
Außerdem sind knapp 3.400 Kilometer Hochspannungs-
und Versorgungsleitungen unter­brochen, und 91 Wasser-
kraftwerke sowie ein mit fossilem Brennstoff betriebenes
Kraftwerk können wegen der Hochwasserschäden gar nicht
mehr oder nur mit stark verminderter Leistung betrieben
werden.18

17 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Transport & Communication‟;


NDMA, „Floods 2010, Damages & Losses, Roads‟, Prime
Minister’s Office, Government of Pakistan, Islamabad 2010.
18 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Energy‟.
106 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Die pakistanische Regierung, die Asian Development Bank


(ADB) und die Weltbank (WB) gehen gemeinsam davon
aus, dass der bisher berechenbare Gesamtschaden des
Hochwassers etwa sechs Prozent des Brutto-
Ohne Zweifel werden die Auswirkungen sozialprodukts von Pakistan für das Finanz-
der Jahrhundert-Flut die Wirtschafts- jahr 2009/10 ausmacht, wobei etwa 50 Pro-
lage Pakistans beeinträchtigen und in-
flationäre Tendenzen verstärken. zent auf die Verluste in der Landwirtschaft
entfallen.19 Ohne Zweifel werden die Auswir-
kungen der Jahrhundert-Flut die Wirtschaftslage Pakistans
beeinträchtigen und inflationäre Tendenzen verstärken.
Gleichzeitig treiben verminderte Exporte, die Notwendig-
keit umfangreicherer Importe sowie die Aufnahme von
Krediten für den Wiederaufbau und für Entschädigungs-
zahlungen an die Flutopfer absehbar die negative Handels-
und Zahlungsbilanz noch tiefer ins Minus.

REAKTION AUF DIE FLUTKATASTROPHE

Die Zentral- und Provinzregierungen Pakistans haben nach


Beginn der Überschwemmungen fast eine Woche lang in
völliger Untätigkeit verharrt. Während dieser Zeit gab es
im gebirgigen Norden, wo das Desaster seinen Anfang
genommen hatte, bereits rund 1.000 Tote und Schwerver-
letzte. Am 1. August endlich verkündete Premierminister
Yusuf Raza Gilani die Einrichtung eines Hochwasser-
Nothilfe-Fonds20, in den als Initialbeitrag alle Kabinetts­
mitglieder ein Monatsgehalt und alle Regierungsbeamte ab
der Besoldungsstufe 17 (die höchste ist 22) einen Tages-
lohn spenden sollten.21

Als das katastrophale Ausmaß der Überschwemmungen


schon deutlich sichtbar war, ließ sich der gerade im
Ausland weilende Präsident Zardari nicht zur Rückkehr
bewegen, sondern setzte ungerührt mit Sohn und Tochter
seinen Aufenthalt in England und Frankreich fort. Erst am
7. September besuchte er die Krisenregionen in Sindh
und Belutschistan. Auch Premierminister Gilani besich-
tigte das Katastrophengebiet erst nach zwei Wochen. Und
bevor die pakistanische Regierung Konzepte erarbeitete
und ermittelte, welche zusätzlichen Mittel für Sofort-Hilfe
und Wiederaufbau das Land aus eigener Kraft generieren

19 | ADB und WB, „Pakistan Floods‟, „Economic Assessment‟.


20 | Prime Minister Flood Relief Fund.
21 | „PM sets up flood relief fund‟, The News, 02.08.2010.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 107

könnte, rief sie – wie stets bei ähnlichen Kalamitäten – die


internationale Gemeinschaft um finanzielle und materielle
Hilfe an.

Während private Initiativen und einheimische Nichtregie-


rungsorganisationen den notleidenden Menschen unver-
züglich Hilfe leisteten,22 war die Spendenbereitschaft unter
den Politikern und Beamten des Landes sehr zurückhal-
tend. Zum Beispiel weigerten sich 150 von insgesamt
371 Mitgliedern der Abgeordnetenversammlung der
Provinz Punjab, für den Fluthilfe-Fonds des Chef-Ministers
zu spenden. Sie wollten lieber in ihrem Wahlbezirk Geld
verteilen, wo man sich bei den nächsten Wahlen an ihre
Wohltaten erinnern werde, so die Begründung.23

Die Armee beteiligte sich anfangs ebenfalls zögerlich an


den Rettungs- und Hilfsmaßnahmen. Ihr ging es zunächst
vorrangig um den Schutz eigener Ein­­rich­tungen. In der
Folgezeit leistete sie allerdings mit ihren tech-
nischen Mitteln und logistischer Expertise Die Spendenbereitschaft des Auslands
einen effektiven Beitrag und hat damit ihr entwickelte sich sehr langsam, was
auf das negative Image Pakistans
Ansehen in der Bevölkerung gestärkt. zurückgeführt wird.

Die Spendenbereitschaft des Auslands entwickelte sich,


verglichen mit vorangegangenen inter­nationalen Aktionen,
sehr langsam, was allgemein auf das negative Image
Pakistans als notorisch korrupt und ambivalent gegenüber
Terroristen zurückgeführt wird. Im Verlauf der ersten fünf
Wochen nach Beginn der Überschwemmungen wurden von
den zugesagten 777 Millionen US-Dollar nur 82 Millionen
überwiesen und Hilfsgüter im Wert von 60 Millionen Dollar
geliefert, während innerhalb der gleichen Zeitspanne nach
dem Erdbeben 2005 rund sechs Milliarden US-Dollar an
Spenden und Hilfsgütern nach Pakistan geflossen waren.24

22 | Es gab viele Beispiele dafür, dass Betroffene bei Verwandten


oder auch bei fremden Familien unterkamen, Kommunen
Patenschaften über die zu ihnen verschlagenen Flüchtlinge
übernahmen und sie unentgeltlich mit Kleidung und Nahrung
einschließlich warmer Mahlzeiten versorgten oder Ärzte
kostenlose medizinische Behandlung und Versorgung mit
Medikamenten ermöglichten.
23 | „150 Punjab MPA refuse donation to relief fund‟, The News,
04.08.2010.
24 | Ahmad Noorani, „The real scorecard of aid so far received‟,
The News, 30.08.2010.
108 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Die peinlichste Vorstellung lieferte nach Meinung der pakis­


tanischen Medien aber die NDMA, in deren Verantwortung
eigentlich die Orga­ni­sation und Koordinierung der natio-
nalen und internationalen Nothilfe im Katastrophenfall
liegt. Ihre Aktivität beschränkte sich bis jetzt hauptsäch-
lich auf das Sammeln statistischer Daten und
Da die NDMA über wenig eigene Res- die Pflege ihrer Website. Und ihr Chef, der
sourcen verfügt, konnte sie in der Ver- ehemalige Korps-Kommandeur General a.D.
gangenheit keine besonderen Erfolge
bei der Krisenbewältigung aufweisen. Nadeem Ahmed, trat vorzugweise auf Presse-
fotos an der Seite ausländischer Botschafter
vor der Hochwasser-Karte Pakistans in Erscheinung. Da die
NDMA über wenig eigene Ressourcen verfügt und mit den
zivilen Bereichen nur unzureichend vernetzt ist, konnte
sie in der Vergangenheit keine besonderen Erfolge bei der
Krisenbewältigung aufweisen. In der Nähe von Mianwali
(Provinz Punjab) brachte sie es jedoch fertig, für einen
Fototermin mit Premierminister Gilani die Kulisse einer
Kranken­station aufzubauen.25 Der frühere Parlaments-
abgeordnete Shafqat Mahmud schreibt in diesem Zusam-
menhang über die Behörde, dass „die Realität der Unfähig-
keit durch ein Trugbild von Effizienz‟26 verschleiert wurde.

Im Wesentlichen überließ die NDMA die Organisation und


Koordinierung der Katastrophen­hilfe den Provinz- und
Ortsbehörden. Sie konzentrierte sich darauf, den UN- Hilfs-
organisationen, der WB und ADB zuzuarbeiten, die Anfang
August den ersten Hilfsplan27 erstellten und ihn am 5.
November in ergänzter Form28 veröffentlichten. Dieser Plan
ist jedoch im Kern eher ein Spendenaufruf an die inter­
nationale Gemeinschaft, die für 471 Projekte benötigten
1,94 Milliarden US-Dollar bereit­zu­stellen. Er enthält aber
auch Empfehlungen von WB und ADB für die Überwindung
der Krise in Pakistans Wirt­schaft und Gesellschaft und
zeichnet entsprechende politische Handlung­s­linien vor.

Extremistische religiöse Organisationen wie Al Rehmat


Trust, Jamaat ud-Dawa, Jaish-e Mohammed, Harkat-ul-
Mujahideen und Sipah-e-Sahaba29 haben, wie übrigens

25 | Ahmad Noorani, „As NDMA is scrutinised its record shows it


has miserably failed‟, The News, 19.08.2010.
26 | Shafqat Mahmood, „Where could the Messiah come from‟,
The News, 06.08.2010.
27 | „Pakistan Initial Floods Emergency Response Plan‟.
28 | „Pakistan Flood Relief and Early Recovery Response Plan‟.
29 | Sie werden häufig in den Medien dem Sammelbegriff Taliban
zugeordnet, der hier auch in diesem Sinne verwendet wird.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 109

auch unmittelbar nach dem Erdbeben 2005, im Handum-


drehen Zehntausende Freiwillige mobili­siert und der Bevöl-
kerung vor allem in den schwer zugänglichen Bergregionen
mit Unterkünften, Trinkwasser und Lebensmitteln erste
Hilfe geleistet. An manchen Orten wurden sie
von überforderten lokalen Behörden direkt Während die Unfähigkeit der Behörden
mit der Verteilung von Hilfsgütern betraut. viele Flutopfer erzürnte, konnten die
Islamisten die Flut nutzen, um ihre
In drei nordpakistanischen Überschwem- Basis an Sympathisanten auszubauen
mungsgebieten verteilten sie Lebensmittel und neue Mitglieder zu rekrutieren.
im Wert von 1.100 Rupien (etwa 100 Euro)
pro Familie. Während die Unfähigkeit der Behörden viele
Flutopfer erzürnte, konnten die Islamisten die Flut nutzen,
um ihre Basis an Sympathisanten in den betroffenen
Gebieten auszubauen und neue Mitglieder zu rekrutieren.30
Allerdings zeichnet der bekannte Autor Ahmad Rashid wohl
doch eine zu düstere Prognose, wenn er vorhersagt, dass
der Staat die Kontrolle über die vom Wasser abgeschnit-
tenen Gebiete verlieren werde und diese von den Taliban
übernommenen würden. Zu einer von manchen befürch-
teten „Talibanisierung der Flut‟ ist es nicht gekommen.

Die Regierung Pakistans nutzte das internationale Pakistan


Development Forum (PDF)31 am 14. und 15. November
in Islamabad, um das Ausmaß der Schäden und Verluste
darzu­stellen, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen bei
der Realisierung der Hilfsprogramme bekannt zu machen
und erneut umfangreiche internationale Hilfe einzufor-
dern. Innen­minister Rehman Malik ging sogar so weit, die
Abschreibung von 50 Milliarden US-Dollar internationaler
Schulden Pakistans mit der Begründung zu fordern, dass
Pakistan als Frontstaat im Kampf gegen den Terrorismus
die größten Opfer für die Sicherheit der westlichen Welt
erbringe.32 Finanzminister Abdul Hafeez Shaikh wies
diesen nicht abge­stimmten Vorstoß seines Kollegen aber
umgehend­ zurück,33 da ein solcher Schritt die internatio-
nale Kreditwürdigkeit Pakistan vermindern und somit lang-
fristig negative Folgen haben könnte.

30 | Khaled Ahmed, „Sickness of flood politics‟, The Friday Times,


20.08.2010.
31 | PDF: In unregelmäßigen Abständen tagendes (zuletzt 2007)
internationales Konsortium, das Pakistan Entwicklungshilfe
leistet, Forum zur Darlegung der Entwicklungsvorstellungen.
32 | Khaleeq Kiani, „Pakistan seeks $50bn foreign debt waiver‟,
Dawn, 15.11.2010, http://dawn.com/2010/11/15/pakistan-
seeks-50bn-foreign-debt-waiver [12.01.2011].
33 | „Debt waiver‟, Editorial, Dawn, 16.11.2010.
110 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

TIEFER IN DIE EIGENE TASCHE GREIFEN

Pakistan sieht sich in den zurückliegenden Jahren immer


öfter mit dem Vorwurf seiner Geldgeber – vornehmlich der
USA  – konfrontiert, bei jeder Krise reflexartig die Hand
aufzuhalten anstatt erst einmal nach eigenen Ressourcen
für die Problembewältigung zu suchen. Gleichzeitig nimmt
auch im Lande selbst die Kritik an den Regie-
Fehlende Transparenz und Kontrolle renden zu, die internationalen Fördermittel
beim Einsatz der Mittel hat auch erheb- zu verschwenden und nicht mit strukturel-
liche Summen im Korruptionsfilz und
als Folge der Selbstbedienungsmenta- len Reformen die Voraussetzungen für eine
lität der Eliten versickern lassen. nachhaltige soziale und wirtschaftliche Ent-
wicklung zu schaffen.34 Fehlende Transparenz
und Kontrolle beim Einsatz der Mittel hat auch erhebliche
Summen im Korruptionsfilz und als Folge der Selbstbedie-
nungsmentalität der Eliten versickern lassen.

Die USA sind vor zwei Jahren als erste davon abgegangen,
der pakistanischen Regierung Blanko-Schecks über die
jährlichen Entwicklungshilfe-Milliarden auszustellen. Sie
bestimmten, für welche Bereiche das Geld ausgegeben
werden soll, und verlangten eine exakte Abrechnung.
Denen, die deshalb den USA vorwerfen, sich aufdringlich in
Finanz- und Verwaltungsangelegenheiten Pakistans einzu-
mischen, sagte US-Botschafter Cameron Munter auf einer
wissenschaftlichen Konferenz am 7. Januar in Islamabad:
„Das tun wir, weil wir uns Sorgen machen. Wir sind Euer
größter Geldgeber. Und unsere Zuwendungen kommen als
direkte Entwicklungshilfe und nicht als Kredite.‟35 Auch
ihre Überschwemmungshilfe haben sie und verschiedene
andere Geldgeber, darunter die EU, an die Bedingung
geknüpft, dass Pakistans Dollar-Millionäre ebenso tief in
die eigene Tasche greifen, um die Not ihrer Landsleute
zu lindern, und die Verwendung der Spenden transpa-
rent und nachvollziehbar dokumentieren. Dies wurde
von ausländischen Sprechern auf der Tagung des PDF
nach­drücklich unterstrichen.36 Der kürzlich verstorbene
US-Sonderberater für Afghanistan und Pakistan, Richard
Holbrooke, forderte die Regierung Pakistans bereits am

34 | Sania Nishtar, „The PDF premise‟, The News, 22.11.2010;


Hadia Majid, „Development aid failure‟, Dawn, 12.11.2010.
35 | Bakir Sajjad Syed, „Munter’s blunt talk: We pay so we intrude‟,
Dawn, 08.01.2011, http://dawn.com/2011/01/08/munter’s-
blunt-talk-we-pay-so-we-intrude [12.01.2011].
36 | Kiani, Fn. 32.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 111

21.  September auf, mehr für die Überwindung der Flut-


folgen zu tun, da die internationale Gemeinschaft höchs-
tens 25 Prozent der Gesamtkosten für den Wiederaufbau
tragen könne.37 Im Zusammenhang mit den aufzubrin-
genden Mitteln warnten allerdings auch pakista­nische
Wirtschaftsexperten vor weiterer Verschuldung und übten
Kritik am Internationalen Währungsfonds und der WB, weil
deren Strukturanpassungsprogramme und
Strategien zur Reduzierung der Armut in der Der Forderung der internationalen
Vergangenheit die finanzielle Abhängigkeit Kreditinstitute folgend, legte die Re-
gierung einen Gesetzentwurf zur Ein-
Pakistans verstärkt haben. Der Forderung führung einer Umsatzsteuer sowie
der internationalen Kreditinstitute folgend, einer zeitlich begrenzten Flutsteuer
vor.
legte die Regierung am 12. November beiden
Häusern der Nationalversammlung einen
Gesetzentwurf zur Einführung einer Umsatzsteuer unter
der Bezeichnung Reformed General Sales Tax (RGST)
sowie einer zeitlich begrenzten Flutsteuer vor,38 der jedoch
bis Jahresende keine Zustimmung gefunden hat.39 Sie gab
das Vorhaben auf der PDF-Tagung bekannt, und Vertreter
einzelner Provinzen versicherten den Geberländern und
Kreditinstituten, dass nun auch die Landwirtschaft und die
Immobilienwirtschaft besteuert würden.

Die RGST knüpft an frühere misslungene Versuche an, alle


Käufe, Verkäufe und Dienstleistungen zu dokumentieren
und damit Grundlagen für eine erweiterte Besteuerung zu
schaffen. Die Steuer soll 15 Prozent betragen und in sechs
Monaten 30 Milliarden Rupien40 in die Staatskasse spülen.
Mit der Flutsteuer in Höhe von zehn Prozent der Einkom-
menssteuer hofft man auf zusätzliche 42 Milliarden Rupien.
Weiterhin ist eine erhöhte Akzise auf Importe vorgesehen.
Für den Über­gang von der Nothilfe zur Wiederaufbau-
phase, die am 31. Januar 2011 beginnen soll, werden im
laufenden Finanzjahr41 jedoch 260 Milliarden Rupien benö-
tigt, die dann wohl zum Teil von anderen Entwicklungs-
projekten abgezweigt werden müssen. Angeblich hat die

37 | „Pakistan govt. must do more for flood recovery: Holbrooke‟,


The News, 22.019.2010.
38 | „Moving of RGST Bill‟, Editorial, The Nation, 14.11.2010.
39 | Mit diesem Aufschub vermindern sich die geplanten Steuer-
einnahmen. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Sitzungs-
pause des Parlaments genutzt wird, um dem Vorhaben
mittels Präsidialverordnung Gesetzeskraft zu verleihen.
40 | Ein Euro entspricht 110 PKR (pakistanische Rupie), Stand
vom 09.01.2011.
41 | 01.07.2010 bis 30.06.2011.
112 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

neue Strategie bereits zur Streichung von Entwicklungs-


projekten im Wert von 585 Milliarden Rupien geführt.42 Die
Forderung nach Sparsamkeit zwingt gleichermaßen die
Regierung, ihre Eigenausgaben für das Finanzjahr um 300
Milliarden Rupien einzuschränken und auch bei Subventi-
onen zu kürzen.

Ob Pakistan diesen vor allem für die verwöhnten Eliten


schmerzhaften Weg zur Stabilisie­rung der Wirtschaft und
Überwindung der Flutfolgen beschreiten will und kann, darf
bezweifelt werden  – zumal die guten Vorsätze zur Spar-
samkeit und Transparenz in der Vergangenheit schon oft
gefasst, aber nie verwirklicht wurden. Das geplante fiska-
lische Defizit von 4,7 Prozent wird wahrscheinlich eher auf
über sechs Prozent steigen, die Inflation statt neun Prozent
bei rasant steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen 15
Prozent übersteigen, und die errechneten Mehreinnahmen
durch die geplante Steuerreform sind schon aus Gründen
tief verwurzelter Traditionen der Steuerverweigerung illu-
sorisch.43 Die Regierung der Pakistan People’s Party stößt
deshalb nicht nur bei der Opposition, sondern auch bei
ihren Koalitionspartnern auf Widerstand, weil Kabinetts­
mitglieder und Parlamentarier in großer Zahl als Groß-
grundbesitzer und Industrielle von der geplanten Besteu-
erung und dem Subventions­abbau persönlich betroffen
wären.

Analysten bemängeln an den Darlegungen im PDF wie


auch an den Fluthilfeprogrammen, dass sie die sozialen
Aspekte der Krise auch in ihren politischen Empfehlungen
unzureichend berücksichtigen. Der ehemalige Staats-
sekretär Roedad Khan betrachtet in diesem Zusammen-
hang die schmerzhafte Geschichte der misslungenen
Versuche, Pakistan durch radikale Landreformen aus der
Kontrolle durch feudale Eliten zu befreien und damit eine
gesunde marktwirtschaftliche und demokratische Entwick-
lung zu ermöglichen.44 Er sieht eher eine gegenläufige

42 | „Tough economic Steps‟, Dawn, 21.11.2010; Sania Nishtar,


„The PDF premise‟, The News, 22.11.2010.
43 | „Are Pakistan’s revised economic targets realistic?‟, The News,
17.11.2010.
44 | Roedad Khan, „Pakistan’s rural Iron Curtain‟, The News,
20.11.2010. Darin heißt es: „Eine scharfe Trennlinie, eine
gähnende Kluft – manche nennen sie einen neuen Eisernen
Vorhang – trennt die Reichen von den weniger glücklichen
Landsleuten, deren Leben schlimm, gewalttätig und kurz ist.‟
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 113

­Entwicklung, indem die alteingesessene feudale Klasse im


Zusammenwirken mit den durch erworbenen oder ergau-
nerten Landbesitz zu „Neo-Feudalen‟ aufgestiegenen hohen
Militärs und Regierungsbeamten ihren politischen Einfluss
sukzessive ausbaut und keine Veränderungen in den länd-
lichen Eigentumsverhältnissen zulassen wird. „Damit sich
überhaupt etwas ändert, muss sich alles ändern‟, ist seine
resignierende Prognose,45 weil er wie auch der Unternehmer
und Kolumnist Ardeshir Cowasjee keine Kraft in Pakistan
ausmachen kann, die in absehbarer Zeit solche Verände-
rungen in der pakistanischen Gesellschaft in Gang setzen
könnte.46 Hingegen zeigt Zahir Kazmi, ein Wissenschaftler
an der National Defence University, Islamabad, vorsich-
tigen Optimismus, wenn er feststellt, dass der schlechte
Zustand der Wirtschaft und des Bildungswesens sowie die
innenpolitische Instabilität zwar die Achilles-
ferse Pakistans seien, dass aber ökonomi- Das Hilfsprogramm der Regierung für
sche und soziale Reformen langfristig auch die jetzt beginnende Wiederaufbau-
Phase beinhaltet auch eine finanzielle
im Interesse der Eliten seien und bei konse- Entschädigung der Flutopfer. Dazu wer-
quenter Umsetzung Pakistan in 40 Jahren den an die Betroffenen „watan cards‟
ausgegeben.
auf die Erfolgsstraße führen könnten.47

Das Hilfsprogramm der Regierung für die jetzt begin-


nende Wiederaufbau-Phase beinhaltet auch eine finan-
zielle Entschädigung der Flutopfer. Dazu werden an die
Betroffenen watan cards ausgegeben, die zum Bezug von
100.000 Rupien pro Familie in Raten von je 20.000 Rupien
berechtigen. Mit diesem System, durch das den lokalen
Beamten nur Bezugsscheine und kein Bargeld zur Vertei-
lung in die Hand gegeben werden, sollte dem Missbrauch
eigentlich vorgebeugt werden. Doch im November musste
Innen­minister Rehman Malik öffentlich bekennen, dass es
auch bei der Kartenverteilung Unregel­mäßigkeiten gebe,
wie etwa Vortäuschung falscher Identität oder illegaler
Verkauf der Bezugskarten. Ein Mann aus Nowshera Kalan
am Kabul-Fluss im Nordwesten Pakistans klagte einem
Journalisten: „Leute, die gute Verbindungen zu Parlament-
sabgeordneten oder Funktionären von Regierungsparteien
haben, kommen leicht an ihre Karten, andernfalls muss
man eben warten oder mit den Kartenverteilern irgendwie

45 | Ebd.
46 | Ardeshir Cowasjee, „The national stupor‟, Dawn, 21.11.2010.
47 | Zahir Kazmi, „Lessons from China‟, Dawn, 22.11.2010.
114 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

ins Geschäft kommen.‟48 Aber jenen, die ihre ersten


20.000 Rupien schon erhalten haben, geht es auch nicht
unbedingt besser, denn in den meisten Fällen mussten sie
das Geld gleich für den Heimtransport ihrer Familie und
ein paar Lebensmittel ausgeben. Nun wird die Forderung
der Obdachlosen nach Auszahlung der nächsten Tranchen
immer lauter, damit sie sich gegen die Winterkälte wenigs-
tens einen primitiven Raum bauen können.

AUSBLICK

Die Hochwasserkatastrophe hat den in vielerlei Hinsicht


desolaten Zustand des pakistanischen Staatswesens
offenbart und bei manchen Intellektuellen die Hoffnung
genährt, daraus könne eine evolutionäre
Die Hochwasserkatastrophe hat die antifeudale Entwicklung entspringen.49 Die
Hoffnung auf eine evolutionäre antifeu- gewünschten Folgen wären wirt­schaftlicher
dale Entwicklung genährt. Die Masse
der Bevölkerung ist jedoch in einem und sozialer Aufschwung und eine robuste
Zustand tiefer Trostlosigkeit erstarrt. Demokratie. Doch das sind utopi­sche Vor-
stellungen. Die Masse der Bevölkerung ist
in einem Zustand tiefer sozialer, wirt­schaft­­licher und poli-
tischer Enttäu­schung und Trostlosigkeit erstarrt.50 Sie ist
viel zu sehr damit beschäftigt, ihr tägliches Überleben zu
sichern, was bei den nach der Flut horrend gestiegenen
Preisen für Grundnahrungsmittel schon Kampf genug
ist. In Punjab zum Beispiel, der bisherigen Kornkammer
Pakistans, kostet das Mehl inzwischen dreimal mehr als
in der Zeit vor dem Hochwasser. Die junge Intelligenz
Pakistans, die der Motor der Veränderungen sein könnte,
sieht im eigenen Land keine Perspektive und wandert in
die USA, nach Europa oder Dubai aus. Zudem ersticken die
allmächtigen Geheimdienste im Verbund mit dem Militär
und der Polizei jeglichen politisch motivierten Widerstand
im Keim. So wird es auf die verzweifelte Frage eines
engagierten Demokraten, „Wo könnte denn der Messias
herkommen?‟,51 auf absehbare Zeit keine Antwort geben.

48 | Zulfiqar Ali und Faiz Muhammad, „Lawmakers cashing in on


Watan cards‟, Dawn, 31.10.2010.
49 | Najm Sethi, „Dismal outlook for 2011‟, The Friday Times,
31.12.2010.
50 | Ebd.
51 | Shafqat Mahmood, „Where could the Messiah come from‟,
The News, 06.08.2010.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 115

Wirtschaftlich reicht ein Wachstum von unter drei Prozent


nicht aus, um die Lebensbedingungen der wachsenden
Bevölkerung zu stabilisieren und zusätzlich die Kosten
der Hochwasserschäden aufzufangen. So stehen z.B. die
Stahl- und Zementproduktion vor dem Dilemma, den
Bedarf für den Wiederaufbau nicht decken zu können.
Obwohl sich die Produktion bei Zement durch Exporte nach
Afghanistan, den Irak und auf neue Märkte in Afrika seit
2002 fast verdreifacht hat, zwingt sie der Devisenmangel
des Landes zur Fortsetzung des Exports von etwa zwölf
Millionen Tonnen im Jahr.52 Der Ausweg über eine höhere
Kapazitätsauslastung erfordert eine kostengünstige Roh-
stoff- und kontinuierliche Energieversorgung. Beides ist
jedoch nicht gesichert.53 Der voraussehbar steile Anstieg
der Preise für Nahrungsmittel, Energie und Baumaterialien
wird die Inflation beschleunigen. Die produzierende Wirt-
schaft wird zudem mit bis zu zwölf Stunden Stromausfall
pro Tag rechnen müssen, was natürlich vor allem die an
strikte Liefertermine gebundenen Exportbetriebe an den
Rand des Ruins treiben wird.

Auf sozialem Gebiet hat Pakistan nach der Pakistan hat nach der Flut vor allem
Flut vor allem ein gewaltiges Flüchtlingspro- ein gewaltiges Flüchtlingsproblem.
Auf der Suche nach Verdienstmöglich-
blem. Auf der Suche nach Verdienstmög- keiten werden Millionen Menschen in
lichkeiten werden Millionen Menschen in die die großen Städte strömen.
großen Städte strömen und letztendlich nur
das Heer der Tagelöhner und Bettler vergrößern. Damit
wird zwangsläufig eine enorme Zunahme der Kriminalität
einhergehen. Zugleich zerbrechen dörfliche und familiäre
soziale Strukturen, die das Skelett eines großen Teiles der
pakistanischen Gesellschaft bilden.

Diese soziale und wirtschaftliche Notsituation ist einge-


bettet in eine Sicherheitslage, die durch permanente
terroristische Anschläge gekennzeichnet ist. In Pakistan
wurden im Zeitraum von 2003 bis 2010 durch islamisti-
sche Anschläge rund 31.000 Menschen getötet, davon ein
Drittel Zivilisten.54 Der Terror schwappte über die Grenzen
der Stammesgebiete in die Großstädte Pakistans und
erhält in der Wirtschafts- und Handelsmonopole Karachi

52 | Naveed Iqbal, „Heavy resources required in post-flood


reconstruction‟, The News, 15.11.2010.
53 | Khaleeq Kiani, „Uncertainties in energy development‟, The
News, Economic & Business Review, 22.-28.11.2010.
54 | „After the deluge‟, The Economist, 16.09.2010.
116 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

eine brisante ethnisch-politische Färbung. Soziale Entwur-


zelung, Arbeitslosigkeit und Armut ergeben ein explosives
Gemisch, das unter den sozioreligiösen Bedingungen
Pakis­tans den idealen Nährboden für das Wirken extremis-
tischer Organisationen bereitet.

Innenpolitisch nähert sich Pakistan einem Zustand, der in


der Vergangenheit das Ende ziviler Regierungen herbei-
führte und das Militär die Staatsführung übernehmen ließ.
Dem stehen zurzeit innen- und außenpolitische Erwägungen
entgegen. Die Ermordung des liberalen PPP-Gouverneurs
der Provinz Punjab, Salman Taseer, am 5. Januar und die
zurückhaltende offizielle Reaktion darauf machen deutlich,
welch breiter Raum extremistischen Kräften
Die Opposition drängt unverhohlen auf und ihrer Ideologie eingeräumt wird.55 Im
den Rücktritt von Präsident Zardari Einklang mit diesen Kräften drängt die parla-
und der Regierung. Sie lastet ihr die
desolate Wirtschaftslage und auch die mentarische Opposition unverhohlen auf
Folgen der Flutkatastrophe an. den Rücktritt von Präsident Zardari und der
Regierung. Sie lastet ihr die desolate Wirt-
schaftslage und auch die Folgen der Flutkatastrophe an.
Zugleich bewegt sich die Regierungskoalition seit Anfang
des Jahres am Rande des Auseinanderbrechens, während
die stärkste Oppositionspartei und traditionell schärfste
Gegnerin der regierenden PPP, die Pakistan Muslim League
(PML) von Nawaz Sharif, mit Vehemenz auf Neuwahlen
hinarbeitet. Wenig ist von der Charta of Democracy übrig-
geblieben, die Benazir Bhutto für die Pakistan People’s
Party und Nawaz Sharif für die Pakistan Muslim League am
15. Mai 2006 unterschrieben haben, und die Hoffnung auf
nachhaltige Etablierung demokratischen Wandels verfliegt
zusehends.

Die militärische Dominanz in der Außen- und Sicher-


heitspolitik Pakistans begrenzt den Handlungsspielraum
der zivilen Führung und bewirkt eine strategische Enge.
Gegenüber Indien setzt die Regierung unter dem Druck
der Armeeführung eine Politik der Konfrontation fort und
belastet so das Verhältnis zwischen den verfeindeten
Nuklearstaaten mit der latenten Gefahr einer militärischen
Auseinandersetzung. Zugleich fügt sich Pakistan willig in

55 | Taseer hatte sich u.a. offen für eine Veränderung des Blas-
phemie-Gesetzes ausgesprochen und die Begnadigung der
auf der Grundlage dieses Gesetzes zum Tode verurteilten
Asia Bibi gefordert.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 117

die Rolle des Spielballs chinesischer Interessen, indem es


sich in das Pekinger Konzept der Grenzverhandlungen mit
Indien als dritte betroffene Partei einbinden
lässt, weil es sich dadurch Vorteile im Konflikt Für das Wettrüsten mit Indien versucht
um Kaschmir erhofft. Für das Wettrüsten mit die pakistanische Regierung unter dem
Deckmantel der Terrorismus-Bekäm­
dem Nachbarstaat versucht die pakistani- pfung Finanzmittel und moderne Mili-
sche Regierung unter dem Deckmantel der tärtechnik von der USA zu erhalten.
Terrorismus-Bekämpfung Finanzmittel und
moderne Militärtechnik von der USA zu erhalten und so
seine mit chinesischer Hilfe ausgebaute Waffenproduktion
und die Ausrüstung seiner Streitkräfte zu modernisieren.
Ziel ist es, zumindest Gleichwertigkeit mit der indischen
Kampfkraft zu erreichen.

An seiner Westgrenze verfolgt Pakistan das vom Militär


diktierte Konzept der „strategischen Tiefe‟, das nach
einem für 2014 erhofften Regimewechsel in Afghanistan
entscheidenden Einfluss im Nachbarland sichern und
den kürzesten Weg zu den Rohstoff- und Warenmärkten
Zentralasiens öffnen soll. Als Nachfolgeregime sieht es die
Taliban und wird ihnen auch weiter­hin aus strategischen
Erwägungen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet
Rück­zugs­möglichkeiten einräumen.

Angesichts der geostrategischen Lage Pakistans sowie


seiner unverzichtbaren Rolle bei der Lösung der Afgha-
nistan-Problematik und der Wahrung friedlicher Verhält-
nisse in Südasien räumen politische, soziale, wirtschaft-
liche und strategische Erwägungen der nachhaltigen
Entwicklungshilfe für Pakistan eine hohe Priorität ein.
118 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

DER LANGE SCHATTEN DER


PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN
IN WEISSRUSSLAND
VERLAUF, ERGEBNISSE UND POLITISCHE FOLGEN

Stephan Malerius ist


Stephan Malerius
Auslandsmitarbeiter der
Konrad-Adenauer-Stif-
tung für Weißrussland.
Er leitet das Auslands-
büro von Vilnius, Es hat in Europa nach dem Zerfall der Sowjetunion wohl
Litauen, aus. kaum Wahlen mit einem derart katastrophalen Ausgang
gegeben wie die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland
am 19. Dezember 2010. Und damit ist nicht die überwälti-
gende Mehrheit gemeint, mit der der seit 16 Jahren amtie-
rende Präsident Alexander Lukaschenko diese Wahlen,
die in Wirklichkeit keine waren, gewonnen hat. Kaum
jemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass die abge-
gebenen Stimmen tatsächlich gezählt würden oder dass
die Behörden auf die üblichen Manipulationen verzichteten,
um auf das von Lukaschenko gewünschte Ergebnis zu
kommen. Gemeint sind die brutale Auflösung der friedli-
chen Demonstration in der Wahlnacht und die Repressi-
onen in den darauf folgenden Wochen, die nicht einmal
die größten Pessimisten vorausgesehen hatten. Dabei war
der gesamte Wahlkampf zuvor von einer überraschenden
Liberalität geprägt.

Die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland 2010 kennen


nur Verlierer: Die Opposition hat verloren, denn sie konnte
sich weder auf einen Kandidaten noch auf ein gemein-
sames Programm einigen. Und sie sah nach den Wahlen
die Mehrheit ihrer politischen Führer im Gefängnis. Europa
hat verloren, denn der mühsame Aufbau engerer Bezie-
hungen mit Weißrussland und die Stärkung pro-europä-
ischer Kräfte während der letzten beiden Jahre ist über
Nacht zunichte gemacht worden. Russland hat verloren,
denn es hat die zweifelhafte Wiederwahl von Lukaschenko
anerkannt, schweigt zu den Repressionen und unter-
streicht damit erneut, dass es in Bezug auf grundlegende
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 119

demokratische Werte über ein Koordinatensystem verfügt,


das sich von demjenigen Europas deutlich unterscheidet.
Und Lukaschenko hat verloren, denn mit den Provoka-
tionen vor dem Regierungssitz und den
anschließenden Repressionen hat sich der Lukaschenko hat aus dem Nichts die
sonst so bauernschlau agierende Autokrat in mühevoll entwickelte Doktrin einer
„multivektoralen Außenpolitik‟ fallen-
eine Sackgasse manövriert. Und das ist viel- gelassen und ist in die selbstgeschaf-
leicht das Erstaunlichste an diesen Wahlen: fene politische Isolation zurückgekehrt.
Wie Lukaschenko aus dem Nichts mit einem
Federstrich die mühevoll entwickelte Doktrin einer „multi-
vektoralen Außenpolitik‟ fallengelassen hat und in die
selbstgeschaffene politische Isolation zurückgekehrt ist.

Aber wessen Plan wurde am Wahlabend tatsächlich umge-


setzt? Warum ist es nach drei Monaten liberalen Wahl-
kampfes innerhalb weniger Stunden zu einer Eskalation
der Gewalt gekommen? Ist Lukaschenko benutzt worden
und wenn ja, von wem? Oder war es Lukaschenko selbst,
der die Niederschlagung der friedlichen Proteste ange-
ordnet hat, nachdem er über das tatsächliche Wahlergebnis
informiert worden war, das möglicherweise einen zweiten
Wahlgang erforderlich gemacht hätte? Das sind die Fragen,
die zu stellen sind, wenn Europa jetzt nach einer neuen
Strategie in Bezug auf Weißrussland sucht.

KOMMUNALWAHLEN ALS GENERALPROBE

Da politische Mitbestimmung im autoritär regierten Weiß-


russland praktisch nicht existiert, ist der gesellschaftliche
Alltag im Land arm an Ereignissen, die den Menschen
zumindest die Illusion geben, selbst etwas bewegen zu
können. Die Präsidentschaftswahlen alle fünf Jahre sind
ein solches Ereignis, mit dem ein politisches Momentum
verbunden sein kann, und deshalb warfen sie früh ihre
Schatten voraus. Die Kommunalwahlen am 25. April – etwa
neun Monate vor dem politischen Großereignis – galten als
Generalprobe: Es waren die ersten Wahlen nach den im
Januar 2010 in Kraft getretenen Änderungen des Wahl-
gesetzes, die sich an Empfehlungen der OSZE und unab-
hängiger einheimischer Experten orientiert hatten. Die
Änderungen wurden zwar international als ein Schritt in
die richtige Richtung gewertet, gleichwohl gingen sie nicht
weit genug, um die technische Manipulation der Wahlen
wirksam zu verhindern. Dennoch erhoffte man sich von
120 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

der Abstimmung im April Aufschluss darüber, ob das neue


Gesetz Wahlen in Weißrussland zumindest ein wenig fairer,
freier und transparenter machen würde.

Der Befund fiel negativ aus: Unter den 21.293 gewählten


lokalen Abgeordneten waren lediglich neun Vertreter
demokratischer Parteien. Keinem der Kandidaten der Be-
wegung für die Freiheit, der Vereinigten Bürgerpartei oder
der Belarussischen Volksfront gelang es, als Abgeordneter
in einen der lokalen Räte einzuziehen. Der
Erstaunlich war, wie wenig Mühe sich Verlauf der Wahlen unterschied sich in keiner
die Behörden gaben, die Manipulationen Weise von fast allen Abstimmungen in den
zu kaschieren. Beim Zustandekommen
des Wahlergebnisses bedienten sie sich letzten vierzehn Jahren. Erstaunlich war
der bekannten Tricks. allenfalls, wie wenig Mühe sich die Behörden
gaben, die Manipulationen zu kaschieren. Beim Zustan-
dekommen des Wahlergebnisses bedienten sie sich der
bekannten Tricks: In fast allen Fällen, bei denen demokra-
tische Kandidaten gegen Vertreter des Regimes antraten,
waren erhebliche Unterschiede zwischen den Resultaten
der vorzeitig abgegebenen Stimmen und der Abstimmung
am 25. April zu verzeichnen. Etwa 30 Prozent der Wähler
hatten ihre Stimme vorzeitig abgegeben. Darüber hinaus
gab es vor den Wahlen wieder Festnahmen von unabhän-
gigen Kandidaten und Hausdurchsuchungen sowie, am
Wahltag selbst, Manipulationen und staatlich organisierte
Urnengänge in Unternehmen, geschlossenen Wahlbezirken
(Kasernen) oder Studentenwohnheimen. Die Auszählung
der Stimmen verlief nicht einmal dem Anschein nach
transparenter als bei den Parlamentswahlen 2008.

Vor dem Hintergrund, dass gut 80 Prozent der Bevölke-


rung die Arbeit der lokalen Abgeordneten als vollkommen
irrelevant für das eigene Leben betrachten, ist auch die
Wahlbeteiligung von 79,5 Prozent in Zweifel zu ziehen. Die
Organisatoren der Wahlen schienen den 25. April eben-
falls als eine Generalprobe zu betrachten: „Wahlen sind nie
steril‟, erklärte Lidija Jermoschina, die Leiterin der Zentra-
len Wahlkommission, auf einer Pressekonferenz nach dem
Wahltag in Minsk. Zwar habe es eine Reihe kleinerer Fehler
gegeben, es sei aber nicht zu ernsthaften Unregelmäßig-
keiten gekommen.

Lukaschenko schien mit dem Urnengang deutlich machen


zu wollen, dass er weder zu Zugeständnissen gegenüber
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 121

der demokratischen Opposition bereit ist noch daran


denkt, auf europäische Forderungen nach demokratischen
und rechtsstaatlichen Veränderungen im Land einzugehen.
Alle Beobachter gingen deshalb davon aus, dass die
Präsidentschaftswahlen nach demselben Muster ablaufen
würden: Die Ergebnisse legt das Regime am grünen Tisch
fest, die Wahlen selbst sind dann lediglich
ein mehr oder weniger gut inszenierter Legi- Immer offensichtlicher wurde, dass
timierungsversuch. Gleichzeitig schien sich Russland nicht mehr bereit sein könnte,
Lukaschenko für eine weitere Amtszeit
allerdings der politische Handlungsspielraum zu unterstützen.
für Lukaschenko zu verengen. Immer offen-
sichtlicher wurde, dass neben der EU auch Russland die
Geduld mit ihm zu verlieren begann und Moskau anders
als 2006 möglicherweise nicht mehr bereit sein könnte, ihn
für eine weitere Amtszeit zu unterstützen. Hinzu kamen
die Unruhen in Kirgistan, die Lukaschenko auch als ein
Warnsignal an die eigene Adresse interpretierte. Öffentlich
zog er Parallelen zu den Ereignissen in Bischkek: „Wenn
so etwas in meinem Land passieren würde und jemand es
wagen sollte, die Menschen zu einem gewaltsamen Sturm
zu führen, wird die Antwort nicht schwach sein. Eine Regie-
rung, die sich nicht selbst zu verteidigen weiß, ist wertlos.‟
Mitte April trug Lukaschenko dem abgesetzten kirgisischen
Präsidenten Bakijew seinen Schutz an und gewährte ihm
politisches Asyl in Weißrussland.

WIRTSCHAFTSKONFLIKTE UND MEDIENKRIEG:


ESKALATION ZWISCHEN MINSK UND MOSKAU

Auch wenn sich der Kreml bislang mit Kommentaren zu


den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland auffallend
zurückhält,1 gilt Russland als der zentrale Akteur in der
Region, und die Entwicklung der Beziehungen zwischen
Minsk und Moskau ist für eine Bewertung der Ereignisse
um und nach dem 19. Dezember besonders wichtig. Da die
meisten offiziellen Kontakte zwischen den Nachbarn hinter
geschlossenen Türen stattfinden, ist es zwar schwierig,
hier Aussagen zu treffen, die über Spekulationen hinaus-
reichen. Tatsache ist jedoch, dass sich das Verhältnis

1 | „Man muss die Wahl des weißrussischen Volkes respektieren.


Ich bin aber nicht bereit, eine Wertung dessen abzugeben,
was die Wahlen begleitete. Das muss man im Detail analy-
sieren‟, erklärte der russische Premierminister Vladimir Putin
am 29.12.2010. Zitiert nach http://naviny.by/rubrics/politic/
2010/12/29/ic_news_112_358358 [31.01.2011].
122 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

zwischen ­Lukaschenko und dem Tandem Medwedew/


Putin im Sommer 2010 derart zuspitzte, dass ein politi-
scher Kommentator in Minsk schrieb, es könne keine
Rede mehr von einer Verschlechterung der Beziehungen
zwischen Weißrussland und Russland sein – es gebe keine
Beziehungen mehr. Ausgangspunkt war, wie so häufig in
den letzten Jahren, ein wirtschaftlicher Konflikt. Russland
begann vom 1. Januar 2010 an, Ausfuhrzölle auf russi-
sches Öl zu erheben, das an die weißrussischen Raffinerien
in Novopolatzk und Mozyr geliefert wird.
Seit Jahren erwirtschaftete Weißruss- Die Entscheidung war ein weiterer Versuch,
land Gewinne, indem es die Ölprodukte die Beziehungen zum westlichen Nachbarn
aus dem nicht verarbeiteten, billigen
russischen Öl zu Weltmarktpreisen wei- schrittweise auf eine pragmatisch-wirtschaft-
terverkaufte. liche Grundlage zu stellen. Seit Jahren er-
wirtschaftete Weißrussland erhebliche Gewinne, indem
es die Ölprodukte aus dem nicht verarbeiteten, billigen
russischen Öl zu Weltmarktpreisen in den Westen weiter-
verkaufte. Moskau forderte seit Längerem einen Teil vom
Kuchen, aber Minsk argumentierte im Januar, das Erheben
von Zöllen auf Öl sei mit der Ende 2009 beschlossenen
Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißruss-
land nicht vereinbar. Es kam zu einem juristischen Streit
vor dem Wirtschaftsschiedsgericht der GUS, das im Spät-
sommer beide Seiten zu einer außergerichtlichen Einigung
aufforderte. Während man den Öl-Zoll-Disput noch juris-
tisch zu lösen versuchte, entluden sich die angespannten
Beziehungen im Juni 2010 auch politisch: Gazprom hatte
Weißrussland ein Ultimatum gestellt, zu dem die vermeint-
lich seit Monaten angehäuften Gasschulden zu bezahlen
seien, und kürzte für wenige Tage die Gaslieferungen an
den Nachbarn um bis zu 80 Prozent. Der Konflikt schien
darauf zu zielen, Lukaschenko unter Druck zu setzen.
Dieser antwortete, indem er erstmals medial in die Offen-
sive ging und in einem offenen Brief an die Prawda und
an führende Geschäftsleute in Russland seine Sicht des
Gaskonfliktes erläuterte. Darin verglich er die Forderungen
von Gazprom gegen Weißrussland mit dem Angriff von
Nazideutschland auf die Sowjetunion.

Im Sommer eskalierten die Auseinandersetzungen: Von


Anfang Juli bis Mitte August zeigte der größte russische
Fernsehkanal NTW zur besten Sendezeit einen dreitei-
ligen Dokumentarfilm über Lukaschenko, in dem dieser
für das Verschwinden von politischen Gegnern aus den
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 123

Jahren 1999/2000 verantwortlich gemacht und als Kopf


einer kriminellen Vereinigung beschrieben wird, die syste-
matisch das Land plündert. Die Sendungen wurden für
den TV-Empfang in Weißrussland gesperrt, waren aber
über das Internet zugänglich. Ende August hatte gut ein
Drittel der Bevölkerung die Serie gesehen. Lukaschenko
schickte daraufhin ein Kamerateam nach Tiflis, um ein
Interview mit Russlands „Staatsfeind Nr. 1‟, dem geor-
gischen Präsidenten Micheil Saakaschwili,
aufzunehmen, und nannte kurze Zeit später Lukaschenko warf hochrangigen russi-
einen Angriff mit Molotov-Cocktails auf das schen Offiziellen vor, eine Schmieren-
kampagne gegen ihn zu inszenieren,
Gelände der russischen Botschaft in Minsk bezeichnete die Politik Russlands ge-
eine Provokation Russlands, was der russi- genüber Weißrussland als unausgego-
ren und hirnlos.
sche Außenminister Sergei Lawrow umge-
hend als „Blasphemie‟ zurückwies. Anfang
Oktober lud Lukaschenko eine Gruppe von Journalisten
aus den russischen Regionen nach Minsk ein und gab
eine vierstündige Pressekonferenz. Darin warf er hoch-
rangigen russischen Offiziellen vor, eine Schmierenkam-
pagne gegen ihn zu inszenieren, bezeichnete die Politik
Russlands gegenüber Weißrussland als unausgegoren und
hirnlos und beschrieb seine Beziehung zu Medwedew und
Putin als „gelinde gesagt schlecht‟. Medwedew bezichtigte
Lukaschenko zwei Tage später in einem Videoblog auf der
Homepage des Kremls, seinen Präsidentschaftswahlkampf
ausschließlich auf anti-russischen Parolen aufbauen zu
wollen, und forderte ihn auf, sich nicht in innere russi-
sche Angelegenheiten einzumischen. Spätestens nachdem
Medwedews Sprecherin erklärt hatte, die Beziehungen
zwischen Weißrussland und Russland würden unter einem
Präsidenten Lukaschenko nie mehr wie früher sein, wurde
offen darüber spekuliert, ob Moskau die Präsidentschafts-
wahlen in Weißrussland würde nutzen können, um Luka-
schenko loszuwerden. Gleichwohl gab es keine Hinweise
auf das genaue „russische Szenario‟.

Umso überraschender reiste Lukaschenko am 8. Dezember


nach Moskau, um am Gipfel der Eurasischen Wirtschaftsge-
meinschaft und der Organisation des Vertrags über kollek-
tive Sicherheit teilzunehmen. Als wäre nichts gewesen,
traf er Medwedew zu einem anderthalbstündigen Gespräch
unter vier Augen. Russland zeigte sich bereit, ab Anfang
2011 wieder auf die Ausfuhrzölle für Öl zu verzichten, im
Gegenzug setzte Lukaschenko seine Unterschrift unter 17
124 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Abkommen, die den für Anfang 2012 geplanten einheitli-


chen Wirtschaftsraum zwischen Russland, Kasachstan und
Weißrussland voranbringen sollen. Die Präsidentschafts-
wahlen wurden mit keinem Wort erwähnt.

DER WAHLKAMPF: UNERWARTETE LIBERALITÄT,


NEUE BIOGRAFISCHE ERFAHRUNGEN

Unmittelbar nach der Sommerpause und inmitten der


Eskalation des Streits zwischen Lukaschenko und dem
Kreml wurde der Termin für die Präsidentschaftswahlen
in Weißrussland bestimmt. Am 14. September erklärte
das Repräsentantenhaus in Minsk auf einer außerordent-
lichen Sitzung den 19. Dezember zum Wahltermin. Das
weitere Prozedere war gesetzlich festgelegt: Bis zum 24.
September mussten die potentiellen Kandidaten Initia-
tivgruppen benennen, die ab dem 30. September einen
Monat Zeit hatten, 100.000 Unterstützer-
Das Außenministerium gab bekannt, Unterschriften zu sammeln. Mitte November
man werde interessierte Parteien würde die Zentrale Wahlkommission die offi-
(OSZE, GUS) zu einer uneingeschränk-
ten Beobachtung der Wahlen einladen. ziell registrierten Kandidaten bekannt geben,
danach sollte der Wahlkampf beginnen.
Gleichzeitig gab das weißrussische Außenministerium
bekannt, man werde interessierte Parteien (OSZE, GUS)
zu einer uneingeschränkten internationalen Beobachtung
der Wahlen einladen.

Die erste Überraschung für die Menschen im Land, aber


auch für internationale Experten, war eine ungekannte
Freiheit in der ersten Phase des Vorwahlkampfes. Eine
etwa 30-jährige Weißrussin berichtete Anfang Oktober,
als die Initiativgruppen im ganzen Land Unterschriften für
ihre Kandidaten sammelten, von einer vollkommen neuen
Atmosphäre: „Da war eine Kundgebung im Zentrum von
Minsk, es wehten die historischen weiß-rot-weißen Fahnen
und keiner griff ein, keine Polizei, keine Festnahmen. Es war
das erste Mal in meinem Leben, dass ich so etwas erlebt
habe.‟ Für eine ganze Generation von Menschen war dieser
Eindruck realer Versammlungsfreiheit nach 14 repressiv-
autoritären Jahren in Weißrussland eine neue biografische
Erfahrung. Dieses Gefühl mischte sich mit einer anderen
Stimmung: Viele Menschen im Land schienen nach 16
Jahren müde von Lukaschenko und scheuten sich nicht,
dies durch ihre Unterschrift für alternative ­Kandidaten
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 125

zum Ausdruck zu bringen. Immer wieder war der Satz


zu hören: „Ich unterschreibe für jeden , solange es nicht
Lukaschenko ist.‟

Diese Atmosphäre blieb während der heißen Phase des


Wahlkampfes erhalten: Zunächst wurden alle Personen,
die über 100.000 Unterschriften gesammelt hatten, offiziell
registriert, so dass es 2010 so viele Oppositionskandidaten
gab wie noch bei keinen Wahlen zuvor. Aller-
dings schien bereits diese Entscheidung bei Eine lokale Langzeitwahlbeobachterin
genauem Hinsehen Teil eines gut inszenierten berichtete: „Da waren die Unterschrif-
ten von hundert und mehr Unterstüt-
Spiels zu sein: Eine lokale Langzeitwahlbeob- zern von einer Hand eingetragen, ohne
achterin, die bei der stichprobenhaften Über- dass man sich Mühe gegeben hätte,
das zu vertuschen.‟
prüfung der eingereichten Unterschriften
durch die lokalen Wahlkommissionen anwe-
send war, berichtete, dass die Listen fast aller Kandidaten
(einschließlich der Lukaschenkos) massiv gefälscht waren:
„Da waren die Unterschriften von hundert und mehr Unter-
stützern von einer Hand eingetragen, ohne dass man sich
Mühe gegeben hätte, das zu vertuschen. Es wurde offen-
sichtlich auf die liberale Haltung der Wahlkommissionen
spekuliert. Und tatsächlich wurden all diese gefälschten
Unterschriften als gültig gewertet.‟ Die Entscheidung, zehn
Kandidaten zu registrieren, schien demnach auf Weisung
von oben getroffen worden zu sein, politisches Kalkül also:
Je mehr Kandidaten gegen Lukaschenko antreten, desto
besser für ihn.

Dennoch ließ sich nicht übersehen, dass sich im Land


etwas zu ändern begann: Zwar waren – wie in den meisten
Ländern  – Versammlungen auf ausgewählten Plätzen
verboten, bei Verstößen reagierte die Staatsmacht jedoch
ganz anders als 2006. Als zwei Präsidentschaftskandidaten
am 24. November zu einer nicht genehmigten Demonstra-
tion auf dem Oktoberplatz im Zentrum von Minsk aufriefen
und mehr als 1.000 Menschen kamen, wurde die Kund-
gebung weder aufgelöst noch gab es Festnahmen. Die
Initiatoren wurden zwar von der Staatsanwaltschaft und
der Zentralen Wahlkommission verwarnt, weitere Konse-
quenzen blieben jedoch aus.

Erstaunlich war im weiteren Verlauf des Wahlkampfes auch


die erstmalige vorsichtige Öffnung der staatlich kontrol-
lierten elektronischen Medien: Allen Präsidentschafts-
126 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

kandidaten standen zwei Mal 30 Minuten Sendezeit im


Fernsehen und ebenso viel im Radio zur Verfügung, um
das eigene Programm darzustellen oder die
Die Kandidatenauftritte wurden live Situation im Land zu bewerten. Die Kandi-
ausgestrahlt und konnten somit nicht datenauftritte wurden live ausgestrahlt und
zensiert oder manipuliert werden. Fast
alle Kandidaten nutzten diese Gele- konnten somit nicht zensiert oder manipuliert
genheit, um mit Lukaschenko abzu- werden. Fast alle Kandidaten nutzten diese
rechnen.
Gelegenheit, um vor allem mit Lukaschenko
abzurechnen, der ihnen seit 1996 praktisch jeden Zugang
zu einer breiteren Öffentlichkeit verwehrt hatte. Der Sozial-
demokrat Nikolaj Statkiewitsch etwa forderte in seinem
Fernsehauftritt von Lukaschenko, die gestohlenen Wahlen
zurückzugeben: „Ehrliche Wahlen  – das hängt einzig
und alleine von dir ab und nicht von den Clowns im so
genannten Parlament oder in der so genannten Zen­tralen
Wahlkommission.‟ Allerdings hatte sich ansonsten in der
elektronischen Medienlandschaft nichts geändert: Alle
Nachrichtensendungen wurden weiterhin derart von Luka-
schenko dominiert, dass dieser es nicht für nötig befand,
sich und sein Programm noch einmal eigens im Fernsehen
vorzustellen. Auch an den erstmals organisierten Fernseh-
debatten der Kandidaten nahm er nicht teil.

Der Politologe Juri Tschausov sprach deshalb auch von


einer Art „Tarnkappenliberalisierung‟. Das Regime habe
dem Volk freie Wahlen versprochen und versuche, diese
jetzt vorzuspielen. Allerdings sei Liberalisierung nicht mit
Demokratisierung zu verwechseln. Es gelte, so Tschausov,
das Szenario der Parlamentswahlen 2008: Auch damals
habe bei der Kandidatenregistrierung und im Wahl-
kampf relative Freiheit geherrscht, letztendlich aber sei
ein vollkommen steriles Parlament ohne unabhängige
Abgeordnete herausgekommen. Das Resultat der Präsi-
dentschaftswahl 2010 hielt Tschausov für vorhersagbar:
„Nicht umsonst ist Präsident Lukaschenko der offiziellen
Bekanntgabe der Kandidaten-Registrierung ferngeblieben.
Er hat zeigen wollen, dass er nicht einer der Schauspieler,
sondern dass er der Regisseur bei diesen Wahlen ist.‟2

Wie inszeniert das Wahlspektakel auch war, es bleibt fest-


zuhalten, dass die liberale Atmosphäre für die Menschen
im Land eine positive Veränderung darstellte. Erstmals

2 | Zitiert nach http://naviny.by/rubrics/elections/2010/11/18/


ic_articles_623_171295 [31.01.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 127

seit 1994 konnten sie die Erfahrungen einer Pluralität


machen, die zwar nicht die Option einer wirklichen Wahl
mit einschloss, jedoch zumindest einen Wettstreit unter-
schiedlicher Meinungen öffentlich zuließ. Allerdings fragten
sich viele Beobachter misstrauisch, wie nachhaltig die
überraschende Liberalität sein würde. Wie weit würde
Lukaschenko bei diesem Versuch gehen, die Wahlen vom
Westen anerkennen zu lassen?

DIE KANDIDATEN

Der Präsidentschaftswahlkampf in Weißrussland versprach


auch wegen des seltsamen Kandidatentableaus zu einem
ungewöhnlichen politischen Ereignis zu werden. Bei
genauer Betrachtung ließen sich drei Kandidatengruppen
unterscheiden:

Da war zunächst Lukaschenko selbst mit zwei Kandidaten,


die politisch vorher entweder gar nicht in Erscheinung
getreten waren (Dmitrij Uss) oder als eine Art Garantie-
Gegenkandidat zu Lukaschenko fungierten (Wladimir
Tereschtschenko) für den Fall, dass es etwa zu Boykott-
Aufrufen der Opposition käme und der Schein einer Wahl
gesichert werden müsste. Zumindest von Tereschtschenko
wurde erwartet, dass er auf Weisung der Präsidialadmi-
nistration oder einer anderen offiziellen Kommandostelle
handeln würde.

Die zweite Gruppe bestand aus fünf Kandi- Grigori Kostusew und Ales Michale-
daten der demokratischen Opposition mit witsch standen für eine patriotische und
pro-europäische Ausrichtung Weißruss-
relativ klarem Profil: Jaroslaw Romantschuk lands. Nikolaj Statkiewitsch hielt die
trat für die Vereinigte Bürgerpartei als libe- Fahne der Sozialdemokratie hoch.
raler Wirtschaftsfachmann an, Vitali Ryma-
schewski als Christdemokrat, Grigori Kostusew und Ales
Michalewitsch konnten auf ihr langjähriges Engagement in
der Belarussischen Volksfront verweisen, der treibenden
Kraft in der Bürgerbewegung, die Ende der achtziger Jahre
die Loslösung Weißrusslands aus dem Verbund der Sowjet­
union vorangetrieben hatte. Beide standen somit für eine
patriotische und pro-europäische Ausrichtung Weißruss-
lands, Michalewitsch hatte den Aspekt der Modernisierung
von Wirtschaft und Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner
Kampagne gestellt. Nikolaj Statkiewitsch hielt die Fahne
der Sozialdemokratie hoch.
128 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Die dritte Kandidatengruppe bestand aus zwei Statthaltern,


die zumindest äußerlich zu den ernsthaftesten Konkur-
renten Lukaschenkos avancierten: Wladimir Neklajew und
Andrej Sannikow verfügten über ungewöhnlich hohe Geld-
summen für ihren Wahlkampf und agierten offensichtlich für
fremde Auftraggeber, die sie jedoch nicht nannten. Vielen
Menschen ist bis heute unklar, was Neklajew und Sannikow
bezweckten und von wem sie unterstützt wurden. Dass sie
ehrlich hinter ihren Losungen „Sag die Wahrheit‟ (Neklajew)
und „Europäisches Belarus‟ (Sannikow) standen, glaubte
ihnen kaum jemand. Sannikow etwa, der noch 2008 mit
der Begründung, die Parlamentswahlen seien eine Farce,
zum Boykott aufgerufen hatte, trat nun, bei unveränderten
Rahmenbedingungen, selbst als Kandidat an. Die demokra-
tische Opposition wurde von dieser inszenierten Undurch-
sichtigkeit und den damit verbundenen Spekulationen
geschwächt: Sind es russische Kandidaten? Steckt der im
Londoner Exil lebende russische Oligarch Boris Beresowski
dahinter? Sind sie ein Projekt Lukaschenkos? Beide Kandi-
daten hatten in einer ohnehin schwierigen
Das Kalkül von Lukaschenko schien Gemengelage mit ihren Kampagnen zusätz-
aufzugehen: Bei einer zerstrittenen liches Misstrauen gesät und wesentlich dazu
Opposition und einer großen Kandida-
tenanzahl würde es ihm leichter fallen, beigetragen, dass es bei diesen Wahlen nicht
seine Wiederwahl demokratisch zu zu einem einheitlichen und konsolidierten
inszenieren.
Auftreten der demokratischen Kräfte kam.
Das Kalkül von Lukaschenko schien aufzugehen: Bei einer
zerstrittenen Opposition und einer großen Kandidatenan-
zahl würde es ihm leichter fallen, seine Wiederwahl relativ
demokratisch zu inszenieren.

Zudem hatte Alexander Milinkiewitsch, der 2006 als


Einheitskandidat der demokratischen Opposition gegen
Lukaschenko angetreten war, im September erklärt, bei
den Wahlen 2010 nicht zu kandidieren. Obwohl für viele
Menschen nach dem Rückzug Milinkiewitschs kaum eine
Wahloption blieb, war die Stimmung „Hauptsache nicht
wieder Lukaschenko‟ in weiten Teilen der Bevölkerung
so stark, dass die alternativen Kandidaten mit ihren
Programmen durchaus Gehör fanden und vielen Menschen
erstmals klar wurde, dass es neben „Batka‟ Lukaschenko
noch andere, durchaus interessante und ernst zu nehmende
Politikangebote gab.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 129

WAHLEN, WAHLNACHT UND PROVOZIERTE


AUSSCHREITUNGEN

In der Woche vor den Wahlen steigerte sich die Nervosität


im Land, und immer häufiger wurde der Begriff des Ploscha
(Platz) ins Spiel gebracht. Gemeint war der Oktoberplatz
im Zentrum von Minsk, der  – ähnlich wie der Maidan in
Kiew  – seit den Demonstrationen nach den
Präsidentschaftswahlen 2006 als ein Symbol Der Oktoberplatz im Zentrum von
für Proteste der demokratischen Kräfte gegen Minsk gilt als ein Symbol für Proteste
der demokratischen Kräfte gegen die
die vom Regime manipulierten Wahlen galt. vom Regime manipulierten Wahlen.
Am 11. Dezember erklärte Wladimir Makej,
der Leiter der Präsidialverwaltung, die Opposition wolle die
Kundgebung am Wahlabend zu einer Provokation nutzen:
„Es ist schon jetzt bekannt, dass sie die Veranstaltung nicht
friedlich abhalten wollen‟, erklärte er im staatlichen Fern-
sehsender RTR-Belarus. Es würden „Kämpfer‟ vorbereitet,
warme Sachen gekauft sowie pyrotechnische Gegenstände
und explosive Materialien besorgt. Der Opposition gehe
es vor allem darum, Bilder für den westlichen Fernsehzu-
schauer zu produzieren, um darauf verweisen zu können,
wie grausam die Machthaber seien und wie brutal sie mit
den Wählern umgingen. Makej machte jedoch auch klar,
dass die Regierung ausreichend Kräfte und Mittel besäße,
um ruhig und angemessen auf diese Situation zu reagie-
ren.3 Die Opposition kommentierte umgehend. Mehrere
Kandidaten wiesen die Äußerungen Makejs als Versuch
zurück, die Menschen einzuschüchtern, und forderten ihre
Anhänger auf, dessen ungeachtet am Wahlabend zu einer
friedlichen Demonstration zu kommen.

Ein Schlüsselmoment für die Bewertung der Ereignisse in


der Wahlnacht ist eine Sitzung am 15. Dezember, auf der
Lukaschenko mögliche Szenarien am Wahlabend kommen-
tierte. An der Sitzung, die in Auszügen im staatlichen Fern-
sehen übertragen wurde, nahmen die für den Einsatz der
Polizei- und Spezialeinheiten verantwortlichen Personen

3 | Das Interview ist auf Youtube zu sehen: http://youtube.com/


watch?v=HP8qd2rQR0U [31.01.2011]. Die Vorhersagen
Makejs erwiesen sich als falsch: Weder war es die Opposition,
die die Provokationen vorbereitete, noch reagierten die Sicher-
heitsorgane ruhig und angemessen. Einige Experten deuten
den Auftritt Makejs als Warnung und indirekte Aufforderung
an die Opposition, wachsam und auf Provokationen der
Sicherheitsorgane vorbereitet zu sein. Makej gilt als ein
moderater Vertreter des Regimes.
130 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

teil.4 Makej war nicht darunter. Lukaschenko ordnete


an, sich während möglicher Proteste nicht provozieren
zu lassen: „Auf keinen Fall auf Provokationen eingehen.
Denn sie [die Opposition, d. Verf.] brauchen Bilder, um
sagen zu können: Seht, was für ein undemokratisches
Regime, Lukaschenko hat wieder unter Opfern und mit
Blut seine Macht erhalten.‟ Das Wichtigste sei, „dass um
Gottes Willen den Menschen nichts passiert. Wir müssen
die Menschen schützen.‟ Er erklärte weiter, er gehe von
keinerlei Protesten aus, dazu sei die Opposition überhaupt
nicht fähig. Einen Ploscha werde es nicht geben, da werde
niemand kommen. Lukaschenko wiederholte
„Die Präsidentschaftswahlen dürfen seine Anweisung am Ende der Sitzung: „Die
nicht getrübt werden durch irgend- Präsidentschaftswahlen dürfen nicht getrübt
welche Ausschreitungen. Wenn die
Fliege fliegen will, möge sie fliegen.‟ werden durch irgendwelche Zusammen-
(Alexander Lukaschenko) stöße oder Ausschreitungen. Wenn die Fliege
fliegen will, möge sie fliegen, niemand soll
sie anrühren. Der Zusammenhalt der Regierung ist heute
so stark, dass wir keine außergewöhnlichen Maßnahmen
ergreifen müssen.‟ Die Opposition nahm diese Unkenrufe
nicht ernst und stellte sich auch nicht auf ein Gewaltsze-
nario am Wahlabend ein. Einer der oppositionellen Kandi-
daten sagte am Tag vor den Wahlen, das Gerede von
Provokationen am Wahlabend sei lächerlich. Das Regime
zeige Schwäche und wolle  – wie bei den Wahlen 2006  –
die Menschen nur einschüchtern. Das werde aber nicht
gelingen, denn die Bevölkerung habe ihre Angst verloren.

Der Wahltag selbst verlief ruhig. An den fünf Tagen zuvor


hatten bereits 23,1 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme
abgegeben, gut acht Prozent weniger als 2006. Zwar gab
es aus nahezu allen Teilen des Landes Berichte darüber,
wie Druck auf die Menschen ausgeübt wurde, sich an der
vorzeitigen Stimmabgabe zu beteiligen. Doch damit war
gerechnet worden. Die entscheidende Frage lautete: Was
würde am Wahlabend passieren? Die Opposition hatte
geschlossen aufgerufen, am Abend auf den Oktoberplatz
zu kommen, auf das Wahlergebnis zu warten und gegen die

4 | U.a. Leonid Maltsev (Leiter des Sicherheitsrates), Anatoly


Kuleschow (Innenminister), Jurij Zhadobin (Verteidigungs-
minister), Alexander Radkow (Leiter des Wahlkampfstabes
von Lukaschenko), Vadim Zajzew (Chef des KGB), Viktor
Lukaschenko und Viktor Schejman. Auszüge aus der Sitzung
sind im Internet zu sehen unter http://naviny.by/rubrics/
elections/2010/12/15/ic_articles_623_171684 [31.01.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 131

voraussehbaren Manipulationen zu protestieren. Allerdings


verlief die Stimmabgabe am Wahltag selbst nach außen hin
ruhig und vorbildlich, und es ließen sich am frühen Abend
noch keine Aussagen darüber treffen, wie der Prozess der
Stimmauszählung organisiert sein würde, denn die Wahl­
lokale schlossen erst um acht Uhr abends.

Auf dem Oktoberplatz war eine große Eisbahn angelegt


worden, beschallt von Lautsprechern mit russischer Pop-
Musik, so dass die ersten Stellungnahmen der Kandi-
daten nicht zu verstehen waren. Zudem wurde es sehr
kalt, und es war abzusehen, dass sich die Menge von
einigen Tausend Menschen nach ein bis zwei
Stunden langsam auflösen würde. Es schien Die erste Provokation ereignete sich
offensichtlich, dass keiner der Oppositions- gegen 19 Uhr 30, als Wladimir Nekla-
jew zusammengeschlagen wurde. Die
kandidaten einen strategischen Plan für den Bilder des bewusstlosen Oppositions-
Ploscha hatte. kandidaten gingen um die Welt.

Die erste Provokation ereignete sich gegen 19 Uhr 30, als


Wladimir Neklajew auf dem Weg zur Kundgebung zusam-
mengeschlagen wurde. Die Bilder des bewusstlosen Oppo-
sitionskandidaten gingen um die Welt.5 Nekljajew war für
die Lautsprecheranlage verantwortlich, die den Auftritt der
Kandidaten akustisch hatte unterstützen sollen.

Gegen 20 Uhr 40 setzte sich die Menge auf dem Oktober­


platz unerwartet in Richtung Unabhängigkeitsplatz in
Bewegung. Der Präsidentschaftskandidat Kostusev berich-
tete später, man habe eigentlich zur Präsidialverwaltung
von Lukaschenko abbiegen wollen. Die vorangehenden
Oppositionskandidaten seien aber durch die Polizei von
der nachfolgenden Menge getrennt worden, die geradeaus
die Unabhängigkeitsstraße entlang ging und immer mehr
anschwoll. Es ist unklar, wer die Menge dort entlang führte.
Auf dem Unabhängigkeitsplatz hatten sich gegen 21 Uhr
30 etwa 20.000 Menschen versammelt, um die Kundge-
bung fortzusetzen. Lautsprecher waren beschafft worden,
einzelne Kandidaten sprachen, immer wieder ertönten
Sprechchöre mit der Forderung nach Neuwahlen ohne
Beteiligung Lukaschenkos. Als gegen 22 Uhr 30 bereits
ein Großteil der Demonstranten gegangen war, begann
eine Gruppe von etwa 15 Provokateuren, die Türen zum

5 | Der Zwischenfall ist auf Youtube zu sehen: http://youtube.com/


watch?v=trcsJ50jGWk [31.01.2011].
132 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Regierungsgebäude einzuschlagen, das sich etwas zurück-


gelegen am Platz befindet. Kurz darauf griffen die Sicher-
heitskräfte ein und lösten die Kundgebung gewaltsam
auf. Im Anschluss fand eine regelrechte Menschenjagd
im Zentrum von Minsk statt. Über 600 Personen wurden
festgenommen, darunter acht der neun Präsidentschafts-
kandidaten. Keiner der Provokateure, die die Türen zum
Regierungsgebäude eingeschlagen hatten, wurde unmit-
telbar danach inhaftiert, obwohl sie von der Einsatzpolizei
am Tatort eingekesselt waren. Ihre Gesichter waren sogar
am Abend deutlich auf den Bildern zu sehen, die das staat-
liche Fernsehen von den Ausschreitungen zeigte.

Vor dem Hintergrund der Ereignisse auf den Straßen war


das Wahlergebnis zweitrangig geworden. Gegen fünf Uhr
morgens verkündete Jermoschina, dass nach vorläufigen
Angaben auf Lukaschenko 79,67 Prozent,
Die Wahlbeobachtermission von OSZE/ auf Andrej Sannikow 2,56 Prozent und auf
ODHIR erklärte, dass die Wahlen nicht alle anderen Kandidaten weniger als zwei
den demokratischen Standards ent-
sprochen hätten. Die Beobachter der Prozent der Stimmen entfielen. Gegen alle
GUS hingegen bezeichneten die Wahlen Kandidaten hatten demnach 6,47 Prozent
als frei, offen und transparent.
der Menschen gestimmt.

Die Wahlbeobachtermission von OSZE/ODHIR erklärte


am Montag in einer vorläufigen Stellungnahme, dass die
Wahlen in Weißrussland nicht demokratischen Standards
entsprochen hätten: „Die gestrigen Präsidentschafts-
wahlen haben gezeigt, dass vor Weißrussland immer noch
ein weiter Weg liegt, wenn es seinen Verpflichtungen im
Rahmen der OSZE angemessen nachkommen will, obwohl
es einige konkrete Verbesserungen gegeben hat.‟6 Der
allgemeine Verlauf der Wahlen sei gut gewesen, doch habe
sich die Situation während der Auszählung der Stimmen
signifikant verschlechtert. Die Mission stufte das Prozedere
der Stimmauszählung in fast der Hälfte der besuchten
Wahllokale als sehr schlecht ein.7 Die Beobachtermission

6 | OSZE/ODHIR, „International election observation, Republic


of Belarus – Presidential Election, 19 December 2010,
Statement of preliminary findings and conclusions‟, in:
http://osce.org/odihr/74638, 1 [25.01.2011].
7 | „While the overall voting process was assessed as good, the
process deteriorated significantly during the vote count under-
mining the steps taken to improve the election. Observers
assessed the vote count as bad and very bad in almost half
of all observed polling stations. The count was largely conduc-
ted in a non-transparent manner, generally in silence, which ▸
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 133

der GUS hingegen bezeichnete die Wahlen als frei, offen


und transparent.8 Ihr Leiter Lebedev griff einige Tage
später sogar die ODHIR/OSZE-Mission scharf an: „Ihre
Meinung vor den Wahlen unterscheidet sich komplett von
der danach‟, erklärte er und wies darauf hin, dass viele
OSZE-Beobachter vorab einen positiven Eindruck geäu-
ßert hätten. „Und am Tag nach den Wahlen  – und das
gilt nicht nur für Weißrussland, sondern auch für andere
GUS-Länder – hören wir aus unerfindlichen Gründen eine
negative Einschätzung und die allgemeine Schlussfolge-
rung, dass die Wahlen nicht demokratischen Standards
und Prinzipien genügen.‟9

DIE FOLGEN: REPRESSIONEN UND SANKTIONEN

Die Wahlnacht war der Auftakt zu Repressionen, die


in ihrem Ausmaß selbst im Weißrussland unter Luka-
schenko bislang beispiellos sind. Federführend dabei ist
der Geheimdienst KGB. Die Mehrzahl der in der Wahl-
nacht Festgenommenen wurde zu Haftstrafen von zehn
bis 15 Tagen verurteilt, 20 Personen befanden sich Mitte
Januar immer noch in Haft. Gegen sie und gegenwärtig
elf weitere Personen wird nach Paragraph 293 des weiß-
russischen Strafgesetzbuches („Organisation
von Massenunruhen‟) ermittelt, nach dem Nach den Verhaftungen gab es wäh-
Haftstrafen von fünf bis 15 Jahren verhängt rend der Feiertage im ganzen Land
Durchsuchungen von Häusern, Woh-
werden können. Der genaue Gesundheits- nungen und Büros. Zahlreiche Men-
zustand von Wladimir Neklajew und Andrej schen wurden vom KGB unter Anklage
gestellt oder inhaftiert.
Sannikow, die am 19. Dezember zusammen-
geschlagen wurden, ist unbekannt. Nikolaj
Statkiewitsch ist in Hungerstreik getreten. Grigori Kostusev
hatte im Namen aller Oppositionskandidaten Beschwerde
gegen das Wahlergebnis eingereicht. Sie wurde als unbe-
gründet abgewiesen. Nach den Verhaftungen gab es
während der Feiertage (katholische Weihnachten, Neujahr,

undermined its credibility. In many cases, observers were


restricted and did not have a real opportunity to observe the
counting.‟
8 | „We believe that these elections were transparent and met
the requirements of the election legislation and common
democratic norms‟, CIS Executive Secretary Sergei Lebedev
told reporters in Minsk.‟ Zitiert nach der russischen Nachrich-
tenagentur RIA Novosti, http://en.rian.ru/world/20101220/
161854376.html [31.01.2011].
9 | Zitiert nach http://naviny.by/rubrics/elections/2010/12/25/
ic_news_623_358119 [31.01.2011].
134 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

orthodoxe Weihnachten) im ganzen Land Durchsuchungen


von Häusern, Wohnungen und Büros von Vertretern der
demokratischen Opposition, bei Menschenrechtsorgani-
sationen, Parteien, unabhängigen Zeitungen und Journa-
listen. Dutzende Computer, Notebooks und Datenträger
wurden beschlagnahmt. Gleichzeitig wurden zahlreiche
Menschen vom KGB zu Verhören geladen, unter Anklage
gestellt oder inhaftiert. Auch die Anwälte der Betroffenen
gerieten schnell in das Visier des Justizministeriums und
wurden u.a. durch Androhung des Lizenzentzugs unter
Druck gesetzt. Der Terror gegen die demokratischen Kräfte
setzte sich den gesamten Januar über fort.10 Nicht nur
durch die Repressionen im Land, auch diplomatisch begann
Weißrussland, sich nach den Wahlen abrupt zu isolieren.
Ein Sprecher des Außenministeriums in Minsk teilte am 31.
Dezember mit, das Mandat der OSZE in Weißrussland, das
zum Jahresende auslief, werde nicht verlängert. Es gebe
keine objektiv begründbare Notwendigkeit für die Anwe-
senheit einer OSZE-Vertretung im Land, die Mission der
OSZE sei erfüllt, die Feldpräsenz in Weißrussland könne
beendet werden.

International wurden die Wahlfälschungen, die Ausschrei-


tungen in der Wahlnacht und die anschließenden Repressi-
onen sowie die Schließung der OSZE-Vertretung verurteilt.
Die Außenminister Deutschlands, Schwedens, Polens und
der Tschechischen Republik erklärten am
Russland gratulierte Lukaschenko zur 23. Dezember in einem Beitrag in der New
Wiederwahl und erklärte, die Umstände York Times, Lukaschenko habe seine Wahl
der Wahl seien eine innere Angelegen-
heit. Ähnlich verhielten sich andere getroffen, und das sei eine Wahl gegen
post-sowjetische Länder. alles gewesen, wofür die Europäische Union
stehe.11 Zahlreiche Regierungen West- und
Mitteleuropas verlangten die umgehende Freilassung der
Inhaftierten und eine Bestrafung der Verantwortlichen.
Russland dagegen gratulierte Lukaschenko zur Wiederwahl

10 | Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es unmöglich, die weitere


innenpolitische Entwicklung vorherzusagen. Detaillierte Anga-
ben sowohl über den Verlauf des Wahlkampfes, die Wahlen
selbst als auch über die Repressionen nach den Wahlen sind
auf dem Wahlblog des Auslandsbüros Weißrussland der
Konrad-Adenauer-Stiftung zu finden unter http://kas.de/
belaruswahl.
11 | Carl Bildt, Karel Schwarzenberg, Radek Sikorski und Guido
Westerwelle, „Lukashenko the Loser‟, New York Times,
23.12.2010, in: http://nytimes.com/2010/12/24/opinion/
24iht-edbildt24.html [31.01.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 135

und erklärte, die Umstände der Wahl seien eine innere


Angelegenheit von Weißrussland. Ähnlich verhielten sich
andere post-sowjetische Länder wie Georgien und die
Ukraine. Am 31. Januar beschlossen die EU-Außenminister
in Brüssel, insgesamt 158 Personen, die für
die Wahlfälschungen und die Repressionen im Die EU-Außenminister betonten, die EU
Anschluss an die Wahlen verantwortlich sind, stehe für eine Fortsetzung des Dialogs
mit Weißrussland, Grundvoraussetzung
die Einreise in die EU zu verbieten und ihre dafür sei jedoch die Achtung demokra-
Konten in der EU einzufrieren. Die Liste, so tischer und rechtsstaatlicher Prinzipien.
hieß es, sei offen und könne jederzeit verän-
dert werden. Die Außenminister betonten, die EU stehe für
eine Fortsetzung des Dialogs mit Weißrussland, Grundvo-
raussetzung dafür sei jedoch die Achtung demokratischer
und rechtsstaatlicher Prinzipien sowie grundlegender
Men­schenrechte durch die weißrussische Regierung. Am
2. Februar stellten die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf
einer Geberkonferenz in Warschau insgesamt 87 Millionen
Euro über die nächsten zwei Jahre für die Unterstützung
der Zivilgesellschaft in Weißrussland in Aussicht. Einzelne
EU-Nachbarländer von Weißrussland (Polen, Lettland,
Estland) haben die nationale Visumsgebühr für unbeschol-
tene weißrussische Bürger abgeschafft.

WER STAND HINTER DEN AUSSCHREITUNGEN?

Einige Beobachter werfen Europa Versagen während der


letzten beiden Jahre vor, als versucht wurde, über den
Dialog mit dem Regime die zaghafte Liberalisierung in
Weißrussland in einen nachhaltigen Demokratisierungs-
prozess zu überführen. Diese Vorwürfe sind unangebracht,
denn es wird dabei so getan, als seien die Ereignisse am
19. Dezember vorhersehbar gewesen. Und es wird nicht
gesagt, was Europa hätte tun sollen, um die Ausschrei-
tungen zu verhindern. Unstrittig ist hingegen, dass Europa
jetzt eine neue Strategie für Weißrussland braucht. Um zu
verstehen, was in der Wahlnacht tatsächlich passiert ist,
sind folgende Fragen zu stellen: Wie konnte es zu der Eska-
lation kommen? Wer hat das Szenario dafür geschrieben?
Und was sollte mit der Provokation bezweckt werden?

Wenn im Folgenden drei unterschiedliche Theorien für das


dargestellt werden, was am 19. Dezember ablief, dann
geht es dabei nicht so sehr um Spekulationen über die
Hintermänner als vielmehr darum, die Herausforderungen
136 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

zu verdeutlichen, mit denen Europa in den nächsten Mona-


ten in Bezug auf Weißrussland konfrontiert sein wird.

These 1: Europa hat es in Lukaschenko mit einem unbere-


chenbaren und unkontrollierbaren Autokraten zu tun, der
mental, psychisch und intellektuell grundsätzlich nicht in
der Lage ist, demokratische Veränderungen im eigenen
Land zu akzeptieren, geschweige denn umzusetzen, und
dem es ausschließlich um den eigenen Machterhalt geht.
Das Signal zum Zuschlagen am 19. Dezember kam von
Lukaschenko. Während des „liberalen Wahlkampfes‟ war
wiederholt zu beobachten, wie schwer es ihm fiel, die
Offenheit der Kampagne zu ertragen und seinen Oppo-
nenten Kritik zu erlauben, ohne sie dafür zur Rechen-
schaft ziehen zu können. Diese drei Monate entsprachen
nicht der autoritären Mentalität, die ihm in den letzten 14
Jahren zu eigen geworden war. Lukaschenko zeigte sich an
einer Stelle sogar von seiner eigenen Geduld überrascht
und sah sein Land bereits derart demokratisch, dass alle
Nachbarn „vor so viel Demokratie erschrecken werden‟.
Nur widerwillig hatte er sich überhaupt auf diese Strategie
eingelassen, die zum Ziel hatte, seine vierte Amtszeit
international zu legitimieren. Dieser Lukaschenko, der sich
drei Monate lang hatte zusammenreißen müssen, um die
kontrollierte Liberalität zu ertragen, wurde am Wahltag
mit zwei Informationen konfrontiert, die ihn vollkommen
aus dem Gleichgewicht warfen: Parallel zur Erstellung des
offiziellen, fingierten Ergebnisses, das in der Nacht von der
Zentralen Wahlkommission verkündet wurde,
Das reale Ergebnis der Wahlen kennen waren die Stimmen in den lokalen Wahlkom-
nur wenige Eingeweihte. Die Vermu- missionen tatsächlich ausgezählt worden.
tungen reichen von 44 bis knapp über
50 Prozent. Das reale Ergebnis der Wahlen kennen nur
wenige Eingeweihte. Es war nicht günstig für
Lukaschenko  – die Vermutungen reichen von 44 Prozent
bis knapp über 50 Prozent. Gleichwohl wurde es ihm am
Abend mitgeteilt, und das war der erste Schock. Dann
sah er den beeindruckenden Demonstrationszug über die
Unabhängigkeitsstraße. 20.000 bis 30.000 Menschen, die
offen und ohne Angst Neuwahlen ohne seine Beteiligung
forderten. Die Erschütterung schlug in blindes Rasen um
und in den folgenschweren Befehl, für dessen Ausführung
sich umgehend willige Handlanger fanden.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 137

These 2: Europa hat es mit einer mafiaartigen Wirt-


schaftsclique zu tun, die mit enormer krimineller Energie
daran arbeitet, ausländische – und hier vor allem europä-
ische  – Einflüsse politischer wie wirtschaftlicher Natur zu
begrenzen. Demnach hatten die Ausschreitungen vor allem
zum Ziel, die Anerkennung der Wahlen durch
den Westen unmöglich zu machen und die Viele Vertreter der gegenwärtigen
labilen Beziehungen zwischen Weißrussland Nomenklatura in Weißrussland waren
und sind nicht an einer Veränderung
und der EU zu zerstören. Viele Vertreter der des Status quo interessiert. Eine Mo-
gegenwärtigen Nomenklatura in Weißruss- dernisierung des Landes wäre für sie
existenzbedrohend.
land waren und sind nicht an einer Verände-
rung des Status quo interessiert. Die schritt-
weise Annäherung zwischen Weißrussland und Europa seit
2008 hatten sie mit Sorge beobachtet. Eine Transforma-
tion oder Modernisierung des Landes nach europäischen
Standards wäre nicht nur existenzbedrohend für sie selbst,
sondern würde ihnen, wenn die Privatisierung weitestge-
hend transparent verliefe, auch wirtschaftlich die Chance
nehmen, sich angesichts der europäischen Konkurrenz
die Filetstücke der eigenen Wirtschaft zu einem Freund-
schaftspreis zu sichern.12 Und Privatisierungen muss es
in den nächsten Jahren geben, anders kann Weißrussland
die angehäuften Schulden nicht bedienen, die ab 2012
zurückzuzahlen sein werden. Die Frage ist nur, ob es eine
Nomenklatura-Privatisierung wie in Russland oder der
Ukraine wird oder ob sich das Land an den Erfahrungen der
mittelosteuropäischen Nachbarn in den neunziger Jahren
orientiert.

Die Ausschreitungen vor dem Regierungssitz waren von


langer Hand und über Wochen geplant. Dafür gibt es
zahlreiche Indikatoren. Etwa die zufällig gefundenen
Lieferwagen mit Molotov-Cocktails in Plastikflaschen,
Elektroschockern und Gasflaschen, die angeblich von der
Opposition vorbereitet waren und die am Wahltag im staat-
lichen Fernsehen gezeigt wurden. Auch der Einsatz der
Spezialeinheiten in der Wahlnacht trägt alle Züge einer gut

12 | In diesem Zusammenhang fällt auch die Frage, warum der


Präsidentschaftskandidat Ales Michalewitsch, der nachweis-
lich nicht an den Protesten in der Wahlnacht teilgenommen
und der auch während des Wahlkampfes jeden Angriff gegen
Lukaschenko vermieden hatte, immer noch in Haft ist. Offen-
bar wird sein Programm einer Modernisierung (und Euro-
päisierung) des Landes als gefährlicher eingestuft als etwa
der christliche Fundamentalismus von Rymaschewski.
138 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

vorbereiteten und mehrfach geprobten Aktion. Ganz sicher


befinden sich die Autoren des Szenarios in der unmittel-
baren Umgebung von Lukaschenko. Sie wussten, wie und
wann sie ihm welche Informationen vorzulegen hatten,
um ihn zu der impulsiven Reaktion zu provozieren, die
dann tatsächlich in der Nacht erfolgte. Svetlana Kalinkina
schreibt in ihrer Analyse der Sitzung vom 15. Dezember:
„Wer immer Lukaschenko um den Finger wickelte und damit
die Pläne einer internationalen Anerkennung seiner vierten
Amtszeit als Präsident zunichte machte, die Person saß in
dieser Sitzung am 15. Dezember. Warum sie
Europa sieht sich mit einem Russland das tat, aus Dummheit, aus ideologischen
konfrontiert, das Weißrussland als Gründen, aus Rache oder aus Angst, darüber
kanonisches Gebiet betrachtet und
keine Annäherung an Europa wünscht. kann man nur spekulieren.‟13

These 3: Europa sieht sich mit einem Russland konfron-


tiert, das Weißrussland als kanonisches Gebiet betrachtet,
keine Annäherung des Landes an Europa wünscht und
durch den Ausbau wirtschaftlicher Verflechtungen eine
schleichende Integration von Weißrussland in den Bestand
der Russischen Föderation betreibt. Der ehemalige Wirt-
schaftsberater des russischen Präsidenten, Andrej Illa-
rionow, legte in einem Interview mit dem Radiosender
Echo Moskwy seine Version der Ereignisse in Minsk dar.
Demnach hätte Russland für den 19. Dezember eine
Provokation nach dem Muster „Imitierung einer Orangenen
Revolution‟ vorbereitet. Eine zweite Provokation sei vom
weißrussischen Geheimdienst KGB als „Imitation eines
Sturmes auf das Regierungsgebäude‟ geplant gewesen. Es
sei davon auszugehen, so Illarionow, dass beide Szenarien
grundsätzlich miteinander abgestimmt gewesen sind und
die Geheimdienste wussten, was die jeweils andere Seite
vorhatte.

Die russische Provokation ist nach Einschätzung Illario-


nows aufgegangen. Ziel sei es gewesen, das weißrussische
Regime zu einer Reaktion zu bewegen, in deren Folge die
Beziehung zu Europa weitestgehend abgebrochen und das
Land wieder weit in den russischen Einflussbereich zurück-
geworfen werde, aus dem es sich in den letzten beiden

13 | Zitiert nach Swetlana Kalinkina, „Sobstwennoe okruschenie


obwelo Lukaschenko wokrug palca‟ (Die eigene Umgebung
hat Lukaschenko um den Finger gewickelt), in: http://udf.by/
news/sobytie/37406-sobstvennoe-okruzhenie-obvelo-
lukashenko-vokrug-palca.html [31.01.2011].
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 139

Jahren mühsam herausgearbeitet hatte. Der weißrussische


Geheimdienst sei dann auf den Zug aufgesprungen und
habe mit Hilfe der Ausschreitungen seine eigenen Ziele
verfolgt, nämlich die Zerschlagung der demokratischen
Opposition im Land und die vollständige Säuberung des
politischen Raumes. Auch das sei gelungen oder werde
gegenwärtig umgesetzt.

Für Illarionow haben die Ausschreitungen in Minsk eine


Dimension, die weit über den lokalen oder nationalen
Rahmen hinausreicht: „Ich glaube, dass diese schweren,
tragischen, dramatischen Ereignisse eine bittere Lehre für
die weißrussische Gesellschaft, aber auch für die russische
Gesellschaft und für Gesellschaften in anderen autoritären
Staaten sind. Und zwar deshalb, weil man gerade dann,
wenn die Menschen für ihre eigene Stimme kämpfen, für
die Schaffung einer demokratischen Gesellschaft, für die
Entwicklung rechtsstaatlicher Verhältnisse im eigenen
Land, stets bedenken muss, wer diesen Kräften entge-
gensteht und von welcher Natur diese autoritären Regime
sind. Man muss antizipieren, was für eine Art von Provoka-
tion das eigene Regime, aber auch andere Regime außer-
halb der eigenen Staatsgrenzen vorbereiten und welche
Methoden und Instrumente sie anzuwenden bereit sind,
um ihre Ziele zu erreichen.‟14

SOLIDARITÄT MIT DEN DEMOKRATEN


IN WEISSRUSSLAND

Seit den Ereignissen am 19. Dezember ist eine Welle von


Solidarität mit den Verfolgten im Land zu beobachten.
Im Parteibüro der Belarussischen Volksfront wurden vor
Weihnachten Hilfspakete und Spenden für die über 600
Inhaftierten gesammelt. „Die Menschen stehen Schlange,
um zu helfen‟, erklärte ein Koordinator der
Aktion. Die Hilfsbereitschaft zeigt, dass die Lukaschenko verfügt über keinen
Stimmung im Land gekippt ist: Das Regime Rückhalt mehr in der Bevölkerung. Er
hat die Menschen durch sein brutales
Lukaschenko verfügt über keinen Rückhalt Vorgehen endgültig verloren.
mehr in der Bevölkerung. Lukaschenko hat
die Menschen durch sein brutales Vorgehen endgültig
verloren, und es zeichnet sich ab, dass sein Sieg am 19.
Dezember ein Phyrrussieg war.

14 | Auszüge aus dem Interview unter http://belaruspartizan.org/


bp-forte/?page=100&news=73938 [31.01.2011].
140 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Das kann auch der Ausgangspunkt für Europa sein,


gemeinsam mit den Menschen im Land einen tatsächlichen
Wechsel in Weißrussland einzuleiten. Drei Dinge sind jetzt
wichtig:

1. Das Einreiseverbot für Vertreter des Regimes muss an


eine deutliche Einreiseerleichterung für weißrussische
Bürger in die EU gekoppelt sein. Das betrifft sowohl die
Prozeduren in den Konsulaten als auch die Visumsge-
bühren.

2. Die EU-Kommission muss die Unterstützung für die


Zivilgesellschaft in Weißrussland massiv und nachhaltig
ausbauen. Wichtig ist dabei nicht nur eine Aufstockung
der Programme, sondern auch eine Flexibilisierung der
Verfahren. An den zuständigen EU-Stellen in Brüssel
und den Delegationen in Kiew und Minsk müssen kom-
petente Vertreter sitzen, die eine klare Vorstellung von
den Rahmenbedingungen besitzen, unter denen die
Zivilgesellschaft in Weißrussland existiert.

3. Die EU muss Russland noch klarer zu verstehen geben,


dass sie Weißrussland als einen unabhängigen und
souveränen Staat betrachtet und ein entschiedenes
Interesse an einer demokratischen Entwicklung des
Nachbarn besitzt. Gleichzeitig muss Europa selbst zu
verstehen beginnen, dass Weißrussland ein Land mit
einer langen europäischen Geschichte und Tradition
ist, das in der Vergangenheit zu Unrecht entweder
eine Leerstelle war oder wie ein lästiger Appendix der
eigenen außenpolitischen Agenda betrachtet wurde.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 141

DIE DEUTSCHE MINDERHEIT


IN POLEN
BASISDATEN, STRUKTUR, POLITISCHE REPRÄSENTANZ
UND ZWEI EXKURSE ZUR POLONIA UND ZUR
SCHLESISCHEN AUTONOMIEBEWEGUNG

Stephan Georg Raabe

Es ist nicht einfach, sich über das Vorhandensein nationaler


oder ethnischer Minderheiten in der EU zu informieren. In
der umfangreichen Bevölkerungsstatistik (Ausgabe 2006)
der Europäischen Kommission tauchen die Minderheiten,
die nach Schätzungen rund 45 Millionen Menschen in den 27
EU-Staaten ausmachen, nicht auf. Sucht man im Internet
nach Minderheiten in der EU, so wird man auch nicht recht
fündig. Wo doch alles Mögliche gezählt und gewogen wird: Stephan Georg Raabe
Eine aktuelle Übersicht darüber, welche Minderheiten es ist Auslandsmitarbeiter
der Konrad-Adenauer-
in den einzelnen EU-Ländern gibt, wie groß sie sind und Stiftung in Warschau.
welchen Status sie haben, findet man unter den Informa-
tionen der EU kaum. So bleibt der mühsame Weg über die
Analyse der einzelnen Staaten.

In Polen gibt es nach der Volkszählung von 2002 folgende


Bevölkerungsgruppen, wobei die Daten für die Minder-
heiten niedriger liegen als die Schätzungen von Beobach-
tern und den Minderheitenorganisationen selbst:

Tabelle 1
Bevölkerungsgruppen in Polen 2002

Anzahl Anteil in %

Polen 36,98 Mio. 96,75

Oberschlesier 173.200 0,45

Deutsche 152.900 0,40

Weißrussen 48.700 0,13

Ukrainer 31.000 0,08

Roma 12.900 0,03


142 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Desweiteren gibt es noch einige Tausend Russen, Lemken,


Litauer, Kaschuben, Slowenen und Armenier, die zusammen
weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung ausmachen,
und gut zwei Prozent weitere Bevölkerungsgruppen bzw.
„Unbekannte‟.

Die hohe Migration von deutsch-polni- Von deutscher Seite wird die Zahl der Deut-
schen Doppelstaatlern nach Deutsch- schen in Polen auf knapp 300.000 geschätzt,
land und in andere westliche Länder
macht eine Bestimmung der in Polen was in etwa der Zahl derjenigen entspricht,
lebenden Deutschen schwierig. die sich bei der Volksbefragung als Deutsche
oder Oberschlesier bekannten. Die hohe
Migration von deutsch-polnischen Doppelstaatlern nach
Deutschland und in andere westliche Länder, die zum Teil
noch in Polen gemeldet sind, macht aber eine zuverlässige
Bestimmung der tatsächlich in Polen lebenden Deutschen
schwierig.

DIE VORGESCHICHTE

Polen war vor den Teilungen am Ende des 18. Jahrhun-


derts die Heimat vieler ethnischer Gruppen: Litauer,
Letten, Weißrussen, Ukrainer, Deutsche und Juden. Letz-
tere siedelten sich seit dem Hochmittelalter in Polen an,
angezogen von der großen religiösen Toleranz, gelten
aber bis heute eigenartigerweise als nationale Minderheit
und nicht nur als Religionsgemeinschaft, da sie bis ins
20. Jahrhundert nicht oder nur unvollständig in die polni-
sche Mehrheitskultur integriert waren. In der Teilungszeit
machten die Polen selbst die Erfahrung, ein Minderheiten-
volk in Russland, Deutschland oder Österreich-Ungarn zu
sein. Nach dem Wiedererstehen Polens Ende 1918 setzte
sich die Bevölkerung aus fast 70 Prozent Polen und gut
30 Prozent anderer Nationalitäten zusammen: 14 bis 15
Prozent Ukrainer bzw. Ruthenen, gut acht Prozent Juden,
drei bis vier Prozent Weißrussen und zwei bis vier Prozent
Deutsche, wobei insbesondere die nationalistische Politik
gegen die Deutschen zu deren teilweiser Abwanderung
führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, der
Verschiebung Polens nach Westen, den Vertreibungen,
Umsiedlungen und späteren Aussiedlungen ging der Anteil
der Minderheiten in Polen auf zuletzt rund drei Prozent
zurück. Dabei stellen die in ihrer Heimat verbliebenen Ober-
schlesier, bzw. Deutschen die weitaus größte Gruppe. Sie
waren im kommunistischen Polen einem systematischen
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 143

polnischen Assimilierungsdruck und nicht selten Repres-


sionen ausgesetzt. Unter dem Eindruck der nationalsozi-
alistischen Verbrechensherrschaft und der Inbesitznahme
deutschen Landes sollte alles Deutsche, insbesondere die
Sprache und Kultur, aus dem öffentlichen,
aber auch privaten Leben verschwinden. Lange Zeit war die Benutzung der
Lange Zeit war die Benutzung der deutschen deutschen Muttersprache unter Strafe
gestellt, weshalb manche Vertreter der
Muttersprache unter Strafe gestellt, weshalb deutschen Minderheit bis heute nur
manche Mitglieder und Vertreter der deut- schlechte Deutschkenntnisse haben.
schen Minderheit bis heute nur schlechte
Deutschkenntnisse haben. Lange Zeit wurde überhaupt das
Vorhandensein von Deutschen in Polen, ihrer Geschichte
und Kultur weitgehend geleugnet. 1970, als über die
„Grundlagen der Normalisierung‟ der deutsch-polnischen
Beziehungen verhandelt wurde, ging das polnische Regime
von nur „einigen Zehntausend‟ deutschstämmigen polni-
schen Staatsbürgern aus.1

Nach 1989 konnten sich auch die Deutschen in Polen wieder


zu ihrer Herkunft bekennen und offen organisieren. Als am
12. November 1989 gleich einige tausend Angehörige der
deutschen Minderheit – mit Unterstützung des deutschen
Außenministeriums  – am Versöhnungsgottesdienst mit
Bundeskanzler Helmut Kohl und Premierminister Tadeusz
Mazowiecki im niederschlesischen Kreisau teilnahmen,
war die Überraschung auf polnischer Seite groß. Irritation
breitete sich aus, als sie auch noch Transparente mit der
Aufschrift „Helmut, Du bist auch unser Kanzler‟ entrollten.

ORGANISATIONSSTRUKTUR UND INTEGRATION

Nachdem sich 1990 bereits viele lokale Organisationen der


deutschen Minderheit in Polen gebildet hatten, wurde am
15. September 1990 auf einer Versammlung der Vertreter
dieser deutschen Gesellschaften in Breslau beschlossen,
einen Zentralrat mit Sitz in Groß Strehlitz bei Oppeln zu
bilden. Ein Jahr später, am 27. August 1991, wurde er als
„Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften
in Polen‟ (VdG) mit dem Sitz in Oppeln eingetragen.
Nach eigenen Angaben hatte der VdG 2008 rund 250.000

1 | Vgl. Gregor Schöllgen, „Wenn die Worte versagen. Bundes-


kanzler Willy Brandt und die schwierige Verständigung mit
Polen: Die Vorgeschichte des 7. Dezember 1970‟, Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 07.12.2010, 8.
144 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Mitglieder (2007: 290.000). Als Dachverband umfasst


er neun regionale Vereinigungen als ständige Mitglieder,
sechs assoziierte Mitglieder und fünf selbständige Organi-
sationen, darunter je eine Jugend-, Frauen- und Bauern-
organisation sowie Bildungs-, Wirtschafts- und Wohl­
tätigkeitsgesellschaften. Außerdem gibt es ein Dutzend
deutsch- oder zweisprachige Redaktionen für Zeitung,
Radio und Fernsehen. Der weitaus größte Verband sitzt
in der Wojewodschaft Oppeln mit rund 130.000 Mitglie-
dern (2007: 180.000) und ca. 300 Ortsvereinen, den so
genannten Deutschen Freundschaftskreisen (DFK), der
zweitgrößte Verband in der Wojewodschaft Schlesien mit
rund 70.000 Mitgliedern. Die Geschäftsstelle des VdG ist
mit sechs Mitarbeitern ausgestattet.2

Die Förderung der deutschen Minder- Die Organisationen der Deutschen in Polen
heit durch Bundesmittel ruft auch engagieren sich gemeinnützig und werden
Neid hervor, zumal „die Deutschen‟
den Vorzug des freien Zugangs zu den maßgeblich durch Mittel des Bundeshaus-
westlichen Arbeitsmärkten genießen. haltes gefördert. Das reicht von der Wirt-
schaftsförderung etwa der Stiftung für die
Entwicklung Schlesiens bis zur Jugend- und Erwachse-
nenbildung etwa durch das Haus der deutsch-polnischen
Zusammenarbeit in Gleiwitz/Oppeln. Die Förderung durch
das „reiche‟ Deutschland ruft aber mitunter auch Neid
und Missgunst hervor, zumal „die Deutschen‟ seit vielen
Jahren den Vorzug des freien Zugangs zu den westlichen
Arbeitsmärkten genießen, mit den damit verbundenen
Verdienstmöglichkeiten, den „die Polen‟ erst nach und
nach eingeräumt bekommen. Erst am 1. Mai 2011 tritt die
vollständige Arbeitsmarktöffnung Deutschlands in Kraft.

So bleibt das Leben der deutschen Minderheit in Polen eine


ständige Gratwanderung zwischen notwendiger Integra-
tion in die polnische Mehrheitsgesellschaft und Bewahrung
der eigenen Identität, wobei immer stärker auf die Vorzüge
einer „multikulturellen Identität der Region‟ abgehoben
wird.

Von der alten Heimat Deutschland teilweise vergessen


oder stiefmütterlich behandelt, von der neuen Heimat
Polen mindestens misstrauisch beäugt oder gar abgelehnt,

2 | Neben der Leiterin, Maria Neumann, gibt es Referenten für


Kultur, Schule, Medien und Außenkontakte, Buchhaltung und
Verwaltung. Vgl. http://vdg.pl/de.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 145

fühlen sich heute nicht wenige der Deutschstämmigen in


Polen weder von Warschau noch von Berlin, weder von den
deutschen Vertriebenenverbänden noch von der organi-
sierten deutschen Minderheit vertreten. So konnte einer-
seits die oberschlesische Autonomiebewegung erstarken.
Andererseits nimmt aber die Bedeutung der ethnischen
Zugehörigkeit und damit die Einbindung in die Organisa-
tionen der Deutschen ab, was zusätzlich durch die Fremd-
heit der deutschen Sprache und Kultur befördert wird.
Zwar gibt es seit 1992 in polnischen staatlichen Schulen
Deutschunterricht für Muttersprachler, wobei die Zahl
dieser Schulen von zehn auf 332 Schulen 2004 stieg, die
von rund 35.000 Schülern besucht wurden. Ein eigenes
Schulwesen der deutschen Minderheit, etwa ein zweispra-
chiges Lyzeum, gibt es nicht.

PERSONELLER NEUANFANG

In den letzten beiden Jahren kam es in der Führung sowohl


des VdG als auch des Oppelner Verbandes zu einem Gene-
rationswechsel. Seit dem 26. April 2008 ist der Germanist
Norbert Rasch, Jahrgang 1971, Vorsitzender der Sozial-
Kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schle-
sien. Zuvor hatte der langjährige Vorsitzende Henryk Kroll,
Jahrgang 1949, der die Minderheit von 1991 bis 2007
ununterbrochen im Sejm, dem polnischen Parlament,
vertrat, sein Amt niedergelegt. Rasch, der seit 2005 Abge-
ordneter des Sejmik der Wojewodschaft Oppeln ist, steht
für eine tendenzielle Schwerpunktverlagerung weg von
der Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik hin zur Kultur-
und Sprachpolitik, um das Überleben der Minderheit zu
sichern. Seit dem 11. Mai 2009 gehört er auch dem neuen
Vorstand des VdG an, dessen Vorsitzender seitdem der
Handelsunternehmer Bernhard Gaida, Jahrgang 1958, aus
dem Oberschlesischen Dobrodzień (Guttentag) ist. Ähnlich
wie Rasch sieht auch Gaida in der Schaffung von Schulen
mit einem möglichst umfassenden Deutschunterricht ein
vorrangiges Ziel. Er will sich vor allem um die „Identität
der Minderheit‟ und eine größtmögliche Ausschöpfung
der minderheitenpolitischen Möglichkeiten der polnischen
Gesetzgebung kümmern.3

3 | Vgl. Martin Schmidt, „Bernhard Gaida – Mann der Hoffnung‟,


Berliner Schlesische Nachrichten (Hrsg. Landsmannschaft
Schlesien – Nieder- und Oberschlesien Landesgruppe Berlin/
Mark Brandenburg e.V.), 02/2009, 4 f.
146 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

DAS MINDERHEITENGESETZ IN POLEN

Am 6. Januar 2005 verabschiedete der Sejm nach über


zehnjähriger Diskussion mit den Stimmen der damals
noch regierenden Linken und der Bürgerplattform PO das
„Gesetz über nationale und ethnische Minderheiten und
Regionalsprachen‟. Damit erfüllte er einen Auftrag der
polnischen Verfassung und schuf eine gute Grundlage für
das Zusammenleben. Von Seiten der deutschen Minderheit
wurde das Gesetz als großer Fortschritt gelobt. Vertreter
der nationalen Partei „Liga der Polnischen Familien‟ (LPR)
sahen dagegen darin den ersten Schritt „einer breiteren
Aktion zur Germanisierung‟ der Region.4

Gibt es mehr als 20 Prozent Angehörige Umstritten war vorher vor allem die Quote
einer Minderheit in einer Gemeinde, für die Nutzung der Sprache einer Minder-
dann haben diese seit 2005 das Recht,
bei Kontakten mit den örtlichen Behör- heit als Amtssprache neben dem Polnischen
den ihre Muttersprache anzuwenden. in den Gemeinden. Gibt es mehr als 20
Prozent Angehörige einer Minderheit in einer
Gemeinde, dann haben diese seit 2005 nun das Recht,
bei Kontakten mit den örtlichen Behörden ihre Mutter-
sprache anzuwenden. Gleichzeitig haben diese Gemeinden
die Möglichkeit, zweisprachige Orts- und Straßenschilder
aufzustellen, was nach einigen Jahren vor allem im Oppel-
nern Schlesien, wo die große Mehrheit der deutschen
Bevölkerungsgruppe lebt, immer stärker genutzt wurde,
teilweise aber zu Widerstand und Unmut unter der polni-
schen Bevölkerung führte. Insgesamt könnten wohl 30
Gemeinden in den Wojewodschaften Oppeln (28) und
Schlesien (2) die Zweisprachigkeit einführen. 24 Orte
haben dies bis jetzt verwirklicht. Ebenso haben sieben von
zwölf pommerschen Gemeinden, die das Minderheiten-
quorum erfüllen, Kaschubisch als Zweitsprache eingeführt.
Auch die von zahlreichen Litauern besiedelte Gemeinde
Puńsk und die von Lemken bewohnte Gemeinde Gorlice in
Kleinpolen sind doppelsprachig. Zwölf Kommunen im Nord-
osten Polens könnten zudem Weißrussisch als Ergänzung
einführen.

4 | Der Text des Minderheitengesetzes ist in deutscher Sprache


im Internet zugänglich unter: http://www.bilingual.com.pl/
pdf/Polnisches%20Minderheitengesetz.pdf [03.02.2011]; vgl.
Renata Mróz, „Polen verabschiedet neues Minderheitengesetz‟,
in: http://polen-news.de/puw/puw73-15 [03.02.2011];
Markus Waschinski, „Die deutsche Minderheit in Polen‟,
Polen-Analysen Nr. 26, 2008, 6.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 147

Tabelle 2
Gemeinden mit deutscher Bevölkerung über 20 Prozent
oder mit Zweisprachigkeit und/oder deutschen Bürger-
meistern

Anteil in % Anzahl deutscher Bürgermeister

Wojewodschaft Opolskie / Oppeln

Kreis Kędzierzyń-Kożle / Kandrzin-Cosel

Bierawa / Birawa 24,6 2.010

Cisek / Czissek ◪ 42,4 2.978 Alojzy Parys

Pawłowiczki / Pawlowitzke 20,7 1.802

Polska Cerekiew / Groß Neukirch 21,9 1.082 Krystyna Helbin

Reńska Wieś / Reinschdorf 34,5 3.042 Marian Wojciechowski

Kreis Kluczbork / Kreuzburg

Lasowice Wielkie / Gross Lassowitz ◪ 37,6 2.735

Kreis Krapkowice / Krappitz

Gogolin ◪ k.A. k.A. Joachim Wojtala

Krapkowice / Krappitz k.A. k.A. Andrzej Kasiura

Strzeleczki / Klein Strehlitz ◪ 41,6 3.418 Bronisław Kurpiela

Walce / Walzen ◪ 31,7 1.970 Bernhard Kubata

Zdzieszowice / Deschowitz k.A. k.A. Dieter Przewdzing

Kreis Olesno / Rosenberg

Dobrodzień / Guttentag ◪ 25,0 2.762 Róża Kożlik

Gorzów Śląski / Landsberg k.A. k.A. Artur Tomala

Olesno / Rosenberg 23,8 4.608

Radłów / Radlau ◪ 27,9 1.295 Włodzimierz Kierat

Zębowice / Zembowitz ◪ 42,1 1.782 Waldemar Czaja

Kreis Opole / Oppeln

Dobrzeń Wielki / Groß Döbern ◪ 20,3 2.885 Henryk Wróbel

Chrząstowice / Chronstau ◪ 25,7 1.705 Helena Rogacka

Komprachcice / Comprachtschütz ◪ 29,5 3.260 Paweł Smolarek

Łubniany / Lugnian ◪ 27,4 2.486 Krystian Baldy

Murów / Murow ◪ 31,0 1.955

Prószków / Prosaku ◪ 30,2 3.046 Róża Malik

Ozimek / Malapane k.A. k.A. Marek Korniak

Tarnów Opolski / Tarnau ◪ 23,8 2.447

Turawa 20,6 1.983 Waldemar Kampa

Prozentzahl = Anteil der Deutschen, ◪ = zweisprachige Gemeinde


148 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Anteil in % Anzahl deutscher Bürgermeister

Kreis Prudnik / Neustadt

Biała / Zülz ◪ 42,0 5.103 Arnold Hindera

Głogówek / Oberglogau ◪ 24,3 3.680

Kreis Strzelce / Groß Strehlitz

Izbicko / Stubendorf ◪ 28,1 1.563 Brygida Pytel

Jemielnica / Himmelwitz ◪ 23,7 1.822 Joachim Jelito

Kolonowski / Colonnowska ◪ 41,1 2.703 Norbert Koston

Leśnica / Leschnitz ◪ 26,9 2.409 Łukasz Jastrzębski

Ujazd / Ujest ◪ 25,2 1.607

Wojewodschaft Śląskie / Schlesien

Kreis Racibórz / Ratibor

Krzanowice / Kranowitz ◪ 20,5 1.285

Rudnik / Rudnick ◪ k.A. k.A.

Prozentzahl = Anteil der Deutschen, ◪ = zweisprachige Gemeinde

Das Gesetz sieht auch eine finanzielle Unterstützung des


Staates für die kulturellen Aktivitäten der Minderheiten
vor. Darüber hinaus enthält es nicht viel Neues. Die
meisten Paragraphen standen schon in früheren Gesetzen
und Verordnungen, etwa das Recht auf eigene Sprache,
Tradition, Kultur, eigene Bildungs- und Kulturinstitutionen,
muttersprachlichen Schulunterricht sowie eigene Vor- und
Nachnamen. Festgelegt wird im neuen Gesetz dagegen
erstmals, welche Gruppen zu einer nationalen und zu einer
ethnischen Minderheit zu zählen sind. Das Gesetz bezieht
sich demzufolge auf die nationalen Minderheiten der Arme-
nier, Deutschen, Litauer, Russen, Slowaken, Tschechen,
Ukrainer, Weißrussen, auf Juden sowie vier ethnische Mino-
ritäten, die der Karaimer, Lemken, Roma und Tataren, nicht
dagegen auf die sich in den letzten Jahren konstituierende
Volksgruppe der Schlesier. Zudem regelt es den Gebrauch
der Sprache der Kaschuben, die in der Gegend südwestlich
von Danzig ansässig sind. Der seit 2007 regierende Premi-
erminister Donald Tusk kommt aus der Kaschubei.5

5 | Weiterführende Literatur: Peter Oliver Loew, „Nationale und


ethnische Minderheiten‟, in: Dieter Bingen, Krzysztof Ruchnie-
wich (Hrsg.), Länderbericht Polen, (Bonn: Bundeszentrale für
politische Bildung, 2009), 360-372; Markus Waschinski, „Die
deutsche Minderheit in Polen‟, Polen-Analysen Nr. 26, 2008;
Stephan Georg Raabe, „Zur Lage der deutschen Volksgruppe
in Polen‟, KAS-Länderbericht, 2005.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 149

Tabelle 3
Gemeinden mit Hilfssprachen

Kaschubisch Wojewodschaft

Sierakowice Pomorskie / Pommern

Bytów Pomorskie / Pommern

Stężyca Pomorskie / Pommern

Chmielno Pomorskie / Pommern

Szemud Pomorskie / Pommern

Linia Pomorskie / Pommern

Kartuzy Pomorskie / Pommern

Litauisch

Puńsk / Punskas Podlaskie / Podlachien

Lemkisch

Gorlice Małopolskie / Kleinpolen

DIE POLONIA6 IN DEUTSCHLAND

Für die polnische Politik ist eine gute Behandlung der


nationalen Minderheiten im eigenen Land insofern von
Bedeutung, als in Litauen, Weißrussland und der Ukraine
autochthone polnische Minderheiten leben und in Deutsch-
land eine große polnischsprachige Gruppe existiert. Über
die Behandlung der polnischen Minderheit in Litauen gibt
es häufiger Streit. Für die polnischsprachige Bevölkerung
in Deutschland fordert Polen ähnliche Rechte wie sie die
deutsche Minderheit in Polen hat, wobei sie sich auf den
deutsch-polnischen Nachbarschafts- und Freundschafts-
vertrag von 1991 beruft, der am 17. Juni sein zwanzig-
jähriges Jubiläum hat. In Rundtischgesprächen auf Einla-
dung der beiden Innenministerien wird seit Februar 2010
unter Beteiligung der Vertreter der deutschen Minderheit
in Polen und der Polonia in Deutschland über die Förde-
rung dieser Bevölkerungsgruppen beraten. Der deutsch-
polnische Nachbarschaftsvertrag räumt in den Artikeln
20/21 der Polonia in Deutschland dieselben Rechte ein wie
der deutschen Minderheit in Polen, obgleich sowohl der
Status der beiden Bevölkerungsgruppen – alteingesessene
­Bevölkerung einerseits, Einwanderer andererseits  – als
auch die Siedlungsverhältnisse und die Bevölkerungsstruk-
turen in beiden Ländern unterschiedlich sind.

6 | Das Wort Polonia bezeichnet hier die Gesamtheit der dauer-


haft in Deutschland lebenden Polen.
150 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

In der Weimarer Republik waren die Polen als nationale


Minderheit anerkannt. Unmittelbar vor Beginn des Zweiten
Weltkriegs wurde die Führung dieser Minderheit jedoch
verhaftet und in den Konzentrationslagern Sachsenhausen
und Buchenwald interniert. Die Anerkennung als Minderheit
wurde von der nationalsozialistischen Diktatur per Dekret
wenig später widerrufen, die polnischen Minderheitenor-
ganisationen verboten und ihr Besitz beschlagnahmt. Mit
der Westverschiebung der deutsch-polnischen Grenze an
die Oder-Neiße-Linie 1945 wurden die Gebiete, in denen
eine autochthone polnische Minderheit ansässig war (vor
allem die Grenzregionen der preußischen Provinzen Ober-
schlesien, Grenzmark Posen, West- und Ostpreußen), Teile
des nunmehr kommunistisch beherrschten Polen. Deshalb
gehört die polnische Bevölkerung in Deutschland heute
nicht mehr zu den anerkannten nationalen Minderheiten,
obgleich die rechtliche Liquidierung der polnischen Minder-
heit der Vorkriegszeit mit dem Inkrafttreten des Grund-
gesetzes der Bundesrepublik 1949 aufgehoben wurde.
Bei den jetzt in Deutschland lebenden Polen handelt es
sich mehrheitlich um deutsch-polnische Aussiedler, die
zusammen mit der polnischstämmigen Bevölkerungs-
gruppe etwa 1,3 Prozent der Bevölkerung (etwas über
eine Millionen Menschen nach dem Mikrozensus 2005)
ausmachen. Allein zwischen 1950 und 1989 gingen rund
1,2 Millionen Deutsche und ihre Familienangehörigen als
Aussiedler in die Bundesrepublik.

Dennoch, aus Warschauer Sicht ist die Behandlung der


Polonia in Deutschland weit von den Privilegien der Deut-
schen in Polen entfernt, weshalb auf eine stärkere Förde-
rung von Sprache und Kultur, von Organi-
Vertreter der polnischen Volksgruppe sationsstrukturen und die Einräumung von
fordern die Beseitigung der ihrer Mei- Beteiligungsmöglichkeiten gedrungen wird.
nung nach bestehenden Asymmetrie
in der Umsetzung des deutsch-polni- Vertreter der polnischen Volksgruppe fordern
schen Nachbarschaftsvertrages. darüber hinaus die Anerkennung der Polen
in Deutschland als nationale Minderheit und
die Gewährung der daraus resultierenden Rechte. Zudem
fordern sie die Beseitigung der ihrer Meinung nach beste-
henden Asymmetrie in der Umsetzung des deutsch-
polnischen Nachbarschaftsvertrages. Dies birgt politischen
Sprengstoff. Da in Polen im nächsten Herbst Parlaments-
wahlen anstehen, wird dieses Thema wahrscheinlich von
national-konservativen Kräften aufgegriffen.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 151

Die Polonia in Deutschland ist  – wenn auch mit relativ


schwacher Mitgliederzahl – organisiert im Bund der Polen
in Deutschland und im Polnischen Kongress in Deutsch-
land. Der Vorsitzende des Bundes der Polen, Marek
Wójcicki, ist bezeichnenderweise in den achtziger Jahren
auf dem Ticket der deutschen Minderheit nach Deutschland
gekommen, was die eigenartige Gemengelage deutlich
macht. Eine besondere Rolle kommt der Polnischen Katho-
lischen Mission in Deutschland zu, die neben ihrer seelsor-
gerischen Tätigkeit auch Unterricht für Kinder in polnischer
Sprache anbietet.

REPRÄSENTANZ DER DEUTSCHEN MINDERHEIT


IN SEJM UND SELBSTVERWALTUNG

Seit 1991 trat die deutsche Minderheit mit eigenen Listen zu


den Sejm-Wahlen an, wobei sie von der 1993 eingeführten
Fünf-Prozent-Hürde befreit ist. Bei den ersten vollständig
freien Wahlen 1991 votierten landesweit rund 132.000
Bürger (1,18 Prozent) für die Listen der Deutschen Minder-
heit (DMi), davon 74.000 im Oppelner Schlesien. Das ergab
sieben Abgeordnetenmandate. 1993 gewann die DMi vier,
1997, 2001 und 2005 jeweils nur noch zwei
Mandate. Bei den Wahlen 2007 stimmten Bei den Wahlen 2007 stimmten nur 0,2
nur noch 32.462 Bürger (0,2 Prozent) für Prozent für die Listen der Deutschen
Minderheit (DMi). Die Unterstützung
die DMi. Die Unterstützung ging also bei den ging bei den Parlamentswahlen konti-
Parlamentswahlen kontinuierlich zurück. Im nuierlich zurück.
Sejm ist die DMi jetzt nur noch mit einem
Abgeordneten vertreten, mit Ryszard Galla, der zugleich
Präsident des Hauses der deutsch-polnischen Zusam-
menarbeit in Gleiwitz ist. Die Ursachen für das schwache
Abschneiden bei der Wahl 2007 sind wohl zum einen in der
gestiegenen Wahlbeteiligung in der Wojewodschaft Oppeln
(2005: 33,5 Prozent; 2007: 45,5 Prozent) zu suchen, die
verbunden war mit dem Charakter der Wahl als nationales
Referendum gegen die national-konservative Partei Recht
und Gerechtigkeit (PiS)7. Zum anderen liegen sie in der
nachlassenden Bindung vor allem jüngerer Menschen an
die politische Vertretung der DMi, in der mangelnden Mobi-
lisierung sowie in der Überalterung.

7 | Bei geringer Wahlbeteiligung schnitt die DMi bisher wegen


ihres guten Netzwerkes zur Wählermobilisierung besser ab.
Vom Anstieg der Wahlbeteiligung um zwölf Prozent profitier-
ten dagegen überproportional die großen Parteien, vor allem
die Bürgerplattform PO, aber auch PiS.
152 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Hinzu kommt die verdeckte Arbeitsmigration aus der


Region, die in besonderer Weise die Doppelstaatler betrifft.
Laut einer Untersuchung der Wojewodschaft Oppeln
von 2007 sind ca. 330.000 Autochthone in der Region
gemeldet, ein knappes Drittel der Gesamtbevölkerung.
Darunter sind ca. 80.000 Personen, fast ein Viertel, die
ganz oder teilweise im Ausland leben. Damit ist ein Teil des
Wählerpotentials der DMi schlicht nicht anwesend, was sich
auch an der im Landesvergleich grundsätzlich niedrigsten
Wahlbeteiligung in der Wojewodschaft Oppeln und insbe-
sondere in den Kreisen mit starker deutscher Bevölkerung
ablesen lässt. Dort lag 2007 die Wahlbeteiligung sechs bis
sieben Prozent unter dem sowieso schon niedrigen Durch-
schnitt der Wojewodschaft von 45,53 Prozent.

REGIONALWAHLEN 2010

Stark vertreten ist die DMi nach wie vor auf der Selbst-
verwaltungsebene der Region Oppeln, d.h. im Landtag
(Sejmik) sowie in den Kreis- und Gemeinderäten. Hier
verfügt sie durch ihr dichtes Netzwerk über ein gutes Instru­-
ment zur Wählermobilisierung, was bei der gewöhnlich
niedrigen Wahlbeteiligung ein strategischer Vorteil ist.

Die Verschlechterung der deutsch-pol- Im Landtag ist die DMi, die sich einer
nischen Beziehungen von 2005 bis 2007 klaren politischen Einordnung entzieht, seit
war bis in die Selbstverwaltung hinein
spürbar. 1998 in verschiedenen Koalitionen an der
Regierung beteiligt, seit 2006 mit der liberal-
konservativen Bürgerplattform (PO) und der bäuerlichen
Volkspartei (PSL), davor mit dem postkommunistischen
Bündnis Linker Demokraten (SLD). Die Verschlechterung
der deutsch-polnischen Beziehungen in der Regierungszeit
der national-konservativen PiS in den Jahren 2005 bis
2007 war laut Aussagen der Minderheitsvertreter bis in die
Selbstverwaltung hinein spürbar, insbesondere als sich die
Regionalregierung einem Regierungspräsidenten der PiS
gegenüber sah. Aber auch aktuell sind die Verhältnisse
keineswegs spannungsfrei, wie die Regierungsbildung
nach den Regionalwahlen am 21. November 2010 deutlich
machte.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 153

Bei diesen Regional- und Kommunalwahlen erzielte die DMi


in der Oppelner Region ein gutes Ergebnis. Im Landtag
der Wojewodschaft Oppeln erhielt sie 17,77 Prozent der
Stimmen (+0,47 Prozent zu 2006), was das zweitbeste
Ergebnis nach der Bürgerplattform PO mit 31,93 Prozent
ist. Insgesamt erhielt die Minderheit 53.670 Stimmen,
ein Zuwachs von 4.539 Stimmen gegenüber
2006. Der negative Trend der letzten Wahlen In den letzten beiden Wahlperioden
wurde damit gestoppt: 2006 erzielte die hatte die Minderheit sieben Vertreter
im Sejmik, dem Wojewodschaftsparla-
Minderheit 49.131 Stimmen, 2002 allerdings ment, davor sogar 13 Mandate.
54.385 Stimmen (18,61 Prozent).

In den letzten beiden Wahlperioden hatte die Minderheit


sieben Vertreter im Sejmik, dem Wojewodschaftsparla-
ment, davor sogar 13 Mandate. Jetzt sind es sechs, was
den starken Wahlergebnissen der Bürgerplattform (PO, 12
Mandate, +vier) und des Bündnisses der Linken Demo-
kraten (SLD, fünf Abgeordnete) geschuldet ist. Recht und
Gerechtigkeit (PiS) erreichte ebenfalls fünf Mandate, die
Polnische Volkspartei (PSL) zwei.8

Tabelle 4
Ergebnisse der Regionalwahl
in der Wojewodschaft Oppeln

Wahlkomitee Stimmen Anteil in %

PO 96.449 31,93

PiS 52.664 17,43

Deutsche Minderheit (DMi) 53.670 17,77

SLD 50.479 16,71

PSL 36.655 12,13

PPP 6.528 2,16

Andere 5.631 1,87

Quelle: Offizielle Wahlergebnisse laut Staatlicher Wahlkommission


(Państwowa Komisja Wyborcza), http://wybory2010.pkw.gov.pl/
Komunikaty_PKW,2; Wyniki glosowania do sejmików województw
wedlug komitetów wyborczych i województw [03.02.2011].

8 | In der Wojewodschaft Ermland-Masuren wurde Urszula


Pasławska von der deutschen Minderheit auf der Liste der
Polnischen Volkspartei PSL in den Sejmik gewählt. Vgl.
Krzysztof Świerc, Agnieszka Szotka, „Erfolg der Deutschen
Minderheit bei der Kommunalwahl‟, Schlesisches Wochenblatt,
E-Paper, http://www.wochenblatt.pl/index.php?option=com_
content&view=article&id=237 [03.02.2011].
154 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Die Sejmik-Mitglieder der Deutschen Minderheit (DMi)


sind:

1. Hubert Jerzy Kolodziej – Lehrer, Schuldirektor,


Bildungsbeauftragter im Verband der Deutschen
Gesellschaften VDG,
2. Rasch Norbert – Vorsitzender der Sozial-Kulturellen
Gesellschaften der Deutschen im Oppelner Schlesien
(SKGD),
3. Herbert Czaja – Vorsitzender der Oppelner Landwirt-
schaftskammer,
4. Krystian Adamik – Arzt,
5. Józef Kotys – Vizeministerpräsident der Wojewodschaft
Oppeln,
6. Andrzej Kasiura – bisher Mitglied des Vorstandes
des Wojewodschaft Oppeln (der Regionalregierung),
setzte sich in der Stichwahl am 5. Dezember als
Bürgermeister-Kandidat der Kreisstadt Krapkowice
(Krappitz) mit 1.549 Stimmen (52,53 Prozent) gegen
den PO-Bewerber Maciej Sonik durch (1.400 Stimmen,
47,47 Prozent). Für ihn rückt der bisherige Vizevor­
sitzende des Sejmik, Ryszard Donitza, nach.

TUSK WENDET SKANDAL AB

PO, PSL und DMi waren mit der Aussage zur Wahl ange-
treten, ihre bisherige Koalition fortsetzen zu wollen. Nur 24
Stunden nach dem Urnengang bildete die PO jedoch eine
Koalition mit der PSL und dem Bündnis der
PO, PSL und DMi waren mit der Aus- linken Demokraten (SLD), was der DMi über
sage zur Wahl angetreten, ihre bishe­ die Presse mitgeteilt wurde. Der regionale
rige Koalition fortsetzen zu wollen.
Nur 24 Stunden nach dem Urnengang PO-Chef Leszek Korzeniowski begründete
bildete die PO jedoch eine Koalition dies damit, dass die Zusammenarbeit mit
mit der PSL und dem Bündnis der lin-
der DMi nicht so wie erwartet gewesen sei,
ken Demokraten.
Absprachen nicht eingehalten worden seien
und die DMi zu eigennützig agiert habe. „Sie hielten das
Geld in den eigenen Händen‟, klagte er.9 Zudem werde die
neue Koalition in Polen positiver wahrgenommen. Denn
aus der Zentrale seien ständig Vorwürfe gekommen, dass
die Minderheit zu viele Sonderrechte genieße und in der

9 | „Korzeniowski: w centrali były zarzuty, że MN ma za dużo


przywilejów‟ (aus der Zentrale kamen Vorwürfe, dass die
DMi zu viele Sonderrechte hat), Gazeta Wyborcza (Opole),
21.11.2010.
3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 155

Wahrnehmung ihrer Rechte, wie bei den zweisprachigen


Ortsschildern, übertreibe. Der Skandal schlug regional ein
wie eine Bombe. Schnell war öffentlich von einer „antideut-
schen Koalition‟ die Rede. Immerhin war die DMi aus der
Wahl als zweitstärkste Fraktion im Sejmik hervorgegangen.
Aber es gab auch Gegenstimmen in der PO. Die Europaab-
geordnete Danuta Jazłowiecka aus Oppeln kritisierte den
Ausschluss der Deutschen offen als „Fehler‟
der Parteifreunde. Die Wojewodschaft Oppeln Die kalte Entmachtung der DMi rief
stehe unter besonderer Beobachtung und alsbald Premierminister Tusk auf den
Plan. Die Wojewodschaft wird jetzt
Förderung durch Deutschland, hieß es. Der von einer großen Vierer-Koalition re-
deutsche Tourismus in der Region sei zudem giert.
ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die kalte
Entmachtung der DMi rief alsbald PO-Chef und Premier-
minister Donald Tusk auf den Plan. Die Oppelner PO nahm
daraufhin die DMi mit in die Regierung auf.10 Die Wojewod-
schaft wird jetzt von einer großen Vierer-Koalition regiert,
wobei die DMi jedoch Nachteile in Kauf zu nehmen hat. Die
PO stellt als stärkste Fraktion den Marschall. Keiner der
beiden Vize-Regierungschef-Posten geht allerdings, wie
es dem Proporz entspräche, an die Deutschen. Der bishe-
rige deutsche Vizemarschall Józef Kotys, der mit Abstand
die meisten Stimmen bei den Wahlen einfahren konnte,
bleibt außen vor. Er gilt als erfolgreicher Politiker und
Strippenzieher, dessen herausragendes Wahlergebnis für
ihn spricht. Sein Profil war der PO wahrscheinlich zu domi-
nant. Allein die PiS bildet nun mit fünf von 30 Mandaten die
Opposition im Sejmik.

Zu den Ergebnissen der Deutschen Minderheit bei den


Kommunalwahlen: 28 Kandidaten aus der DMi haben als
Bürgermeister oder Gemeindevorsteher kandidiert, davon
wurden 24 gewählt, 19 im ersten Durchgang am 21.
November 2010, fünf in der Stichwahl am 5. Dezember
2010. In den Kreistagen stellt die DMi 49 Ratsmitglieder
(2006: 54). Dort sieht die Mandatsverteilung wie folgt aus:

10 | Website der Deutsch-polnischen Arbeitsgemeinschaft Kommu-


nalpolitische Partnerschaft (AKP), „Tusk wendet Skandalkoali-
tion ab. Deutsche Minderheit bleibt in Oppelner Regierung‟,
03.12.2010, in: http://akp-dialog.de/index.php?view=article
&catid=35%3Aaktuelles&id=76%3A2010-12-03 [03.02.2011].
156 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

Tabelle 5
Sitze der DMi in Kreistagen nach Wahlen 2010 und 2006

Gemeinde Sitze nach Sitze nach Mandate


Wahl 2010 Wahl 2006 insges.

Strzelce Opolskie
9 10 19
(Groß Strehlitz)

Krapkowice (Krappitz) 7 7 19

Kędzierzyn-Koźle
5 8 21
(Kandrzin-Cosel)

Olesno (Rosenberg) 9 8 19

Prudnik (Neustadt) 5 3 17

Opole (Oppeln) 12 16 25

Kluczburg (Kreuzburg) 2 2 19

Quelle: Schriftliche Auskunft Joanna Mróz, Pressesprecherin,


Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen im Oppelner
Schlesien, 26.11.2010.

In den Kreisen Namysłów (Namslau), Brzeg (Brieg), Nysa


(Neisse) und Głubczyce (Leobschütz) stellte die DMi keine
eigenen Kandidaten. In den Gemeinden gewann die DMi
278 Ratsmandate (2006:304). Insgesamt erhielt die DMi
somit 357 Mandate (2006: 365) bei den Regional- und
Kommunalwahlen.

IRRITATIONEN ÜBER DEN ERFOLG DER


SCHLESISCHEN AUTONOMIEBEWEGUNG

Bei den Regionalwahlen gewann die Bewegung Autonomes


Schlesien (Ruch Autonomii Śląska, RAŚ) in der Wojewod-
schaft Schlesien 122.781 Stimmen (8,49 Prozent) und
drei Mandate im Sejmik. Sie wurde damit die viertstärkste
Kraft nach der PO (22 Abgeordnete), PiS (elf) und SLD
(zehn). Die PSL gewann zwei Sitze. 2006 hatte die RAŚ
58.919 Stimmen (4,35 Prozent) und kein Mandat erhalten.
Die Deutschen stellten in der Wojewodschaft keine eigene
Liste auf. Ihre Kandidaten gehörten verschiedenen Wahl-
komitees an, unterstützt wurde aber insbesondere auch
die RAŚ.11

Die Bewegung wurde Anfang 1990 von Rudolf Kołod­ziej­


czyk gegründet. Vorsitzender ist seit 2003 der Historiker
Jerzy Gorzelik. Sie knüpft vor allem an die Autonome Woje-

11 | Vgl. Świerc, „Erfolg der Deutschen Minderheit…‟, Fn. 8.


3|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 157

wodschaft Schlesien in der zweiten Polnischen Republik der


Zwischenkriegszeit an und will mehr ­Eigenständigkeit für
die Region erreichen, weshalb ihr mitunter antipolnische
Tendenzen vorgeworfen werden. Die heutige Wojewod-
schaft ging nach der Gebietsreform 1999 aus den Woje-
wodschaften Katowice, Częstochowa und Bielsko-Biała
hervor und umfasst weite Teile der ehemaligen Autonomen
Wojewodschaft Schlesien. Diese entstand 1922 aus dem
Teil Oberschlesiens, der nach dem Ersten Weltkrieg nach
Volksabstimmung und Aufständen vom Deutschen Reich
und Österreich-Ungarn abgetrennt worden war. Damals
wie heute ist die Region mit dem industriellen Ballungs-
gebiet zwischen Gleiwitz und Kattowitz die am dichtesten
besiedelte Wojewodschaft Polens. Die deutschen Parteien –
Katholische Volkspartei, Deutsche Partei, Deutsche Sozial-
demokratische Partei – erreichten in den zwanziger Jahren
bei Wahlen 21 bis 30 Prozent und stellten einen Vertreter
in der sechs Personen umfassenden Regierung, dem Woje-
wodschaftsrat.

Im jetzt neu gewählten Sejmik ist die RAŚ Teil einer


Koalition mit der PO und PSL, was u.a. öffentlich vom
polnischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski und
EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek, der seinen Wahlkreis
in Kattowitz hat, kritisiert wurde. Am 10. Dezember wurde
der Vorsitzende der RAŚ Jerzy Gorzelik erst im zweiten
Versuch in den Vorstand der Wojewodschaft,
die Regionalregierung, gewählt, wo er für Die überregionale Berichterstattung in
Bildung, Kultur und auswärtige Beziehungen den großen polnischen Zeitungen zeigt,
welche Irritationen das relativ starke
zuständig ist. Beim ersten Wahlversuch eine Abschneiden der Autonomiebewegung
Woche zuvor hatte es noch ein Patt gegeben, hervorruft.
da einige PO-Abgeordnete dem Koalitions-
partner die Stimme verweigerten. Dies zeigt, wie auch
die überregionale Berichterstattung in den großen polni-
schen Zeitungen, welche Irritationen das relativ starke
Abschneiden der Autonomiebewegung hervorruft.

Insgesamt hat die RAŚ bei den Regional- und Kommunal­


wahlen 40 Mandate gewonnen, davon drei im Landtag,
sechs in Kreistagen, sieben in größeren Stadträten und 24
in Gemeinden: In Godów (Kreis Wodzisław) stellt sie mit
Mariusz Adamczyk (wiedergewählt mit 90,3 Prozent) und
in der Landgemeinde Lyski (Kreis Rybnik) mit Grzegorz
Gryt (64,67 Prozent) die direkt gewählten Bürgermeister
158 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 3|2011

und die Mehrheit im Gemeinderat. Im Kreistag von Rybnik


ist sie bei 25,61 Prozent Stimmenanteil mit 5 Mandaten,
im Kreistag von Wodzisław bei 7,91 Prozent Stimmenanteil
mit einem Abgeordneten vertreten. In den Städten ist die
RAŚ in Czerwionka-Leszczyny (dt. Czerwionka-Leschczin,
Kreis Rybnik, ca. 29.000 Einwohner)  – ein Zentrum der
polnischen Aufstände unter Wojciech Korfanty zwischen
1919 und 1921  – mit vier Abgeordneten (20,48 Prozent)
in Mysłowice (dt. Myslowitz, 75.000 Einwohner) mit zwei
(9,29 Prozent) und in Ruda Śląska (143.000 Einwohner)
mit einem Mandat (8,18 Prozent) dabei.12

AUSBLICK

Da auf der kommunalen Ebene die großen Parteien ohnehin


keine dominierende Rolle spielen, sondern häufig von
lokalen Bürgerkomitees überflügelt werden, wird wohl auch
die DMi hier weiter eine größere Rolle spielen. Auch regional
in der Wojewodschaft Oppeln hat sie gute Chancen, weiter
einen zentralen politischen Faktor zu bilden, sofern sie die
eigene kulturelle Identität bewahrt und der anhaltenden
Abwanderung der Deutschen beikommt. Dafür bedarf es
verstärkter Anstrengungen hinsichtlich der sprachlichen
und kulturellen Förderung und einer Lebensperspektive
in der oberschlesischen Region. Auf der nationalen Ebene
wird dagegen wahrscheinlich eher das Engagement in den
großen politischen Parteien Erfolg versprechen und zur
Integration der deutschen Minderheit in Polen beitragen.

Während die DMi sich auch wegen des Minderheitenge-


setzes in den vorgegebenen politischen Rahmen einfügt,
löst die RAŚ durch ihr Streben nach größerer Selbständig-
keit der Region Schlesien (Ost-Oberschlesien) Irritationen
in Polen aus. Sie wird wahrscheinlich als eine spezifisch
kulturell-politische Kraft in der Region weiter eine Rolle
spielen, wobei sie kommunal eher schwach verankert ist,
was zu einem gelassenen Umgang der polnischen Mehr-
heitsgesellschaft mit dieser Autonomiebewegung Anlass
geben sollte.

Der Autor dankt Lukas Skwiercz für die Hilfe bei der Recherche
der Kommunalwahlergebnisse der deutschen Minderheit.

12 | Vgl. Ruch Autonomii Śląska, http://www.autonomia.pl/index.


php?option=com_content&task=view&id=631 [03.02.2011].

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