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Dialogisches Lernen:

Rezeption durch Produktion


auch im digitalen
Fernunterricht
Rezipieren durch Produzieren ist ein didaktisches Konzept, das
vielfach kritisiert wurde, unter anderen vom Hanspeter Amstutz
im letzten Qi. Zu Unrecht: Als Kernpunkt des «Dialogischen Ler-
nens» bietet es Chancen beim individualisierten Lernen und
eignet sich gerade auch für den digitalen (Fern-)Unterricht.

Peter Gallin

Anlass für meinen Beitrag ist eine Herausforderung, die mir im


Artikel von Hanspeter Amstutz in Qi 1/20 (S. 44–48) begegnet
ist. Unter dem Titel «Deutsch lernen – ein unterschätzter Grund-
auftrag der Volksschule» gibt Amstutz viele interessante Hin-
weise für eine Intensivierung und Verbesserung des elemen-
taren Deutschunterrichts. Nun mag es etwas merkwürdig er-
scheinen, wenn ich als Mathematiker, als ehemaliger Gymna-
siallehrer und Fachdidaktiker auf einen Artikel zum Sprachun-
terricht reagiere. Es gäbe primär auch gar keinen Grund, in
die Tasten zu greifen, unterstütze ich doch die Stossrichtung
des Artikels von Hanspeter Amstutz grundsätzlich. Seine kon-
kreten Vorschläge sind geprägt von seiner grossen Erfahrung
im Unterrichten. Erst beim genaueren Lesen ist mir eine Einsei-
tigkeit aufgefallen, die angesichts der neueren didaktischen
und erziehungswissenschaftlichen Einsichten einer Ergänzung
bedarf. Eine ganz nebenbei gemachte Bemerkung in Amstutz’
Text hat den Ausschlag dazu gegeben. Auf Seite 46 schreibt er:
«Dass ein fragwürdiges Experiment wie ‹Schreiben nach Gehör›
nicht unter die Rubrik zielgerichtetes Üben fällt, muss wohl kaum
speziell erwähnt werden.»

Mit «Experiment» ist der Erstleselehrgang «Lesen durch Schrei-


ben» des Basler Didaktikers Jürgen Reichen (Reichen, 1988) ge-
meint, ein Konzept, das in der Tat heftige Kontroversen – auch
in Deutschland – auslöst. Nur schon die Abwandlung des ur-

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sprünglichen Titels in ‹Schreiben nach Gehör› zeigt, dass Rei-
chens Konzept häufig missverstanden und entsprechend un-
fruchtbar im Unterricht eingesetzt worden ist. Es geht nicht da-
rum, dass die Kinder das korrekte Schreiben lernen, welches
selbstverständlich nicht über das Gehör allein erworben wird,
sondern darum, Lesen zu lernen. Um es etwas abstrakter und
allgemeingültiger zu formulieren, geht es Reichen darum, dass
das Rezipieren (Lesen) erleichtert wird, wenn man zuerst im
Produzieren (Schreiben) Erfahrungen sammeln durfte. «Rezi-
pieren durch Produzieren» ist also das Konzept von Jürgen Rei-
chen, das nun in neuerer Zeit auch wissenschaftlich untersucht
wurde. Dass dieses Konzept ausgerechnet jetzt in Zeiten des di-
gitalen Fernunterrichts eine substantielle Hilfe anbietet, ist ein
aktueller Zusatzaspekt, der am Schluss dieses Beitrags kurz be-
leuchtet wird.
Das Konzept «Rezipieren durch Produzieren» ist nun aber ge-
nau der Kern des «Dialogischen Lernens», das Urs Ruf und ich
(Ruf & Gallin, 1999) in der interdisziplinären Zusammenarbeit
von Deutsch und Mathematik seit den 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts entwickelt und verbreitet haben. Beim Dialogi-
schen Lernen geht es darum, dass die Lernenden aufgrund ei-
nes offenen Auftrags in ihrem persönlichen Lernjournal eine in-
dividuelle Bearbeitung festhalten, welche dann von der Lehr-
person und/oder den Mitschülerinnen und -schülern gelesen
wird. Dieser erste produktive Schritt – die Produktion – kommt
vor der Vermittlung einer Theorie oder Übersicht, welche durch
die Lehrperson vermittelt wird und natürlich eine Rezeption der
Lernenden verlangt. Erst nach der Sichtung der Beiträge der
Lernenden wird die Lehrperson Konsequenzen für den nach-
folgenden Unterricht ziehen. Häufig wird sie die eindrück-
lichsten Beiträge aus den Lernjournalen sammeln und zusam-
menstellen. Mit der Besprechung dieser Zusammenstellung,
die wir «Autographensammlung» nennen, kann die Lehrper-
son den Unterricht fortsetzen und der Klasse sogar einen Folge-
auftrag zur Bearbeitung stellen. Jedenfalls kommt die Theorie
oder das Regelhafte – die Rezeption – immer erst am Schluss
und als Konsequenz der Schülerbeiträge zur Sprache. Dass die
Produktion vor die Rezeption gestellt wird, hat einen einleuch-
tenden und einfachen Grund: Produzieren ist einfacher als Re-
zipieren, denn beim Produzieren muss man zunächst nur eine
einzige Perspektive berücksichtigen, nämlich die eigene, wäh-
rend beim Rezipieren immer zwei Perspektiven im Spiel sind:

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die fremde Perspektive der Lehrperson, die etwas vermittelt,
und die eigene Perspektive, mit der das Vermittelte abgegli-
chen werden muss, damit man überhaupt versteht, was die
Lehrperson sagt. Und genau dieses «Produzieren» – und zwar
das eigenständige Produzieren der Lernenden – kommt im ge-
samten Artikel von Hanspeter Amstutz nur ganz am Rand vor.
Zwei wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit des Kon-
zepts «Rezipieren durch Produzieren» sollen hier in aller Knapp-
heit angeführt werden.
• Der erste Beleg betrifft «Lesen durch Schreiben» selbst. Bei diesem
Konzept werden die Kinder mit Hilfe einer sogenannten Anlautta-
belle in die Lage versetzt, zuerst eigene Texte zu schreiben, bevor
sie überhaupt lesen können. Lesen wird von Reichen als eine Konse-
quenz des eigenaktiven Prozesses des Schreibens betrachtet. Dass
anfangs Texte entstehen, die voller Rechtschreibfehler sind, erstaunt
nicht. Und genau dieser Umstand war vielen Erwachsenen ein Dorn
im Auge, weil sie glaubten, die Kinder prägten sich diese Fehler ein.
Dass diese Sorge wissenschaftlich nicht zu halten ist, konnte sie nicht
beruhigen. Da und dort kam es gar zu politischen Vorstössen mit dem
Ziel, das Konzept «Lesen durch Schreiben» zu verbieten, obwohl kei-
ne wissenschaftliche Untersuchung bislang Nachteile des produkti-
onsorientierten Leselernens nachweisen konnte (Funke, 2014). Au-
sserdem liegen zahlreiche positive Erfahrungen mit der Konzeption
eines frühen Schreibens mit Hilfe einer Anlauttabelle vor. Das Ent-
scheidende dabei ist, dass die Kinder eigene, für sie bedeutsame
Texte schreiben und dann in sogenannten «Autorenrunden» diese
Texte vorlesen und so in den Austausch mit anderen Kindern tre-
ten. Nach und nach werden dann auch Rechtschreibnormen the-
matisiert, so dass bereits nach einem Jahr die Anlauttabellen zum
Suchen von Buchstaben überflüssig werden. Wie dieser Übergang
gestaltet werden kann, liest man in zahlreichen Publikationen von
Beate Leßmann nach (z. B. Leßmann, 2018). Reichens Konzept sinn-
voll angewandt ist also nicht gleichbedeutend damit, dass man ab
der zweiten Klasse den sprachlichen Normen kein Gewicht verleiht.
Im Gegenteil: Sind die Kinder gewohnt, die eigenen Texte im Kreis
der Klasse vorzustellen, sind sie auch bereit, Kritik und Hinweise zur
Überarbeitung anzunehmen, welche in sogenannten «Schreibkon-
ferenzen» umgesetzt werden. Schliesslich bilden die «Rechtschreib-
gespräche» einen wesentlichen Bestandteil, dank dem das Recht-
schreibbewusstsein sukzessive gefördert wird. «Lesen durch Schrei-
ben» ist also nur der Start für die Umsetzung des Mündlichen in das

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Schriftliche und wird rasch durch bewährte Rechtschreibkonzepte
ergänzt und überwunden.
• Ein zweiter wissenschaftlicher Beleg für die Wirksamkeit von «Rezipie-
ren durch Produzieren» stammt von den US-amerikanischen Erzie-
hungswissenschaftlern und Motivationspsychologen E. L. Deci und
R. M. Ryan. Sie haben empirisch belegt, dass die Motivation von Ler-
nenden von drei fundamentalen Bedingungen abhängt: Die Ler-
nenden sollen vor allem das Gefühl von Autonomie (need for auto-
nomy) erfahren dürfen, sie sollen sich in der Lerngemeinschaft auf-
genommen fühlen (need for relatedness) und sie sollen schliesslich
die Gewissheit erlangen, dass sie etwas können (need for compe-
tence) (Deci & Ryan, 1993). Wenn die Lernenden nun von Anfang
an zur autonomen Produktion (ICH-Phase) hingeführt werden, wird
die erste Bedingung bereits erfüllt, was nicht der Fall ist, wenn ihnen
zuerst gesagt wird, wie man es richtig macht. Ihre Motivation wird
also fundamental aufgebaut, wenn sie zuerst in Autonomie produ-
zieren dürfen. Die zweite Bedingung für Motivation wird durch den
Austausch, die «DU-Phase», erfüllt, wie zum Beispiel in Autorenrun-
den. Die dritte Bedingung wird dann erfüllt, wenn die Lernenden die
Gewissheit erlangen, dass ihre Produktionen zum Ausgangspunkt
des Unterrichts gemacht werden, dass sie also etwas können (WIR-
Phase).

Dass die eigenständigen Produktionen eine Vorrangstellung


im Unterricht erhalten sollten, ist also wissenschaftlich als sinn-
voll untermauert. Allerdings ist die heutige Unterrichtskultur in
aller Regel weit davon entfernt. Immer noch gilt häufig das Pri-
mat des Angebots durch die Lehrkraft, welches von den Ler-
nenden rezipiert werden soll. Das ist besonders auch im Ma-
thematikunterricht der Fall, von dem her meine Erfahrungen
stammen. Selbst im Mathematikunterricht lässt sich der Sprach-
unterricht unterstützen, sobald man die Lernenden auffordert,
zuerst schriftlich festzuhalten, wie sie einen Sachverhalt sehen
oder wie sie ein Problem lösen und wo sie Schwierigkeiten ha-
ben. Sobald sie in einem Lernjournal produzieren können, sind
sie auch bereit und motiviert im Nachhinein zu rezipieren. Da-
bei spielen zuerst Fehler gar keine Rolle. Im Gegenteil: «Fehler
sind Perlen beim Lernen» ist ein Prinzip, das beim Dialogischen
Unterricht konsequent angewandt wird.
Ob nun ein Lernjournal physisch real auf Papier oder digi-
tal mit Computerdokumenten geführt wird, ist belanglos. Ent-
scheidend ist nur, dass die Dokumente gelesen, Rückmeldun-

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gen gegeben und auszugsweise in Autographensammlungen
an die Lernenden zurückgespielt werden. So angewandt hat
sich das Konzept im sogenannten «Selbstlernsemester» der
Kantonsschule Zürcher Oberland in meinem Mathematikunter-
richt bestens bewährt. Trotz nur einer statt vier Lektionen Ma-
thematik pro Woche konnte im Austausch von Schülerdoku-
menten und Autographensammlungen der Unterricht weitge-
hend lehrplankonform mit viel selbständiger Arbeit aller Betei-
ligten bewältigt werden. Auch in dem dieses Jahr verordneten
Fernunterricht eignet sich das Konzept des Dialogischen Ler-
nens bestens. Die Primarlehrerin Simone Lamb aus der Steier-
mark schreibt beispielsweise dazu:
«Ich merke jetzt in der Fernunterrichtszeit, wie toll es auch da ist, dia-
logisch zu arbeiten. Ich schicke die Aufträge und die Kinder senden
mir ihre Antworten. Ich sammle die Perlen, verfasse einen Folgeauf-
trag und schicke ihn wieder los. Natürlich ist das mit der ‹DU-Phase›
schwieriger, aber es funktioniert trotzdem. Und ich habe den Ein-
druck, ich kann so auch den neuen Stoff weiterbearbeiten, wo an-
dere nur wiederholen und festigen können.»

Literatur
• Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der
Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für
Pädagogik 39/1993, S. 223–238.

• Funke, R. (2014): Erstunterricht nach der Methode Lesen durch


Schreiben und Ergebnisse schriftsprachlichen Lernens – Eine meta-
analytische Bestandsaufnahme. In: Didaktik Deutsch (36), S. 21–63.

• Leßmann, B. (2018): Individuelle Lernwege im Schreiben und Recht-


schreiben. Ein Praxishandbuch für den Deutschunterricht. Band I:
Klassen 1 und 2. Heinsberg: Dieck-Verlag 3. Auflage.

• Reichen, J. (1988): Lesen durch Schreiben. Wie Kinder selbstgesteu-


ert lesen lernen. Zürich: Sabe Verlag.

• Ruf, U. & Gallin, P. (1999): Dialogisches Lernen in Sprache und Ma-


thematik. Band 1: Austausch unter Ungleichen. Grundzüge einer
interaktiven und fächerübergreifenden Didaktik. 6. Auflage 2018.
Band 2: Spuren legen – Spuren lesen. Unterricht mit Kernideen und
Reisetagebüchern. 6. Auflage 2019. Seelze-Velber: Kallmeyer.

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Zur Person
Peter Gallin, Prof. Dr., hat nach dem Diplomabschluss in Theore-
tischer Physik eine Dissertation in Mathematik an der ETH Zürich
geschrieben und sich zum Gymnasiallehrer für Physik und Ma-
thematik weitergebildet. Von 1985 an war er zusätzlich Fachdi-
daktiker an der Universität Zürich. Auch noch im Ruhestand setzt
er sich für die Verbreitung des Dialogischen Lernens im Bereich
der Mathematik ein u.a. als Herausgeber einer neuen, auf die
Praxis fokussierte Download-Reihe zum Dialogischen Mathema-
tikunterricht: www.lerndialoge.ch (Dieck-Verlag).

Aktuelle Informationen aus dem VSG


Der VSG beschäftigt sich momentan hauptsächlich mit der von
Bund und EDK beschlossenen Weiterentwicklung der gymna-
sialen Maturität. Der VSG unterstützt das Vorgehen und zeigt
sich erfreut, dass er als Vertretung der Lehrpersonen von Beginn
an in den verschiedenen Gremien beteiligt ist. Eine breite Ver-
nehmlassung (insbesondere bezüglich neuer Rahmenlehrplan
bzw. neues MAR) ist für den VSG zentral.
Weitere Themen sind:
• Einführung des neuen Anerkennungsreglements und des Rahmen-
lehrplans der FMS
• Einführung des obligatorischen Fachs Informatik am Gymnasium
• Übergang von der Volksschule ans Gymnasium und an die FMS und
von dort an die Hochschulen
• Adäquate Anrechnung von Zusatzaufgaben zur Reduktion der mas-
siven Überzeit von Lehrpersonen
• Weiterbildungsangebote nach der Auflösung der Weiterbildungs-
zentrale
• Forderung nach kleineren Klassen

Weitere Informationen siehe www.vsg-sspes.ch

Lucius Hartmann, Präsident VSG

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